Alles, was ich geben kann – The Last Letter - Rebecca Yarros - E-Book

Alles, was ich geben kann – The Last Letter E-Book

Rebecca Yarros

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Beschreibung

Kann ein gebrochenes Herz lernen, wieder zu lieben? Ella hätte nie gedacht, dass sie als Brieffreundin eines anonymen Soldaten in diesem einen wahren Freund finden würde. Dennoch entwickelt sich eine tiefe Zuneigung zwischen ihr und ›Chaos‹ – vielleicht sogar mehr. Dann treffen Ella mehrere schwere Schicksalsschläge und als auch die Briefe von ›Chaos‹ ausbleiben, muss sie glauben, dass sie allein auf der Welt ist. Obwohl er sie nicht persönlich kennt, hat Beckett alias ›Chaos‹ sich in die Frau hinter den Briefen verliebt. Ella, die Schwester seines besten Freundes. Als dieser stirbt, bittet er Beckett in einem letzten Brief, Ella beizustehen. Beckett wird alles tun, um Ella zu unterstützen, aber er wird ihr niemals sagen können, wer er wirklich ist, und Ella hasst nichts mehr als Lügen. »Ein höchst gefühlvoller und emotional nuancierter Roman der Bestsellerautorin.« Kirkus, starred review »Dank Yarros' wunderbarem, immersiven Schreibstil werden Leserinnen tiefen Herzschmerz und größte Freude bei dieser zu Tränen rührenden Liebesgeschichte empfinden.« Publishers Weekly, starred review »Eine ergreifende, herzzerreißende und zutiefst inspirierende Liebesgeschichte.« InTouch Weekly »Dieses Buch ist so viel mehr als eine Romance! Es ist eine Hymne an die Bande, die aus Trauma und Loyalität geknüpft werden. Eine Liebeserklärung ans Muttersein und die Bedeutung von Familie. Und vor allem ist es eine Geschichte des Überlebens, des Vergebens und der heilenden Kraft von bedingungsloser Liebe.« Helena Hunting, Bestsellerautorin »Bringt Taschentücher, dieses Buch bricht einem das Herz!« Devan F. , Leserin »Dieses Buch hat mich zerstört. Auf die beste Art. Mein Herz war nicht auf dieses Ende vorbereitet. Nach dieser Lektüre nehme ich die, die ich liebe, nie wieder als selbstverständlich an.« Danielle, Leserin »Eins der Bücher, die man nicht aus der Hand legen will und gleichzeitig nicht will, dass sie jemals enden. 5 Sterne und 5 Bonus-Sterne.« Pernette W., Leserin

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Seitenzahl: 738

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Über das Buch

Ella hätte nie gedacht, dass sie als Brieffreundin eines anonymen Soldaten in diesem einen wahren Freund finden würde. Dennoch entwickelt sich eine tiefe Zuneigung zwischen ihr und ›Chaos‹ – vielleicht sogar mehr. Dann treffen Ella mehrere schwere Schicksalsschläge und als auch die Briefe von ›Chaos‹ ausbleiben, muss sie glauben, dass sie allein auf der Welt ist. Obwohl er sie nicht persönlich kennt, hat Beckett alias ›Chaos‹ sich in die Frau hinter den Briefen verliebt. Ella, die Schwester seines besten Freundes. Als dieser stirbt, bittet er Beckett in einem letzten Brief, Ella beizustehen. Beckett wird alles tun, um Ella zu unterstützen, aber er wird ihr niemals sagen können, wer er wirklich ist, und Ella hasst nichts mehr als Lügen.

Rebecca Yarros

Alles, was ich geben kann

The Last Letter

Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Landau

Roman

Für die Kinder,die Krieg gegen den Krebs führen:

Für David Hughes,der seine zehnprozentige Chancemit hundert Prozent Herz übertrumpft hat.

Und für alle wie Beydn Swink,deren Seelen viel stärker warenals ihre Körper.Ihr werdet niemals vergessen sein.

Kapitel 1Beckett

Brief #1

 

Lieber Chaos,

zumindest behauptet mein Bruder, dass du so genannt wirst. Ich habe ihn gefragt, ob jemand von seinen Freunden ein paar extra Briefe gebrauchen könnte, und dabei ist dein Name gefallen.

Also: Hi, ich bin Ella. Ich kenne die Regel mit den falschen Namen in dieser Art Korrespondenz, schließlich schreibe ich solche Briefe schon, seit er tut, was er tut … dasselbe wie wohl auch du.

Bevor du diesen Brief jetzt mit einem peinlich berührten »Danke, aber nein, danke« weglegst, wie ihr Männer das gern macht, solltest du wissen, dass diese Briefe ebenso sehr mir helfen werden wie dir. Sie bieten mir weit weg von dieser winzigen, neugierigen Kleinstadt einen sicheren Ort, an dem ich all meine Gedanken und meinen Ärger loswerden kann, deswegen könnte man also fast sagen, dass ich dich ausnutze.

Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir dein Ohr leihst, und ich leihe dir im Austausch dafür natürlich gern meins. Außerdem backe ich echt verdammt leckere Erdnussbutterkekse. Falls diesem Brief keine Kekse beiliegen, zieh meinem Bruder eins über, denn er hat deine Kekse geklaut.

Wo soll ich anfangen? Wie stelle ich mich am besten vor, ohne wie eine Kontaktanzeige zu klingen? Ich will nicht mehr als einen Brieffreund – einen sehr weit entfernten Brieffreund –, versprochen. Militärjungs sind nicht mein Typ. Männer im Allgemeinen nicht. Ich meine, ich stehe zwar auf Männer, aber ich habe einfach keine Zeit für sie. Dafür bereue ich jetzt umso mehr, dass ich diesen Brief mit Kugelschreiber schreibe.

Ich bin die kleine Schwester, aber das hat mein Bruder dir bestimmt schon erzählt. Und da er eine ziemlich große Klappe hat, weißt du vermutlich auch, dass ich zwei Kinder habe. Ja, ich bin alleinerziehende Mutter, und nein, ich bereue die Entscheidungen nicht, die ich in meinem Leben getroffen habe. Mann, manchmal hängt es mir echt zum Hals raus, dass mir diese Frage immer wieder gestellt wird, ob nun mit Worten oder nur mit vielsagenden Blicken.

Den letzten Satz hätte ich fast durchgestrichen, aber es stimmt. Außerdem bin ich schlicht und ergreifend zu faul, um den ganzen Brief noch mal zu schreiben.

Ich bin vierundzwanzig und war ganze drei Sekunden mit dem Samenspender der Zwillinge verheiratet. Gerade lange genug, um die rosa Linie zu sehen, von der Ärztin zu hören, dass da zwei Herzschläge sind, und damit er mitten in der Nacht seine Sachen packen konnte. Kinder waren nie sein Ding und ehrlich gesagt sind wir ohne ihn vermutlich auch besser dran.

Ich bin nicht beleidigt, falls Brieffreundschaften nicht so deins sind. Aber dann gibt’s keine Kekse. Nur Brieffreunde bekommen Kekse.

Wenn du aber nichts gegen eine alleinerziehende Brieffreundin einzuwenden hast, lies weiter.

Meine Zwillinge sind fünf und wenn du gut im Kopfrechnen bist, weißt du damit, dass sie geboren wurden, als ich neunzehn war. Mit der Entscheidung, meine Kinder allein durchzubringen, habe ich unser kleines Städtchen ziemlich schockiert, und als ich dann nach dem Tod meiner Großmutter auch noch das ›Solitude‹ übernommen habe, ist allen hier fast das Herz stehen geblieben. Ich war gerade mal zwanzig, die Zwillinge waren noch Babys und meine Großmutter hatte mich und meinen Bruder in diesem B&B großgezogen. Deswegen war es in meinen Augen der perfekte Ort, um dort auch meine Kinder großzuziehen. Und das ist es immer noch.

Was noch …? Maisie und Colt sind im Prinzip mein ganzer Lebensinhalt. Im besten Sinn natürlich. Ich bin so überfürsorglich, dass es schon lächerlich ist, aber immerhin ist mir das bewusst. Ich neige zu etwas übertriebenen Reaktionen, habe eine ganze Festung um sie herum errichtet, was mich wohl etwas isoliert, aber hey, es gibt deutlich schlimmere Charakterschwächen, oder? Maisie ist die ruhigere von beiden und versteckt sich oft hinter einem Buch. Colt hingegen … treibt sich meistens irgendwo rum, wo er nicht sein sollte, oder tut etwas, was er nicht tun sollte. Zwillinge können echt verrückt sein, aber es heißt ja immer, dass sie auch doppelt so viel Freude bringen.

Ich? Ich mache immer, was ich muss, und nie, was ich wirklich will. Aber ich glaube, so ist das eben als Mutter und Geschäftsfrau. Apropos, die Gäste wachen langsam auf, also klebe ich das Päckchen mal besser zu und schicke es los.

Schreib zurück, wenn du magst. Wenn nicht, verstehe ich das. Hauptsache, du weißt jetzt, dass jemand in Colorado an dich denkt.

Ella

Heute wäre der perfekte Zeitpunkt für mein zweites Schimpfwort gewesen.

Normalerweise fühlten sich solche Einsätze an wie eine Version von Und täglich grüßt das Murmeltier. Jeden Tag der gleiche Mist. Diese Monotonie hatte ein fast schon willkommenes, vorhersehbares Muster an sich.

Und um ehrlich zu sein, war ich eigentlich sogar ein großer Fan von Monotonie.

Routine war berechenbar. Sicher, oder zumindest so sicher, wie es hier draußen eben sein konnte. Seit einem Monat waren wir an diesem geheimen Stützpunkt, in einem weiteren Land, in dem wir offiziell nie waren, und Routine war das einzig Angenehme hier.

Doch der Tag heute war alles andere als routinemäßig abgelaufen.

Wie üblich haben wir die Mission erfolgreich abgeschlossen, aber nicht ohne Preis. Natürlich gab es den immer, aber in letzter Zeit wurde er immer höher.

Ich sah auf meine Hand, streckte die Finger, einfach weil ich es konnte. Ramirez? Der hatte diese Fähigkeit heute verloren. Er würde sein neugeborenes Baby mit einer Prothese halten.

Ich holte weit aus, ließ den Kong los und das Hundespielzeug flog durch die Luft, ein roter Blitz vor dem klaren Blau des Himmels. Der Himmel war das einzig Saubere an diesem Ort. Oder vielleicht fühlte sich heute einfach alles schmutzig an.

Havoc rannte los, mit sicheren Schritten, vollkommen auf ihr Ziel fokussiert, bis …

»Verdammt, sie ist gut«, sagte Mac, der in diesem Moment zu mir trat.

»Sie ist die Beste.« Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter zu ihm, bevor ich mich wieder Havoc zuwandte. Sie musste die Beste sein, um hier sein zu dürfen, als Teil eines Eliteteams, das offiziell gar nicht existierte. Sie war ein Spezialeinsatz-Hund, womit sie alle anderen Hunde beim Militär um Meilen überragte.

Außerdem gehörte sie mir, was sie automatisch zum besten Hund der Welt machte.

Mein Mädchen war ein einunddreißig Kilo schwerer, absolut perfekter Labrador Retriever. Ihr schwarzes Fell hob sich deutlich vom hellen Sand ab, als sie kurz vor meinen Füßen stehen blieb. Ihr Hinterteil sackte zu Boden und mit leuchtenden Augen hielt sie mir den Kong entgegen. »Noch ein letztes Mal«, sagte ich leise, als ich ihr das Spielzeug aus dem Maul nahm.

Sie sauste schon los, bevor ich überhaupt ausholen konnte.

»Gibt’s was Neues von Ramirez?«, fragte ich, während ich wartete, bis Havoc weit genug von mir entfernt war.

»Hat den Arm verloren. Vom Ellbogen abwärts.«

»Schhhhh…« Ich warf das Spielzeug, so weit ich konnte.

»Du kannst es ruhig aussprechen. Scheint heute durchaus angemessen.« Mac kratzte sich am Bart, den er sich seit einem Monat stehen ließ, und rückte seine Sonnenbrille zurecht.

»Seine Familie?«

»Cassandra holt ihn in Landstuhl ab. Sie schicken frisches Blut. Ankunft in achtundvierzig Stunden.«

»So schnell?« Wir waren wirklich ersetzbar.

»Wir ziehen weiter. Besprechung in fünf Minuten.«

»Verstanden.« Wie es aussah, ging’s weiter zur nächsten geheimen Basis.

Mac warf einen Blick auf meinen Arm. »Hast du das untersuchen lassen?«

»Der Doc hat’s genäht. Ist nur ein Kratzer, kein Grund, sich Sorgen zu machen.« Eine weitere Narbe unter etlichen anderen, die meine Haut zierten.

»Vielleicht brauchst du jemanden, der sich Sorgen um dich macht. Jemand weiblichen, um genau zu sein.«

Ich warf meinem besten Freund einen vernichtenden Blick zu.

»Was?«, fragte er mit einem übertriebenen Schulterzucken, bevor er zu Havoc nickte, die jetzt wieder vor mir saß, genauso begeistert wie beim ersten Mal, als ich den Kong geworfen habe, oder beim sechsunddreißigsten. »Sie kann nicht die einzige Frau in deinem Leben sein, Gentry.«

»Sie ist treu, wunderschön, kann Sprengstoff aufspüren und jeden außer Gefecht setzen, der mich umbringen will. Was fehlt da denn bitte noch?« Ich nahm ihr den Kong ab und kraulte Havoc hinter den Ohren.

»Wenn ich dir das wirklich erklären muss, ist dir nicht mehr zu helfen.«

Wir gingen zurück ins Lager, das eigentlich nur aus ein paar Gebäuden rund um einen kleinen Platz bestand. Alles war braun. Die Gebäude, die Fahrzeuge, der Boden, sogar der Himmel schien langsam diesen Farbton anzunehmen.

Großartig. Ein Sandsturm.

»Du musst dir wirklich keine Sorgen um mich machen. Ich habe keine Probleme auf dem Gebiet, wenn wir mal irgendwo offiziell stationiert sind«, sagte ich.

»Oh, das ist mir klar, schließlich siehst du aus wie Chris Pratt, du Arsch. Aber Alter …« Er legte mir eine Hand auf den Arm und blieb stehen, bevor wir auf dem Platz ankamen, auf dem sich die anderen versammelt hatten. »Du hast … keine Beziehung zu irgendjemandem.«

»Du doch auch nicht.«

»Nein, momentan habe ich keine Freundin. Aber das heißt nicht, dass ich keine Beziehungen habe, Menschen, die mir etwas bedeuten und denen ich etwas bedeute.«

Mir war klar, worauf er hinauswollte, aber jetzt war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort noch irgendwas. Bevor er noch tiefer bohren konnte, schlug ich ihm auf den Rücken.

»Hör zu, wir können jetzt eine Therapiestunde anfangen oder endlich von hier verschwinden und uns der nächsten Mission zuwenden.« Weitermachen, das fiel mir immer am leichtesten. Ich ging keine Beziehungen ein, weil ich keine Beziehungen wollte, nicht weil ich nicht dazu fähig war. Sich an Menschen, Orte oder Dinge zu binden war unpraktisch oder biss einem meistens sowieso in den Hintern. Denn im Leben ist nur eins sicher, und das ist Wandel.

»Ich meine es ernst.« Er verengte die Augen zu einem Blick, den ich in den zehn Jahren unserer Freundschaft nur zu oft gesehen hatte.

»Ja, ich auch. Mir geht’s gut. Außerdem habe ich eine Beziehung zu dir und zu Havoc. Alle anderen sind nur nettes Beiwerk.«

»Mac! Gentry!«, rief Williams von der Tür am Nordgebäude. »Auf geht’s!«

»Wir kommen!«, rief ich zurück.

»Hör zu, bevor wir reingehen … Ich hab was auf dein Bett gelegt.« Mac rieb sich mit einer Hand über den Bart – ein sicheres Zeichen, dass er nervös war.

»Mhm, nach diesem Gespräch habe ich kein Interesse daran, egal was es ist.« Mit Havoc an meiner Seite ging ich auf das Gebäude zu. Ich spürte jetzt schon das rastlose Kribbeln, den Drang weiterzuziehen, diesen Ort hinter mir zu lassen und herauszufinden, was als Nächstes auf uns wartete.

»Es ist ein Brief.«

»Von wem? Alle, die ich kenne, sind da drinnen.« Ich deutete zur Tür am anderen Ende des nun leeren Platzes. So war das nun mal, wenn man in zig verschiedenen Pflegefamilien aufwuchs und sich dem Militär anschloss, sobald man achtzehn war. Die Menge an Leuten, die es wert waren, sie zu kennen, war so klein, dass sie in einen Black Hawk passte, und heute fehlte sogar einer – Ramirez.

Wie gesagt, Beziehungen waren unpraktisch.

»Von meiner Schwester.«

»Wie bitte?« Ich erstarrte mit der Hand auf dem rostigen Türgriff.

»Du hast mich schon verstanden. Der Brief ist von meiner kleinen Schwester Ella.«

In Gedanken ging ich meine Kontaktliste durch. Ella. Blond, umwerfendes Lächeln, sanfte, liebe Augen, die blauer waren als jeder Himmel, den ich jemals gesehen hatte. Mac wedelte seit zehn Jahren mit Bildern von ihr unter unseren Nasen herum.

»Gentry, komm schon. Muss ich dir wirklich ein Foto zeigen?«

»Ich weiß, wer Ella ist. Wieso zur Hölle liegt ein Brief von ihr auf meinem Bett?«

»Ich dachte, eine Brieffreundschaft würde dir guttun.« Er senkte den Blick auf seine schmutzigen Stiefel.

»Eine Brieffreundschaft? Wie in der fünften Klasse, als man an so eine blöde Partnerschule schreiben musste?«

Havoc drängte sich näher an mich, drückte ihren Körper gegen mein Bein. Wir hatten eine enge Verbindung, sie spürte jede noch so kleine Veränderung in meiner Stimmung. Genau das machte uns zu einem so unschlagbaren Team.

»Nein, nicht …« Er schüttelte den Kopf. »Ich will nur helfen. Sie hat mich gefragt, ob ich jemanden kenne, der ein bisschen Post gebrauchen könnte, und da du keine Familie hast …«

Schnaubend stieß ich die Tür auf und ließ ihn einfach draußen stehen. Vielleicht würde ihm der Sand endlich mal die große Klappe stopfen. Familie. Ich hasste dieses Wort. Alle beschwerten sich immer nur über ihre Familien, die ganze Zeit. Aber kaum kriegten sie mit, dass man selbst keine hatte, wurde man plötzlich zur Anomalie, die behoben werden musste, einem zu lösenden Problem oder schlimmer noch – bemitleidet.

Und ich könnte auf kaum etwas weniger Wert legen als auf das Mitleid anderer.

»Okay, Leute.« Captain Donahue rief unser zehnköpfiges Team – abzüglich einem – an den Konferenztisch. »Es tut mir leid, aber es geht noch nicht nach Hause. Wir haben eine neue Mission.«

Das Stöhnen meiner Kameraden – die mit Sicherhit ihre Frauen und Kinder vermissten – bestätigte mich nur in meiner Einstellung zu Beziehungen.

 

»Echt jetzt, Neuer?«, knurrte ich, während der Neuankömmling sich beeilte, den ganzen Mist wieder aufzusammeln, den er von der Truhe gefegt hatte, die mir als Nachttisch diente.

»Tut mir leid, Gentry«, murmelte er mit dem kleinen Stapel Papier in den Händen. Ein typischer durch und durch amerikanischer Junge, frisch aus dem Training, der eigentlich noch nichts in diesem Team verloren hatte. Er brauchte noch ein paar Jahre und deutlich ruhigere Hände, was bedeutete, dass er vermutlich mit irgendeinem hohen Tier verwandt war.

Havoc sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, bevor sie den Blick zu mir hob.

»Er ist neu«, sagte ich leise und kraulte sie hinter den Ohren.

»Hier«, sagte der Neue und streckte mir den Stapel entgegen. Seine Augen waren weit aufgerissen, als hätte er Angst, dass ich ihn wegen seiner Tollpatschigkeit aus dem Team werfen könnte. Gott, ich konnte nur hoffen, dass er mit seiner Waffe besser umging als mit meinem Nachttisch.

Ich legte den Stapel auf die paar freien Quadratzentimeter meines Betts, die nicht von Havoc beansprucht wurden. Die Unterlagen zu sortieren dauerte nur wenige Minuten. Einige Artikel zu verschiedenen Themen, die ich halb gelesen hatte, und … »Mist.«

Ellas Brief. Ich hatte das Ding jetzt schon seit fast zwei Wochen und nicht mal den Umschlag geöffnet.

Weggeworfen hatte ich ihn aber auch nicht.

»Machst du den irgendwann noch auf?«, fragte Mac, der wie immer das nervigste Timing hatte.

Im selben Moment fragte der Neue: »Wieso benutzt du nie richtige Schimpfworte?«

Mit einem bösen Blick zu Mac schob ich den Brief ganz unten in den Stapel und schnappte mir den obersten Artikel. Er behandelte neue Techniken für Such- und Rettungseinsätze.

»Meinetwegen. Antworte dem Neuen.« Mit einem Augenverdrehen ließ Mac sich auf sein Bett fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Ähm, ich heiße Johnson …«

»Nein, du heißt Neuer. Du hast dir deinen Namen noch nicht verdient«, korrigierte Mac ihn.

Der Neue sah aus, als hätten wir seinen verdammten Welpen getreten, deswegen gab ich nach.

»Jemand hat mir mal gesagt, dass Schimpfworte nur eine faule Ausrede für einen mangelhaften Wortschatz sind. Sie lassen einen roh und ungebildet wirken. Deswegen habe ich aufgehört.« Es gab weiß Gott schon genug, was gegen mich sprach. Da musste man mir den Mist, den ich durchgemacht hatte, nicht auch noch anhören.

»Fluchst du wirklich nie?«, fragte der Neue, neugierig vorgebeugt wie bei einer Pyjamaparty.

»Nur in Gedanken«, sagte ich und blätterte zu einem weiteren Artikel um.

»Ist sie wirklich ein Diensthund? Sie sieht so … süß aus.« Der Neue streckte eine Hand nach Havoc aus.

Ihr Kopf schnellte hoch und sie fletschte die Zähne in seine Richtung.

»Ja, ist sie, und ja, sie kann dich auf Kommando töten. Also tu uns beiden einen Gefallen und versuch nie wieder, sie anzufassen. Sie ist kein Kuscheltier.« Ich ließ sie noch einen Moment knurren, um meine Aussage zu unterstreichen.

»Alles gut.« Mit einer Hand strich ich über Havocs Nacken. Sofort fiel sämtliche Spannung von ihr ab und sie sank auf mein Bein, blinzelte zu mir hoch, als wäre nichts gewesen.

»Verdammt«, flüsterte der Neue.

»Nimm’s nicht persönlich«, sagte Mac. »Havoc ist nur einem einzigen Mann treu ergeben und der bist sicher nicht du.«

»Treu und tödlich«, fügte ich grinsend hinzu, während ich Havoc kraulte.

»Irgendwann«, sagte Mac und deutete auf den Brief, der auf die Matratze gerutscht und neben meinem Oberschenkel gelandet war.

»Aber nicht heute.«

»An dem Tag, an dem du ihn endlich aufmachst, wirst du dir dafür in den Hintern treten, dass du es nicht schon früher getan hast.« Er beugte sich über den Rand seines Betts und tauchte kurz darauf mit einer Dose Erdnussbutterkekse wieder auf, biss mit einem genussvollen Seufzen in einen davon.

»Ernsthaft?«

»Ernsthaft«, antwortete er. »So gut.«

Ich lachte und schob den Brief zurück unter den Stapel.

»Geh schlafen, Neuer. Morgen wird’s ernst.«

Der Neue nickte. »Das ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe.«

Mac und ich wechselten einen wissenden Blick.

»Heb dir das für morgen Abend auf. Jetzt hau dich aufs Ohr und hör auf, meine Sachen umzuwerfen, sonst wird dein Einsatzrufzeichen Tollpatsch.«

Mit großen Augen ließ er sich auf sein Bett sinken.

 

Drei Nächte später war der Neue tot.

Johnson. Er hatte sich seinen Namen verdient und sein Leben verloren, indem er Doc gerettet hatte.

Ich lag wach, während alle anderen schliefen, mein Blick wanderte immer wieder zu dem leeren Bett. Er hatte nicht hierhergehört, das war uns allen klar gewesen und wir hatten unsere Bedenken geäußert. Er war noch nicht bereit gewesen. Nicht bereit für diese Mission, das Tempo unserer Einheit oder den Tod.

Nicht dass der Tod sich dafür interessierte.

Es schlug zwölf und ich war achtundzwanzig.

Happy Birthday.

Todesfälle berührten mich immer auf andere Art und Weise, während wir im Einsatz waren. Meist fielen sie in eine von zwei Kategorien. Entweder ich schüttelte den Tod eines Kameraden ab und wir zogen weiter, oder meine eigene Sterblichkeit wurde plötzlich erschreckend greifbar. Vielleicht lag es an meinem Geburtstag oder daran, dass der Neue kaum mehr als ein Baby gewesen war, aber dieser Tod fiel in die zweite Kategorie.

Hey, Sterblichkeit, ich bin’s, Beckett Gentry.

Der logisch denkende Teil von mir wusste, dass wir nun, da die Mission abgeschlossen war, in wenigen Tagen nach Hause fliegen oder ins nächste Dreckloch weiterziehen würden. Doch in diesem Moment packte mich das schmerzhafte Verlangen nach einer Verbindung so heftig, dass es mir den Brustkorb zusammenschnürte.

Keine Beziehung, sagte ich mir. Die brachten einem nur Ärger ein.

Sondern eine Verbindung zu jemandem, die anders war als das, was mich mit meinen Waffenbrüdern verband, anders als meine Freundschaft mit Mac, der fast so etwas wie Familie für mich war.

Aus purer Impulsivität heraus griff ich nach meiner Taschenlampe und zog den Brief aus der Bergsteigerzeitschrift, in die ich ihn gesteckt hatte.

Mit der Taschenlampe auf der Schulter riss ich den Umschlag auf und entfaltete die linierten Blockseiten voll ordentlicher, femininer Schrift.

Ich las den Brief einmal, zweimal … ein Dutzend Male, versuchte dabei, die Worte mit den Bildern ihres Gesichts zusammenzubringen, die ich in den letzten Jahren gesehen hatte. Ich stellte mir vor, wie sie sich frühmorgens ein paar ruhige Minuten stahl, um diesen Brief zu schreiben, und fragte mich, wie ihr Tag danach wohl ausgesehen hatte. Was für ein Typ Mann ließ seine schwangere Frau einfach sitzen? Ein Arschloch.

Was für eine Frau nahm die Erziehung von Zwillingen und die Führung eines Unternehmens auf sich, während sie selbst noch ein Kind war? Eine verdammt starke Frau.

Ella war zweifellos eine selbstständige und fähige Frau, die ich gerne kennenlernen würde. Die Sehnsucht, die von mir Besitz ergriff, war unangenehm und unbestreitbar.

So leise wie möglich holte ich ein Notizbuch und einen Stift aus meiner Truhe.

Eine halbe Stunde später klebte ich den Umschlag zu und schlug Mac damit auf die Schulter.

»Was?«, zischte er mich an und drehte sich auf die Seite.

»Ich will meine Kekse.« Ich betonte jedes einzelne Wort mit einer Ernsthaftigkeit, die sonst nur Havocs Befehlen vorbehalten war.

Er lachte.

»Ryan, ich mein’s ernst.« Vornamen packten wir nur bei wirklich bedeutsamen Angelegenheiten aus.

»Tja, wer zu lange wartet, verliert eben seine Kekse.« Er grinste und drehte sich dann auf den Rücken. Schon nach wenigen Sekunden ging sein Atem wieder gleichmäßig und tief.

»Danke«, sagte ich leise, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. »Danke für sie.«

Kapitel 2Ella

Brief #1

 

Ella,

du hattest recht, dein Bruder hat die Kekse einfach aufgegessen. Zu seiner Verteidigung muss man allerdings sagen, dass ich zu lange damit gewartet habe, deinen Brief zu öffnen. Wenn wir das hier wirklich tun wollen, sollten wir wohl ehrlich miteinander sein, oder?

Also, erstens bin ich nicht gut im Umgang mit Menschen. Ich könnte dir jede Menge Ausreden auftischen, aber die Wahrheit ist, dass ich einfach nicht gut darin bin. Kann daran liegen, dass ich oft das Falsche sage, zu direkt bin oder einfach keinen Sinn in leerem Geplauder sehe oder an allem Möglichen anderen. Dementsprechend habe ich auch noch nie Briefe an … irgendjemanden geschrieben, jetzt, wo ich drüber nachdenke.

Zweitens gefällt es mir, dass du mit Kugelschreiber schreibst. Das bedeutet, dass du nichts löschst und dich damit selbst zensierst. Du denkst nicht zu viel nach, schreibst einfach, was du sagen willst. Ich wette, so bist du auch im richtigen Leben – du sagst, was du denkst.

Ich weiß nicht, was ich dir über mich erzählen kann, was nicht geschwärzt werden würde, aber wie wäre es damit: Seit fünf Minuten bin ich achtundzwanzig Jahre alt und abgesehen von meinen Freunden hier habe ich keinerlei Verbindung zu der Welt um mich herum. Meistens gefällt es mir so, aber heute Nacht frage ich mich, wie es wohl ist, so wie du zu sein. So viel Verantwortung zu haben und so viele Leute, die von einem abhängig sind. Wenn ich dir eine Frage stellen könnte, dann wäre es diese: Wie fühlt es sich an, der Mittelpunkt des Universums anderer zu sein?

Grüße

Chaos

Ich las den Brief zum dritten Mal, seit er heute Morgen angekommen war, fuhr mit den Fingern über die kantige Handschrift. Als Ryan mir gesagt hatte, dass es jemanden in seinem Team gab, den er mir gern als Brieffreund vermitteln würde, hatte ich erst gedacht, er hätte den Verstand verloren.

Die Typen, mit denen er diente, waren für gewöhnlich so zugänglich wie ein verschlossener Waffenschrank. Unser Vater war genauso gewesen. Ehrlich gesagt war ich nach Wochen ohne Antwort davon ausgegangen, dass der Typ mein Ange-bot ausgeschlagen hatte. Ein Teil von mir war erleichtert gewesen – schließlich hatte ich schon mehr als genug um die Ohren. Aber die Möglichkeiten, die ein leeres Blatt Papier bot, waren nicht zu leugnen. Meine Gedanken mit jemandem teilen zu können, dem ich niemals begegnen würde, war merkwürdig befreiend.

Nachdem ich seinen Brief gelesen hatte, fragte ich mich, ob es ihm ähnlich ging.

Wie konnte man achtundzwanzig Jahre alt werden, ohne … jemanden, irgendjemanden, zu haben, auf welche Art und Weise auch immer? Laut Ry war dieser Typ wortkarg und hatte ein Herz, das in etwa so nahbar war wie eine Ziegelmauer, aber auf mich wirkte Chaos einfach nur … einsam.

»Mama, mir ist langweilig«, sagte Maisie neben mir und ließ ihre Beine unter dem Stuhl baumeln.

»Tja, weißt du was?«, fragte ich mit Singsang-Stimme und schob den Brief in meine Tasche.

»Nur Langweilern ist langweilig?«, erwiderte sie und blinzelte mit den größten blauen Augen der Welt zu mir auf. Sie legte den Kopf schief und zog die Nase kraus, bis kleine Falten zwischen ihren Augen erschienen. »Aber vielleicht wären die gar keine Langweiler, wenn sie was zu tun hätten.«

Ich schüttelte den Kopf, lächelte aber und bot ihr mein iPad an.

»Sei vorsichtig damit, okay?« Wir konnten es uns nicht leisten, es zu ersetzen, denn diese Woche bekamen drei der Gästehütten neue Dächer. Ich hatte ohnehin schon zehn Hektar Land am hinteren Ende des Grundstücks verkauft, um die längst überfälligen Reparaturen zu finanzieren, und für den Ausbau so viele Hypotheken wie nur möglich aufgenommen.

Maisie nickte mit wippendem blondem Pferdeschwanz, während sie das iPad schon entsperrte, um ihre Lieblingsapps zu öffnen. Wie eine Fünfjährige dieses Ding besser bedienen konnte als ich, war mir immer noch ein Rätsel. Auch Colt konnte mühelos damit umgehen, war aber nicht ganz so technisch begabt wie Maisie. Was vor allem daran lag, dass er zu sehr damit beschäftigt war, überall draufzuklettern, wo er nicht draufklettern sollte.

Mein Blick huschte zur Uhr. Vier Uhr nachmittags. Der Arzt war schon eine halbe Stunde zu spät für den Termin, um den er mich gebeten hatte. Ich wusste, dass Ada gern auf Colt aufpasste, trotzdem bat ich sie nicht oft darum. Mit über sechzig war sie zwar noch ziemlich agil, allerdings war es nicht leicht, mit Colt mitzuhalten. Sie nannte ihn gern »genialer Floh« und das war ziemlich treffend.

Geistesabwesend rieb Maisie sich die Stelle an ihrer Hüfte, über die sie sich in letzter Zeit beklagt hatte. Aus einem Ziepen war ein unangenehmes Stechen geworden und schließlich ein anhaltender Schmerz, der nie ganz verschwand.

Kurz bevor ich die Geduld verlieren und zur Rezeption gehen konnte, klopfte der Arzt und trat ein.

»Hi, Ella. Wie geht es dir heute, Margaret?«, fragte Dr. Franklin mit freundlichem Lächeln und einem Klemmbrett in der Hand.

»Maisie«, korrigierte sie in ernstem Ton.

»Natürlich«, bestätigte er nickend und warf mir ein kleines Lächeln zu. In seinen Augen war ich vermutlich ebenfalls noch fünf Jahre alt, denn Dr. Franklin war schon mein Kinderarzt gewesen. Sein Haar war jetzt überwiegend grau und er trug etwa zehn Kilo mehr auf den Hüften, aber abgesehen davon sah er noch genauso aus wie damals, als meine Großmutter mich zum ersten Mal in seine Praxis gebracht hatte. In unserer kleinen Stadt Telluride änderte sich nicht viel. Ja, jedes Jahr zur Skisaison fluteten Touristen in ihren Land Rovern die Straßen, aber die verschwanden wieder und ließen nur die Einheimischen zurück, für die wieder der Alltag einkehrte.

»Wie ist der Schmerz heute?«, fragte er und beugte sich vor, um auf ihrer Augenhöhe zu sein.

Sie zuckte mit den Schultern, ohne vom iPad aufzusehen.

Ich zog es ihr aus den Händen und erwiderte ihren anklagenden Blick mit einer erhobenen Braue.

Mit einem Seufzen, das viel älter klang als das einer Fünfjährigen, wandte sie sich Dr. Franklin zu. »Es tut immer weh. Es ist schon ewig her, dass es mal nicht wehgetan hat.«

Fragend sah der Arzt zu mir herüber.

»Der Schmerz ist seit mindestens sechs Wochen durchgehend da.«

Er nickte und richtete sich dann stirnrunzelnd wieder auf, blätterte durch die Unterlagen auf seinem Klemmbrett.

»Was?« Frustration schnürte meinen Magen zusammen, doch ich biss mir auf die Zunge. Ich würde Maisie keinen Gefallen damit tun, wenn ich jetzt die Nerven verlor.

»Der Knochenscan war unauffällig.« Er lehnte sich an den Untersuchungstisch und rieb sich mit einer Hand den Nacken.

Meine Schulten sackten nach unten. Das war schon der dritte Test und sie hatten immer noch nichts gefunden.

»Das ist gut, oder?«, fragte Maisie.

Ich rang mir ein Lächeln für sie ab und gab ihr das iPad zurück. »Süße, wieso spielst du nicht noch ein bisschen, während ich kurz mit Dr. Franklin draußen im Flur spreche?«

Sie nickte und wandte sich begeistert wieder dem Spiel zu, bei dem ich sie unterbrochen hatte.

Ich folgte Dr. Franklin aus dem Zimmer, ließ die Tür aber einen kleinen Spalt offen, um ein Ohr auf Maisie haben zu können.

»Ella, ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben Röntgenbilder gemacht, den Ultraschall, und wenn sie lange genug still liegen würde, könnten wir auch noch ein MRT versuchen. Aber ehrlich gesagt sehen wir einfach keinen nachweisbaren Ursprung ihrer Beschwerden.«

Sein mitfühlender Blick raubte mir den letzten Nerv.

»Sie denkt sich das nicht nur aus. Was auch immer das für Schmerzen sind, sie sind sehr real und müssen eine Ursache haben.«

»Ich wollte damit nicht sagen, dass ihre Schmerzen nicht real sind. Ich habe sie inzwischen oft genug gesehen, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmt. Hat sich zu Hause irgendwas verändert? Etwas, das bei ihr Stress auslösen könnte? Es kann nicht leicht sein, die Pension ganz allein zu führen, noch dazu mit zwei kleinen Kindern und in Ihrem Alter.«

Unwillkürlich hob ich das Kinn mehrere Zentimeter, so wie jedes Mal, wenn jemand mein Alter und meine Kinder im selben Satz erwähnte.

»Das Gehirn ist ein sehr mächtiges …«

»Wollen Sie damit andeuten, dass es psychosomatisch ist?«, fuhr ich ihn an. »Inzwischen hat sie sogar Probleme beim Gehen. In unserem Haus hat sich nichts verändert. Es ist alles noch so wie an dem Tag, an dem ich sie aus diesem Krankenhaus nach Hause gebracht habe. Und auch im Kindergarten gibt es nichts, was sie stressen könnte, das versichere ich Ihnen. Der Schmerz ist nicht in ihrem Kopf, er ist in ihrer Hüfte.«

»Ella, da ist nichts«, sagte er sanft. »Wir haben nach Brüchen, Bänderrissen und allem Möglichem anderen gesucht. Vielleicht ist es einfach nur ein extremer Fall von Wachstumsschmerz.«

»Das sind keine Wachstumsschmerzen! Sie übersehen etwas. Ich habe im Internet recherchiert …«

»Das war Ihr erster Fehler.« Er seufzte. »Eine Internetrecherche wird Sie immer davon überzeugen, eine simple Erkältung sei eine Meningitis und ein Schmerz im Bein ein riesiges Blutgerinnsel, das sich jeden Moment lösen und einen umbringen kann.«

Ich riss die Augen auf.

»Es ist kein Blutgerinnsel, Ella. Wir haben einen Ultraschall gemacht. Da ist nichts. Wir können nicht reparieren, was wir nicht sehen.«

Maisie erfand ihre Schmerzen nicht. Sie waren nicht in ihrem Kopf. Es war kein Symptom eines Lebens mit einer jungen Mutter und ohne Vater. Sie hatte Schmerzen und ich konnte ihr nicht helfen.

Ich war absolut und vollkommen machtlos.

»Dann bringe ich sie wohl nach Hause.«

 

Ich genoss den Spaziergang von der Landstraße zurück zum Haupthaus. Zu dieser Jahreszeit bot mir der Gang zum Briefkasten immer eine willkommene Gelegenheit, mal kurz rauszukommen, und nun, da ich mich auf Chaos’ Briefe freuen konnte, galt das umso mehr. Nummer fünf sollte bald ankommen. Es war ein kühler Tag Ende Oktober, aber es würde noch einen guten Monat dauern, bis die Skipisten eröffnet wurden. Dann würden meine kleinen Momente des Friedens in der Flutwelle von Buchungen untergehen.

Gott sei Dank, denn wir brauchten die Einkünfte dringend. Sosehr ich den ruhigeren Herbst genoss, nachdem die Sommerwanderer abgereist waren – allein die Winter sorgten dafür, dass das Solitude schwarze Zahlen schrieb. Und mit den neuen, schmerzhaft hohen Hypothekenraten war das Geld mehr als nötig.

Doch noch war die Ruhe perfekt. Das Laub der Espen hatte sich golden gefärbt, die ersten Blätter fielen bereits und bedeckten die baumgesäumte Auffahrt zum Haus. Die Allee war nicht lang, vielleicht hundert Meter, aber das reichte, um den Besuchern das gewünschte Gefühl von Abgeschiedenheit zu vermitteln.

Im Haupthaus befanden sich ein paar Gästezimmer, die Großküche, der Speisesaal und die Aufenthaltsräume neben einem kleinen, abgetrennten Wohnbereich, in dem ich mit den Kindern lebte. Für diejenigen, die Gesellschaft wollten, war das Haus immer voller Leben. Seinen Namen und seinen Ruf hatte das Solitude allerdings von den fünfzehn abgelegenen Blockhütten, die über unsere achtzig Hektar verstreut waren. Wir waren das perfekte Ziel für jeden, der die Annehmlichkeiten einer Luxusunterkunft und die Nähe zur Zivilisation nicht missen, aber trotzdem mal weg von allem kommen wollte.

Wenn ich nur genug Geld hätte, um Werbung für die Hütten zu machen und mehr Gäste anzulocken. Man konnte sich noch so viel Mühe geben, aber die Leute kamen nur, wenn sie wussten, dass man existierte.

»Ella, hast du kurz Zeit?«, fragte Larry von der Veranda aus. Seine Augen funkelten unter den buschigen grauen Brauen hervor, die in sämtliche Richtungen abstanden.

»Klar, was gibt’s?« Mit dem Stapel Briefe in der Hand blieb ich auf einer Planke der Veranda stehen, die vielleicht ausgetauscht werden sollte. Wenn man sich als Luxusresort neu definieren wollte, verlangten die Leute absolute Perfektion.

»Drinnen auf dem Tisch wartet etwas auf dich.«

»Wartet?« Ich ignorierte sein Grinsen – dieser Mann würde nie einen guten Pokerspieler abgeben – und ging ins Haus.

Ich schlüpfte aus meinen Stiefeln und schob sie unter eine der Bänke im Foyer. Das neu lackierte Parkett war warm unter meinen Füßen, als ich zum Rezeptionstresen hinüberging.

»Hattest du einen schönen Spaziergang?« Hailey sah von ihrem Handy auf und lächelte mich an.

»Hab nur die Post geholt, nichts Besonderes also.« Ich umklammerte die Briefe in meiner Hand, zog die Spannung noch ein paar Sekunden in die Länge. Außerdem war ganz oben auf dem Stapel eine Rechnung von Dr. Franklin und ich hatte es nicht gerade eilig, die zu öffnen.

Unser letzter Termin lag inzwischen fast einen Monat zurück und es gab immer noch keine Diagnose für Maisies zunehmende Schmerzen. Diese Rechnung war nur eine weitere Erinnerung daran, dass ich unsere Krankenversicherung so weit runtergestuft hatte wie möglich, um uns finanziell durch dieses Jahr zu bringen.

»Mh-hm. Du wartest nicht zufällig auf einen Brief, oder?« Ihre braunen Augen waren voll aufgesetzter Unschuld.

»Ich hätte dir nicht von ihm erzählen sollen.« Sie würde nie wieder Ruhe geben, aber eigentlich störte mich das nicht. Diese Briefe waren das Einzige, was ganz allein mir gehörte. Sie waren der einzige Ort, an dem ich offen und ehrlich sein konnte, ohne verurteilt zu werden oder Erwartungen erfüllen zu müssen.

»Hey, das ist immer noch besser, als wenn du nur durch mein Liebesleben überhaupt mal was erlebst.«

»Von deinem Liebesleben bekomme ich noch ein Schleudertrauma. Außerdem schreiben wir doch nur Briefe. Das hat nichts mit Romantik zu tun. Ryan hat mich um einen Gefallen gebeten. Das ist alles.«

»Ryan. Wann kommt der noch mal nach Hause?« Sie gab dieses verträumte Seufzen von sich, das den meisten Mädels hier entfuhr, wann immer der Name meines Bruders fiel.

»Er sollte kurz nach Weihnachten hier sein und im Ernst, warst du nicht erst zwölf, als er gegangen ist?«

Hailey war nur zwei Jahre jünger als ich, aber ich fühlte mich deutlich älter. Vielleicht war ich pro Kind um zehn Jahre gealtert oder die Geschäftsführung des Solitude hatte mich frühzeitig zu einer Frau mittleren Alters gemacht – was auch immer der Grund war, Hailey und mich trennte ein ganzes Leben.

»Hör auf zu trödeln!«, drängte Larry, der vor Aufregung beinahe auf und ab hüpfte.

»Was ist denn so wichtig?«

»Ella, komm endlich!«, rief Ada aus dem Esszimmer.

»Habt ihr es jetzt beide auf mich abgesehen?« Kopfschüttelnd folgte ich Larry in den Speisesaal.

»Ta-da!« Mit einer übertriebenen Geste deutete Ada auf den dunklen Bauerntisch.

Mit dem Blick folgte ich ihrer Bewegung und entdeckte das Magazin, auf das ich gewartet hatte, das hellblaue Cover ein scharfer Kontrast gegen das dunkle Holz.

»Wann ist es angekommen?« Unwillkürlich hatte ich die Stimme gesenkt.

»Heute Morgen«, erwiderte Ada.

»Aber …« Ich hielt den Poststapel hoch.

»Oh, den Rest hab ich einfach drin gelassen, ich wollte dir deinen liebsten Moment des Tages nicht nehmen.«

Ein paar Augenblicke verstrichen in angespannter Stille, während ich das Magazin anstarrte. Urlaub in den Bergen: Colorados beste Hotels 2019. Winterausgabe.

»Es wird dich nicht beißen«, sagte Ada und schob das Magazin zu mir herüber.

»Nein, aber es könnte uns ruinieren.«

»Lies einfach, Ella. Ich hab’s schon längst getan.« Sie schob sich die Brille auf der Nase nach oben.

Ich nahm das Magazin vom Tisch, ließ den Stapel Briefe darauffallen und begann zu blättern.

»Seite neunundachtzig«, drängte Ada.

Mein Herz hämmerte und meine Finger schienen an jeder Seite zu kleben, doch endlich fand ich Seite neunundachtzig.

»Nummer acht, Solitude, Telluride, Colorado!« Meine Hände zitterten, als ich die Hochglanzfotos meines B&Bs betrachtete. Ich wusste, dass irgendwann jemand hier gewesen war, um uns zu bewerten, hatte aber keine Ahnung, wer und wann das gewesen war.

»Wir waren noch nie unter den besten zwanzig und du hast uns gerade in die Top Ten katapultiert!« Ada, die mich um einige Zentimeter überragte, zog mich in eine Umarmung. »Deine Großmutter wäre so stolz auf dich. All die Umbauten, all die Opfer, die du gebracht hast. Verdammt, ich bin stolz auf dich, Ella.« Sie ließ mich los und wischte sich mit dem Daumen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. »Na los, steh nicht einfach nur flennend da, lies!«

»Sie ist nicht diejenige, die hier flennt, meine Liebe«, sagte Larry und kam um den Tisch herum, um seine Frau zu umarmen. Diese beiden waren ebenso sehr ein Teil des Solitude wie ich. Seit der Eröffnung hatten sie für meine Großmutter gearbeitet und ich wusste, dass sie so lange bei mir bleiben würden, wie sie konnten.

»Das Solitude ist ein absoluter Geheimtipp. Tief im San-Juan-Gebirge gelegen, hat dieses einzigartige B&B neben einem Haupthaus mit familiärer Atmosphäre über ein Dutzend frisch renovierter Luxusblockhütten zu bieten – perfekt für all jene, die sich Ruhe und Abgeschiedenheit wünschen, ohne die Pistennähe aufgeben zu wollen. Innerhalb von zehn Minuten erreicht man einige der besten Skigebiete Colorados und doch ist das Solitude ein Rückzugsort von den Touristenmassen. In diesem B&B fühlt man sich wie in einem Resort und es ist das Traumziel für alle, die das Beste aus beiden Welten wollen: tadellosen Service und das Gefühl, ganz allein in den Bergen zu sein. Hier lernt man das wahre Colorado kennen.«

Sie liebten uns! Wir waren eins der zehn besten B&Bs in Colorado! Ich presste das Magazin an meine Brust und schwelgte in diesem Glücksgefühl. Momente wie diesen gab es nicht jeden Tag, nicht mal jedes Jahrzehnt, wie es schien, und dieser Moment gehörte ganz allein mir.

»Das wahre Colorado lernt man erst kennen, wenn die Touristen endlich verschwinden«, grummelte Larry, grinste aber.

Das Telefon klingelte und im Hintergrund hörte ich, wie Hailey das Gespräch entgegennahm.

»Ich wette, wir sind im Nullkommanichts ausgebucht!«, trällerte Ada, während Larry mit ihr um den Tisch tanzte.

Nach einer solchen Bewertung war das so gut wie sicher. Wir würden alle Hände voll zu tun haben und das schon bald. Wir würden die Hypothek abbezahlen und die neuen Hütten finanzieren können, die an der Südseite des Grundstücks geplant waren.

»Ella, die Schule ist am Telefon«, rief Hailey.

Ich ließ das Magazin auf die restliche Post fallen und eilte zur Rezeption.

»Hier spricht Ella MacKenzie«, sagte ich in den Hörer, innerlich schon darauf vorbereitet, zu erfahren, was Colt diesmal angestellt hatte.

»Mrs MacKenzie, ein Glück. Hier spricht Miss Roman, die Krankenschwester der Grundschule.« Ihr Tonfall klang mehr als besorgt, deswegen korrigierte ich sie nicht, was meinen Ehestand anging.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ich fürchte, nein. Maisie ist bei mir. Sie ist auf dem Pausenhof zusammengebrochen und hat vierzig Grad Fieber.«

Zusammengebrochen. Fieber. Ein tiefgreifendes, übelkeiterregendes Gefühl, das sich nur als düstere Vorahnung beschreiben ließ, machte sich in meinem Magen breit. Dr. Franklin hatte etwas übersehen.

»Ich komme sofort.«

Kapitel 3Beckett

Brief #6

 

Lieber Chaos,

hier kommt eine neue Ladung Kekse. Versteck sie vor meinem Bruder. Und ja, das meine ich ernst. Er ist ein schamloser Keksdieb. Das Rezept ist von unserer Mutter, na ja, eigentlich von unserer Großmutter, und er ist süchtig danach. Nachdem wir unsere Eltern verloren haben – unseren Vater im Irak und Mom einen Monat später bei einem Autounfall, das hat er dir bestimmt schon erzählt –, standen diese Kekse immer in der Küche, haben auf uns gewartet, wenn wir aus der Schule gekommen sind, wenn wir Liebeskummer hatten, nach verlorenen und gewonnenen Footballspielen. Diese Kekse sind sozusagen sein Zuhause.

Und jetzt hast du ein Stück meines Zuhauses bei dir.

In deinem ersten Brief hast du mich etwas gefragt – wann war das? Vor einem Monat? Ist ja auch egal, du hast mich gefragt, wie es sich anfühlt, der Mittelpunkt des Universums anderer zu sein. Damals wusste ich nicht, was ich darauf antworten soll, aber ich glaube, jetzt weiß ich es.

Ehrlich gesagt bin ich für niemanden der Mittelpunkt des Universums. Nicht mal für meine Kinder. Colt ist extrem unabhängig und außerdem überzeugt davon, dass er allein für Maisies – und meine – Sicherheit verantwortlich ist. Maisie ist selbstsicher, wird aber oft für schüchtern gehalten, weil sie so still ist. Dabei ist sie überhaupt nicht schüchtern. Sie hat ein unglaubliches Talent dafür, Menschen einzuschätzen, und sie riecht Lügen auf eine Meile Entfernung. Ich wünschte, das könnte ich auch, denn wenn ich eins hasse, dann sind es Lügen. Maisie hat ihre außerordentliche Menschenkenntnis leider nicht von mir geerbt. Wenn sie nicht mit jemandem spricht, dann nicht weil sie ein ängstliches Mauerblümchen ist, sondern weil sie der Meinung ist, dass dieser jemand ihre Zeit nicht wert ist. So war sie schon als Baby. Entweder sie mag jemanden oder eben nicht. Colt … der gibt jedem eine Chance und eine zweite, eine dritte … du weißt, worauf ich hinauswill.

Das hat er wohl von seinem Onkel, denn ich gebe zu, dass ich noch nie jemandem eine zweite Chance gegeben habe, der einen meiner Liebsten verletzt hat. So peinlich es auch ist, das zuzugeben, ich habe unserem Vater immer noch nicht verziehen, dass er uns verlassen hat – wegen des Gesichtsausdrucks meines Bruders oder der Lüge, die ihm so leicht über die Lippen kam, dass er nur zu einer kurzen Mission aufbricht … von der er nie zurückgekommen ist. Dass er sich lieber von unserer Mutter als von der Army getrennt hat. Verdammt, es ist jetzt vierzehn Jahre her und ich habe dem Offizier immer noch nicht den Befehl verziehen, der zum Tod meines Vaters geführt hat – weil er meiner Mutter zum zweiten Mal das Herz gebrochen hat. Das hasse ich wirklich an mir. Ja, Colt hat sein weiches Herz definitiv von meinem Bruder geerbt und ich hoffe, dass er es niemals verliert.

Mit fünf Jahren sind meine Kinder jetzt schon bessere Menschen, als ich es jemals sein werde, und ich bin unfassbar stolz auf sie.

Aber ich bin nicht der Mittelpunkt ihres Universums. Ich bin eher so etwas wie ihre Schwerkraft. Noch habe ich sie fest im Griff, halte ihre Füße auf dem Boden, zeige ihnen den Weg. Es ist meine Aufgabe, sie hier zu halten, wo sie in Sicherheit sind. Aber je älter sie werden, desto mehr kann ich meinen Griff lockern. Irgendwann werde ich sie ganz freilassen, werde sie fliegen lassen können und sie nur noch zurückholen, wenn sie mich darum bitten oder mich brauchen. Ich meine, verdammt, ich bin vierundzwanzig und manchmal muss selbst ich noch auf den Boden zurückgeholt werden.

Wenn ich ganz ehrlich bin, will ich auch gar nicht ihr Mittelpunkt sein. Denn was passiert, wenn der Mittelpunkt plötzlich nicht mehr da ist?

Alles … alle trudeln orientierungslos ins All.

Zumindest war es bei mir so.

Deswegen bin ich zufrieden damit, die Schwerkraft zu sein. Immerhin kontrolliert sie die Gezeiten, gibt uns Halt und macht das Leben erst möglich. Und wenn sie bereit sind zu fliegen, finden sie vielleicht jemand anderen, der ihre Füße auf dem Boden hält. Oder jemanden, der mit ihnen fliegt.

Ich hoffe, es ist ein bisschen von beidem.

Darf ich eigentlich fragen, wieso du Chaos genannt wirst? Oder ist das genauso geheim wie dein Aussehen?

Ella

»Willst du uns teilhaben lassen, Chaos?«, fragte Williams über Funk und nickte zu dem Brief.

»Ne.« Ich faltete Brief Nummer sechs zusammen und schob ihn in meine Brusttasche, während der Hubschrauber uns zum Einsatzort flog. Havoc saß regungslos zwischen meinen Knien. Sie war weder ein Fan von Helikoptern noch vom Abseilen, das wir vor uns hatten, aber sie war zuverlässig.

»Sicher?«, neckte Williams weiter, grinste breit unter der dunklen Tarnfarbe auf seinem Gesicht.

»Absolut.« Er bekam weder den Brief noch einen Keks. Ich teilte keinen Aspekt von Ella. Sie war der erste Mensch, der allein mir gehörte, wenn auch nur durch Briefe. Und dieses Gefühl wollte ich nicht mehr missen.

»Lasst ihn in Ruhe«, sagte Mac, der neben mir saß. Er warf einen Blick auf meine Tasche. »Sie tut dir gut.«

Fast hätte ich ihn ignoriert. Doch was er mir gegeben hatte, war ein Geschenk, nicht nur Ella selbst, sondern die Verbindung zu etwas, das über die Jungs hier und die Mission hinausging. Er hatte mir ein Fenster zu einem normalen Leben geöffnet, einem Leben außerhalb dieser Box, in der ich mich die letzten zehn Jahre verschanzt hatte. Und dafür hatte er die Wahrheit verdient.

»Ja.« Ich nickte. Mehr konnte ich ihm nicht bieten.

Grinsend schlug er mir auf die Schulter, verzichtete allerdings auf ein »Hab’s dir doch gesagt«.

»Zehn Minuten bis zur Ankunft«, rief Donahue über Funk.

»Wie ist es so in Telluride?«, fragte ich Mac.

Seine Miene nahm diesen sehnsüchtigen Ausdruck an, über den ich früher die Augen verdreht hatte. Jetzt sehnte ich mich auf absurde Art danach, es zu wissen, wollte mir das kleine Städtchen vorstellen können, in dem sie lebte.

»Es ist wunderschön. Im Sommer ist alles saftig und grün, und die Berge ragen um dich herum auf, als wollten sie dich dem Himmel näher bringen. Im Herbst sehen sie aus wie in Gold getunkt, wenn die Espen die Farbe wechseln … so wie jetzt gerade. Im Winter ist es wegen der Skisaison etwas voll, aber der Schnee fällt auf das Solitude und alles kommt unter einer dicken Decke zur Ruhe. Dann kommt der Frühling, die Straßen werden matschig, die Touristen verschwinden und alles wird neu geboren, genauso schön wie im Jahr zuvor.« Er ließ den Kopf gegen die Lehne seines Sitzes im Black Hawk sinken.

»Es fehlt dir.«

»Jeden Tag.«

»Wieso bist du dann noch hier? Wieso bist du nicht ausgestiegen?«

Mit einem traurigen Lächeln drehte er den Kopf zu mir. »Manchmal muss man gehen, um zu wissen, was man zurückgelassen hat. Manche Dinge lernt man erst schätzen, wenn man sie verloren hat.«

»Und wenn man es nie hatte?« Das war eher eine theoretische Frage. Ich war noch nie an einen Ort gebunden gewesen oder hatte mich irgendwo zu Hause gefühlt. Ich war nirgendwo lange genug geblieben, damit dieses Gefühl Wurzeln schlagen konnte. Oder vielleicht war ich einfach nicht dazu in der Lage, mich zu verwurzeln. Vielleicht waren meine Wurzen so oft abgehackt worden, dass sie sich jetzt weigerten nachzuwachsen.

»Weißt du was, Gentry? Du und ich. Wenn dieser Einsatz vorbei ist, nehmen wir uns Urlaub und ich zeige dir Telluride. Ich weiß, dass du Skifahren kannst, also gehen wir erst auf die Piste und dann in die Bars. Vielleicht stelle ich dir sogar Ella vor, aber dafür musst du erst an Colt vorbeikommen.«

Ella. Uns blieben nur noch wenige Monate in dieser schnellen Eingreiftruppe. Dann würden wir uns erst mal von dieser Art Einsatz verabschieden und etwas Freizeit genießen, was ich für gewöhnlich verabscheute, doch diesmal war ich ein klein wenig neugierig. Aber Ella? Meine Neugier auf sie war alles andere als klein. Ich wollte sie sehen, mit ihr reden, herausfinden, ob es die Frau, die diese Briefe schrieb, wirklich gab, in einer Welt, die nicht nur auf dem Papier existierte und nicht immer perfekt war.

»Das klingt gut«, antwortete ich zögernd. Er hatte schon etliche Male angeboten, mich mitzunehmen, doch bisher hatte ich ihn noch nie beim Wort genommen.

Seine Brauen schossen in die Höhe und sein Grinsen wurde so breit, dass es beinahe komisch war. »Willst du Telluride sehen oder Ella?«

»Beides«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

Er nickte in dem Moment, als die Fünfminutenwarnung durch die Funkgeräte ertönte. Dann beugte er sich dicht zu mir, sodass nur ich ihn hören konnte, obwohl die anderen über den Lärm der Rotoren ohnehin nichts mitbekamen.

»Ihr wärt gut füreinander. Falls du jemals lange genug stillstehst, damit etwas wachsen kann.«

Nutzlos. Du ruinierst alles.

Ich verdrängte die Worte meiner Mutter aus meinem Kopf und konzentrierte mich aufs Hier und Jetzt. Ins Damals abzurutschen konnte nur im Desaster enden, deswegen schlug ich die Tür zu dieser Kammer in meinen Gedanken zu.

»Ich bin für niemanden gut«, sagte ich zu Mac. Bevor er weiter nachbohren konnte, beugte ich mich vor und kontrollierte ein letztes Mal Havocs Geschirr, vergewisserte mich, dass sie sicher festgeschnallt war und ich sie nicht auf dem Weg nach unten verlieren konnte.

Schwerkraft konnte echt ätzend sein.

Ellas Kommentare zu diesem Thema gingen mir durch den Kopf. Wie wäre es wohl, jemanden zu haben, der einen erdete? War diese Art von Sicherheit tröstend? Oder einengend? War es eine Kraft, auf die man sich verließ, oder eine, vor der man floh?

Gab es wirklich Menschen, die lange genug blieben, um als verlässlich zu gelten? Falls es sie gab, hatte ich noch keinen davon kennengelernt. Genau deswegen ließ ich mich nicht auf Beziehungen ein. Wieso sollte man in jemanden investieren, der sowieso irgendwann entscheiden würde, dass man zu kaputt, zu kompliziert war, um sich weiterhin mit einem abzugeben?

Auch Mac – mein bester Freund – war vertraglich an dieselbe Einheit gebunden wie ich und selbst seine Freundschaft hatte Grenzen, und ich achtete immer darauf, diese Grenzen nicht auszureizen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass er jeden, der Ella verletzte, dem Erdboden gleichmachen würde.

Zehn Minuten später waren wir am Boden und das war die einzige Schwerkraft, an die ich noch denken konnte.

Kapitel 4Ella

Brief #6

 

Ella,

Danke für die Kekse. Und ja, dein Bruder hat sie geklaut, während ich unter der Dusche war. Erstaunlich, dass er inzwischen nicht schon mehrere hundert Kilo wiegt.

Ich habe darüber nachgedacht, was du über Schwerkraft gesagt hast.

Ehrlich gesagt hatte ich das nie wirklich – etwas, das mich festhält. Vielleicht als ich der Army beigetreten bin, aber das war eher der Teamzusammenhalt als eine wirkliche Bindung an einen Ort oder eine Person. Bis ich deinem Bruder begegnet bin und sie angefangen haben, uns beide immer weiter durch den Auswahlprozess zu schieben. Leider mag ich ihn sehr, so wie die meisten anderen unserer Einheit. Bedauerlich ist das nur, weil er einem manchmal echt auf die Nerven gehen kann.

Wieso ich Chaos genannt werde? Das ist eine lange, nicht sehr schmeichelhafte Geschichte. Irgendwann werde ich sie dir erzählen, versprochen. Bis dahin verrate ich nur, dass die Geschichte eine Kneipenschlägerei beinhaltet, zwei extrem wütende Türsteher und ein Missverständnis zwischen deinem Bruder und einer Frau, die er für eine Prostituierte gehalten hat. Was sie nicht war.

Sie war die Frau unseres neuen befehlshabenden Offiziers. Ups.

Vielleicht sollte ich ihn zwingen, dir die Geschichte zu erzählen.

In deinem letzten Brief hast du erwähnt, dass es Maisie nicht gut geht. Sind die Ärzte der Sache auf den Grund gegangen? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer das für dich sein muss. Wie geht es Colt? Hat er schon mit dem Snowboardunterricht angefangen?

Ich muss los, wir werden gleich zusammengetrommelt und ich will den Brief heute noch losschicken.

Bis dann.

Chaos

Das Krankenhauszimmer war vollkommen still, bis auf die Gedanken, die in meinem Kopf kreischten, mich anflehten, sie freizulassen. Sie verlangten nach Antworten, wollten jeden Arzt in dieser Klinik zur Rede stellen und ihn zwingen zuzuhören. Da ich wusste, dass man in Telluride nicht weitersuchen würde, hatte ich Maisie in das eineinhalb Stunden entfernte größere Krankenhaus in Montrose gebracht.

Es war kurz vor Mitternacht. Wir waren seit dem frühen Mittag hier und beide Kinder schliefen tief und fest. Maisie hatte sich zusammengerollt, wirkte viel zu klein in dem großen Krankenbett. Ein paar Kabel sandten ihre Vitalfunktionen an verschiedene Geräte. Zum Glück hatte jemand das konstante Piepen abgestellt. Den wunderschönen Rhythmus ihres Herzens einfach nur zu sehen genügte mir vollkommen.

Colt hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt, sein Kopf lag in meinem Schoß und er atmete tief und gleichmäßig. Ada hatte angeboten, ihn nach Hause zu bringen, aber er hatte sich geweigert, insbesondere weil Maisie seine Hand fest umklammert hatte. Sie waren nicht gern lange voneinander getrennt. Mit den Fingern strich ich über sein blondes Haar, derselbe beinahe weiße Farbton wie bei Maisie. Wie sehr sich ihre Gesichtszüge ähnelten. Wie unterschiedlich ihre kleinen Seelen waren.

Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Zimmertür gerade weit genug, damit ein Arzt seinen Kopf hereinstrecken konnte.

»Mrs MacKenzie?«

Ich hob einen Finger und der Arzt nickte, zog den Kopf zurück und schloss behutsam die Tür.

So sanft wie möglich hob ich Colts Kopf von meinem Schoß, ersetzte meine Wärme durch ein Kissen und meine Jacke, die ich über seinen kleinen Körper breitete.

»Gehen wir nach Hause?«, fragte er, kuschelte sich tiefer in die Sofakissen.

»Nein, Süßer. Ich muss nur kurz mit dem Arzt reden. Du bleibst hier und passt auf Maisie auf, okay?«

Langsam öffnete er die glasigen blauen Augen und begegnete meinem Blick. Er schlief immer noch halb.

»Das kann ich.«

»Ich weiß.« Zärtlich strich ich ihm über die Stirn.

Mit sicheren Schritten und extrem unsicheren Fingern schaffte ich es, die Tür zu öffnen und wieder hinter mir zu schließen, ohne Maisie zu wecken.

»Mrs MacKenzie?«

Ich warf einen Blick auf das Namensschild des Manns. Dr. Taylor.

»Ich bin nicht verheiratet.«

Er blinzelte hektisch und nickte dann. »Ah. Natürlich. Entschuldigung.«

»Was haben Sie herausgefunden?« Ich zog die Seiten meines Cardigans zusammen, als könnte die Wolle mir als eine Art Rüstung dienen.

»Lassen Sie uns den Flur runtergehen. Die Schwestern sind hier, Sie müssen sich also keine Sorgen um die Kinder machen«, versicherte er mir und führte mich schon zu einem verglasten Bereich, der so was wie ein Konferenzraum zu sein schien.

Zwei weitere Ärzte warteten dort bereits auf uns.

Dr. Taylor deutete auf einen Stuhl und ich nahm Platz. Alle drei Männer wirkten ernst, ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht und der Typ rechts konnte nicht aufhören, mit seinem Kugelschreiber zu klicken.

»Also, Ms McKenzie«, begann Dr. Taylor. »Wir haben verschiedene Blutuntersuchungen bei Margaret gemacht und Flüssigkeit aus ihrer Hüfte entnommen, in der wir erhöhte Entzündungswerte feststellen konnten.«

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl vor. Entzündung … das klang simpel.

»Also bekommt sie Antibiotika?«

»Nicht direkt.« Dr. Taylors Blick huschte zur Tür, an deren Rahmen nun eine Frau lehnte, die etwa Mitte vierzig sein musste. Sie war eine klassische Schönheit, ihre dunkle Haut war ebenso makellos wie ihre Frisur. Plötzlich wurde mir mein eigener zerzauster Zustand bewusst, doch ich konnte gerade so den Drang unterdrücken, nach meinem längst nicht mehr süßen losen Dutt zu greifen.

»Dr. Hughes?«

»Ich beobachte nur. Ich habe das Krankenblatt des Mädchens gesehen, als ich meine Schicht angetreten habe.«

Dr. Taylor nickte, atmete einmal tief durch und wandte sich dann wieder an mich.

»Okay, wenn sie eine Entzündung in ihrer Hüfte hat, würde das die Schmerzen und das Fieber erklären, richtig?« Ich verschränkte die Arme.

»Das wäre möglich, ja. Allerdings haben wir eine Anomalie in ihrem Blutbild gefunden. Der Wert ihrer weißen Blutkörperchen ist drastisch erhöht.«

»Was bedeutet das?«

»Nun ja, das hier ist Dr. Branson aus der Orthopädie. Er wird uns mit Margarets Hüfte helfen. Und das …« Dr. Taylor schluckte. »Das ist Dr. Anderson. Aus der Onkologie.«

Onkologie?

Ich richtete meinen Blick auf den älteren Arzt, doch mein Mund ließ sich einfach nicht zur Mitarbeit zwingen. Nicht bis der Arzt die Worte aussprach, die bestätigten, wieso jemand seines Fachgebiets hinzugerufen worden war.

»Ms MacKenzie, die Testergebnisse ihrer Tochter weisen darauf hin, dass sie an Leukämie leiden könnte …«

Seine Lippen bewegten sich weiter. Ich sah, wie sie Laute formten, sah die Bewegungen seiner Gesichtszüge, doch hören konnte ich nichts mehr. Es war, als hätte er sich in Charlie Browns Lehrer verwandelt, und alles, was er sagte, drang wie durch einen ganzen Ozean zu mir.

Und ich ertrank.

Leukämie. Krebs.

»Moment. Warten Sie.« Ich hob die Hände. »In den letzten sechs Wochen war ich mindestens dreimal mit ihr beim Kinderarzt. Dort wurde mir gesagt, dass alles in Ordnung sei, und jetzt wollen Sie mir sagen, sie hätte Leukämie? Das ist unmöglich! Ich habe alles getan.«

»Ich weiß. Ihr Kinderarzt wusste nicht, wonach er suchen sollte, und wir sind uns noch nicht sicher, ob es wirklich Leukämie ist. Wir müssen eine Knochenmarkprobe entnehmen, um das bestätigen oder ausschließen zu können.«

Welcher Arzt hatte das gesagt? Branson? Nein, das war der Orthopäde, oder?

Es war der Krebsarzt. Weil mein Baby auf Krebs getestet werden musste. Sie lag nur ein paar Türen weiter im Bett und hatte keine Ahnung, dass diese Gruppe von Leuten sie gerade zu einem höllischen Schicksal verdammte, für ein Verbrechen, das sie nie begangen hatte. Colt … Gott, was sollte ich ihm sagen?

Ich spürte, wie jemand meine Hand drückte, und hob automatisch den Kopf, entdeckte Dr. Hughes, die sich neben mich gesetzt hatte. »Können wir jemanden für Sie anrufen? Vielleicht Maisies Vater? Ihre Familie?«

Maisies Vater hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sie überhaupt kennenzulernen.

Meine Eltern waren seit vierzehn Jahren tot.

Ryan war am anderen Ende der Welt und tat weiß Gott was.

Ada und Larry schliefen sicher tief und fest.

»Nein. Es gibt niemanden.«

Ich war allein.

 

Am Morgen begannen die Untersuchungen. Ich zog ein kleines Notizbuch aus meiner Handtasche und fing an mitzuschreiben, was die Ärzte während der Tests sagten. Ich schaffte es nicht, alles aufzunehmen. Oder vielleicht war die ganze Sache auch einfach zu überwältigend, um sie zu begreifen.

»Noch ein Test?«, fragte Colt und drückte meine Hand, als die Ärzte Maisie mehr Blut abnahmen.

»Ja.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, konnte ihn damit jedoch nicht täuschen.

»Wir wollen einfach nur herausfinden, was mit deiner Schwester los ist, kleiner Mann«, sagte Dr. Anderson, der neben Maisies Bett stand.

»Sie haben doch schon in ihre Knochen geschaut. Was wollen Sie denn noch?«, fuhr Colt ihn an.

»Hey, Colt, lass uns ein Eis essen gehen«, sagte Ada aus einer Ecke des Zimmers. Sie war früh am Morgen gekommen, entschlossen, mich nicht allein zu lassen.

Ich hätte mit einem Dutzend weiterer Bekannter in einem Zimmer sein können – und wäre trotzdem allein gewesen.

»Komm schon, wir bringen Maisie auch eins mit.« Sie streckte die Hand aus und ich nickte Colt zu.

»Geh ruhig. Wir sind noch eine Weile hier.«

Colt sah zu Maisie hinüber, die ihm zulächelte. »Erdbeer.«

Er nickte, nahm seinen Auftrag mit großer Ernsthaftigkeit entgegen. Dann warf er Dr. Anderson noch einen letzten bösen Blick zu, bevor er mit Ada das Zimmer verließ.

Ich hielt während der Blutabnahme Maisies Hand. Dann kuschelte ich mich zu ihr ins Bett und machte eine Zeichentrickserie an, hielt ihren kleinen Körper fest an mich gedrückt.

»Bin ich krank?« Ohne eine Spur von Angst oder Erwartung im Blick sah sie zu mir auf.

»Ja, Baby. Ich glaube schon. Aber noch ist es zu früh, um sich Sorgen zu machen, okay?«

Sie nickte und wandte sich wieder der Sendung zu, die gerade auf Disney Junior lief.

»Dann ist es ja gut, dass ich in einem Krankenhaus bin. In Krankenhäusern wird man wieder gesund gemacht.«

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das stimmt.«

 

»Es ist nicht Leukämie«, eröffnete Dr. Anderson mir, als wir später am Abend zusammen im Flur standen.

»Wirklich?« Erleichterung flutete meinen Körper, ein nahezu greifbares Gefühl, als würde Blut in ein taubes Glied zurückkehren.

»Ja. Allerdings wissen wir nach wie vor nicht, was es ist.«

»Könnte es immer noch Krebs sein?«

»Es ist möglich. Abgesehen von der hohen Anzahl weißer Blutkörperchen sind wir bisher jedoch auf nichts weiter Auffälliges gestoßen.«

»Aber Sie werden weitersuchen.«

Er nickte, doch die Überzeugung, die in seinen Augen geschimmert hatte, als er noch Leukämie vermutet hatte, war verschwunden. Er wusste nicht, womit wir es zu tun hatten, und offenbar wollte er das mir gegenüber nicht zugeben.

Tag drei und vier brachten mehr Tests. Weniger Sicherheit.

Colt wurde immer unruhiger, weigerte sich aber, seiner Schwester von der Seite zu weichen, und ich brachte es nicht übers Herz, ihn dazu zu zwingen. Die beiden waren noch nie länger als einen Tag voneinander getrennt gewesen. Ich war mir nicht sicher, ob sie allein überleben konnten, solange sie sich als Einheit sahen.

Ada brachte uns Wechselkleidung, ging mit Colt spazieren und hielt mich über das B&B auf dem Laufenden. Schon merkwürdig, das Solitude war so lange auf Platz drei meiner Prioritätenliste gewesen – direkt hinter Colt und Maisie –, doch in diesem Moment hätte es mir nicht gleichgültiger sein können.