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Ein Unglück kommt selten allein: Job weg – Wohnung weg – Freund weg – Bad Hair Day inklusive! Nelia war nie abergläubisch – bis zu diesem verhängnisvollen Freitag, den 13., an dem sie alles verliert. Ihre Chefin glaubt nicht an sie, ihre Wohnung gleicht einem Haufen Schutt und Asche und ihr Freund spielt lieber mit lebendigen Barbies. Erschöpft und planlos steigt Nelia in einen Fernbus nach Paris, um Berlin für immer den Rücken zuzukehren. Sie braucht eine Auszeit, einen Moment zum Nachdenken und zum Haare ordnen. Denn nicht nur ihre Frisur hat dem Unglückstag nicht standgehalten, sondern auch der Rest ihres Lebens. Aber das Schicksal lässt ihr keine Zeit zum Verschnaufen. Als sie während der Fahrt den attraktiven Marketingchef René kennenlernt, holt ihr persönlicher Albtraumtag zu einem letzten, unerwarteten Schlag aus. Freitag, der 13. – 23:59 Uhr Zwei Menschen, Gefühle, die nicht sein dürfen, und ein Lächeln, irgendwo zwischen Berlin und Paris!
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Seitenzahl: 313
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Sabrina Heilmann
Liebesroman
Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.
Copyright © Sabrina Heilmann, Juli 2018
Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Der Abdruck des Textes, auch nur in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.
Korrektur: Silke Vozaiti, Anna Korrekturfee
Coverbild © Sabrina Heilmann
Coverfotos: © Ekaterina Pokrovsky, www.123rf.com
Bad Hair Day inklusive
Über das Buch
Nelias Albtraum
Auf und davon
Vive la France
Mütterliche Hysterie
Nelias Neuanfang
Pariser Leichtigkeit
Nelia und der Mut
Bröckelnde Fassade
Woche der Zweifel
Nelias Konflikt
Alte Wunden
Alles auf Anfang
Das Karussell
Mütterliche Angst
Renés Geheimnis
Auf den Stufen der Sacré-Cæur
Kindliche Intuition
Renés dunkelste Stunde
Resignation
Nelias Abschied
Home Sweet Home
Das Rauschen der Wellen
Kindliche Ehrlichkeit
Der Kompromiss
Die Einladung
Am Strand
Estelles Zeichnung
Disneyland Paris
Danksagung
Die Playlist
Über die Autorin
Impressum
Ein Unglück kommt selten allein:
Job weg – Wohnung weg – Freund weg
– Bad Hair Day inklusive!
Nelia war nie abergläubisch – bis zu diesem verhängnisvollen Freitag, den 13., an dem sie alles verliert.
Ihre Chefin glaubt nicht an sie, ihre Wohnung gleicht einem Haufen Schutt und Asche und ihr Freund spielt lieber mit lebendigen Barbies.
Erschöpft und planlos steigt Nelia in einen Fernbus nach Paris, um Berlin für immer den Rücken zuzukehren. Sie braucht eine Auszeit, einen Moment zum Nachdenken und zum Haare ordnen. Denn nicht nur ihre Frisur hat dem Unglückstag nicht standgehalten, sondern auch der Rest ihres Lebens.
Aber das Schicksal lässt ihr keine Zeit zum Verschnaufen. Als sie während der Fahrt den attraktiven Marketingchef René kennenlernt, holt ihr persönlicher Albtraumtag zu einem letzten, unerwarteten Schlag aus.
Freitag, der 13. – 23:59 Uhr
Zwei Menschen, Gefühle, die nicht sein dürfen, und ein Lächeln, irgendwo zwischen Berlin und Paris!
So süß und luftig wie ein frisches Croissant – der neue Liebesroman von Sabrina Heilmann.
Wir können immer noch frei sein,
wir haben immer noch Paris.
- Glasperlenspiel
Nelia zog die Bettdecke wieder über ihren Kopf, nachdem der Wecker sie unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Grummelnd krallte sie sich in ihr Kissen und hasste den Tag, bevor er überhaupt begonnen hatte. Sie hatte Kopfschmerzen und ahnte instinktiv, dass dieser Freitag, der Dreizehnte kein Geschenk für sie bereithalten würde.
Dass der Tag der schlimmste ihres bisherigen Lebens werden würde, darauf war sie in diesem Augenblick noch nicht eingestellt.
Wieder klingelte Nelias Handywecker schrill und ihre Hand schoss unter der Bettdecke hervor. Blind tastete sie nach dem Störfaktor auf ihrem Nachttisch und stieß dabei das Wasserglas um, das sie am Abend zuvor mit ans Bett genommen hatte. Sie konnte es nicht ausstehen, in der Nacht aufstehen zu müssen, weil sie Durst bekam.
»Lass das jetzt nicht wahr sein«, jammerte sie und lugte unter der Decke hervor. So sehr sie auch hoffte, gleich aus diesem bösen Traum aufzuwachen, sie tat es nicht. Das Wasser, das sich noch vor wenigen Sekunden in ihrem Glas befunden hatte, lief nun in kleinen Bächen von ihrem Nachtschrank und tropfte in die Pfütze, die sich auf dem Fußboden gebildet hatte.
Der Druck auf Nelias Kopf wurde schlimmer, als ihr Handy sich erneut lautstark bemerkbar machte. Doch dieses Mal war es nicht der Wecker, der sie daran erinnerte, dass sie zur Arbeit musste, sondern ein eingehender Anruf.
Notgedrungen warf Nelia die Decke zurück, griff nach ihrem Telefon, welches das Wasser nicht verschont hatte, und wischte es lieblos an ihrer Bettdecke trocken, bevor sie den Anruf entgegennahm.
»Hallo?«, meldete sie sich und fuhr in einer schnellen Bewegung mit den Fingern durch ihre brünette Lockenmähne.
»Kannst du mir erklären, wo du steckst?«, fuhr ihre Kollegin Jennifer sie an. »Stella läuft Runden in ihrem Büro und fragte mich alle fünf Minuten, ob du schon da bist. Sie will dringend mit dir sprechen. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«
»Meine Kolumne verbucht endlich Erfolge ...«, hauchte sie und konnte es selbst kaum glauben.
Vor einem halben Jahr, nach Ende ihres Germanistik-Studiums, hatte Nelia sich bei Stella Ahlers Lifestyle-Magazin Berlin Trends beworben. Sie hatte ihren Abschluss mit Bravour gemeistert, was Stella beeindruckt hatte. Die Chefin des Magazins bot ihr ein einjähriges Volontariat an und gab ihr die Chance, nicht nur Einblicke in den Magazinalltag zu bekommen, sondern auch eine kleine Online-Kolumne über die Trends ihrer Generation zu schreiben.
Seit ihre Kolumne Nelias Welt das erste Mal online gegangen war, wartete sie auf Feedback. Stella hatte sie immer vertröstet und ihr gesagt, sie müsse die Entwicklung der Kolumne erst abschätzen können. Nach zwei Monaten war klar, dass die Beiträge der Zweiundzwanzigjährigen keinen großen Anklang beim Publikum von Berlin Trends fanden. Doch das hatte Nelia nicht entmutigt. Sie gab sich noch mehr Mühe, arbeitete Umfragen mit ein und unterhielt sich mit Gleichaltrigen. Die Klickzahlen stiegen, auch wenn der große Erfolg ausblieb. Sollte sich dieser Wunsch endlich erfüllt haben?
»Was auch immer es ist, du solltest dich beeilen und sofort in die Redaktion kommen«, erwiderte Jennifer und beendete den Anruf.
Mit einem Lächeln legte Nelia ihr Handy beiseite und warf einen Blick auf die Wasserpfütze, die leider nicht von allein verschwunden war. Doch selbst diese konnte ihre gute Laune, die sich nach dem Telefonat einstellte, nicht trüben.
Heute war der beste Tag ihres Lebens und das würde sie sich von nichts und niemanden kaputtmachen lassen. Punkt!
Dessen war sie sich zumindest in dieser Sekunde zu einhundert Prozent sicher.
Nachdem Nelia den Wasserfleck aufgewischt hatte, eilte sie ins Badezimmer, wo sie sich frisch machte und ein leichtes Make-up auflegte. Sie warf den Kopf nach vorn und fuhr mit den Fingern durch ihre langen, lockigen Haare. Anschließend zog sie eine schwarze Bluse und eine dunkelblaue Jeans an, kontrollierte ihr Aussehen ein letztes Mal und musste feststellen, dass der Concealer ihre Augenringe nicht abgedeckt hatte.
Was solls, dachte sie und ging in den Flur, wo sie in ihre schwarzen Pumps schlüpfte, ihre Sonnenbrille auf die Nase setzte und ihre Tasche über die Schulter hing, bevor sie die Wohnung verließ.
Der Weg zum Bürogebäude, in welchem das Magazin ansässig war, dauerte nur zehn Minuten. Nelias summte leise, als sie zur Bushaltestelle lief, und atmete die herrlich warme Mailuft tief ein. Es war bis jetzt ein wunderschöner Frühling gewesen, der Freude auf den bevorstehenden Sommer machte. Die Vögel zwitscherten und die Menschen kehrten nach dem Winter in die kleinen Cafés und Parks zurück. Nelia liebte den Frühling in Berlin, denn wenn die Blumen blühten, die Bienen leise summten und das Getümmel auf den Straßen ausbrach, wurde die Hauptstadt wieder schön.
Am Bürogebäude angekommen, fuhr Nelia mit dem Fahrstuhl direkt in die dritte Etage. Yvonne vom Empfang begrüßte sie so freundlich wie jeden Morgen und Nelia steuerte direkt auf ihren Schreibtisch zu.
»Da bist du ja endlich!«, rief Jennifer quer durch das Großraumbüro und sicherte sich die Blicke der Kollegen. »Du sollst direkt zu Stella gehen.«
»Hat sie schon irgendetwas gesagt?«, wollte Nelia wissen. Ihre Kollegin schüttelte den Kopf.
»Kein Wort. Nun geh schon, ich bin so ungeduldig.«
»Neugierig bist du gar nicht, hm?« Nelia setzte ihre Sonnenbrille ab und legte sie neben ihre Computertastatur, bevor sie ihre Bluse glatt strich und sich in die Höhle des Löwen begab.
Heute ist der beste Tag meines Lebens, erinnerte sie sich und klopfte zaghaft gegen Stellas Bürotür.
»Herein!«, rief ihre Chefin aus dem Inneren und Nelia betrat das modern eingerichtete Zimmer. »Ah, du bist es. Das wird aber auch Zeit. Setz dich bitte.«
Stella deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und Nelia nahm Platz. Unsicher sah sie ihre Chefin an. Plötzlich bekam sie Zweifel daran, ob es wirklich darum ging, dass ihre Kolumne schlagartig von den Lesern angenommen wurde. Sollte Stella dann nicht etwas glücklicher dreinschauen? Stattdessen waren ihre perfekt geschminkten, fast puppenhaften Gesichtszüge angespannt. Sie strich sich eine lange, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und räusperte sich.
»Also, Nelia, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.«
Stella hatte ebenfalls Platz genommen und sortierte einige Zettel auf ihrem Schreibtisch. Sie konnte Nelia kaum ansehen und diese wusste sofort, dass das kein gutes Zeichen war.
»Deine Kolumne erzielt nach wie vor nicht die Reichweite, die wir erwartet und uns gewünscht hätten. Statt zu steigen, sinken die Leserzahlen mit jedem Artikel. Das liegt nicht daran, dass du nicht schreiben kannst, du triffst offenbar die Themen nicht, die deine Generation interessieren«, erklärte Stella ruhig, griff sie aber schon in der nächsten Sekunde an wie ein bissiger Terrier. »Niemand will etwas über Bücher und kleine Cafés lesen. Social Media Trends, Wie werde ich zum Influencer ... das Neuste über Heidi Klums Topmodels ... das will deine Generation wissen. Die Kolumne ist zu brav und zu langweilig. Die jungen Leute wollen erfahren, wie sie ihre Träume erreichen und in der sozialen Welt bekannt werden können, aber das bietest du ihnen nicht. Bei dir erfahren sie lediglich, wie man den stressigen Alltag vergisst und sein Wochenende verschwendet.«
Nelia schluckte schwer.
»Verstehst du, was ich dir damit sagen will, Nelia?«
Stella klimperte unschuldig mit den falschen Wimpern, als hätte sie ihre Angestellte auf ein Glas Wein eingeladen, anstatt sie zu kritisieren.
»Nein, ehrlich gesagt nicht.«
Abwehrend verschränkte Nelia die Arme vor der Brust, weil sie ahnte, dass dieses Gespräch keinen positiven Ausgang nehmen würde. All ihre Hoffnungen zerschlugen sich innerhalb einer Minute und hinterließen nur ein Stechen in ihrem Herzen.
»Ich will damit sagen, dass du die besten Voraussetzungen hattest, selbst ein Social Media Star und Influencer zu werden – so wie ich – vorausgesetzt du hättest deine Kolumne richtig angepackt. Nur deswegen habe ich dir diese Chance gegeben. Aber du hast sie nicht genutzt, Kleine.«
»Was versuchst du mir zu sagen, Stella?«
»Ich habe mich lange mit den Kollegen darüber unterhalten, wie es mit dir und deiner Kolumne weitergehen soll. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass wir sie nicht länger veröffentlichen werden.«
Nelias Welt brach im wahrsten Sinne des Wortes in dieser Sekunde zusammen. Sie öffnete den Mund leicht, schloss ihn aber gleich wieder und atmete tief ein und aus. Niemand glaubte an sie und ihre Kolumne ... die Leser nicht, und die Redaktion schon gar nicht.
»Was bedeutet das für mein Volontariat?«, fragte sie leise und suchte die eiskalten, blauen Augen ihrer Chefin, die sie vor ein paar Tagen noch so sehr bewundert hatte. Jetzt war Nelia enttäuscht und verletzt.
»Es tut mir leid, aber ohne die Kolumne kann ich deine Stelle nicht halten. Ich weiß nicht, woran du sonst arbeiten könntest.«
»Stella, aber ...«
»Ich habe alles versucht, Nelia, das musst du mir glauben. Du hast Potenzial, aber ich habe keine Möglichkeit, es hier länger zu fördern. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass du eine kleine Sonderzahlung erhältst, mit der du erst einmal eine Weile über die Runden kommen solltest. Außerdem habe ich ein Arbeitszeugnis aufgesetzt. Mit diesem solltest du schnell wieder einen Volontariatsplatz bei einem anderen Magazin bekommen. Ich denke, die Lifestyle-Richtung ist einfach nichts für dich. Probier es doch mal bei der Tageszeitung.«
Stella reichte ihr eine Mappe mit ihren Unterlagen.
»Weil ich für mein Alter zu langweilig bin, hm? Ich verstehe schon.«
Nelia überflog die Unterlagen. Das Kündigungsschreiben, das sie sofort aus ihrer Anstellung entließ. Das Arbeitszeugnis, das auf den ersten Blick sehr für sie sprach. Und die Honorarabrechnung mit der Sonderzahlung.
»Siebentausend Euro dafür, dass ich stillschweigend das Feld räume und aufgebe?«
»So würde ich das nicht nennen. Sieh es als Start in eine Zukunft, die dir mehr liegt. Und lass dir die Lust am Schreiben nicht nehmen. Deine Kolumne war fachlich auf einem sehr hohen Niveau, sie passte nur leider nicht zu Berlin Trends.«
»Ist das alles?«
Nelia schlug die Mappe zu und richtete ihren Blick auf ihre ehemalige Chefin.
»Ich wünsche dir für die Zukunft nur das Beste. Du kannst dir in der Branche einen Namen machen, wenn du nicht aufgibst.«
Stella stand auf und wollte Nelia die Hand reichen. Aber diese erhob sich nur wortlos, nahm ihre Unterlagen und verließ das Büro. Alle Augen waren auf Nelia gerichtet und sie spürte das Brennen der aufsteigenden Tränen. Sie war maßlos über sich selbst enttäuscht und gleichzeitig so wütend auf Stella und all die Kollegen, die sich gegen ihre Kolumne ausgesprochen hatten. Wenn sie nicht die richtigen Themen getroffen hatte, dann hätte man ihr das sagen können. Man hätte ihr Hinweise und Tipps geben und ihr etwas Neues beibringen können, anstatt sie sechs Monate ins offene Messer laufen zu lassen.
Nelia steuerte auf ihren Schreibtisch zu und stopfte alles, was ihr gehörte, in ihre Handtasche.
»Kannst du mir erklären, was genau du da treibst?«, fragte Jennifer ahnungslos und stand von ihrem Platz auf. Sie und Nelia hatten sich auf Anhieb gut verstanden und angefreundet. Sie verbrachten nicht nur bei der Arbeit Zeit miteinander, sondern trafen sich auch in regelmäßigen Abständen privat.
»Meine Kolumne ist Geschichte ... und ich bin es auch.« Mit zitternden Finger zog Nelia den Reißverschluss ihrer Tasche zu, was ihr nicht auf Anhieb gelingen wollte.
»Was soll das bedeuten?«
»Das ich jetzt zwar siebentausend Euro mehr auf dem Konto, dafür aber keinen Job mehr habe. Sei mir nicht böse, wir sprechen später. Ich will nur noch weg. Sie haben es alle gewusst.«
Nelia kniff die Lippen fest aufeinander und atmete tief durch, um nicht vor allen in Tränen auszubrechen. Diese Niederlage würde sie sich auf keinen Fall eingestehen.
»Ich habe es nicht gewusst«, brachte Jennifer zu ihrer Verteidigung hervor.
»Das weiß ich, sonst hättest du es mir gesagt. Lass uns ... lass uns irgendwann etwas trinken gehen. Ja?«
»Natürlich.«
Nelia umarmte ihre Freundin und machte sich endgültig auf den Weg.
Nelia versuchte, nicht zu weinen. Aber als sie sich auf der Bank im Haltestellenhäuschen niederließ, verlor sie den Kampf. Die Tränen rannen wie kleine Sturzbäche über ihre Wangen und machten den Tag völlig zunichte. Ihre Kopfschmerzen waren in den letzten zehn Minuten stetig stärker geworden und sie wollte nach Hause in ihr Bett. An so einem Tag halfen nur eine Kopfschmerztablette, ein Glas Wein und anschließend eine Decke über ihrem Kopf, die sie vor der bösen Umwelt schützen würde.
Als die Passanten begannen, ihr komische und mitleidige Blicke zuzuwerfen, wischte Nelia sich hastig die Wangen trocken. Eine Sekunde später hatte sie ihre Sonnenbrille auf die Nase geschoben und war aufgestanden, um in den Bus zu steigen, der vor ihr hielt.
Für einen kurzen Moment sprach sie sich selbst Mut zu, sagte sich, dass es nicht so schlimm war und dass sie vielleicht wirklich für das falsche Magazin gearbeitet hatte. Und dennoch saß der Schmerz darüber tief, dass sie gescheitert war.
Sie stieg aus dem Bus und hörte schon von Weitem das Sirenengeheul. Plötzlich rasten Polizei- und Krankenwagen, sowie die Feuerwehr an ihr vorbei und bogen in die Straße ab, in der sie wohnte. Bereits als sie in den Kreuzungsbereich trat, blieb Nelias Herz stehen. Unzählige Menschen wurden von den Feuerwehrleuten auf die andere Straßenseite gebracht, während die ersten Rettungskräfte in das Haus liefen, in dem mehrere Etagen eingestürzt waren. Erst im nächsten Augenblick registrierte die junge Frau, dass es sich um ihr Wohnhaus handelte, das in Schutt und Asche lag – ebenso wie ihre Wohnung.
»Oh Gott ...«, hauchte sie atemlos und rannte, so schnell ihre Pumps es zuließen, auf die Beamten zu, die sich vor dem Haus versammelt hatten und versuchten, die Anwohner, die unverletzt waren, zu beruhigen.
»Nelia, Gott sei Dank«, rief plötzlich eine Frauenstimme. Ella Seidel, ihre fünfundsechzigjährige Vermieterin, trat aus der Menschentraube und schloss sie in die Arme. »Ich dachte, du wärst in der Wohnung. Ich hatte solche Angst um dich.«
»Frau Seidel, was ist denn passiert?«
Nelia sah zum Wohnhaus und betrachtete ihr völlig verwüstetes Schlafzimmer. Ihr Bett lag zertrümmert neben einem der Nachtschränke, ihrem Laptop und Trümmern der Hausfassade auf dem Gehweg, den die Polizei großräumig abgesperrt hatte. Fensterscheiben waren zersplittert, Betonteile begruben alles unter sich, Menschen weinten.
»Eine Gasexplosion. Ich ... ich war gerade aus dem Haus gegangen, auf dem Weg zum Supermarkt. Als ich um die Kurve ging, gab es einen entsetzlichen Knall. Da war es schon zu spät. Wir müssen die Ergebnisse der Einsatzkräfte abwarten ... Es tut mir so leid.«
Stunden vergingen, in denen Nelia mit allen anderen Hausbewohnern, die sicher aus dem Haus gekommen waren, auf den Ursachenbericht wartete. Sie hatte sich auf den Fußweg gesetzt, die Beine angewinkelt und starrte auf das teilweise zerstörte Haus. Sie fragte sich, ob dieser Tag noch schlimmer werden konnte, und ließ den Kopf an die Hauswand sinken, während sich die Tränen erneut ihren Weg suchten.
Sie hatte keinen Job mehr, keine Wohnung und auch sonst nichts, außer den Dingen, die sie momentan bei sich trug.
Es war später Nachmittag, als man bekannt gab, dass nur materieller Schaden entstanden war. Alle Hausbewohner konnten sich in Sicherheit bringen oder waren zur Zeit der Explosion nicht im Gebäude gewesen. Das Haus selbst jedoch war hochgradig einsturzgefährdet. Nelia schluckte schwer und rappelte sich auf.
Dieser Tag war ein Albtraum.
»Nelia, wo willst du jetzt hin?«, fragte Frau Seidel besorgt.
»Ich werde zu meinem Freund fahren ... ich ... ich weiß auch nicht ... ich kann sicher bei ihm bleiben«, antwortete sie leise und atmete tief durch. Sie war völlig überfordert mit der Situation und wollte nur Abstand von allem gewinnen. Und sie brauchte jetzt eine starke Schulter zum Anlehnen, jemand, der sie in den Arm nahm und für sie da war.
Frau Seidel nickte und ließ sie gehen, auch wenn ihr der verletzte Ausdruck ihrer jungen Mieterin überhaupt nicht gefiel. Doch in diesem Augenblick konnte sie nichts für Nelia tun.
Eine halbe Stunde dauerte der Weg, den Nelia bis zur Wohnung ihres Freundes Maximilian vor sich hatte. Als sie das moderne Neubaugebiet erreichte, fühlte sie sich augenblicklich besser. Hier erinnerte sie nichts an ihre zerstörte Wohnung oder an den verlorenen Job. Sie und Maximilian waren seit über zwei Jahren ein Paar. Die beiden hatten sich in der Uni kennengelernt und kamen kurze Zeit später zusammen. Max war schon immer ein Profi darin gewesen, Nelia abzulenken, wenn es ihr schlecht ging. Sicher würde er auch heute dafür sorgen, dass sie auf andere Gedanken kam. Daran verschwendete sie nicht einen Zweifel.
Nelia atmete tief durch und schloss mit ihrem Schlüssel die Haustür auf. Eigentlich war es nicht geplant gewesen, dass Maximilian und sie sich heute sahen, aber sie wusste nicht, wo sie sonst hinkonnte. Ihre Eltern lebten an der Ostsee und die gegenseitigen Besuche wurden akribisch geplant. Gerd und Heike Winter leiteten eine Bank im schönen Rostock. Ihre Zeit hatten sie genauso korrekt angelegt wie ihren Alterssparplan. Da passte ein unangekündigter Besuch ihrer leider viel zu kreativen und freiheitsliebenden Tochter nicht ins Bild.
Im dritten Stock angekommen, öffnete Nelia die Wohnungstür und betrat die große Dreiraumwohnung ihres Freundes. Sie wusste, dass Maximilian heute einen langen Arbeitstag vor sich hatte und wunderte sich nicht über die Stille, die sie vorfand. Im Grunde war sie sogar dankbar, dass sie einen Moment für sich hatte. Was in den letzten Stunden alles auf sie eingestürmt war, war schlicht und ergreifend zu viel gewesen.
Nelia schlüpfte aus ihren Pumps und stellte ihre Tasche neben sich auf den Fußboden. Sie ging in die Küche, wo sie sich zunächst ein Glas Wasser eingoss und zwei von den pflanzlichen Beruhigungstabletten schluckte, die Maximilian regelmäßig nahm, wenn er mal wieder mit Einschlafproblemen zu kämpfen hatte. Anschließend zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich auf die Couch sinken ließ und ins Leere starrte.
Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich förmlich und hinterließen ein heilloses Durcheinander. Nichts schien mehr an seinem Platz zu sein, alles war chaotisch und komplett zerstört worden. Ihren Job zu verlieren war die eine Sache, dass ihre Wohnung sich praktisch in Luft aufgelöst hatte, eine ganz andere.
Nelia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, während sie reglos und gedankenverloren auf der Couch gesessen und auf Maximilian gewartet hatte. Als das laute Poltern an der Tür sie allerdings aufschreckte, registrierte sie, dass das Licht draußen schwächer wurde. Sie stand auf, trank den letzten Schluck aus ihrem Wasserglas und ging in Richtung Flur, wo die Geräusche herkamen. Jemand schloss die Tür auf – Max, das dachte Nelia zumindest. Aber sie täuschte sich. Anstelle von ihrem Freund erschienen ein zierlicher Frauenkörper und ihr sehr vertraute Hände, die wild in den blonden Haaren der fremden Frau wühlten. Maximilian schob sie gegen die Flurwand und schloss die Wohnungstür mit einem lässigen Fußtritt.
Erschöpft lehnte Nelia sich an den Rahmen der Wohnzimmertür und kämpfte gegen das erneute Brennen in ihren Augen. Als sie dachte, dieser Tag könnte nicht schlimmer werden, hatte sie sich offensichtlich getäuscht.
»Max«, hauchte sie leise und schien von ihrem Freund und seiner Eroberung überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. »Maximilian!«
Erschrocken fuhren die beiden auseinander und starrten Nelia an.
»Nelia, was machst du hier?«, wollte Max wissen und strich sich verzweifelt durch die dunklen Haare. Er ging auf seine Freundin zu und wollte sie in eine Umarmung ziehen.
»Ach nichts, Stella hat mich nur gefeuert und falls du irgendetwas von einer Explosion in einem Wohnhaus gehört hast: Meine Wohnung war dort, wo jetzt das große Loch ist. Und wo wir gerade dabei sind, schönes Leben noch, Arschloch.«
Nelia schob sich an Maximilian vorbei, schlüpfte in ihre Schuhe und schnappte ihre Tasche, bevor sie dem blonden Püppchen neben sich einen bitterbösen Blick zuwarf. Als sie am Garderobenspiegel vorbeiging und eine Sekunde ihr Abbild betrachtete, erschrak sie. Sie sah furchtbar aus. Ihre Augen glänzten, sie war blass und ihre brünetten Locken sahen aus, als hätte ein Vogel vor, darin zu nisten.
Wenigstens war der Bad Hair Day inklusive, dachte sie verbittert und verschwand schleunigst aus der Wohnung. Auch wenn Nelia inständig hoffte, Maximilian würde sie einfach so gehen lassen, tat er genau das nicht.
»Nelia, Liebling, warte.« Er lief ihr nach und packte sie auf den letzten Stufen am Handgelenk.
»Lass mich verdammt noch mal los!«, fauchte sie und schleuderte seine Hand weg. »Ich will keine Erklärungen hören, ich will nicht wissen, ob es so ist, wie es aussieht ... ich will meine Ruhe haben, verstehst du das?«
»Wenn du doch nur geschrieben hättest, was los ist«, flüsterte Max und fachte die Wut seiner Freundin noch mehr an.
»Was dann? Dann hättest du die Barbie nicht mit nach Hause genommen? Hättest du es ihr dann an einem anderen Tag besorgt? Lass es sein, Max, ich will gar nicht wissen, wie lange du mich schon verarschst.«
»Nelia, ich liebe dich. Wo willst du denn jetzt hin?«
»Weißt du, ich habe meine Kolumne, meinen Job und meine Wohnung auch geliebt. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da muss man sich trennen und einen neuen Weg einschlagen«, erwiderte sie eiskalt und versuchte, ihre Gleichgültigkeit zu bewahren. Sobald sie allein war, würden die Tränen nur so aus ihr herausbrechen und das letzte Bisschen, was von ihrem Leben übrig war, zunichtemachen.
»Nelia, so leicht ist das aber nicht.«
»Doch, ist es!«
Nelia nahm die letzten Treppenstufen und verschwand aus dem Wohnhaus.
Dieser Tag hatte sich zu einer ausgewachsenen Katastrophe entwickelt. Nelia hatte zwar siebentausend Euro mehr auf dem Konto, dafür aber keinen Job, keine Wohnung und keinen Freund. Das waren die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft.
Ziellos irrte Nelia durch die Hauptstadt und überlegte, wie es für sie weitergehen sollte. Zu ihrer Überraschung hielt sie sich recht wacker und erlaubte den Tränen nicht, an die Oberfläche zu treten. Nelia war gefasst, vielleicht weil sie wusste, dass sie sich einen Nervenzusammenbruch in dieser Sekunde nicht leisten konnte. Sie brauchte in erster Linie einen Schlafplatz und musste pragmatisch denken. Zum Weinen hatte sie später immer noch Zeit. Nelia überlegte, ob sie Jennifer anrufen und sie um Hilfe bitten sollte. Sie war ihr einziger Anlaufpunkt in der Stadt.
Während des Studiums hatte Nelia zwar Freundschaften geschlossen, doch diese waren zerbrochen, sobald jeder seinem eigenen Leben nachging und das Studium nicht mehr als gemeinsame Verbindung fungierte. Bislang hatte es sie nicht gestört, dass der Kontakt von Monat zu Monat weniger wurde, doch nun realisierte sie, dass sie niemanden mehr hatte.
Nelia blieb stehen und sah sich um. Sie war einfach nur gelaufen und hatte kaum mitbekommen, wohin sie der Weg geführt hatte. Irritiert blickte sie auf den Busbahnhof, der von allen nur ZOB genannt wurde, und fragte sich, ob es ein Zeichen war, dass sie ausgerechnet an diesem Ort gelandet war. Von hier aus fuhren Fernbusse in alle Richtungen der Welt.
Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht aus Berlin verschwinden sollte, wurde aber vom Knurren ihres Magens abgehalten. Nelia hatte den gesamten Tag über nichts gegessen und war zum ersten Mal froh, ein Fast Food Restaurant in der Nähe zu haben.
Sie überquerte die Straße und betrat den Laden, der gnadenlos überfüllt war. Die Schlange an der Kasse war endlos lang und die Sitzplätze waren fast alle von jungen Leuten belegt, die schnell einen Happen essen wollte, bevor sie die Stadt verließen.
Weil Nelia nichts anderes übrig blieb, stellte sie sich an und suchte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie. Eigentlich hasste sie diese nach Pappe schmeckenden, lieblos zusammengeworfenen Burger, doch das war im Moment besser als nichts.
Als sie endlich an der Reihe war, bestellte sie sich ein Burgermenü, bezahlte und hoffte, dass sie einen Platz finden würde. Sie sah sich um und bemerkte, dass eine Gruppe Jugendlicher von ihrem Tisch aufstand. Nelia steuerte direkt auf den freien Platz zu und rutschte in die hinterste Ecke.
Freudlos aß sie den Burger und die labbrigen Pommes und trank ihre Cola light. Anschließend suchte sie in der Tasche nach ihrem Handy und blickte darauf. Niemand hatte sie angerufen oder ihr geschrieben. Auch Maximilian nicht, der sich offenbar lieber mit der Blondine tröstete, als einen weiteren Versuch zu unternehmen, seine Freundin zurückzubekommen.
Nelia öffnete die Facebook-App auf ihrem Handy und checkte ihr Profil, das ihr plötzlich wie eine riesige Lüge vorkam. Sie hatte das soziale Netzwerk genutzt, um ihre Kolumne zu vermarkten, wenn auch mit geringem Erfolg. Nun musste sie ihren wenigen Fans erklären, dass es vorbei war. Sie scrollte einige Beiträge ihrer Freunde durch und stolperte über ein Zitatbild, das eine ehemaligen Studienfreundinnen gepostet hatte.
Paris ist immer eine gute Idee, stand darauf.
Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Nelia und checkte anschließend ihr Instagram-Profil, auf dem sie, seit über einer Woche, nichts Neues mehr veröffentlicht hatte. Gerade einmal zweihundertfünfunddreißig Menschen interessierte ihr Profil. Stella hatte recht, sie war meilenweit davon entfernt, ein Social Media Star zu werden. Dennoch sah sie sich die Beiträge ihrer Freunde an und stutzte plötzlich, als ihr der Eiffelturm ein weiteres Mal entgegen lächelte.
Ein schlechter Tag in Paris ist immer noch besser, als ein guter Tag woanders, stand auf diesem Bild, das ironischerweise Teil einer Werbeanzeige eines Fernbusunternehmens war.
Nelia glaubte nicht an Zeichen und dennoch, nachdem sie ihren Platz aufgeräumt und das Schnellrestaurant verlassen hatte, steuerte sie zielgerichtet auf die Anzeigetafel zu, welche die nächsten Abfahrten zeigte. Sie hielt die Luft an.
Paris: 20 Minuten
Amsterdam: 24 Minuten
Leipzig: 25 Minuten
Hamburg: 33 Minuten
Konnte sie das wirklich machen? Sich einfach so ein Ticket nach Paris kaufen und ohne ein Wort aus Berlin verschwinden?
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, gab es keinen Grund, länger zu bleiben. Alles, was Nelia an die Hauptstadt gebunden hatte, hatte sie an diesem einen Tag verloren. Kein Job, keine Wohnung, kein Freund, dafür eine Sonderzahlung von siebentausend Euro, mit der sie machen konnte, was sie wollte. Was sprach gegen eine Auszeit in der Stadt, von der sie schon seit Jahren träumte?
Nelia sprach fließend Französisch und sollte keine Probleme haben, sich in der Stadt zurechtzufinden. In der Schule hatte sie die Sprache gelernt, während des Abiturs hatte sie sie vertieft und sich schließlich dafür entschieden, Französisch in ihrem Studium als Nebenfach zu wählen. Sie liebte das Land und die Mentalität der Leute, auch wenn sie bislang nie in Frankreich gewesen war.
Ich habe nichts zu verlieren, dachte sie, kaufte sich ein Ticket und stand fünf Minuten später vor dem Bus, der sie innerhalb der nächsten zwölf Stunden nach Paris bringen würde. Die ersten Fahrgäste waren bereits eingestiegen. Nelia zeigte dem Fahrer ihr Ticket und er betrachtete sie verwundert.
»Haben Sie kein Gepäck?«
»Nein, nur die Tasche.«
Er nickte und machte den Weg für sie frei. Nelia suchte sich einen Platz im hinteren Teil des Busses und streifte sich die Pumps von den Füßen, die mittlerweile furchtbar schmerzten. Und auch sonst fühlte sie sich schrecklich erschöpft, müde und kraftlos.
Sie wollte nur für einen Moment die Augen schließen, doch ihr Körper holte sich die Ruhe, die er offenbar dringend benötigte.
Als Nelia wieder zu sich kam, fuhr der Bus in gleichmäßigem Tempo über die Autobahn. Draußen war es stockdunkel und im Bus selbst brannte nur ein schwaches Nachtlicht. Irritiert blickte sie aus dem Fenster, konnte die Ortsnamen auf den vorbeiziehenden Schildern aber nicht erkennen.
»Gut, Sie sind nicht tot«, flüsterte plötzlich eine attraktive, männliche Stimme mit starkem französischen Akzent.
Nelia blickte neben sich und sah in die grauen Augen eines Mannes, den sie auf Anfang dreißig schätzte. Sein dunkelblondes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, in der Mitte lang, und fiel gewollt unordentlich links über seine Stirn. Der gepflegte, kurze Bart rahmte sein maskulines Gesicht ein und ließ ihn verwegen wirken.
»Seit wann sitzen Sie hier?«, fragte Nelia irritiert, richtete sich auf und versuchte, ihre Haare zu richten, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn machte.
»Depuis un bon momente. Seit Berlin, Mademoiselle.«
Nelia nickte und betrachtete ihren attraktiven Sitznachbarn skeptisch. War sie so erschöpft gewesen, dass sie überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass er sich neben sie gesetzt hatte? Offenbar. Und warum saß er überhaupt hier? Im Bus waren unzählige Doppelplätze nicht belegt.
»Excusez-moi«, sprach Nelia nun Französisch, weil sie sich so besser mit dem Mann verständigen konnte, dem die deutsche Sprache sichtlich schwerfiel. »Entschuldigen Sie, aber warum sitzen Sie hier? Es sind genügend andere Plätze frei.«
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Man hätte Sie mit Leichtigkeit ausrauben können, so fest haben Sie geschlafen«, antwortete er in seiner Muttersprache und Nelia fand keinen Grund, ihm zu misstrauen. »Wenn Sie möchten, setze ich mich um, jetzt, da Sie wach sind.«
»Schon in Ordnung, bleiben Sie ruhig hier.« Nelia lächelte unsicher und senkte den Blick einen Moment auf ihre Hände, die sie nervös knetete.
»Was verschlägt Sie á la ville de l'amour?«
»Wenn ich das wüsste ...«, flüsterte Nelia und handelte sich einen fragenden Blick ihres Gegenübers ein.
René glaubte, sich verhört zu haben. Dass irgendetwas mit der jungen Frau nicht stimmte, hatte er schon geahnt, als er neben ihr Platz genommen hatte. In Wirklichkeit hatte er sich nicht zu ihr gesetzt, weil er Angst hatte, dass man sie ausrauben könnte. Im Bus waren nur wenige Menschen und neunundneunzig Prozent hatten nur mit sich selbst oder ihrem Handy zu tun. Nein, sie hatte im Schlaf geweint. Erst war René sich nicht sicher gewesen, ob sie wach war und weinte, doch sein Beschützerinstinkt machte sich sofort bemerkbar. Sie war noch so jung, vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt. Ihre braunen Haare wirkten wirr, ihr Gesichtsausdruck erschöpft und ihre Kleidung zerknittert. Irgendetwas war ihr passiert, darauf hätte er alles verwettet, was er besaß.
»Willst du mir sagen, was los ist?«, entschied er, sie nicht mehr in der Höflichkeitsform anzusprechen, weil es ihm plötzlich albern vorkam.
Nelia atmete tief durch und betrachtete den Mann, dessen Namen sie nur zu gern erfahren hätte. Aus irgendeinem Grund vertraute sie ihm. Warum? Das konnte sie beim besten Willen nicht sagen.
»Ich habe kein Leben mehr«, antwortete sie kryptisch.
»Wie alt bist du? Maximal zweiundzwanzig. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir.«
»Gut geschätzt. Wie würdest du dich fühlen, wenn du an einem Tag deinen Job verlierst, deine Wohnung im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft fliegt und du, weil das alles nicht schlimm genug ist, deinen Freund mit einer vollbusigen Barbie erwischst?«
Nelias Augen füllten sich mit Tränen und sie kniff die Lippen fest aufeinander. Warum hatte sie ihm all das gesagt? Sicher wollte er das gar nicht wissen, oder er hielt sie für völlig verzweifelt.
»Du bist auf dem Weg nach Paris. Das heißt, du gibst nicht auf und bist bereit für einen Neuanfang.«
»Ich bin auf dem Weg nach Paris, weil die Werbung des Busunternehmens im Internet gesagt hat, schlechte Tage in Paris seien besser als gute Tage woanders. Hätte ich Timbuktu-Werbung gesehen, wäre ich jetzt auf dem Weg nach Afrika und nicht nach Frankreich«, erklärte sie selbstironisch.
»Dein Freund ist ein Idiot. Dein Chef auch. Aber das mit deiner Wohnung musst du erklären.«
Er wollte sie aufbauen, das wusste Nelia, und dennoch fiel ihr dieser Small-Talk unheimlich schwer. Weil sie dennoch nicht unhöflich sein wollte, zog sie ihr Handy aus der Tasche, flüsterte leise »un momente« und zeigte dem jungen Mann schließlich den ersten Online-Artikel über den Vorfall. Mittlerweile war bestätigt worden, dass ein Leck in der Heizung eine Gasexplosion ausgelöst hatte.
»Ç'est terrible«, stieß er fassungslos aus und machte große Augen. »Wo warst du, als das passiert ist?«
»Bei der Arbeit. Als ich zurückkam, war es schon zu spät. Ich besitze nur noch die Sachen, die ich anhabe, und die sich in meiner Tasche befinden. Der Rest ist zerstört worden.«
»Mittlerweile verstehe ich, warum du in diesem Bus sitzt. Weißt du schon, wo du in Paris unterkommen wirst?«
Nelia schüttelte den Kopf. Das war ein Punkt, über den sie sich bislang überhaupt keine Gedanken gemacht hatte. Wahrscheinlich würde sie sich ein Hotel suchen und so lange bleiben, bis ihr Geld aufgebraucht war. Wobei es absolut unklug war, die Sonderzahlung bis auf den letzten Cent auszugeben. Ehe die Versicherung den Schaden bezahlen würde, musste sie sich eine neue Wohnung suchen, von irgendetwas neue Möbel kaufen und ihr Leben neu strukturieren. Außerdem hatte sie keinen Job mehr.
Mit einem Schlag wurde Nelia bewusst, welche große Dummheit sie begangen hatte, als sie in den Bus gestiegen war. Sie konnte nicht vor ihren Problemen davonlaufen. Wenn sie zurückkam – wahrscheinlich arm wie eine Kirchenmaus – waren ihre Sorgen trotzdem noch da.
»Nein, ich ... ich sollte mit dem nächsten Bus zurückfahren.«
»Ich finde, das solltest du nicht tun. Meine Freundin Florence hat eine Pension und eine kleine Bäckerei. Ich denke, dass sie ein Zimmer für dich frei hat.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie vertrauenswürdig dein Angebot ist«, scherzte Nelia.
»Warum?«
»Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«
»René, sehr erfreut«, grinste er und reichte ihr die Hand. Kurz zögerte sie, ergriff sie aber dennoch.
»Nelia.«
»Was für ein ungewöhnlicher Name«, stellte René fest.
»Nelia ist eine Kurzform von Cornelia, so hieß die Großmutter meines Vaters. Meine Mutter konnte sie leider auf den Tod nicht ausstehen und hätte mich nie im Leben nach ihr benannt. Um meinen Vater nicht zu verärgern, hat sie sich für Nelia entschieden. Alle haben ihren Frieden und ich bin auch nicht unglücklich.«
Für einen kurzen Augenblick sah René einen Funken in Nelias Augen, der ein glückliches, lebensfrohes Mädchen erahnen ließ. Er hielt nicht lange an, doch er war dem jungen Franzosen nicht entgangen.
»Also, Nelia, jetzt, wo du meinen Namen kennst, und ich alles über die Herkunft deines Namens weiß, soll ich Florence eine Nachricht schreiben?«
»Ich denke, jetzt geht es in Ordnung.«
Nelia und René tauschten ein ehrliches und freundliches Lächeln. Eine kleine Geste, die irgendwo zwischen Berlin und Paris, um Punkt 23:59 Uhr stattfand, und Nelia doch noch den Tag versüßte.
Vielleicht war Paris doch eine gute Idee!
Nelia und René hatten lange miteinander gesprochen, bis die Müdigkeit die beiden überrumpelt hatte. Erst kurz vor Paris kitzelte die französische Sonne ihre Nasen und ließ sie erwachen.
Auch wenn Nelia den Schlaf dringend gebraucht hatte, schmerzte jeder ihrer Knochen. So ein Bussitz war eben doch nur für kurze Zeit bequem. Sie streckte sich leicht und warf einen Blick aus dem Fenster. Obwohl es so früh war, herrschte in der Stadt der Liebe schon geschäftiges Treiben. Menschen eilten in die kleinen Boulangerien, um sich eine Kleinigkeit zu essen und einen Kaffee zu holen. Einige genossen die ersten Sonnenstrahlen des Tages, während andere mit ihren Fahrrädern zur Arbeit fuhren. Menschen hielten an, wenn sie zufällig einem Bekannten auf der Straße begegneten, küssten einander die Wangen und lachten. Ausnahmslos jeder, den Nelia in den letzten Minuten gesehen hatte, war fröhlich und schien glücklich. Die Stadt lebte und sprühte nur so vor Lebensfreude. Etwas, das Nelia in Berlin so nie erlebt hatte.
Kurz nach halb acht Uhr morgens hielt der Bus im Quartier Bercy, das im 12. Arrondissement am rechten Ufer der Seine lag. René und Nelia stiegen aus. Während der junge Mann auf seinen Koffer wartete, stellte sie sich an den Rand. Sie wusste nicht, ob seine Freundin Florence einen Schlafplatz in ihrer kleinen Pension für sie hatte.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis René schließlich zu ihr kam.
»Du hast Glück. Flo hat mir eine Nachricht geschrieben, dass ein Pärchen kurzfristig ein Zimmer storniert hat. Wenn du möchtest, nehme ich dich mit. Mein Auto steht in einer Seitenstraße.«
Für einen kurzen Moment überlegte Nelia zuzustimmen, doch dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Sie war nicht aus Berlin abgehauen, um sich wieder von jemandem abhängig zu machen. Schon während ihrer Beziehung mit Maximilian hatte sie sich viel zu oft darauf verlassen, dass er die Dinge für sie regelte. In gewissen Punkten hatte sie ihre Selbstständigkeit völlig verloren, ebenso was ihren Job bei Berlin Trends betraf. In Wirklichkeit hatte sie schon lange nicht mehr das geschrieben, was sie bewegte, sondern das, was ihre Umfragen ergaben.