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Anwalt Peter Pfeffer betreibt mit zwei Kollegen eine gut gehende Kanzlei. An einem Freitag Abend wird er noch sehr spät mit einer Mandantin konfrontiert, die ihn sofort sprechen will. Peter steckt in der Klemme: Einerseits muss er noch einen Fall für Montag vorbereiten, andererseits wartet seine Frau und ein Grillfest auf ihn. Er wimmelt die Anruferin ab und vertröstet sie auf Montag. Ein tödlicher Fehler, wie sich bald herausstellen soll...In der zweiten Geschichte verteidigt Peter Pfeffer den mit ihm befreundeten Polizisten Dirk Schneider, der wegen versuchter Vergewaltigung angeklagt ist. Es handelt sich bei dem Opfer um eine Kollegin von Dirk. Peter ist von seiner Unschuld überzeugt. Warum sollte denn ein Freund und Polizist ihn anlügen?In der letzten Geschichte entdeckt Peter schließlich zahlreiche Unregelmäßigkeiten in den Finanzen der Kanzlei. Versucht sich einer seiner Partner etwa zu bereichern? Und warum gehören plötzlich russische Mafiamitglieder zu den neuen Mandanten seines Kollegen Reinhold? Als Sozius Thomas fristlos kündigt, kommt ihm ein furchtbarer Verdacht...
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Seitenzahl: 204
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Der Spätsommerabend war noch angenehm warm. Letzte Straßengeräusche drangen durch die gekippten Fenster des Büros im dritten Stock eines Altbaus am Rande der Innenstadt von Regensburg. Sie galt mit ihrem mittelalterlichen Flair als die Perle der Oberpfalz.
Viele Menschen waren an diesem Freitag Abend nicht mehr auf den Straßen unterwegs. Sie genossen bereits das Wochenende auf den Freisitzen der zahlreichen Lokale im historischen Zentrum der Stadt. Alle diejenigen, die jetzt noch nicht aßen, tranken oder einen gepflegten Wochenendplausch führten, waren auf der Suche nach den letzten Parkplätzen.
Und dann gab es noch einige berufstätige Menschen, die es bisher nicht geschafft hatten, ihren Arbeitsplatz in Richtung Wochenende zu verlassen - diensthabende Polizisten, Notärzte, Moderatoren und auch einige Rechtsanwälte...
Die Zeiger der Bürouhr näherten sich unweigerlich den Strichen, die dem Betrachter signalisieren sollten, dass es neun Uhr wurde - neun Uhr an einem Freitag Abend, der wie geschaffen dafür war, das Leben nach einer harten Arbeitswoche so richtig zu genießen: An lauschigen Plätzen vor historischen Häuserfassaden einen trockenen Rotwein oder ein kühles Bier zu trinken, dabei andere Menschen zu treffen oder einfach nur mit seinen Freunden die Geschichten der Woche auszutauschen.
Aber das Allerschönste wäre es, im Schein einer flackernden Kerze in große braune Augen zu sehen, ihnen leise Komplimente zu sagen, tastende Fingerspitzen auf der Haut zu fühlen und den Geschmack sinnlicher Lippen zu kosten. Endlich all die Sorgen und den Druck des Alltags für ein paar Stunden zu vergessen und dabei allen Gefühlen freien Lauf lassen zu können, das wäre jetzt wirklich schön. Sehr schön. Leider zu schön.
Peter Pfeffer seufzte bei diesem Gedanken und rieb seine müden Augen. Als er sie öffnete, sah er wieder die ernüchternde Realität vor sich: Statt großer brauner Frauenaugen leider nur graue Aktendeckel, rote Gesetzestexte und blaue Kommentare, mehrere Polizeiberichte, ein dickes Sachverständigengutachten, viele Unfallfotos und Unmengen von Notizzetteln, verteilt auf dem gesamten Schreibtisch. Ein großes dunkles Meer aus einem Haufen Papier und Millionen von Buchstaben, in das er eigentlich nicht mehr eintauchen wollte. Es drohte nämlich langsam, ihn zu verschlingen.
Er konnte es einfach nicht fassen: Alle anderen machten gerade das, was wirklich schön ist im Leben, aber er saß seit über zwei Stunden an diesem komplizierten Verkehrsunfall und versuchte das fast Unmögliche: Er wollte in diesem Fall irgendwie gewinnen, ja er musste es sogar! Das einzige Problem an der Sache war: Er hatte seit zwei Stunden immer noch keine Ahnung, wie er das hinkriegen sollte. Das waren die Momente, in denen er seinen Beruf tatsächlich über alles hasste.
Hätte er nicht doch besser was anderes werden sollen? Etwas, das er auch gut konnte? Vielleicht Musiker, Schauspieler oder Radiomoderator? Er rieb sich erneut die Augen und sagte zu sich selbst: 'Du wolltest doch letztlich Anwalt sein. Dann mach jetzt auch den Job, für den du dich nach der langen Bedenkzeit entschieden hast!'
Alles hatte er schon ausprobiert. Während des Studiums hatte er bereits viel Gitarre gespielt, dann mit Freunden in einigen Bands Musik gemacht, mehrere Studentenfilme gedreht und schließlich während des Referendariats in einem privaten Radiosender moderiert. Aber als er nach zwei recht mühsamen Versuchen vor seinem endlich bestandenen zweiten Staatsexamen saß, kam er zu einer schicksalsschweren Entscheidung: Statt aller Dinge, die er ohne Anstrengung mit soviel Lust und Leidenschaft einfach nur so gemacht hatte, wollte er lieber den vermeintlich sicheren, aber nie leichten, beruflichen Weg einschlagen und tatsächlich ein selbständig tätiger Rechtsanwalt werden. Für eine gute Anstellung in einer Kanzlei oder gar für ein Richteramt hatten die Noten leider nicht gereicht.
War es aber wirklich seine eigene Entscheidung oder war es der Druck seines Vaters, der ihn schon in der Anfangsphase seines Studiums mit Problemen löcherte, die seine wenigen juristischen Kenntnisse völlig überforderten? Es ging um Nachbarschaftsstreit, um Baurechtsstreitigkeiten, den Streit mit der eigenen Schwester um das mütterliche Erbe und schließlich noch um die arbeitsrechtliche Kündigung, alles Themen eines verbitterten Mannes, der immer mit jedem im Streit lag.
“Werde Anwalt und du kennst dich mit den Gesetzen aus. Dann kann dir keiner was. Dann kannst du dich wehren!” sagte er immer. An sich war das ja auch richtig.
Was Heinrich Pfeffer in seinem emotional verkorksten Leben jedoch übersah, war die Tatsache, dass nur der sich wehren muss, der vorher auch jemanden angegriffen hatte. Und der alte Herr griff alle an. Er tat es, weil er gegenüber anderen Menschen den Schmerz rauslassen musste, der ihm seit so vielen Jahren zu schaffen machte. Besonders ab dem Zeitpunkt, als seine Frau zu trinken begann. Er verließ sie und seinen Sohn quasi über Nacht. Morgens war er verschwunden. Aber es begann schon früher.
Er war der von der Mutter vorgezogene und damit verzogene Sohn, der sich gegenüber der Schwester und sogar dem eigenen Vater alles erlauben konnte. Das änderte sich, als er mit 16 Jahren in den zweiten Weltkrieg eingezogen wurde. Er überstand zwar die amerikanische Kriegsgefangenschaft, aber er lebte ab da mit seinen Kriegstraumata. Und er wurde zu einer emotionalen Zeitbombe, hin und her gerissen zwischen der Mutter und seiner eigenen Familie. Als Peters Mutter ihn zwang, aus der Heimatstadt wegzuziehen, gehorchte er schweren Herzens. Ab dann wurde das Leben für Peter immer schlimmer. Es schwankte ständig zwischen Idylle und Terror, der plötzlich über ihn hereinbrechen konnte. Materiell hatte er zwar als Einzelkind viel, aber emotional leider wenig. Nur die unbedingte Liebe seiner Mutter half ihm über die kurzen Zeiten hinweg, in denen der Vater zu Hause war.
Heinrich Pfeffer fühlte sich nur dann wirklich frei, wenn er einige hundert bis tausend Meter über der Erde schweben konnte. Am Knüppel eines Segelflugzeugs, einer Propellermaschine und später am Steuer seines Düsenjets. Da war er plötzlich mit der für ihn so feindlichen Welt im Reinen und konnte seine Sorgen unter sich zurücklassen. Er war ein begeisterter Berufspilot geworden.
Soweit sich Peter erinnern konnte, war dort auch einer der wenigen Momente einer echten Vater-Sohn-Beziehung, einer emotionalen Bindung zwischen ihnen: Er und sein Vater im Cockpit der Maschine. Der Vater flog und er war der Copilot. Und da erlebte er auch einmal einen der seltenen Vertrauensbeweise seines alten Herren: Als der ihm für ein paar Minuten das Steuer des Jets überließ. Kein Schreien, keine Aggressionen, keine Ungeduld. Ganz ruhig ließ er ihn mit wenigen Hinweisen ein achthundert Stundenkilometer schnelles Flugzeug über die Alpen fliegen - ein einzigartiger Moment des Glücks und der Harmonie, der sich nie mehr wiederholte.
In der Stille seines Büros riss Peter das Klingeln des Telefons zurück in die Gegenwart.
'Warum geht denn da keiner ran?'
Langsam wurde ihm klar, das er der letzte war, der sich um diese Zeit noch in der Kanzlei aufhielt. Es klingelte an seinem Apparat. Die Nummer auf dem Display sagte ihm, das es jetzt Ärger geben würde. Es war seine Frau. Und es war bereits viertel nach neun. Er machte sich auf eine Menge Ärger gefasst, fixierte den Hörer, der im hellen Schein der Schreibtischlampe immer größer zu werden schien, und hob ab.
“Pfeffer”, sagte er in seiner für ihn beruflich gewohnten Manier.
“Hier auch”, kam die schnelle weibliche Antwort mit einem genervten Ausdruck in der Stimme.
“Hast du nicht eine Uhr im Büro? Oder bist du mit den Strichen etwas durcheinander gekommen? Vielleicht ist ja auch die Batterie alle und die Uhr steht schon seit einiger Zeit, hm?”
“Hallo Schatz”, versuchte Peter seine geladene Ehefrau vorsichtig zu beschwichtigen. “Ich habe die Striche fest im Blick. Es sind vielmehr die Buchstaben, die mir zur Zeit vor den Augen tanzen. Dieser Fall hier macht mich völlig fertig. Es ist schon fast neun, oder?”
“Machst du Witze? Es ist halb zehn und der einzige Mensch, der nicht in den vier Wänden, die wir unser Heim nennen, angekommen ist, das bist mal wieder du.”
Typisch, dachte Peter sich insgeheim. Es ist viertel nach neun, aber für genervte Frauen ist es bereits halb zehn. Haben Sie eine halbe Stunde gewartet, machen Sie dich sogar für eine ganze Stunde verantwortlich. Warum können Frauen nie bei den Fakten bleiben?
“Marlen, mein Engel, Frau eines sehr erfolgreichen und fleißigen Anwalts, du weißt doch, dass ich an diesem beschissenen, entschuldige bitte, komplizierten Unfall sitze. Und du weißt auch, dass nächsten Montag der Verhandlungstermin ist, von dem alles abhängt. Dieser Fuhrunternehmer hat mich zum ersten Mal beauftragt und wenn ich erfolgreich bin, können wir uns auf eine Menge weiterer, gut bezahlter Fälle freuen. Das Mandat könnte eine lukrative Stütze unserer Kanzlei werden und ich muss alles, wirklich alles, dafür tun, damit unser Mandant auch zufrieden ist.”
Schon in diesem Moment wusste Peter, dass das der falsche Ansatz war. Nach zehn Jahren Ehe kannte er seine intelligente und schöne Frau, halb vernünftige Deutsche und halb feurige Italienerin, in- und auswendig. Sie war clever, schlagfertig und dazu noch äußerst selbstbewusst. Eine sehr reizvolle, aber auch sehr gefährliche Mischung. Die Redegewandtheit hatte sie von ihrer italienischen Mutter, den Namen und die Sturheit vom Papa. Der war früher ein Fan von Marlene Dietrich.
“Und wie wäre es, wenn du etwas tust, was mich zufrieden stellt? Wir waren um acht bei Hansens eingeladen. Irma Hansen ist meine beste Freundin und ihr Mann ist auch dein Freund. Nur einmal im Jahr laden Sie uns um diese Zeit zum Grillen ein. Ob die wohl mit unserer Verspätung zufrieden sind? Na, was ist denn nun das Ergebnis deiner Überlegungen, Schatz? Was sagt dir denn dein juristischer Sachverstand zu diesem Fall?”
Peter wusste, dass er in diesem Dialog nicht mehr gewinnen konnte. Außerdem war er nach den ereignisreichen Jahren und unzähligen Auseinandersetzungen immer noch in Marlen verliebt. Darum ließ er sich auch von ihr zum alljährlichen Grillfest bei Irma und Robert überreden, obwohl seine Bindung zu diesem Paar nicht so intensiv war, wie die seiner Frau. Sie kannte Irma aus der Schule, hatte mit ihr Hotelfach gelernt und nach der Hochzeit nie den Kontakt zu ihr verloren. Irma war ihre beste Freundin. Robert war ein sehr erfolgreicher Bauingenieur, ein Pragmatiker und er war immer pünktlich. Peter konnte Marlens wiederkehrende Vergleiche mit ihm schon langsam nicht mehr hören, aber trotzdem mochte er Robert.
Das jährliche Grillfest war zwar schon Routine und die Bekannten der Hansens eher langweilig, aber es war Marlen wichtig, Irma zu sehen. Peter wusste das. Er packte sein ganzes Verständnis und seinen letzten Charme in die Stimme:
“Schatz, du hast doch Bescheid gesagt, dass wir später kommen, oder? Ich hab dir schon am Telefon gesagt, dass es ein bisschen länger dauern wird. Die werden doch nicht böse sein. Du, ich brauche höchstens noch eine halbe Stunde. Ich verspreche es dir!”
“Noch eine halbe Stunde? Das hast du um sieben schon gesagt. Und um acht Uhr. Ich wusste nicht, dass du mehrere halbe Stunden gemeint hast. Ein Jurist sollte sich doch eigentlich klarer ausdrücken, oder? Ich habe Irma schon von acht auf neun vertröstet. Wenn wir endlich da ankommen, wird die Grillkohle verglüht, das letzte Fleisch kalt und der herrliche Rotwein ausgetrunken sein. Kannst du nicht ein einziges Mal zuverlässig sein, so wie Robert? Der wäre mit Sicherheit pünktlich, ja, ich wette sogar überpünktlich gewesen!“
“Marlen, erstens bin ich nicht wie Robert, das solltest du doch eigentlich wissen, und zweitens ist Robert am Bau meistens schon um fünf fertig, weil dann die Arbeiter nach Hause gehen. Ich bin Anwalt und ich gehe meistens als Letzter aus der Kanzlei. Dann, wenn alles getan ist. Aber, glaub mir, ich wäre lieber bei meiner schönen und heißblütigen Frau, als in diesem ganzen trockenen Papierkram zu stecken. Seit zwei Stunden sitze ich schon davor. Ich liebe dich. Gib mir noch diese halbe Stunde, dann ist es geschafft. Die Lösung des Falles liegt praktisch irgendwo hier vor mir.”
“Peter, ich liebe dich auch und ich weiß natürlich auch, wie wichtig der Fall für dich und deine Kanzlei ist. Aber hättest du nicht gerade heute etwas früher damit anfangen können?”
Wiederum ein typisch weibliches Argument, das auch von Marlen gerne benutzt wurde: 'Wer früher anfängt, ist früher fertig!'
“Früher, wann früher? Erst musste ich die Post lesen und dann meinen Schriftwechsel erledigen. Später habe ich noch Telefonate mit Kollegen und Mandanten geführt, die Zahlungseingänge auf unseren Konten geprüft und ein paar Mahnungen verschickt. Bis fünf Uhr nachmittags hatte ich keine Zeit für anderen Dinge. Dann sind unsere Damen und die Herren Kollegen nach Hause gegangen und ich hatte endlich meine Ruhe für dieses Mandat. Also, wann wäre bei dir früher gewesen, bitte?”
Peter hatte gegenüber Marlen sein letztes Ass ausgespielt. Sie konnte ihm sicherlich vorwerfen, Termine mit ihr, im Gegensatz zu den beruflichen Terminen, nicht immer einzuhalten oder auch ab und zu etwas später nach Hause zu kommen. Aber dass er seine beruflichen Pflichten gewissenhaft erfüllte, das stand auch für sie außer Frage.
“Also gut, Peter, diese halbe Stunde sollst du noch haben. Aber wenn du um zehn Uhr nicht da bist, kannst du gleich in der Kanzlei bleiben und dort auf der Couch schlafen. Ich fahre jetzt allein zu Hansens. Nora und Basti sind im Bett. Ich habe jetzt wirklich Hunger und es außerdem satt, immer wieder auf dich zu warten. Ciao!”
Peter Pfeffer atmete ganz tief durch, nachdem er das Klicken hörte. Der Sturm war vorbei. Das war haarscharf an einem heftigen Ehekrach vorbei. Und wenn er einen einzigen Fall auf der Welt nicht übernehmen wollte, dann war es die eigene Scheidung. Dafür liebte er diese impulsive Frau und seine Kinder viel zu sehr. Er würde sich niemals trennen wollen.
Also machte er sich trotz seiner verschärften Lustlosigkeit wieder an die Arbeit. Er würde das schon irgendwie hinkriegen. Das Jura-Studium hatte er schließlich auch irgendwie hingekriegt, obwohl es anfangs nicht gut aussah. Er fand damals keinen Zugang in das abstrakte juristische Denken.
Aber er hatte gekämpft. Und er hatte schon bei vielen Dingen in seinem Leben das Kämpfen gelernt: Beim jahrelangen Streit der Eltern bis der Vater auszog. Bei der anschließenden Alkoholsucht der Mutter, die die Trennung nicht verkraftete. Bei den Hänseleien in der Schule, als die Mitschüler erfuhren, dass Peters Mutter Alkoholikerin war. Beim Tod der Mutter und dem vom Vater gewollten Schulwechsel mit Unterbringung im Internat, wo er keinen Menschen kannte und sich allein und verlassen fühlte. Diese schrecklichen Zeiten waren doch auch irgendwann vorbei und er hatte es irgendwie hingekriegt, dabei zu überleben. Sie hatten ihn sogar noch irgendwie stärker gemacht. Dann war dieser Fall doch wohl eine Kleinigkeit für sein Kämpferherz!
Peter nahm sich das umfangreiche polizeiliche Unfallprotokoll erneut zur Hand.
Der LKW seines Mandanten befand sich auf der Ortsausfahrt. Der Fahrer übersah dabei ein plötzlich die Straße überquerendes Müllfahrzeug und rammte es. Es entstand Totalschaden. Zwei Müllmänner wurden hinunter geschleudert und starben noch am Unfallort. Das Führerhaus am Fahrzeug des Mandanten war völlig demoliert, der Fahrer nur leicht verletzt. Der gesamte Schaden ging in die Hunderttausende. Laut Tachoscheibe war der LKW mit 100 km/h gefahren. Die Verschuldensfrage war für die Polizei damit geklärt. Peter sah zum wiederholten Mal keine Chance.
Aber war für den Fahrer des LKW das Manöver durch das Müllfahrzeug rechtzeitig zu erkennen? Er hatte spät gebremst. War der Blinker eingeschaltet worden? Peter suchte nach den Zeugenaussagen des Fahrers und einer entgegenkommenden PKW-Fahrerin. Der Fahrer des LKW war anscheinend nicht danach gefragt worden. Aber auf der Rückseite des Protokolls der Fahrerin las er, dass sie sich ganz sicher sei, keinen Blinker am Müllfahrzeug gesehen zu haben. Jetzt brauchte er das Gutachten zum Zustand des Müllfahrzeugs. Falls da nichts über ein durchgebranntes Blinker-Relais stand, dann war der Blinker beim Aufprall nicht eingeschaltet. Peter hätte einen Ansatzpunkt gefunden, wäre mit diesem Fall fertig und würde sofort zu Hansens fahren. Marlen müsste zufrieden sein.
Da klingelte schon wieder das Telefon.
Peters Augen richteten sich genervt auf den beigefarbenen Plastikkasten, von dem er jetzt nicht gestört werden wollte. Da hatte er nach stundenlangem Grübeln über der mehrere hundert Seiten starken Akte endlich eine entscheidende Idee und irgend jemand besaß die Frechheit, ihn in diesem Augenblick zu stören!
Bevor er auf das Display sah, schossen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf. Kein Mandant würde ihn um diese Zeit anrufen. Darum arbeitete er gerne abends an den schwierigen Fällen. Da war er einfach ungestört. Auch seine Büropartner hatten nie versucht, ihn so spät noch zu erreichen. Die waren jetzt bei ihren Familien und hatten mit all den Dingen zu tun, bei denen er ihnen sicherlich kaum helfen konnte.
Das konnte nur Marlen sein! Entweder waren die Kinder wach geworden oder sie wollte noch einen letzten Teil weiblicher Rage abbauen, den sie im letzten Gespräch nicht losgeworden war.
Gut, dann sollte sie auf diesem Wege gleich erfahren, dass ihr anwaltliches Genie einer Lösung sehr nahe war und schon bald bei den Hansens erscheinen würde. 'Genau wie versprochen!' dachte sich Peter. 'Von wegen immer unzuverlässig!'
Seine Augen erreichten das Display erst in dem Moment, als er schon voller Vorfreude abgehoben hatte. Hätte er einen Moment gewartet, wäre ihm aufgefallen, dass nicht seine private, sondern eine ihm unbekannte Nummer angezeigt wurde.
“Hey Schatz, Überraschung! Ich werde genau in einer halben Stunde bei dir sein. Ich habe die Lösung des Falles gefunden. Bitte, glaub mir. In einer halben Stunde bin ich da oder es soll mich sofort der Schlag am Schreibtisch treffen!”
“Aber nein, das möchte ich auf gar keinen Fall!” sagte die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
Es war nicht Marlens Stimme. Diese Stimme klang anders, irgendwie älter und irgendwie auch härter. Sie kam Peter im ersten Augenblick überhaupt nicht bekannt vor.
“Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte, ich rede mit meiner Frau. Dem ist ja wohl nicht so. Mit wem spreche ich denn bitte? Und warum rufen Sie um diese Zeit noch an? Ich bin eigentlich gar nicht mehr da.”
Peter wollte die unerwünschte Anruferin so schnell wie möglich abfertigen, aber nicht unhöflich wirken. Man weiß ja als Anwalt nie, was aus späten und unerwarteten Gesprächen alles werden kann...
“Sie kennen mich, Herr Rechtsanwalt Pfeffer. Ich war schon einmal bei ihnen. Es ist aber etwas länger her. Damals brauchte ich doch ganz dringend ihre Hilfe, wissen Sie nicht mehr? Und die brauche ich heute wieder von ihnen. Ich brauche sie sofort, verstehen Sie? Sie müssen sich unbedingt für mich Zeit nehmen und etwas sehr Wichtiges mit mir besprechen! Es ist für Sie geradezu lebenswichtig!”
Peter hatte solche Sprüche schon öfter gehört, aber die Stimme kannte er immer noch nicht. Sie passte nicht zu seinen aktuellen Mandantinnen. Und dieser eigenartige Klang, der in der Stimme mitschwang. Schwer zu sagen. Er war irgendwie verängstigt, fast schon hysterisch. Trotzdem blieb der Grundton in der Stimme ruhig und gefasst.
“Hören Sie, gute Frau, sagen Sie mir doch erst mal Ihren Namen. Erstens spreche ich ungern mit mir unbekannten Personen und zweitens ist das ein Gebot der Höflichkeit. Sie kennen ja anscheinend auch meinen Namen, oder?”
Vielleicht hatte sie ja den falschen Anwalt angerufen, hoffte Peter. Er wollte die Vorbereitungen für die kommende Verhandlung abschließen und dann schnellstens zur Grillparty bei Hansens fahren. Das, was er jetzt am wenigsten brauchte, war eine mysteriöse Unbekannte, die ihm seine kostbare Zeit stahl. Marlen würde ihn sonst noch umbringen, da war er sich sicher.
“Natürlich kenne ich Ihren Namen, Herr Rechtsanwalt. Wie sollte ich den vergessen? Sie waren doch damals in unserem Gespräch so nett und einfühlsam. Können Sie sich daran denn gar nicht erinnern? Evelyn Rosner heiße ich. Ich war doch schon vor Jahren einmal in ihrer Kanzlei. Ich hatte damals mit ihnen einen Termin.”
“Gut, Frau Rosner, ich verstehe, Sie hatten damals einen Termin” versuchte Peter Zeit zu gewinnen, während sein Gehirn krampfhaft nach Erinnerungen suchte, die mit dem Namen Rosner in Verbindung standen. “Aber, liebe Frau Rosner, verstehen sie, viele Menschen hatten bei mir schon einen Termin und, so leid es mir tut, an jeden kann ich mich einfach nicht mehr erinnern. Mit ihrem Namen bringe ich auch nichts in Verbindung, das mir im Gedächtnis geblieben wäre.”
Es konnte, da war sich Peter jetzt ziemlich sicher, wirklich nichts Weltbewegendes gewesen sein.
Also gut, es war an der Zeit, diese Frau Rosner, eine Nachtschwärmerin oder vielleicht auch eine einsame Person, endlich los zu werden. Er war schließlich Rechtsanwalt und kein nächtlicher Telefonseelsorger!
“Ich muss das Gespräch leider beenden, Frau Rosner, denn ich werde schon lange zu Hause erwartet. Vereinbaren sie doch am nächsten Montag mit meinen Sekretärinnen einen Termin. Dann können wir in aller Ruhe reden.”
Oder auch nicht, dachte sich Peter in dieser Sekunde. Er sollte seine Damen wohl besser instruieren, dass er mit dieser Frau Rosner in keinem Fall sprechen wollte.
Da war irgendwas in ihrer Stimme, das er nicht eindeutig zuordnen konnte und das ihn irgendwie beunruhigte.
“Sie werden noch eine halbe Stunde im Büro sein. Das sagten Sie doch gerade selbst. Ich brauche Ihre Hilfe. Eine halbe Stunde reicht vollkommen aus. Aber ich muss Sie jetzt sprechen, Herr Rechtsanwalt Pfeffer, jetzt sofort.”
Diese Frau Rosner war nicht nur hartnäckig, sie entwickelte sich zu einer echten Nervensäge.
“Ich werde verfolgt, hören Sie? Die sind hinter mir her, die wollen mich fertig machen.”
Steigende Hysterie machte sich in ihrer Stimme breit, die besorgniserregend war.
“Wer verfolgt Sie, Frau Rosner? Und was meinen Sie denn mit fertig machen?”
“Diese Frauen, Herr Pfeffer, diese Frauen in meinem Haus. Sie stellen mir nach. Sie wollen mir schaden!”
Der kleine Funke einer vagen Erinnerung suchte sich einen Weg durch Peters Nervenbahnen. Er konnte sein Bewusstsein aber nicht erreichen. Das war durch den auf ihm lastenden Zeitdruck und durch den komplexen Verkehrsunfall abgelenkt. Hätte er es erreicht, hätte Peter den Hörer bestimmt sofort aufgelegt und die Kanzlei fluchtartig verlassen.
„Meine ganzen Sachen wurden durchsucht. Meine Kleider waren zerschnitten und überall waren Brandlöcher. Das waren diese Frauen, diese Frauen aus meinem Haus!“ legte Frau Rosner hektisch nach.
Der vage Gedanke war plötzlich wieder da, aber er verpuffte wieder zwischen zwei überlasteten Synapsen.
“Beruhigen Sie sich doch, Frau Rosner, und hören Sie mir zu. Ich bin Anwalt, ich bin sehr beschäftigt und ich muss dann dringend nach Hause, weil ich dort erwartet werde, verstehen Sie? Ich bin weder Polizist noch Privatdetektiv und ich arbeite auch nicht für die Telefonseelsorge. Also, wenn sie dringend Hilfe brauchen, gehen sie doch bitte zum nächsten Polizeirevier. Die Beamten werden ihnen bestimmt helfen, glauben sie mir. Dafür sind sie nämlich da. Ich leider nicht.”
“Nein, ich will nicht zur Polizei, Herr Rechtsanwalt. Ich will, dass sie mir helfen. Weil sie es können. Sie sind doch bestimmt zwei Meter groß und sahen damals sehr muskulös aus unter Ihrem weissen Hemd. Ihre blauen Augen haben so viel Vertrauen ausgestrahlt und so viel Sicherheit. Ich weiß genau, dass sie derjenige sind, der mir helfen kann. Ich bin ganz in ihrer Nähe. Also, bis gleich.”
Jetzt wurde es Peter zuviel. Seine schon reichlich überspannte Geduld hatte endgültig ihre Grenze erreicht.
“Halt! Stop! Frau Rosner, warten sie! Sie werden nicht vorbeikommen! Ich werde jetzt sofort die Kanzlei verlassen und nach Hause fahren. Und sie gehen zur Polizei. Ich kann Ihnen heute Abend nicht mehr helfen. Also, gute Nacht, Frau Rosner!”
Er schnaufte hörbar, als er auflegte. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Er hatte gerade eben einen Alptraum erlebt und das auch noch an diesem, in jeglicher Hinsicht komplizierten Abend.
Als wenn er nicht schon genug Probleme hätte, musste er sich auch noch mit einer Frau herumschlagen, die ganz offensichtlich unter Verfolgungswahn litt. Am besten geht sie nicht zur Polizei sondern gleich in die nächste Psychiatrie! Vielleicht hätte er statt Jura Psychologie studieren sollen. Scheinbar gab es auf dieser Welt wesentlich mehr geistig gestörte Menschen als Rechtssuchende.
Oder war diese Frau einfach nur scharf auf ihn? Ihre Bemerkungen über sein Aussehen fielen ihm ein. Zwei Meter groß, stimmte. Es waren 1,93 Meter, um genau zu sein. Er war ein sportlicher Typ, auch das stimmte. Fußballspielen, Badminton und das wöchentliche Krafttraining in Form des Kinderstemmens sah man ihm an.
Und Marlen hatte bei ihrem ersten Treffen sofort von seinen blaugrünen Augen geschwärmt. So wie das Meer der Karibik, hatte sie an der Rezeption in dem Hotel gesagt, in dem er wegen eines Wochenendseminars eincheckte. Dann hatten sie sich sehr lange unterhalten, während einige Kollegen schon drängelten. Ihr Gesicht, ihre Augen und ihren Blick konnte er nicht mehr vergessen.
Der Rest war ein Klassiker: Einladung zum Essen, der späte Drink danach, ein erster leidenschaftlicher Kuss und dann die erste gemeinsame Nacht, und schon war sein Herz an die Frau, die jetzt Mutter seiner Kinder war, verloren.
Marlen, durchzuckte es ihn heftig. Der Grillabend, Hansens, der Verkehrsunfall!
Es wurde allerhöchste Zeit! Er hatte sich schon viel zu lange mit dieser Frau Rosner beschäftigt. Also, wo war er stehen geblieben?
Genau, das TÜV-Gutachten hatte er gesucht. Da war es. Am Anfang erst mal jede Menge Seiten mit den Angaben zu den Beteiligten und den Fahrzeugdaten. Aber wo war denn die Analyse der Sachverständigen? Da: Müllfahrzeug ist stark beschädigt, Blinkerleuchte links ist intakt! Und kein Relaisschaden, der bei einem eingeschalteten Blinker im Moment des Aufpralls eingetreten wäre. Na also!
Er hatte die Lösung: Der Fahrer des Müllfahrzeugs war aus der Seitenstraße ausgeschert ohne das Überqueren der Landstraße mit dem Blinker anzuzeigen. Damit traf den Fahrer ein erhebliches Mitverschulden am Unfall. Das Gericht hatte also am Montag nur noch zu entscheiden, wie hoch die Verschuldensquoten für die Beteiligten anzusetzen waren. Er hatte für seine neue Mandantschaft tatsächlich einen Vorteil aus diesem Fall herausgearbeitet.
Er machte sich noch schnell Notizen und markierte die wichtigsten Seiten im Gutachten. Jetzt konnte die Verhandlung kommen. Rechtsanwalt Peter Pfeffer war bestens vorbereitet!
Plötzlich fielen ihm die Unfallfotos in die Hände. Zerstörte Aufbauten und Unmengen verbogenen Blechs. Markierungen und Entfernungsangaben. Zwei abgedeckte Körper am Straßenrand. Dunkle Flecken unter den Notarzt-Decken, die sich auf dem Asphalt ausbreiteten. Mein Gott, diesen beiden Müllarbeitern konnte keine Verschuldensquote mehr helfen. Auch der Ausgang der Verhandlung würde die Verstorbenen nicht mehr interessieren. Eher noch die Angehörigen, die sich eventuell noch lange mit den entsprechenden Versorgungs- und Versicherungsträgern um mögliche Entschädigungen streiten durften.