Eisrosengeheimnis - Sabrina Heilmann - E-Book

Eisrosengeheimnis E-Book

Sabrina Heilmann

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Beschreibung

Sieben Jahre war sie auf der Flucht vor der Vergangenheit, nun muss sie sich ihr stellen. Seit dem verhängnisvollen Heiligabend im Jahr 2010 ist Janas Leben nicht mehr dasselbe. Sie hat sich verändert, ist still und in sich gekehrt und versinkt regelmäßig in ihren Gedanken. Von dem lebenslustigen Mädchen ist nur noch ein Schatten übrig. Als ein schwerer Schicksalsschlag ihre Familie erschüttert, steht ihre Welt kopf. Sofort lässt Jana alles stehen und liegen und reist nach Hause. Im Zug lernt sie den Polizisten Eric kennen, dessen fröhliche grünblaue Augen ihr ein sanftes Kribbeln durch den Körper jagen, während er sie in ein Gespräch verwickelt. Irritiert von dem fremden Gefühl, ergreift sie einen Koffer und stürmt aus dem Zug, nachdem dieser endlich zum Stehen kommt. In diesem Moment ahnt Jana weder, dass sie den falschen Koffer an sich genommen hat, noch dass Erics Schicksal mit ihrer Vergangenheit verknüpft ist.

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Eisrosengeheimnis

SABRINA HEILMANN

Liebesroman

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

Copyright © Sabrina Heilmann, November 2018

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Der Abdruck des Textes, auch nur in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Korrektur: Silke Vozaiti, Federleserlich

Coverbild © Sabrina Heilmann

Coverfotos: © delbars, www.fotolia.com,

diverse, www.pixabay.com

Inhaltsverzeichnis

Eisrosengeheimnis

Das Buch

1. TEIL EINS

1.1 Eins

1.2 Zwei

1.3 Drei

1.4 Vier

1.5 Fünf

1.6 Sechs

1.7 Sieben

1.8 Acht

2. TEIL ZWEI

2.1 Neun

2.2 Zehn

2.3 Elf

2.4 Zwölf

2.5 Dreizehn

2.6 Vierzehn

2.7 Fünfzehn

2.8 Sechzehn

3. TEIL DREI

3.1 Siebzehn

3.2 Achtzehn

3.3 Neunzehn

3.4 Zwanzig

3.5 Einundzwanzig

3.6 Zweiundzwanzig

3.7 Dreiundzwanzig

3.8 Vierundzwanzig

4. TEIL VIER

4.1 Fünfundzwanzig

4.2 Sechsundzwanzig

4.3 Siebenundzwanzig

4.4 Achtundzwanzig

4.5 Neunundzwanzig

4.6 Dreißig

5. TEIL FÜNF

5.1 Einunddreißig

5.2 Zweiunddreißig

5.3 Dreiunddreißig

5.4 Vierunddreißig

5.5 Fünfunddreißig

6. TEIL SECHS

6.1 Sechsunddreißig

6.2 Siebenunddreißig

6.3 Achtunddreißig

7. TEIL SIEBEN

7.1 Neununddreißig

7.2 Vierzig

7.3 Einundvierzig

7.4 Zweiundvierzig

7.5 Dreiundvierzig

7.6 Vierundvierzig

7.7 Fünfundvierzig

7.8 Sechsundvierzig

8. TEIL ACHT

8.1 Gegenwart

8.2 Zukunft

9. Danksagung

10. Rezepte

11. Playlist

12. Über die Autorin

13. Weitere Veröffentlichungen

14. Impressum

Das Buch

Sieben Jahre war sie auf der Flucht vor der Vergangenheit, nun muss sie sich ihr stellen.

Seit dem verhängnisvollen Heiligabend im Jahr 2010 ist Janas Leben nicht mehr dasselbe. Sie hat sich verändert, ist still und in sich gekehrt und versinkt regelmäßig in ihren Gedanken. Von dem lebenslustigen Mädchen ist nur noch ein Schatten übrig.

Als ein schwerer Schicksalsschlag ihre Familie erschüttert, steht ihre Welt kopf. Sofort lässt Jana alles stehen und liegen und reist nach Hause.

Im Zug lernt sie den Polizisten Eric kennen, dessen fröhliche grünblaue Augen ihr ein sanftes Kribbeln durch den Körper jagen, während er sie in ein Gespräch verwickelt. Irritiert von dem fremden Gefühl, ergreift sie einen Koffer und stürmt aus dem Zug, nachdem dieser endlich zum Stehen kommt.

In diesem Moment ahnt Jana weder, dass sie den falschen Koffer an sich genommen hat, noch dass Erics Schicksal mit ihrer Vergangenheit verknüpft ist.

Ein emotionaler Roman über Vergangenheitsbewältigung, einsame Rosen im Schnee und die heilende Kraft der Liebe.

1. TEIL EINS

Von Kälte umgeben,

liegt eine Rose im Schnee.

Die Blätter erfroren,

die Farbe verblasst.

Von Eis durchzogen,

liegt eine Rose im Schnee.

Vom Wind versteckt,

von der Liebe gefunden.

Sechs Jahre zuvor

24. Dezember 2011

Der Schnee wirbelte um ihren Kopf und die kleinen, weißen Flocken legten sich auf ihrem Haar nieder. In ihrem Herzen herrschte ein unbändiger, schmerzhafter Druck. Sie fühlte sich allein und verloren. Der Wind frischte auf und machte ihr nur allzu deutlich, dass sie hier nicht erwünscht war. Sie klammerte sich an die zarte Blume in ihrer Hand, als wäre sie ein Rettungsanker. Aber nichts und niemand konnte sie retten.

Tränen rannen über ihre blassen Wangen und vermischten sich mit den Eiskristallen, die ihre Haut bedeckten. Sie senkte den Blick auf die leuchtend rote Rose in ihrer Hand. Eine Träne tropfte auf die Blütenblätter und sie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Die Welt um sie herum drehte sich und schwankte. Bilder fluteten ihren Kopf und rissen sie mit sich in die Tiefe. Sie spürte den Widerstand, hörte Glas splittern und Knochen brechen.

Ein lauter Schluchzer durchzog die winterliche Landschaft und sie gab dem Druck nach, der sich in ihr ausgebreitet hatte. Weinend sank sie auf die Knie und schützte die Rose vor dem gnadenlosen Wetter. Das war das Einzige, was sie noch tun konnte.

Der eiskalte Schnee durchnässte ihre Sachen, aber sie spürte die Kälte schon seit zwölf langen Monaten nicht mehr. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal etwas gespürt hatte.

»Es tut mir so leid«, weinte sie und streckte ihre zitternde Hand aus. Behutsam bettete sie die rote Rose in dem weißen Schnee und strich mit den Fingern über die goldenen Buchstaben, die in den schwarzen Granitstein eingraviert waren.

Sie ließ ihre Hand sinken und ihr Kopf sackte kraftlos nach vorn. Die Emotionen fluteten ihren Körper und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Unbändige Wut, der Hass auf sich selbst, Abscheu ... all das empfand sie in diesem Moment.

Sie würde sich niemals verzeihen können, was sie getan hatte. Nicht in diesem Leben und nicht im nächsten.

Der Schneesturm, der um sie herum tobte, wurde stärker und die weißen Wolken verschluckten sie. Sie wollte gehen, spürte, dass die höheren Mächte sie hier nicht haben wollten. Aber sie war zu schwach. Sie konnte nicht aufstehen, ohne noch tiefer zu fallen.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie wieder unter Tränen und nahm ihre letzte Kraft zusammen. Sie durfte hier nicht sein. Es war falsch.

Sie war an einem Ort der Ruhe, aber sie brachte nichts weiter als Unruhe und Chaos mit sich.

Langsam richtete sie sich auf, umschlang ihren Körper mit den Armen und gab sich selbst Halt. Sie musste es tun, weil sie wusste, dass sie sonst für immer verloren war.

Verloren in einem Strudel, der sie die Bilder der Vergangenheit nicht vergessen ließ. So lange, bis es vorbei war und sie die Strafe erhielt, die sie für ihre Tat verdiente.

1.1 Eins

Gegenwart

01. November 2017

Über Nacht hatte der erste Schnee Berlin mit einer zarten, weißen Schicht überzogen. Es war kühl geworden und ein unangenehmer Wind wehte Jana ins Gesicht, als sie wie jeden Morgen zur Arbeit lief. Sie folgte dem schmalen Waldweg, der sie zum Grunewaldsee führte. Obwohl sie den Bus hätte nehmen können, zog sie den Spaziergang vor. Sie lief immer, egal bei welchem Wetter. Bei dreißig Grad im Schatten, aber auch bei strömendem Regen.

Weil sie noch etwas Zeit hatte, ging sie zu dem kleinen Strandabschnitt, wo Spaziergänger im Sommer ihre Hunde baden ließen. Hier hatten sich ebenfalls einige Schneeflocken niedergelegt. Sie ließ sich auf einen Baumstamm am Ufer des kleinen Sees sinken und verschränkte zum Schutz die Arme vor der Brust.

Aus der Ferne hörte sie Menschen sprechen und Hunde bellen, am Strand aber war sie die Einzige. Innerhalb von Sekunden ergriff die Kälte von Janas Körper Besitz, aber sie nahm sie nicht wahr. Sie nahm keines der Gefühle mehr wahr.

Stumm wanderte ihr Blick über das Wasser, das wie der Himmel grau und trostlos wirkte. So trostlos wie die kommende Zeit.

Bei dem Gedanken daran wurde ihr flau im Magen. Der erste Schnee war ein Zeichen, ein leuchtender Warnhinweis, dass ihre Vergangenheit erneut zu einem gewaltigen Schlag ausholen würde. Wie jedes Jahr war sie sich nicht sicher, ob sie diesen überstehen würde. Seit sieben Jahren war er immer ein bisschen stärker geworden, unkontrollierbarer, vernichtender.

Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem sie sich davon nicht mehr erholen konnte. Schon jetzt spürte sie, dass es immer schwerer wurde.

Jana erhob sich von dem Baumstamm und vergrub ihre Hände in der Jackentasche. Ein letzter Blick wanderte über das Gewässer, bevor sie den kleinen Strandabschnitt verließ und die wenigen Meter zu dem Hotelrestaurant lief, in welchem sie seit fast sieben Jahren arbeitete.

Das umgebaute Forsthaus bot einen überwältigenden und imposanten Eindruck. Seine weiße Fassade leuchtete in der tristen Landschaft, das kleine Seitentürmchen verlieh ihm einen schlossähnlichen Charakter und die angebrachten Geweihe ließen es als Forsthaus erkennen. Vor dem Eingang zum Restaurant gab es einen Biergarten, der im Sommer zum Verweilen einlud. Zu dieser Jahreszeit wirkte er verlassen und traurig. Jana nahm die wenigen Stufen zum Hauptraum des Restaurants. Es war ein großer, gewölbeartiger Raum mit einer modernen Bar und alter Dekoration.

»Jana, da bist du ja endlich.«

Debora, ihre Chefin, eilte mit einem Stapel Zettel auf sie zu.

»Guten Morgen«, begrüßte Jana sie und die beiden Frauen umarmten sich flüchtig. Debora war eine großgewachsene, schlanke Frau Ende dreißig. Ihr fast schwarzes Haar trug sie immer zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden, ihre schwarze Hose und die weiße Bluse waren penibel gebügelt und saßen wie angegossen.

Sie war das genaue Gegenteil von Jana. Ihr braunes Haar mit den blonden Spitzen war leicht lockig. Ihre grauen Augen wirkten leer und traurig, das Lächeln auf ihren Lippen gehörte zu der Maske, die sie trug. Und ihre Kellneruniform hing an ihr wie ein Sack, weil sie nicht nur zu klein dafür war, sondern in den letzten Jahren auch kontinuierlich abgenommen hatte.

»Bevor du den Tisch für die Mittagsgesellschaft eindeckst, könntest du mir kurz im Büro helfen? In einer Viertelstunde checken fünf Paare aus. Schreib die Rechnungen, ich muss ein wichtiges Telefonat führen.«

Obwohl Jana für einen Kellnerjob eingestellt worden war, war sie in Wirklichkeit Deboras Mädchen für alles. Sie bediente nicht nur die Gäste, sondern zeigte ihnen auch die Zimmer, erledigte Büroarbeiten, putzte und half manchmal in der Küche. Oft blieb sie von früh bis abends und sammelte dabei eine Überstunde nach der nächsten. Was für viele andere eine Strafe gewesen wäre, war für Jana eine willkommene Ablenkung. Das war neben der verhältnismäßig guten Bezahlung einer der Gründe, warum sie sich nicht beschwerte.

Jana kannte niemanden in Berlin. Als sie vor sieben Jahren überstürzt in die Hauptstadt gezogen war, hatte sie kein Interesse daran gehabt, neue Leute kennenzulernen. Sie wollte ihre Ruhe haben, sich selbst dafür bestrafen, was sie getan hatte, und jeden neuen Tag überleben.

»Ja, natürlich«, antwortete Jana und zog ihre Jacke aus. Sie lief in Richtung Büro, als Debora sie erneut aufhielt.

»Und wenn du den Tisch gedeckt hast, würdest du bitte die freien Zimmer reinigen? Paulina hat sich krank gemeldet. Jan übernimmt deine Schicht im Service.«

»Natürlich.« Jana seufzte leise und verschwand im Büro.

Kaum hatte sie die fünf Rechnungen geschrieben, machte sie sich daran, den Mittagstisch einzudecken, den ein renommiertes Architekturbüro reserviert hatte. Sie legte das Besteck neben die Teller und polierte die Gläser auf Hochglanz.

Gedankenverloren warf sie einen Blick aus dem Fenster und ließ die Aussicht auf den Grunewaldsee auf sich wirken. Der von einem Wald umgebene See war ein kleines Paradies inmitten einer großen, grauen Stadt.

Berlin war anonym. Wollte man verschwinden, war man in der Hauptstadt genau richtig. Vielleicht war das einer der Gründe gewesen, warum Jana hergekommen war.

»Jana, Kundschaft!«, fuhr Debora sie plötzlich an und sie schreckte auf. Das Glas rutschte ihr aus der Hand und zersplitterte in tausend Scherben, als es auf dem Boden aufprallte.

Entsetzt sah Jana nach unten und schluckte schwer. »Entschuldige, ich ... ich mache das sofort weg.«

Jana sah sich nach den Gästen um und entdeckte am Tresen der Bar, die gleichzeitig als Rezeption diente, eines der jungen Pärchen, das auschecken wollte. Sie bedachten sie mit einem mitleidigen Blick, so wie die meisten Menschen, die ihr in den letzten Jahren begegnet waren.

Ohne viele Worte zu wechseln, nahm Jana ihnen den Schlüssel ab, händigte die Rechnung aus und kassierte das Paar ab.

»Eine gute Heimreise«, wünschte sie, als Debora mit dem Handy am Ohr durch den Gastraum schwebte. Ihr Blick fiel auf die Scherben, die sich noch nicht in Luft aufgelöst hatten, und sie gab ein Handzeichen, dass Jana sie zu beseitigen hatte.

Sie nickte, aber das bekam ihre gestresste Chefin nicht mit. Seufzend stützte Jana sich auf dem Tresen ab und ließ den Kopf hängen. Sie atmete tief durch, aber es gelang ihr nicht, sich zu beruhigen.

Dieser Tag war ein Albtraum. Nicht nur, dass der erste Schnee den nahenden Winter angekündigt hatte, ihr schien langsam alles über den Kopf zu wachsen. Sie machte den Job gern, aber sie konnte sich nicht zerteilen. Leider vergaß Debora das viel zu oft.

»Alles in Ordnung?« Erschrocken drehte Jana ihren Kopf zur Seite und blickte ihrem Kollegen Jan in die blauen Augen. Er überragte sie beinahe um fünfundzwanzig Zentimeter, hatte blondes Haar und war mit seinen achtundzwanzig nur zwei Jahre älter als sie.

»Ja, ich ... ich habe Kopfschmerzen«, log sie, lächelte unsicher und holte die Kehrschaufel aus dem Putzraum.

Auch wenn sie Jans skeptischen Blick nicht sah, spürte sie ihn, als sie die Scherben auffegte. Den Kopf gesenkt ging sie an ihm vorbei und entsorgte das kaputte Glas im Müll.

»Du bist nicht so eine gute Lügnerin, wie du denkst.« Jan hielt seine Kollegin am Arm fest und sah ihr in die Augen.

Jana verstand sich mit all ihren Kollegen gut, aber Jan hatte ein Talent dafür, ihr direkt in die Seele zu blicken. Er wusste immer, wenn es ihr nicht schlecht und wenn sie vortäuschte, stark zu sein und mit jeder Situation umgehen zu können. Er hätte ein Freund für sie werden können, hätte sie es zugelassen. Aber Jana ließ seit sieben Jahren keinen anderen Menschen mehr an sich heran außer ihrer Schwester. Es verstand sie ohnehin niemand ... nicht einmal ihre Eltern.

»Eine Million Euro für deine Gedanken«, flüsterte Jan.

Ein leises Seufzen entwich Jana. »Ich muss weiterarbeiten.« Sie löste sich von ihm und deckte den Tisch fertig ein.

Nachdem alle Pärchen ausgecheckt waren, räumte Jana die Zimmer auf, bezog die Betten neu und putzte die Bäder. Sie stellte die Putzutensilien weg und eilte zurück in den Gastraum. Ihr blieben nur wenige Minuten, bis sie helfen musste, die Angestellten des Architekturbüros zu bewirten.

»Jana!«, rief Debora aus dem Büro. Sie eilte zu ihrer Chefin, die am Computer saß und nicht glücklich aussah.

»Was gibt es?«, erkundigte sich Jana.

»Hast du die Buchungen für den oberen Saal angenommen?«

»Nei...«

»Hast du nicht gesehen, dass nächsten Samstag bereits eine Hochzeit eingeschrieben ist?«, schnitt sie Jana wütend das Wort ab.

»Ich habe ni...«

»Jana, dir dürfen solche Fehler nicht passieren. Unser Ruf hängt daran. Verdammt, jetzt habe ich wegen dir wieder nur Probleme!«

Jana schluckte schwer. Sie wusste, dass es sinnlos war, Debora darüber aufzuklären, dass sie keine der beiden Buchungen für den Saal angenommen hatte. Wenn ihre Chefin sich einmal in Rage geredet hatte, beruhigte sie sich so schnell nicht.

»Manchmal frage ich mich, warum ich dir solche Aufgaben überhaupt übertrage. Du bist nicht mehr als eine einfache Service-Angestellte«, schimpfte Debora weiter.

»Es tut mir leid«, flüsterte Jana, obwohl sie nicht für den Fehler verantwortlich war.

Debora wollte gerade wieder ansetzen, als Janas Handy klingelte. Irritiert zog sie es aus der Hosentasche und erkannte die Nummer ihrer Mutter. Sofort breitete sich ein schlechtes Bauchgefühl in ihr aus.

»Jana, du hast jetzt keine Zeit zum Telefonieren.«

Die Angestellten des Architekturbüros betraten das Restaurant, aber Jana war klar, dass es einen wichtigen Grund für den Anruf ihrer Mutter geben musste.

»Ja?«, meldete sie sich daher und eilte durch den Gastraum. Ihr war egal, was Debora davon hielt.

»Jana, Liebling, hier ist Mama.« Die Stimme ihrer Mutter klang aufgewühlt und ihr Herz wurde schwer. »Es ist etwas Furchtbares geschehen.«

1.2 Zwei

»Was ist passiert?«, fragte Jana und blieb in der Mitte des Gastraumes stehen, während die Angestellten des Architekturbüros um sie herumgingen und sich einen Platz suchten.

»Es geht um deine Schwester.«

Janas Welt begann sich zu drehen und ihr Herz schlug nicht mehr in seinem gewohnten Takt. Ihre Schwester war ihre einzige Bezugsperson, der einzige Mensch, mit dem sie über alles sprechen konnte.

»Was ist mit Jessi?«, fragte Jana atemlos.

»Sie ist ... sie ist zusammengebrochen und nicht wieder aufgewacht. Sie ... liegt im Koma. Die Ärzte haben sie untersucht, aber die Ergebnisse stehen noch aus.«

»Wird sie ...« Tränen brannten in ihren Augen und ihre Welt drehte sich schneller. Sie fühlte sich benommen, als würde sie ihren Körper verlassen und sich im freien Fall befinden. »Wird sie aufwachen?«

Jan sah, wie seiner Kollegin die Farbe aus dem Gesicht wich, während sie verloren zwischen all den Leuten stand. Er war es auch, der ihr Zittern bemerkte und hinter sie trat.

»Das kann bisher niemand sagen«, antwortete Elvira Bachmann ihrer Tochter. »Aber du musst nach Hause kommen, Jana. Jessica braucht dich jetzt.«

Behutsam legte Jan eine Hand auf Janas Schulter, die vor Schock nichts sagen konnte. Auch Debora erkannte, dass etwas nicht stimmte, und eilte zu ihrer Angestellten.

Jana verlor die Verbindung zu ihrer Welt. Sie hatte gefühlt, dass der erste Schnee des Jahres nichts Gutes mit sich brachte. Langsam ließ sie das Telefon in der Hand nach unten sinken und kämpfte gegen die Ohnmacht an, die ihren Körper einnehmen wollte.

Sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen, sie musste stark sein, für sich selbst, aber vor allem für ihre kleine Schwester.

Aber es rächte sich, dass Jana zu wenig schlief, zu wenig aß und sich zu viel Stress aussetze. Jan fing sie in letzter Sekunde auf, als ihre Beine nachgaben und ihre Augen flatterten.

Jana stürzte in die Dunkelheit und niemand konnte sie retten.

Jan hob sie unter den geschockten Blicken der Gäste auf seine Arme und trug sie auf die Couch im Kaminzimmer. Behutsam legte er sie ab und strich ihr eine Haarsträhne von der Stirn.

»Jana, hey.« Er schob sie leicht an und langsam kam sie wieder zu sich. Verloren sah sie sich um, das Schwindelgefühl aber blieb.

»Es ... es geht mir gut«, flüsterte sie und wollte sich aufsetzen. Sie war zu schwach.

»Bleib ein paar Minuten liegen. Ich hole dir ein Glas Wasser.«

»Das ist nicht nötig. Ich ... es geht mir gut. Lass mich ...«

»Jana, was war da eben los?« Debora schob stürmisch die Flügeltüren zum Kaminzimmer auf und rauschte auf sie zu.

»Ich ... ich brauche frei. Meine Schwester liegt im Koma, ich muss zu ihr«, erklärte Jana mit belegter Stimme.

Stille breitete sich in dem kleinen Raum aus und Jana richtete sich auf. Sie rieb sich die Schläfen, atmete tief durch und versuchte, die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen. In diesem Moment kam Jan mit einem Glas Wasser zurück und reichte es Jana.

»Wie stellst du dir das vor? Wir brauchen dich hier.« Debora stützte die Hände in den Hüften ab.

Jan strafte seine Chefin mit einem bitterbösen Blick. »Hast du nicht zugehört? Janas Schwester liegt im Koma und sie will während dieser Zeit bei ihr sein.«

»Natürlich habe ich das gehört, aber ...«

»Da gibt es kein Aber!«

»Diese Entscheidung hast nicht du zu treffen, Jan«, fauchte Debora, während Jana nur zwischen ihrer Chefin und ihrem Kollegen hin- und hersah. »Ich gebe Jana keinen Urlaub. Das Weihnachtsgeschäft steht an. Außerdem haben wir dank ihr am Wochenende zwei große Veranstaltungen und kein Personal. Tut mir leid.«

Jana senkte den Blick und schluckte schwer. Dass Debora kein Verständnis für ihre Situation aufbrachte, zeigt ihr wieder einmal deutlich, dass sie ihrer Chefin nichts wert war, obwohl sie über achtzig Prozent ihrer Arbeit erledigte. Arbeit, die sie laut ihrem Arbeitsvertrag nicht hätte machen müssen.

»Debora«, mahnte Jan, doch diese schüttelte lediglich den Kopf.

»Jan, du weißt besser wie kein anderer, dass wir auf Jana nicht verzichten können. So viele Leute sind krank, dass Kristin letzte Woche ebenfalls gekündigt hat, macht die Sache nicht besser. Es geht drunter und drüber. Jetzt auf Jana zu verzichten ist nicht drin, so leid es mir tut«, erklärte Debora uneinsichtig.

»Das musst du aber«, meldete sich Jana zu Wort und stand auf. Noch immer zitterten ihre Glieder, aber sie konnte nicht länger warten. Sie wollte nur noch zu ihrer kleinen Schwester. »Ich kündige. Debora, ich kann nicht mehr. Seit ich hier bin, übernehme ich den Großteil deiner Arbeit. Es war immer eine gelungene Herausforderung für mich, deswegen habe ich mich nie beschwert. Aber es reicht. Ich muss zu meiner Schwester, und wenn das bedeutet, dass ich den Job aufgeben muss, dann ist es eben so.«

Debora sah sie fassungslos an. »Ist das dein Ernst?«

»Ja.«

Mit jeder Sekunde, die Debora über die Worte ihrer Angestellten nachdachte, verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck. Jana kannte diesen Moment und wusste, dass ihre Chefin gleich explodieren würde. Meistens hatte sie sich gut im Griff, aber wenn sie vor unlösbare Situationen und Konflikte gestellt wurde, erkannte man ihr cholerisches Ich.

»Ich habe dir eine Chance gegeben, als dir niemand sonst geholfen hat. Und so dankst du es mir?«

»Debora, ich will mich nicht mit dir streiten. Deswegen werde ich jetzt gehen.«

»Du wirst deine Schicht beenden!«

»Nein, ich werde Jana jetzt zu einem Arzt bringen«, meldete Jan sich zu Wort. »Tut mir leid, dass du dir keine Gedanken um deine Mitarbeiter machst, aber ich sorge mich um meine Kollegen. Komm, Jana.«

Jana tauschte einen letzten Blick mit Debora, bevor sie Jan aus dem Kaminzimmer folgte.

»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!«, schrie sie den beiden nach.

»Du riskierst deinen Job«, flüsterte Jana, nachdem sie ihre Sachen geholt hatte und das Gebäude gemeinsam mit Jan verließ. Er öffnete seinen Wagen und sie setzten sich hinein.

»Nein, das tue ich nicht.« Jan lenkte das Auto vom Parkplatz und fuhr in Richtung Innenstadt. »Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich nicht wusste, wie ich es dir beibringen soll. Aber ich habe schon vor zwei Wochen gekündigt. Und die letzten Tage mit dem Drachen überlebe ich auch noch.«

»Oh.« Jana öffnete ihren Mund leicht, hatte aber keine Ahnung, was sie sagen sollte.

»Zu welchem Arzt soll ich dich bringen?«, durchbrach Jan die kurze Stille, die eingetreten war.

»Du kannst mich zu Hause rauslassen. Ich habe morgen ohnehin einen Arzttermin.«

»Aber versprich mir, dass du dich ausruhst.«

»Versprochen.«

Als Jana ihre Wohnungstür aufschloss, fiel die Maske, die sie in Gegenwart anderer Menschen trug, von ihr. Sie presste sich gegen die geschlossene Tür, rutschte auf den Fußboden und weinte.

Ihr Körper zitterte und wurde von lauten Schluchzern erschüttert. Jana konnte stark sein, wenn sie wollte, aber damit zerstörte sie sich nur selbst. In Wirklichkeit war sie schwach und schleppte sich von Tag zu Tag.

Seit Jahren war es ihre Schwester gewesen, die sie wieder aufgebaut und ihr neue Kraft gegeben hatte. Dass ihr diese Stütze nun vielleicht genommen wurde, riss ein weiteres Loch in Janas ohnehin verletztes Herz.

Sie wollte nicht mehr und sie konnte nicht mehr. Jahr für Jahr brachte der erste Schnee die Erinnerungen zurück. Nun hatte er zu seinem letzten Schlag ausgeholt. Er wollte Jana am Boden sehen. Sie sollte die Strafe bekommen, die sie verdient hatte.

Mit zitternden Fingern zog sie ihr Handy aus der Jackentasche und suchte im Internet nach einer Zugverbindung von Berlin nach Dresden. Sie buchte ein Ticket für den nächsten Tag, legte das Handy neben sich auf den Fußboden und ließ den Kopf gegen die Tür sinken.

Starr ging ihr Blick durch den Flur in ihr Wohnzimmer hinein. Sie bemerkte die kleinen Schatten der fallenden Schneeflocken und ballte ihre Hände zu Fäusten. Schmerzhaft gruben sich ihre Fingernägel in ihre Haut, aber sie spürte es schon lange nicht mehr.

Der einzige Schmerz, der sie in sieben Jahren nicht verlassen hatte, war der der Schuld. Er hatte sich tief in ihrem Herzen eingenistet und machte sich seitdem kontinuierlich bemerkbar.

Stechen ... Brennen ... Druck.

Immer, wenn der erste Schnee fiel und das Jahr sich dem Ende zuneigte.

***

Jana zögerte, als sie am nächsten Morgen vor der Praxis in der Hagenstraße stand. Sie hatte ihren Koffer bereits gepackt und das Bahnticket ausgedruckt. Nur eine Millisekunde spielte sie mit dem Gedanken, direkt zum Hauptbahnhof zu fahren, in den Zug nach Dresden zu steigen und den Termin nicht wahrzunehmen. Aber dann wurde ihr bewusst, was sie in der Heimat erwarten würde. Dass ihre Vergangenheit wie ein gefährliches Raubtier auf sie lauern und ihr den Boden unter den Füßen wegreißen würde.

Jana straffte die Schultern und betrat die Praxis ihrer Psychologin Sekunden später. Dr. Ivette Schneider stand am Empfangstresen und sprach mit einer Mitarbeiterin.

»Guten Morgen«, sagte Jana leise und die beiden Frauen sahen auf.

»Frau Bachmann, hallo«, begrüßte Dr. Schneider sie und streckte ihr freundlich die Hand entgegen. Jana ergriff sie zögerlich. »Kommen Sie bitte mit.«

Jana nickte, zog ihren Koffer hinter sich her und stellte ihn zusammen mit ihrer Tasche neben der Tür ab. Dann nahm sie in dem bequemen Sessel Platz und knetete nervös ihre Finger.

Obwohl sie seit sieben Jahren Patientin von Dr. Schneider war, war Jana, immer wenn sie einen Termin hatte, nervös wie am ersten Tag.

»Sie sehen blass aus, Jana. Ist alles in Ordnung?«

Ivette Schneider betrachtete ihre Patientin eingehend. Sie kannte Jana Bachmann schon lange und bemerkte, wann es ihr gut ging und wann nicht. Es war offensichtlich, dass die bevorstehende, kalte Jahreszeit ihr zu schaffen machte. Seit Jahren kämpfte Jana gegen ihre Dämonen, immer dann, wenn der erste Schnee fiel.

»Nein«, brach Jana ihr Schweigen, »es ist nichts in Ordnung.«

Sie senkte den Blick und dachte an die Nachricht, die sie gestern erhalten hatte.

»Meine Schwester ... liegt im Koma. Sie ... ist zusammengebrochen und die Ärzte wissen nicht, warum. Ich ... ich habe es gestern erfahren und werde nach der Sitzung zu meiner Familie fahren.«

»Das tut mir leid«, flüsterte Dr. Schneider und atmete tief durch. Das veränderte den Plan für die Stunde komplett und warf Jana um Wochen zurück.

»Möchten Sie die Sitzung überhaupt wahrnehmen, Jana? Ich könnte verstehen, wenn Sie sofort aufbrechen möchten.«

»Nein, ich ... ich kann nicht nach Hause fahren, ohne ... ohne Ihre Hilfe. Ich fühle mich nicht stark genug.«

»Was macht Sie so unsicher, Jana?«

Sie dachte darüber nach und antwortete ehrlich: »Alles. In Dresden zu sein, ist schwer. Ich ... ich habe es bisher immer vermieden, länger als nötig zu bleiben. Aber dieses Mal ... ich kann nicht sagen, wie lange ich bleiben werde. Davor habe ich Angst.«

»Haben Sie Angst, dass etwas passiert? Oder ist es wegen ihrer Schwester?«

»Beides. Ich war nie länger als drei Tage in der Stadt und in dieser Zeit habe ich das Haus meiner Eltern selten verlassen.«

Jana seufzte kaum hörbar.

»Und was meine Schwester angeht ... der Gedanke, dass ich sie verlieren könnte ...«

Tränen brannten in ihren Augen und sie drückte ihre Fingernägel immer wieder in ihre Haut. Der Schmerz beruhigte sie.

»Es würde mich umbringen.«

Jana biss auf die Innenseite ihrer Lippe, rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her und bewegte die Zehenspitzen in ihren Schuhen.

Dr. Ivette Schneider bemerkte die Unruhe ihrer Patientin. Jana hatte diese Phasen oft, vor allem dann, wenn sie großem Stress ausgesetzt war. Am liebsten hätte Ivette Schneider sie gepackt und gezwungen, ruhig sitzen zu bleiben und durchzuatmen.

»Sehen Sie Ihren Aufenthalt in Dresden als Chance, mit der Vergangenheit abzuschließen.«

»Das versuche ich seit sieben Jahren ohne Erfolg. Wieso sollte es sich plötzlich ändern?«

»Weil Sie stärker sind, als Sie glauben, Jana.«

»Das bin ich nicht. Immer wenn es schneit, breche ich zusammen, fühle mich machtlos und weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich nicht einmal damit umgehen kann, wie soll ich es mit dem Rest? Es muss doch etwas geben, was Sie für mich tun können.«

Hilflosigkeit breitete sich in Jana aus und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie hatte das Gefühl, seit sieben Jahren nicht einen Fortschritt gemacht zu haben. Würde es ihr jetzt für den Rest ihres Lebens so sein? Sollte sie nie wieder glücklich werden und den Ballast ihrer Schuld für immer mit sich tragen?

Sie wollte nicht vergessen, wofür sie verantwortlich war. Keinesfalls. Aber warum fand sie keine Möglichkeit, damit zu leben und sich nicht täglich dafür zu steinigen?

»Jana.«

Ivette Schneider seufzte. Sie verstand den Unmut ihrer Patientin, aber sie gab ihr Bestes. Seit Jahren setzte sie alles daran, Jana aus ihrem Tief zu holen. Aber das war keine leichte Aufgabe. Die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung erforderte Geduld.

»Beruhigen Sie sich. Wenn Sie diesen Besuch nicht nutzen, um Ihre Vergangenheit zu bewältigen, dann versuchen Sie, in den nächsten Wochen nur an Ihre Schwester zu denken. Lassen Sie sie spüren, dass Sie für sie da sind. Sprechen Sie mit ihr, holen Sie sie zurück.«

Jana schwieg. Sie sah auf ihre Hände, die Tränen tropften auf ihre Jeans.

»Sie sind nicht auf sich allein gestellt, Jana. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Ihnen die Situation über den Kopf wächst. Außerdem werden wir die Sitzungen, die Sie verpassen, telefonisch abhalten.«

Die Hilflosigkeit wirkte stärker auf Jana ein und zwang sie, sich in sich selbst zurückzuziehen. Sie verschloss sich vor ihrer Umgebung, vor der Psychologin, aber vor allem vor der bevorstehenden Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Sie konnte nicht mehr, fühlte sich schon allein bei dem Gedanken an die nächsten Tage und Wochen schwach.

Tränen rannen über ihre Wangen, ein stummer Schrei ihrer Resignation. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte, ob sie so stark war, wie Dr. Schneider sagte.

Die Leere breitete sich in ihr aus, eroberte das nächste Stück ihres angeschlagenen Herzens und baute eine weitere meterhohe Mauer um ihre wahren Empfindungen.

Janas Herz glich einem Schloss. Es war kein Märchenschloss, in dem Happy Ends geschrieben wurden. Sondern ein Albtraum, der einsam in der Dunkelheit zurückgelassen worden und von dornenüberzogenen Mauern umgeben war, die jeden Eindringling abwehrten, der es wagte, ihm zu nahe zu kommen.

1.3 Drei

Die Therapiestunde hatte Jana mehr mitgenommen, als alle anderen zuvor. Sie befand sich an einem Punkt, an dem ihre Heilung zu stagnieren schien. Es war auch möglich, dass die ungewisse Krankheit ihrer Schwester für eine Verschlechterung gesorgt hatte.

Als Jana den Hauptbahnhof erreichte, fühlte sie sich erschöpft. Das Gespräch mit Dr. Schneider hatte ihre Kraftreserven aufgebraucht. Der Gedanke, dass sie schon in knapp zwei Stunden in Dresden ankommen würde, machte es nicht besser.

Jana betrat den Zug, der bereits auf dem Gleis stand, und suchte sich einen Viererplatz. Ihren Koffer stellte sie ans Fenster, ihre Handtasche legte sie auf den Platz neben sich.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und sah darauf. In einer kurzen Nachricht schrieb sie ihrer Mutter, wann sie ankommen würde. Diese antwortete schnell mit einem einfachen Okay.

Jana ließ ihr Handy zurück in die Tasche gleiten, sah aus dem Fenster und betrachtete den ICE auf dem Gleis neben der Bahn. Die meisten Fahrgäste saßen auf ihren Plätzen und unterhielten sich, andere arbeiteten an ihren Laptops oder tippten etwas in ihre Handys.

Gedankenverloren verschränkte Jana die Arme vor der Brust und schloss einen Moment die Augen. Sie war so müde, dass sie hätte auf der Stelle einschlafen können. Leise gähnend kuschelte sie sich fester in den Sitz und hoffte auf eine Portion Schlaf.

Seit sieben Jahren hatte Jana mit Schlafstörungen und Albträumen zu kämpfen. Sie fand keine Ruhe. Der Weg ins Bett war der schwerste, den sie jeden Tag vor sich hatte.

Dr. Schneider hatte gesagt, das wäre in Anbetracht ihrer Erkrankung normal, dennoch belastete es Jana. Sie hatte alle möglichen Schlafmittel probiert, die es in der Apotheke und in den Drogeriemärkten zu kaufen gab. Nichts half und die meisten pflanzlichen Mittel sorgten nur für kurze, unruhige Schlafphasen. In denen kämpfte Jana zudem mit ihren Erinnerungen an den schlimmsten Tag ihres Lebens. Sie sah die Bilder wie einen Film, in dem sie die Hauptrolle spielte. Alles fühlte sich so real an, als würde es immer wieder passieren.

Nicht einmal die Tabletten, die ihre Ärztin ihr verschrieben hatte, halfen. Auch sie verschlimmerten die Situation nur, anstatt sie zu verbessern.

»Entschuldigung, ist hier noch frei?«

Jana öffnete die Augen und drehte ihren Kopf zur Seite. Vor ihr stand ein Mann um die dreißig mit hellbraunen, gestylten Haaren und grünblauen Augen. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und seine kantigen Gesichtszüge spannten sich dabei ein wenig an. Er war groß, hatte eine sportliche Figur und trug eine schwarze Jeans sowie einen grauen Anorak.

»Ja, natürlich«, antwortete Jana und schob ihren schwarzen Koffer etwas dichter an das Fenster. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Zug sich schnell gefüllt hatte und jeder Platz in ihrer Umgebung besetzt war.

Der Mann hatte ebenfalls einen Koffer dabei und schob ihn neben Jana ihren.

»Hoffentlich vertauschen wir die Koffer nicht«, sagte er und entblößte ein perfektes Zahnpastalächeln. Jana betrachtete die Koffer flüchtig. Sie waren beide schlicht und schwarz.

»Sicher nicht.« Ein schüchternes Lächeln erlaubte sie sich, als der Mann sich ihr gegenübersetzte.

Unsicher sah Jana aus dem Fenster und wusste nicht, ob sie das Gespräch am Laufen halten sollte. Sie schwieg und zog den Fantasyroman aus ihrer Handtasche, den sie am Morgen eingepackt hatte.

Früher hatte Jana fast ununterbrochen gelesen, das jedoch hatte stark nachgelassen. Jetzt griff sie nur selten zu Büchern, obwohl sie das Abtauchen in fremde Welten genoss und manchmal sogar vermisste. Aber ihre Konzentration ließ es nicht zu. Sie schaltete nicht mehr ab, verlor sich, immer wenn es ruhig um sie herum wurde, in ihrem Gedankenchaos.

So wie in diesem Moment.

Neugierig musterte Eric die junge Frau, die ihm gegenübersaß. Sie sah erschöpft und müde aus. Und sie hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihre Augenringe hinter einer dicken Schicht Make-up zu verbergen.

Ihre natürliche Schönheit wurde von einer schwarzen Regenwolke überdeckt, die über ihrem Kopf zu schweben schien. Ihre außergewöhnlichen grauen Augen wirkten leer und verloren, ihre Mundwinkel hingen leicht nach unten. Sie war hübsch, ohne Frage, mit ihren brünett-blonden Haaren, der geraden Nase und den vollen, rosigen Lippen. Aber sie war traurig, ein Schatten ihres wahren Ichs.

Eric überlegte einige Zeit, ob er das Gespräch wieder ins Rollen bringen sollte. Allerdings wollte er nicht den Eindruck erwecken, sich nur zu ihr gesetzt zu haben, um sie anzubaggern. Er saß hier, weil das mit Abstand der letzte freie Platz im Waggon gewesen war.

Je länger er sie betrachtete, desto sicherer war er sich, dass sie keine Lust hatte, zu reden. Weder mit ihm, noch mit sonst irgendjemandem. Die junge Frau vertiefte sich schnell in einen Roman und verschloss sich damit gegenüber ihrer Umgebung.

Nachdem der Zug sich endlich in Bewegung gesetzt hatte, zog Eric sein Handy aus der Tasche und schrieb seiner WG-Mitbewohnerin Silke eine Nachricht.

Eric

Ich bin unterwegs. Die Fortbildung war eher zu Ende. Räum die Wohnung auf! ;-)

Silke

Die Wohnung blitzt und funkelt. Flo geht einkaufen? Hast du besondere Wünsche?

Eric

Nein, ich lade euch heute Abend auf eine Pizza ein.

Silke

Gibt es etwas zu feiern?

Eric

Nein, ich habe nur Lust auf Pizza.

Grinsend legte Eric das Telefon beiseite und bemerkte in der letzten Sekunde, dass er beobachtet worden war.

Ertappt wandte Jana den Blick ab und starrte auf die Buchstaben in ihrem Buch. Sie tat so, als würde sie lesen, dabei ergaben die Worte für sie keinen Sinn.

Jana bekam sein Lächeln nicht aus dem Kopf und verstand die Wärme nicht, die es in ihrem Inneren hinterlassen hatte. Schließlich kannte sie den Mann überhaupt nicht.

»Ist das Buch spannend?«, fragte er plötzlich leise lachend und Jana sah erschrocken auf. Ihre Wangen brannten wie Feuer. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, aber da sie schlecht flüchten konnte, musste sie sich dem Unbekannten und seinem traumhaften Lächeln stellen.

»Ja, es ist ganz gut«, antwortete sie. Kurze Zeit sah sie ihm in die Augen, konnte seinem Blick aber kaum standhalten. Immer abwechselnd blickte sie vom Buchcover zu dem Mann ihr gegenüber.

»Worum geht es?«, wollte er weiterhin wissen.

»Um eine Stadt, in der Werwölfe das Sagen haben.«

»Sind nicht sonst immer die Vampire die Chefs?« Er lachte leise und Jana schüttelte den Kopf.

»Nein, die sind hier nur eine kleine Minderheit.«

»Gibt es eine Buchverfilmung?«

Jana nickte. »Ja, aber ich habe den Film nicht gesehen, weil ich zuerst das Buch lesen möchte.«

Das war eine kleine Notlüge. In Wirklichkeit hatte Jana das Buch am Morgen nur wahllos gegriffen. Zwar hatte sie mitbekommen, dass der Film in den Kinos gelaufen und nun auf DVD erschienen war, aber deswegen hatte sie das Buch nicht ausgewählt.

»Dann gehörst du zu den Frauen, die im Kino sitzen und die ganze Handlung verraten?«

»Nein.« Jana schüttelte den Kopf und ein zaghaftes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich bin die, die sich über die Unterschiede zum Buch aufregt und die Leinwand deswegen mit Popcorn bewirft.«

Das war nicht ganz gelogen. Früher einmal war Jana dieses Mädchen gewesen. Als sie noch glücklich gewesen war, mit ihren Freundinnen die Stadt unsicher gemacht und Kinoabende geliebt hatte.

Heute ging sie nicht mehr ins Kino. Nicht nur, weil sie niemanden hatte, der sie begleitet hätte. Sondern weil es nicht mehr dasselbe war. Sie hatte es geliebt, wenn sie am Nachmittag in den großen Sälen verschwunden und erst wieder herausgekommen war, wenn es bereits dämmerte. Das hatte sich immer angefühlt wie ein kleiner Zeitsprung.

Sieben Jahre später kam es ihr falsch vor. Die Filme waren falsch, genauso wie das Popcorn und das Gefühl, Spaß zu haben.

»Wahrscheinlich pöbelst du dann auch lautstark«, bemerkte Eric und betrachtete sie eingehend.

»Natürlich.«

Er wusste genau, dass sie ihm etwas vormachte. Das Mädchen, von dem sie erzählte, klang nach einer lebenslustigen Person, die sich keine Gedanken darüber machte, was andere Leute von ihr hielten.

Aber das war nicht die gleiche Frau, die vor ihm saß. Sie war ein gebrochenes Abbild, eine verblasste Erinnerung.

Und sein Herz wurde schwer, als er das erkannte.

1.4 Vier

Mit einem letzten Rucken kam der Zug im Dresdner Hauptbahnhof zum Stehen. Jana legte ihr Buch in die Tasche und nahm ihre Jacke. Gerade als sie aufstehen wollte, erhob sich auch Eric und schob sie aus Versehen leicht an. Jana taumelte zurück.

»Oh Gott, Entschuldigung«, rief Eric aus und reagierte schnell. Er schlang einen Arm um Jana, damit sie nicht zurück auf den Sitz fiel.

Die Berührung durchzuckte Jana wie ein Blitz und sie riss die Augen erschrocken auf, bevor sie die Luft anhielt. Auch Eric fror in seiner Bewegung ein. Ein Kribbeln zog durch seinen Körper, als er der jungen Frau in seinem Arm in die wunderschönen, aber traurigen Augen sah.

»Entschuldigung«, wiederholte er leise und sog ihren süßlich, blumigen Duft tief ein. Sie roch wie der erste schöne Frühlingstag im Jahr, völlig fehl am Platz im Angesicht des beginnenden Winters.

Janas Herz pochte heftig in ihrer Brust. Sie schluckte schwer, ihre Knie zitterten und die Nähe zu dem fremden Mann wurde ihr immer unangenehmer.

»Schon in Ordnung«, erwiderte sie, schob ihn leicht von sich und zog ihre Jacke an. Sie nahm ihre Tasche und den Koffer und eilte davon, ohne Eric eines weiteren Blickes zu würdigen.

Jana verließ den Zug und lief, so schnell ihre Füße sie tragen konnten. Die Nähe hatte sich nicht richtig angefühlt, das konnte sie nicht ... sie verdiente es nicht.

Einige Meter weiter stieg sie in die S-Bahn, die sie in die Nähe ihrer Eltern bringen würde. Diese lebten im Stadtteil Kaditz, etwas außerhalb von Dresden, in einem kleinen Einfamilienhaus mit angrenzendem Garten.

Seufzend ließ Jana sich auf einen Zweierplatz sinken. Noch so eine Begegnung wie in dem anderen Zug brauchte sie kein zweites Mal. Sie rutschte auf den Platz am Fenster und stellte den Koffer zum Schutz vor sich.

Zehn Minuten später stieg Jana aus der S-Bahn. Von der Haltstelle Dresden-Trachau zu ihrem Elternhaus waren es weitere zehn Minuten zu Fuß.

Sie verabscheute diesen Weg so sehr wie nichts anderes. Daran hatte sich in den letzten Monaten und Jahren nichts geändert. Jeder Meter war eine Qual und erinnerte sie daran, was sie getan hatte. Und wenn der Zustand ihrer Schwester sich verschlechterte, dann auch an das, was sie verloren hatte.

Dresden brachte Jana kein Glück.

Jana öffnete das kleine Türchen im Zaun und schloss es wieder, nachdem sie hindurch gegangen war. Sie zog ihren Koffer über den gepflasterten Weg und klingelte schließlich.

Nur wenige Sekunden später öffnete Elvira Bachmann ihrer Tochter die Tür. Ohne ein Wort zu sagen, schloss sie sie in die Arme und presste sie fest an sich. Elvira entging nicht, dass Jana seit dem letzten Mal noch dünner und blasser geworden war. Aber sie sagte nichts. Nicht, weil es ihr egal war, sondern weil Jana empfindlich darauf reagierte. Elvira war froh, ihre Älteste in dieser schweren Zeit bei sich zu haben, auch wenn sie wusste, wie viel Überwindung es Jana gekostet haben musste, zurückzukommen.

»Komm herein, Liebling«, flüsterte Elvira und löste sich von ihrer Tochter. Sie stellte den Koffer zur Seite und zog Jana mit sich in die Küche. »Möchtest du einen Tee trinken?«

»Gern.«

Jana zog ihre Jacke aus und ließ sich an den Küchentisch sinken.

»War die Zugfahrt okay?« Elvira befüllte den Wasserkocher und gab losen Früchtetee in ein Teesäckchen. Jana mochte diesen Tee am liebsten.

»Ja, alles in Ordnung.«

Aber das stimmte nicht. Janas Gedanken schwenkten zu dem Mann und wie er sie an sich gezogen hatte. Sie sah seine grünblauen Augen vor sich, das offene Lachen. Ihr Magen kribbelte, doch davon wollte sie nichts wissen.

»Gibt es Neuigkeiten? Wie geht es Jessi?«

Elvira goss den Tee auf und stellte die zwei Tassen auf den Küchentisch, dann setzte sie sich zu ihrer Tochter.

Jana bemerkte sofort, wie mitgenommen ihre Mutter aussah. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, war blass und wahrscheinlich sehr müde. Ihr brünettes Haar hatte sie lieblos mit einer Klemme hochgesteckt. Einige Strähnen hatten sich bereits gelöst.

»Ihr Zustand ist unverändert. Die Ärzte machen einen Test nach dem anderen, sind aber nach wie vor ratlos.«

Tränen sammelten sich in Elviras Augen und Jana senkte den Blick. Sie hasste es, ihre Mutter weinen zu sehen.

»Wenn man doch nur wüsste, was los ist. Es ging ihr gut und dann ist sie einfach umgekippt. Das ergibt keinen Sinn, Jana.«

»Seit wann ergibt so etwas Sinn?«, hauchte sie und presste die Lippen aufeinander. »Wann kann ich zu ihr?«

»Am besten ruhst du dich selbst etwas aus und morgen fahren wir gemeinsam ins Krankenhaus, in Ordnung?«

Jana nickte. »Papa ist noch auf Arbeit?«

»Nein, er ist bei deiner Schwester, aber ich denke, dass er bald nach Hause kommen wird.«

Nachdem Jana ihren Tee ausgetrunken hatte, nahm sie den Koffer und ging die Treppenstufen nach oben in ihr Zimmer. Sie öffnete die Tür und fand alles so vor, wie sie es vor knapp sieben Jahren verlassen hatte. Die Wände leuchteten in einem zarten mintgrün und cremeweiß. Ihr Bett stand in der Mitte des Raumes, über ihm hingen noch immer der verspielte Baldachin und die drei verschiedenen Traumfänger. Der weiße Schreibtisch war ordentlich, in den Fächern lagen ihre Schulsachen, darauf die Unterlagen der TU Dresden und der anderen Hochschulen, die sie nie gebraucht hatte.

Jana hatte in Berlin ein Studium im Bereich Hotelmanagement begonnen. Weil sie sich nicht hatte konzentrieren können, schaffte sie die Anforderungen schon im ersten Semester nicht. Kurze Zeit später trat sie den Job im ehemaligen Forsthaus an.

Jana legte ihren Koffer auf das Bett und öffnete den weißen Kleiderschrank. In ihm hingen einige der Sachen, die sie nie mitgenommen hatte. Sie waren bunt, leuchteten in allen Farben des Regenbogens und strahlten Lebensfreunde aus. All das, womit Jana sich nicht mehr identifizierte.

Ihre Mutter entsorgte die Sachen deshalb nicht, weil sie hoffte, Jana würde irgendwann aus ihrer Schockstarre aufwachen und ihr Schneckenhaus verlassen.

Seufzend schob Jana die Sachen beiseite und öffnete anschließend den Koffer, um die Kleidung in den Schrank zu räumen.

Als sie nach dem ersten Stapel greifen wollte, stockte sie. Ein herber Parfümduft drang aus dem Koffer, in dem unordentliche Männersachen lagen.

»Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte Jana, als ihr dämmerte, dass sie und der Mann im Zug tatsächlich die Koffer vertauscht hatten.

Sie war so irritiert wegen seiner Berührung gewesen, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, welchen sie an sich genommen hatte.

Seufzend ließ Jana sich auf das Bett fallen und suchte im Koffer nach Kontaktdaten. In einer Seitentasche fand sie eine Mappe mit Unterlagen. Sie öffnete diese und entdeckte die Buchungsbestätigung des Hotels, in welchem der Mann in Berlin übernachtet haben musste. Glücklicherweise hatte er seine Telefonnummer bei der Buchung angegeben.

Jana stand auf und wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Nachdem sie es gefunden hatte, gab sie sofort seine Nummer ein und wartete, dass er den Anruf entgegennahm.

Eric musste feststellen, dass er allein war, als er am späten Nachmittag in der WG ankam, die er mit seiner besten Freundin Silke und deren Freund Flo bewohnte. Die große Vierraumwohnung am Wasaplatz lag im Dresdner Stadtteil Strehlen.

Nachdem Eric seine Schuhe und die Jacke ausgezogen hatte, brachte er den Koffer in sein Zimmer. Er legte ihn auf das Bett und öffnete den Reißverschluss. Was er sah, irritierte ihn jedoch.

Ordentliche Stapel frisch gewaschener Frauenkleidung befanden sich darin. Die meisten Sachen waren schwarz und grau und spiegelten exakt die Traurigkeit wider, die er, während der Zugfahrt, wahrgenommen hatte.

Als Eric hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, wandte er sich ab, stellte sich in den Türrahmen und wartete mit einem Lächeln auf den Lippen auf seine beste Freundin und deren Freund.

Silke und Flo bemerkten ihn im ersten Moment nicht. Erst als er sich leise räusperte, fuhren sie erschrocken herum und lachten schließlich.

»Verdammt, du kannst uns doch nicht so erschrecken.« Silke stellte die Tüte mit den Einkäufen auf den Boden und umarmte Eric, nachdem sie ihm einen Klaps auf den Oberarm verpasst hatte. »Wie war es in Berlin?«

»Die Fortbildung war langweilig, aber die Abende kann man sich in der Stadt ganz gut vertreiben.«

Silke lachte herzlich und ihre grünen Augen leuchteten. Eric betrachtete sie einen Moment. Ihre dunkelblonden Locken hatte sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, aus dem ein paar Strähnen hingen. Ihre normale, kurvige Figur hatte sie in eine schwarze Jeans und einen grauen Hoodie gehüllt. Aber am liebsten mochte Eric ihr Lächeln. Er war glücklich, wenn sie glücklich war. Und das war nach dem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, ein Wunder.

Eric wusste, dass vor allem Flo seinen Anteil daran hatte. Seit Silke ihn kannte, ging es ihr mit jedem Tag besser. Diesen Umstand betrachtete Eric mit Bauchschmerzen. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals so für einen anderen Menschen zu empfinden. Die Angst, diesen plötzlich und ohne Vorwarnung zu verlieren, war zu groß.

»Wir räumen schnell die Einkäufe weg und dann trinken wir einen Kaffee. In Ordnung?«

»Ich helfe euch.«

»Willst du nicht erst einmal deine Sachen auspacken?«, fragte Silke und Eric schüttelte den Kopf.

»Würde ich gern, kann ich aber nicht.«

Silke legte die Stirn in leichte Falten. Eric trat aus dem Türrahmen und deutete auf den Koffer. Mit einem frechen Grinsen auf den Lippen betrachtete Silke die Frauenkleidung.

»Wie ist das denn passiert?«, wollte sie grinsend wissen.

»Meine Sitznachbarin und ich hatten einen ähnlichen Koffer. Ich habe noch Witze darüber gemacht, dass wir sie hoffentlich nicht vertauschen. Irgendwie ging dann alles so schnell, sie hat sich einen Koffer geschnappt und war weg.«

»Ist sie wenigstens in Dresden ausgestiegen?«

»Ja.«

»Und war sie hübsch?«, meldete sich Flo zum ersten Mal, seit er die Wohnung betreten hatte, zu Wort.

»Was hat das mit dem Koffer zu tun?« Eric verdrehte die Augen und seufzte leise. Ja, sie war hübsch gewesen, aber das brauchte niemand zu wissen.

»Los, sag schon«, drängelte Silke. »Sah sie gut aus, oder nicht?«

Eric wollte gerade zu einer weiteren, ausweichenden Antwort ansetzen, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Hosentasche und blickte auf das Display. Die Nummer kannte er nicht.

»Hallo?«, meldete sich Eric und wandte sich von seinen Freunden ab.

»Hallo, ich ... ich glaube, wir haben unsere Koffer vertauscht.« Sie klang unsicher und zurückhaltend. »Ich habe deine Nummer auf den Unterlagen im Koffer gefunden. Ich wollte nicht schnüffeln.«

Eric lachte leise. »Schon in Ordnung.«

»Wann hast du Zeit, damit wir die Koffer zurücktauschen können?«

Jana hoffte, er hätte sofort Zeit, damit sie die Sache hinter sich bringen konnte.

»Wie wäre es morgen Nachmittag?«, schlug Eric vor.

»Okay«, antwortete sie kurz angebunden.

»Gegen sechzehn Uhr bei Starbucks, auf der Prager Straße? Ich muss vorher arbeiten.«

»Ja.« Jana überlegte, was sie noch sagen sollte. Aber ihr fiel nichts ein. »Bis morgen.«

»Bis morgen.«

Eric legte auf und war sofort den neugierigen Blicken seiner Mitbewohner ausgesetzt.

»Hast du morgen ein Date?«, erkundigte sich Silke grinsend.

»Das ist kein Date, wir tauschen nur unsere Koffer zurück.«

»Aber du kannst die Chance nutzen.«