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Moderator und Ex-Anwalt Peter Pfeffer feiert mit seinen Kollegen ein neues Sendekonzept für eine eigene Radio-Show. Auf der Fahrt in eine Diskothek verursacht er einen schweren Autounfall, bei dem zwei Kollegen und seine Frau Marlen zu Tode kommen. Peter sieht sich plötzlich als alleinerziehender Vater zweier Kinder zahlreichen Problemen, Anfeindungen, Selbstzweifeln und einem Strafverfahren ausgesetzt. Er versucht mit allen Mitteln, seinen Ruf und seinen Job zu retten und den Verlust seiner Frau und seine Schuldgefühle zu verdrängen. Doch je mehr er sich bemüht, in ein normales Leben zurückzukehren, desto mehr zieht ihn sein Schicksal in den dunklen Abgrund...
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Seitenzahl: 228
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„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ - Friedrich Wilhelm Nietzsche
Stille, Dunkelheit.
Lachen, Musik, Lichter, Schreie, Kreischen, Krachen.
Stille, Dunkelheit.
Er schmeckte Metall im Mund, spürte warme pulsierende Ströme einer Flüssigkeit im Auge. Etwas drückte an seine Schläfe und verursachte einen pochenden Schmerz. Er sah schnelle, abwechselnde Bilder, die im Gehirn aufflackerten. Eine Straße, Autos, verschiedene lachende Gesichter, dann plötzlich ein Abhang. Ein lautes Krachen.
Stille, Dunkelheit.
Peter öffnete langsam das linke Auge. Er konnte kaum etwas sehen. Seine Umgebung war überall rot verschwommen. Dazwischen sah er einige helle Stellen. Der Rest war in tiefe Dunkelheit gehüllt. Es war ganz ruhig. Wo war er? Was war mit ihm passiert? Er wusste es nicht mehr.
Ein stechender Schmerz im linken Bein durchfuhr ihn plötzlich. Er wurde immer stärker und war kaum noch auszuhalten. Peter versuchte das Bein zu bewegen, damit die Schmerzen aufhören. Unmöglich. Das Bein ließ sich nicht bewegen. Er versuchte, es anzuziehen, aber der Schmerz nahm zu. Peter stöhnte auf und erschrak. Für eine gefühlte Ewigkeit war sein Stöhnen das erste Geräusch, das er wahrnahm. Wobei es eher ein Gurgeln war, denn angesammelte Flüssigkeit lief dabei die Kehle hinunter. Peter stöhnte noch einmal, schon etwas klarer, und versuchte, das Bein zu bewegen. 'Nein, lass es', dachte er angesichts der wieder zunehmenden Schmerzen. Stattdessen versuchte er vorsichtig, das rechte Auge zu öffnen, das jedoch leicht geschwollen war. Durch den Schlitz nahm er zusammen mit dem klarer werdenden linken Auge endlich ein ganzes Bild wahr. Er erkannte Umrisse eines Innenraums. Armaturen, ein Lenkrad und eine zerborstene Scheibe vor ihm. Sein Oberkörper war mit Scherben übersät. Einige kleine Lichter blinkten oder leuchteten vor ihm. Sonst Dunkelheit. Und Stille.
Peter schloss noch einmal die Augen und versuchte sich zu erinnern. Doch auch jetzt sah er nur eine Abfolge schneller, kurzer Szenen, die sich aneinander reihten. Partys, Cocktails, viele Menschen. Dann hörte er kurze Fetzen Musik. Plötzlich erkannte er in den Gesichtern einige seiner Kollegen aus dem Radiosender, bei dem er arbeitete. Er sah, wie er mit den anderen zu den Autos ging. Einer rief: „Also los. Dann fahren wir noch ins 'Sound'. Auf einen kleinen Absacker.“ Die Autos füllten sich und Peter setzte sich an das Steuer seines Wagens. Er fühlte sich gut, aufgedreht und glücklich, wie er sich lange nicht mehr gefühlt hatte. Er blickte neben sich. Da saß Marlen und lächelte.
Marlen, durchfuhr es ihn plötzlich! Peter öffnete die Augen und versuchte, den Kopf nach rechts zu drehen, was ihm unter Schmerzen gelang. Der Platz neben ihm war leer. Wo war sie? Ausgestiegen? Dann müsste er sie doch noch hören können. Stille.
Peter zerrte an seinem linken Bein. Es war zwischen der Türverkleidung und dem Blech des Kotflügels eingeklemmt. Das Kupplungspedal hatte sich fest gegen den linken Fuß gedrückt. In der fahlen Beleuchtung des Innenraums konnte er mit seinem linken Auge erkennen, dass das Bein leicht verdreht war. Es tat höllisch weh, aber er musste es irgendwie aus diesem Schraubstock herausziehen. Er drehte es etwas nach links, dann wieder nach rechts, versuchte es zu lockern. Langsam spürte er kleine Spielräume, die immer größer wurden. Das Bein bewegte sich. Jetzt zog er es ganz vorsichtig nach oben. Er spürte den Widerstand an der Stelle, wo es verdreht war. Es war die Türablage, die es gegen das Blech drückte. Er zog vorsichtig weiter und der Schmerz nahm zu. Dann machte er eine Pause und horchte nach draußen. Stille.
Vielleicht war Marlen an der Straße und versuchte, Hilfe zu holen? Er guckte durch die zersplitterte Frontscheibe, konnte aber nichts erkennen. Die Außenspiegel waren abgerissen. Peter suchte den Innenspiegel, aber der war nicht mehr an der Stelle der Frontscheibe, wo er normalerweise hingehörte. Er blickte im Innenraum herum und fand ihn in der Mittelkonsole, blutverschmiert. Das war also der Grund, warum das rechte Auge geschwollen war. Er musste den Innenspiegel mit dem Kopf abgerissen haben. Plötzlich sah er Bilder vom rotierenden Innenraum. Ein Abhang vor ihm, der sich im Scheinwerferlicht drehte. Er hielt das Lenkrad umklammert und trat immer noch in das Bremspedal, als wollte er das sich vor ihm abspielende, unvermeidliche Desaster noch im letzten Moment ändern. Er hob immer wieder aus dem Sitz ab und wurde vom Sicherheitsgurt eingefangen. Er hörte lautes Krachen und Knirschen und er hörte die Schreie von Marlen, bis sie auf dem Boden aufsetzten. Marlen? Stille.
Er musste aus diesem Sitz heraus. Er musste seine Frau finden. Sein Blick fiel auf die Beifahrerscheibe. Sie war ebenfalls zersplittert und fast vollständig herausgebrochen. Der Gurt hing noch in seiner Halterung. Er zog wieder an seinem Bein und konnte den Fuß aus der Umklammerung des Pedals befreien. Er merkte, dass es nur noch ein kleines Stück war, bis er auch den Rest aus der verbeulten Tür befreien konnte. Peter stemmte sich mit dem rechten Bein fest gegen den Unterboden und zog noch mehr. An den Schmerz hatte er sich langsam gewöhnt. Schlimmer konnte er nicht mehr werden. Das linke Bein löste sich plötzlich aus der Türverkleidung und war frei. Ein Stück seiner Jeans war ausgerissen, darunter blutete es leicht. Peter war frei. Er warf sich mit seiner letzten Kraft gegen die Fahrertür. Sie bewegte sich nicht. Er versuchte es noch einmal. Er rammte seinen Körper wie ein Besessener immer wieder dagegen, aber die Tür gab nicht nach. 'Bestimmt völlig verbogen', dachte er sich und tastete nach dem Gurt. Er öffnete ihn und versuchte sich über die Mittelkonsole zu ziehen. Er sah dabei durch die zersplitterte Frontscheibe und im selben Augenblick sah er auch die Straße vor sich. Die Kurve tauchte ganz plötzlich im Scheinwerferlicht auf. Peter wollte bremsen und merkte, wie der Wagen auf dem rechten Rand ins Rutschen kam. Er verlor die Kontrolle und sie schossen über den Rand hinaus in den Abhang. Stille.
Im Handschuhfach war noch ein Päckchen Taschentücher. Peter nahm gleich zwei und presste sie auf die blutende Stelle über dem linken Auge. Dann warf er sich mit aller Macht gegen die verbeulte Beifahrertür. Sie bewegte sich. Einige Glassplitter fielen herunter. Noch einmal. Sie bewegte sich wieder ein Stückchen. Die Taschentücher waren blutnass. Er nahm sich noch zwei und presste sie auf die fühlbar tiefe Wunde. Dann warf er sich wieder gegen die Tür und sie gab nach. Mit einem lauten Kreischen schwang sie nach außen und gab den Weg frei. Peter rollte sich vom Beifahrersitz auf den Boden und rappelte sich unter Schmerzen auf. Ein paar Sekunden blieb er an der völlig verbeulten Seite stehen und wartete, bis sich sein Kreislauf wieder stabilisierte. Ein paar Meter neben ihm ging es schon wieder durch Bäume und Gestrüpp bergauf. Sie waren in einer Art Trichter gelandet. Das bedeutete, keiner würde sie sehen, wenn er vorbeifahren würde. Er war auf sich allein gestellt. Allein – wo war Marlen? Stille.
Er humpelte vorsichtig durch die Dunkelheit und blieb ab und zu an einem kleinen Strauch oder Baum hängen. Keine Spur von Marlen. Plötzlich sah er in der Ferne ein paar schwach leuchtende Scheinwerfer. Das musste der Wagen von Nils sein. Er lag auf dem Dach, das fast vollständig zusammengedrückt war. Peter stolperte los und erreichte das Wrack. „Nils“, hustete er mit blutiger Kehle. „Nils, sag doch was.“ Er erreichte die Fahrertür. Nils war komplett in den Sitz eingequetscht. Der Kopf war merkwürdig verdreht und blutverschmiert. „Nils!“ Peter beugte sich herunter und schüttelte ihn. Nils reagierte nicht. Peter versuchte, den Puls am Hals zu finden. Am Rand des Kiefers tastete er hin und her, konnte aber kein Pulsieren des Blutes spüren. „Verdammt, Nils. Jetzt sag endlich was!“ gurgelte es unter Tränen aus Peter heraus. Da fiel sein Blick auf den Beifahrersitz. Von Lydia, der Freundin von Nils, war nur noch ein Teil der Beine zu sehen. Das Dach hatte sich komplett in den Fahrgastraum gedrückt. „Lydia, Lydia!“ röchelte Peter, aber auch hier kam keine Antwort. „Nein“, rief er laut. „Nein, nein, das kann nicht sein!“ Dann sackte er schluchzend neben dem Wagen zusammen. 'Verdammt, was haben wir nur gemacht?' dachte er sich und sah plötzlich beide Gesichter vor sich, als sie lachend in den Wagen stiegen. Dann sah er vor sich die Landstraße, die sich durch die dunkele Landschaft schlängelte. Sie war zu dieser späten Stunde kaum befahren. Peter saß in bester Laune am Steuer, die Musik dröhnte aus den Boxen und Marlen sang mit. Plötzlich tauchte der Wagen von Nils neben ihm auf. Peter gab Gas und ließ ihn nicht vorbei. Sie lachten sich zu. Dann ging Peter vom Gas und Nils setzte sich vor ihn. Als er langsamer wurde, überholte Peter ihn wieder. Plötzlich tauchten aus einer Kurve Scheinwerfer auf, die direkt auf ihn zukamen. Es waren nur noch ein paar Meter. Zum Bremsen war es zu spät. Er drückte das Gaspedal bis zum Anschlag und merkte, dass Nils gleichzeitig bremste. Er fiel ein paar Zentimeter in seinem Augenwinkel zurück. Der entgegen kommende Wagen fing an, mit dem Fernlicht zu blinken. Er hupte. Marlen schrie und Peter zog ganz knapp vor dem Wagen von Nils wieder nach rechts. Im Geiste hörte er schon das krachende Geräusch von Blech und Blech aufeinander, aber das blieb aus. Sein Herz pumpte bis zum Hals und auf einmal spürte er ein kurzes Glücksgefühl. Geschafft! Aber dann sah er im Rückspiegel die hin und her tanzenden Scheinwerfer von Nils' Wagen. Er hatte anscheinend zu stark abgebremst und kam ins Rutschen. In diesem Augenblick brach das Heck seines eigenen Wagens aus. Er bremste vor der Kurve, konnte das Auto aber nicht mehr unter Kontrolle bringen. Sie schossen in Richtung Abhang. Marlen schrie.
Panik stieg in Peter auf. Wo war Marlen? Er stolperte um das Fahrzeug herum, konnte sie aber nicht sehen. Neben dem Beifahrerfenster lag Lydias Handy. Es war intakt. Sie musste es kurz vor dem Unfall noch benutzt haben. Er schaltete die Taschenlampe ein und suchte die Bäume und Büsche um den Wagen ab. „Marlen!“ rief er so laut, wie er konnte. Keine Antwort. „Marlen! Hörst du mich? Gib mir ein Zeichen. Wo bist du?“ Wieder keine Antwort. Peter ließ den Lichtschein kreuz und quer durch den Abhang wandern, aber es war nichts zu sehen. Er kontrollierte den Ladezustand. 15 % zeigte die kleine Batterie im Eck des Displays an. 'Das wird knapp,' dachte er. 'Ich kann den Strom nicht nur für die Suche verwenden. Ich muss Hilfe holen.' Er schaltete zunächst das Licht aus und wählte den Notruf. Zum Glück hatte er Empfang. Signaltöne. Tuut. „Polizeinotruf. Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ja, hallo. Hier ist Peter Pfeffer,“ hustete er in das Mikrofon. „Kommen Sie bitte sofort. Es hat einen Unfall gegeben. Hier sind zum Teil Schwerverletzte. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch leben. Und ich kann meine Frau nicht finden.“ „Einen Augenblick bitte. Beruhigen Sie sich. Zunächst mal: Wo sind Sie genau?“ Peter überlegte kurz. „Das ist die Landstraße nach Kallmünz. So ungefähr 10 bis 15 Kilometer vor der alten Burgruine. Wir sind mit den Wagen in den Abhang am Straßenrand gerutscht.“ „Wie viele Wagen sind beteiligt?“ „Zwei.“ „Und wie viele Personen sind verletzt?“ „Mein Kollege und seine Freundin in einem Auto. Sie liegen auf dem Dach und bewegen sich nicht mehr.“ „Und Sie?“ „Ja, aber das ist nicht so wichtig. Ich kann meine Frau nicht finden! Ich habe schon alles abgesucht!“ „Hören Sie. Beruhigen Sie sich bitte. Ich schicke Ihnen sofort unsere Rettungskräfte. Es wird allerdings noch ein paar Minuten dauern. Bleiben Sie beim Fahrzeug und machen Sie sich bitte beim Eintreffen der Rettungskräfte bemerkbar. Können Sie zur Straße laufen?“ „Ich weiß nicht. Der Abhang ist recht steil und mein Bein ist verletzt. Ich kann es versuchen.“ „Wenn Sie es nicht schaffen, geben Sie Lichtsignale mit dem Handy, sobald Sie Sirenen hören.“ „Ja, aber der Akku ist fast leer.“ „Dann beenden wir jetzt unser Gespräch und Sie können Strom sparen.“ „Nein, ich muss doch nach meiner Frau suchen.“ „Das machen die Rettungskräfte, sobald sie da sind.“ „Dann kann es schon zu spät sein!“ „Nein. Hören Sie. Schonen Sie bitte ihre Kräfte und den Akku des Handys und bleiben Sie beim Fahrzeug. Man wird Sie finden. Ich gebe jetzt den Kollegen Bescheid. Bleiben Sie, wo Sie sind.“ Die Stimme verstummte. Stille.
Dunkelheit. Peter lehnte immer noch zusammengesunken am Wagen von Nils. Eine Mischung von Waldgerüchen und leichten Spuren von Benzin oder Öl lag in der Luft. Es war totenstill. Seitdem er aus dem Auto geklettert war, hatte er noch keinen anderen Wagen gehört. Laut Handy war es gegen drei Uhr morgens. Im Sommer war hier um diese Zeit noch einiger Verkehr, da viele Leute zur Burgruine fuhren, um die Nacht auf dem kleinen Berg zu verbringen. Aber im Herbst waren es doch deutlich weniger. Marlen liebte diesen Platz. Sie waren oft zu zweit dort gewesen. Marlen. Was hatte die Frau in der Einsatzzentrale gesagt? Bleiben sie beim Fahrzeug? „Den Teufel werde ich tun,“ sagte Peter laut zu sich selbst und rappelte sich hoch. „Marlen! Verdammt noch mal, wo bist du? Melde dich! Wenn du nicht sprechen kannst, dann gib mir irgendwie ein Zeichen, Schatz!“ Die Worte verhallten. Nichts war zu hören. Peter schaltete die Handylampe wieder ein und humpelte die Strecke zu seinem Auto zurück. Er konnte es schon von der Ferne sehen, als er zwischen zwei Sträuchern einen hellen Fleck bemerkte. Etwas lag dahinter. Marlen hatte eines seiner weißen Oberhemden angezogen und trug darüber eine Jeansjacke. „Marlen?“ rief er so laut er konnte und stolperte den Hang hinauf. Keine Antwort. Keuchend erreichte er die Sträucher und sah dahinter den leblosen Körper. „Marlen!“ Er fiel auf die Knie und strich ihr die blutverschmierten Haare aus dem Gesicht. „Schatz. Hallo. Ich bin es. Sag doch was. Sei es auch noch so leise. Ich bin da. Schatz, bitte!“ Sie rührte sich nicht. Er drückte sein Ohr auf ihren Brustkorb. Kein Herzschlag zu hören. Er tastete nach ihrem Puls. Nichts. Peter begann mit der Wiederbelebung und blies Luft in ihren Mund, nachdem er den Hals überstreckt hatte. Dann legte er die Hände auf den Brustkorb, um mit der Herzdruckmassage zu beginnen. Die Rippen knackten. Sie waren angebrochen. Er konnte nicht weitermachen ohne sie eventuell noch mehr zu verletzen. Er blies noch einmal Luft in ihren Mund und schrie: „Schatz, bitte, atme. Atme wieder!“ Ungläubig sah er auf den leblosen Körper. Er begann zu weinen, so, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte. Lautes Schluchzen schüttelte seinen Körper. Er zitterte und bebte. Es war eine Sirene, die ihn aus seinem Kummer riss. Sie kam von der Straße und wurde immer lauter. Dann sah er auch Blaulicht. Er nahm das Handy und leuchtete winkend in Richtung Straße. Blaues Licht war plötzlich überall.
Das Licht im Raum wechselte von rot auf grün.
Der Regler für das Mikrofon war unten. Peter hatte sich von seinen Hörern für diesen Abend verabschiedet und weiterhin viel Spaß mit dem nachfolgenden Programm, das bis zur Morning-Show nur noch aus Musik und Nachrichten bestand, gewünscht. Er schaltete dazu auf die Automation in seinem Mischpult, die ab jetzt die Kontrolle über das gesamte Programm übernahm. Danach würden alle Elemente, die im Bildschirm vor ihm abgebildet waren und aus Musiktiteln, Werbeelementen und Nachrichten aus einer zugespielten Nachrichtenzentrale bestanden, der Reihe nach abgespielt. Seine Arbeit war damit für heute Abend getan. Er sammelte die verschiedenen Meldungen, die er in die Sendung eingebaut hatte, zusammen und heftete sie in den vorgesehenen Ordner. Falls der Chef-Redakteur eine Anfrage hatte, konnte er den Sendeinhalt hier überprüfen. Peter meldete sich aus dem E-Mail-Account ab, mit dem die Hörer auch während der Sendung Kontakt zu ihm aufnehmen konnten. Es gab einige interessante Fragen, aber das Hauptthema waren die neuen Musiktitel. Radio Total war ein Sender im Format CHR, also Contemporary Hit Radio, das sich vor allem mit den aktuellen Charts beschäftigte. Der jugendliche Schwerpunkt der Hörer bekam hier oft Hits zu hören, bevor sie überhaupt dazu wurden. Das wiederum lag in der Hand des dafür zuständigen Musikchefs, der viele CDs bereits vor der Veröffentlichung bekam und die erfolgversprechendsten Titel ins Programm nahm. Oft lag er damit goldrichtig.
Peter nahm die Kopfhörer ab. Der laufende Titel war jetzt auch über die Lautsprecher zu hören. Er sah auf die rot leuchtenden Punkte der funkgesteuerten Studio-Uhr, die sich dem Bereich der vollen Minute näherten. Dann war es genau zwei Minuten vor elf. Zeit, dass er nach Hause kam. Morgen früh ging es wieder in die Schauspielschule nach München, die ihm von der Agentur für Arbeit finanziert wurde. 'Was. Sie haben während der Referendarzeit im Radio gearbeitet? Dann kann ich Ihnen als Volljurist diesen Kurs trotzdem genehmigen. Sie haben dann Medienerfahrung und ein Teil des Kurses beschäftigt sich ja mit Radio und Fernsehen. Also übernehmen wir das als eine weiterführende Maßnahme,' hatte der zuständige Sachbearbeiter der Agentur gesagt.
Es war der erste Lichtblick nach einer Reihe von Tiefschlägen, die Peter nach seiner Zeit als Anwalt einstecken musste. Die Kanzlei hatte nach einigen Jahren sämtliche Konten überzogen und wurde zahlungsunfähig. Die Kosten waren enorm gestiegen und konnten durch die abnehmenden Einnahmen nicht mehr gedeckt werden. Hinzu kamen verschwundene Gelder, die der langjährige Partner Peters für seine Spielsucht verwendet hatte. Er hatte damit nicht nur sein Vertrauen missbraucht, sondern Peter auch in die Privatinsolvenz getrieben. Seine Erbschaft und auch alle Rücklagen waren vollständig aufgebraucht. Er zog mit seiner Frau Marlen und den beiden Kindern in eine kleinere Wohnung und meldete sich zunächst beim Jobcenter. Nach den vielen emotionalen Tälern, die er in der letzten Zeit durchwandert hatte, war das der Boden des Grand Canyon. Er fühlte sich wie ein Mensch zweiter Klasse, als er mit allen für die Bearbeitung notwendigen Unterlagen in das Büro der Sachbearbeiterin ging, wo er um das für das Überleben seiner Familie erforderliche Geld bitten musste. 'Waren Sie ein so schlechter Anwalt? Egal, jetzt müssen Sie sowieso alles nehmen, was kommt,' meinte die leicht pummelige Mitvierzigerin und klappte den Aktendeckel zu. Peter ballte die Faust unter dem Tisch, versuchte sich aber zurückzuhalten. Hatte man es sich einmal mit diesen Menschen verscherzt, konnte das böse Folgen haben. Eine Leistungskürzung konnte aus den unterschiedlichsten Gründen angeordnet werden und zu erheblichen Einschnitten in den so schon recht kargen Mitteln führen. 'Also bewerben Sie sich fleißig, dann werden wir schon was für Sie finden,' lächelte sie ihn vielsagend an und putzte ihre Brillengläser. 'Der Bescheid kommt in den nächsten Tagen. Das Geld auch. Übrigens, die volle Miete können wir nicht übernehmen. Die Wohnung, die Sie haben, ist leider etwas zu groß. Sie müssen eine kleinere suchen.' 'Noch kleiner?' hatte Peter bemerkt. 'Wir sind zwei Erwachsene und zwei Kinder mit 15 und 13 Jahren, die eigene Zimmer und ein eigenes Bad brauchen. Eine kleinere Wohnung wäre doch unzumutbar!' 'Darüber entscheiden die Vorschriften, nicht ich,' kam es leicht schnippisch von der anderen Seite des Tisches. 'Sie haben 6 Monate.' Peter konnte das Büro gerade noch vor einem größeren Wutausbruch verlassen und brachte seiner Frau die nicht so erfreulichen Botschaften. 'Dann finden wir eben eine. Oder du findest einen Job und bist auf das Arbeitslosengeld II nicht mehr angewiesen. Dann können wir in dieser Wohnung bleiben und alles ist gut.' Woher Marlen diesen grenzenlosen Optimismus hatte, blieb Peter verborgen. Sie hatte ihn einfach und dafür dankte er Gott jedes Mal auf seinen Knien. Ohne sie hätte er schon längst aufgegeben.
Sein Blick schweifte über die Lichter der Stadt, die er durch die großen Fenster hier im dritten Stock des gläsernen Senders mit den wenigen störenden Studiolampen gut sehen konnte. 'Fast wären alle Lichter aus gewesen,' sinnierte er. Dann hörte er, wie die Automation auf die Nachrichten umschaltete. 'Es ist dreiundzwanzig Uhr. Hier sind die Nachrichten auf Radio Total.' Peter griff nach seinem Rucksack und verließ das Studio. Er winkte dem Kollegen im Oldie-Sender zu und betrat das Treppenhaus. Erleuchtet von den Bewegungsmeldern sprang er die Stufen hinunter und erreichte den Ausgang. Es standen nur noch das Auto des Kollegen und sein Fahrrad auf dem sendereigenen Parkplatz. Er öffnete das Schloss und schwang sich auf den Sattel. 10 Minuten später würde er zu Hause sein. Es war immer noch angenehm warm und ein bisschen Bewegung tat ihm zu dieser späten Stunde sicherlich gut. 'Arm, aber fit.' Er musste bei diesem Gedanken grinsen und blickte noch einmal auf den Komplex. Wie gut, dass man ihn hier mit so offenen Armen empfangen hatte. Obwohl sie anfangs dachten, er sei nicht ganz bei Trost. 'Du willst wieder im Radio arbeiten? Als Anwalt? Wir dachten, aus dir sei endlich was Vernünftiges geworden und jetzt willst du zum Radio zurück?' hatte ihn der Musikchef mit ungläubigen Augen angelächelt. Das war wohl dem dritten Cocktail geschuldet, den er sich gerade einverleibte. 'Ja,' hatte Peter über die Discomusik gerufen. 'Ich habe auf diese verstaubte Juristerei einfach keinen Bock mehr!' Detlef starrte ihn immer noch völlig ungläubig an. 'Aber die Kohle, die du verdienst, Mensch Peter, die wirst du bei uns in keinem Fall kriegen. Das sollte dir doch wohl klar sein! Du weißt doch noch, was es früher gab. Viel mehr ist es in den letzten Jahren nicht geworden. Zumindest nicht als Moderator,' lächelte Detlef, der auf der Karriereleiter nach dem Weggang von Peter aufgestiegen war. 'Ist mir egal, mein Guter, ich will einfach wieder diesen Job machen, den ich früher so gerne gemacht habe.' Detlef erkannte nach einem Zug am Strohhalm Peters festen Blick und seine Entschlossenheit und nickte. 'Okay, mein Alter. Mit 50 zum Jugendsender. Und dazu keine Ahnung von Formatradio und digitaler Sendetechnik. Bin gespannt, ob ich das Harry verkaufen kann, aber ich werde es versuchen. Ich melde mich bei dir.' Und zwei Wochen später klingelte tatsächlich das Telefon. 'Komm vorbei, er will mit dir reden.'
Das war vor genau drei Monaten und jetzt war er tatsächlich wieder Radiomoderator.
'Der beste Job der Welt', dachte er sich, als er über die grüne Fußgängerampel fuhr und in der Ferne schon den Dom sehen konnte, das Wahrzeichen der Stadt. Reden, das konnte Peter schon immer, und in Verbindung mit Musik, die ihm zeit seines Lebens ebenfalls immer wichtig war – perfekt! Er hatte Radio schon als Jugendlicher geliebt und mit Begeisterung am Anfang Hörspiele und später Hitparaden mitgeschnitten. Er konnte fast sämtliche Werbespots auswendig und kannte viele Songs nach wenigen Tönen. Das Tonbandgerät seines Vaters und später der erste Kassettenrekorder waren sein liebster Zeitvertreib. Mit seinem besten Freund Andreas, der nach einigen Jahren leider aus der Stadt gezogen war, hielt er lange Kontakt über selbst aufgenommene und besprochene Kassetten, die sie sich hin und her schickten. Als er Andreas vor ein paar Monaten besucht hatte, spielte dieser ihm eine der Kassetten vor und Peter wäre fast im Erdboden versunken, als er seine damalige Piepsstimme hörte. Heute war sie, natürlich deutlich tiefer, sein Markenzeichen: Sonor und wohlklingend, wie gemacht für die Moderation. Vor Gericht hatte sie auch ihre Wirkung nicht verfehlt, aber in der Medienwelt war sie einfach Gold wert. Als er mit seinem Studienkollegen Albrecht, genannt Ali, zum ersten Mal in den jungen Radiosender ging, bei dem dieser sich als freier Mitarbeiter bewerben wollte, wurde er sofort vom damaligen Sendeleiter auf seine Stimme angesprochen. 'Na, kein Interesse bei uns als Moderator zu arbeiten?' 'Äh, noch nie drüber nachgedacht, wieso?' 'Weil wir einen suchen und das könntest du sein.' 'Ja, aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich bin Jurastudent.' 'Nobody is perfect. Die Technik bringen wir dir ganz schnell bei. Reden musst du. Komm doch morgen Vormittag einfach mal bei uns vorbei und probier es aus.' Gesagt, getan, genommen.
Aus den ersten Nachtsendungen wurden schnell Sendungen im Tagesprogramm und aus der anfänglichen Leidenschaft wurde ein Virus, der Peter gründlich infizierte. Er hatte das erste Staatsexamen knapp bestanden und begann seine Referendarzeit beim Landgericht. Er freute sich, nach den ganzen Jahren der Theorie, endlich praktische Arbeit leisten zu können. Als Beamter auf Widerruf war er Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten zugeteilt. Mit viel Interesse begann er seine Stationen, aber das Fieber ließ ihn nicht los. Er verbrachte immer mehr Zeit im Sender und weniger Zeit in den Amtszimmern und Verhandlungssälen. Am Ende war er fast ständig on air und musste das zweite Staatsexamen wiederholen. Als er es knapp geschafft hatte, stand er vor seiner schwierigsten Entscheidung: Recht oder Radio? Peter entschied sich nach langen Überlegungen für das Recht. Bis heute wurde ihm nie klar, warum. Waren es fast zehn Jahre Ausbildung, die nicht umsonst gewesen sein sollten? Oder war es die gesellschaftliche Bedeutung des Rechtsanwalts im Vergleich zum Moderator? Oder war es gar eine trügerische Vision der beruflichen Sicherheit für die Zukunft? Was ist los, wenn der Sender pleite geht? Dass auch Rechtsanwaltskanzleien pleite gehen, war ihm damals offensichtlich nicht so bewusst. Oder war es ganz einfach nur Misstrauen in die Leichtigkeit des Erfolges, die ihm bei der Moderation widerfahren war? In die wahren Fähigkeiten, die in ihm steckten und die vielleicht schon seit Kindesbeinen für ihn vorbestimmt waren? Konnte man nur der Anstrengung vertrauen? Dem steinigen Weg, der einen bis an die Grenzen der Verzweiflung trieb? Oder war es die elterliche Erwartungshaltung in einen ehrbaren Beruf, der auch den Eltern Ehre brachte? Seine Mutter war gestorben, als er volljährig wurde. Sie konnte es kaum gewesen sein. Sein Vater war ein Streithansel und im Umgang mit anderen Menschen eher unglücklich. Das mit der Juristerei hatte ihm schon gefallen, aber auch die Radiosendungen. Sehr hilfreich. Also entschied sich Peter für die Anwaltskanzlei seines Kollegen Reinhold und gründete mit ihm zunächst eine Bürogemeinschaft, die er später zur Sozietät und dann zur Dreiersozietät erweiterte, bis sie nach Jahren scheiterte. Das Radio fing ihn wie das Netz einen unachtsamen Drahtseilartisten wieder auf. War das ein Zeichen?
Vielleicht. Peter stellte das Rad in den Keller und betrat die ersten Treppenstufen. Er freute sich auf sein zu Hause und auf seine Familie. Sie waren sein Rückhalt in den schwersten Zeiten seines Lebens. Sie waren seine Insel inmitten tosender Wellen aus Alpträumen, Depressionen und Gewissensbissen. Wütende Mandanten, drängende Gerichtsvollzieher und die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung hatten ihn an die Grenze der seelischen Belastbarkeit gebracht. Ein junger Referendar, der Reinhold in einigen Fällen zugearbeitet hatte, war dabei zu einer richtigen Nervensäge geworden. Nachdem Peter ihm aufgrund der desolaten finanziellen Lage gekündigt hatte, ging Gottlieb Fischl direkt zu Gericht und klagte ein noch ausstehendes Gehalt ein. Als er trotz seines Siegs kein Geld mehr bekam, wandte er sich an alle ehemaligen Klienten der Kanzlei und vertrat sie mit ihren noch offen stehenden Ansprüchen gegen Peter und seine Kollegen. Marlen war über die katastrophale monetäre Lage informiert. Als es aber jeden zweiten Tag an der Tür klingelte und der Gerichtsvollzieher neue Titel vollstrecken wollte, war auch sie kaum noch in der Lage, eine positive Ausstrahlung zu verbreiten. Als eines Tages auch noch Fischl persönlich erschien, um sich ein Bild über die Wohnung und eventuelle Pfändungsgegenstände zu machen, setzte sie ihn ganz einfach vor die Tür und weinte. Am Abend erzählte sie Peter von dem Besuch.
Er ging am nächsten Tag zu einem befreundeten Musiker, der ebenfalls eine Kanzlei betrieb, und fragte ihn um Rat. 'Peter. Ich hab dir damals schon gesagt: Hüte dich vor den Gezeichneten.' Er spielte auf das lädierte Auge von Reinhold an, das dieser nach einem Autounfall seiner Eltern behalten hatte. 'Und dieser Typ, den er beschäftigte, dieser Fischl, was ist denn mit dem los? Hat wohl einen Rachefeldzug gegen euch gestartet? Hast du das Aktenzeichen in seinem letzten Schreiben gesehen? Defcon 1. Weißt du, was das bedeutet? Es ist die Abkürzung für Defence Condition, bezeichnet den Alarmzustand der amerikanischen Streitkräfte. 5 ist Frieden und 1 ist Krieg. Alles klar? Vielleicht sollte man dessen Geisteszustand mal überprüfen lassen. Aber egal, du hast bei der Menge von Forderungen, für die jeder von euch in voller Höhe einstehen muss, keine Chance. Geh zum Insolvenzgericht und stell den Antrag. Nach 6 Jahren ist der ganze Spuk vorbei und du bekommst die Restschuldbefreiung. Falls was sein sollte, kann ich dir helfen. Natürlich kostenlos, ist doch Ehrensache.' Peter tat, wie ihm geraten wurde, und stellte den Antrag. Alle pfändbaren Gegenstände wurde vom Insolvenzverwalter abgeholt. Leider auch seine Gitarren und sein Verstärker. Es war wie ein Stich ins Herz. Marlen und die Kinder trösteten ihn und schenkten ihm zu Weihnachten eine neue. Sein pfändbares Einkommen beim Sender ging ebenfalls an den Verwalter. Mit dem Rest war es nicht einfach, aber sie kamen über die Runden. Wenn er Marlen nicht gehabt hätte... Er schloss die Tür auf und eine Wohnung voll warmen Lichts und voller wohliger Gerüche öffnete sich ihm. Kaum hatte er seinen Rucksack abgestellt, kam Marlen um die Ecke und umarmte ihn. Die Wärme und die Konturen ihres wunderschönen Körpers waren ihm plötzlich so nah, wie sie es selten waren. Er atmete ihren Duft ein und war wie berauscht. Er wollte sie nie wieder los lassen. Sie war wie sein alter Ego, wie eine Seelenverwandte, die wusste, wie es ihm ging, wie er fühlte und was er brauchte. Ohne sie wollte er niemals sein. Nicht weiter leben. Er konnte es nicht. Er hielt sie immer noch lange fest, nachdem sie sich geküsst hatten. Er sah in den warmen Schein der Kerzen auf dem Tisch und hatte das Gefühl, niemals an einem anderen Ort auf der Welt sein zu wollen, als hier. Hier in diesem gelben Flackern, das Sicherheit ausstrahlte. Mit diesem wundervollen Menschen, der ihn nie im Stich lassen würde. Kerzenschein, gleißendes Licht aus einer Neonröhre, Stimmengewirr, Sirenen. Eine einzelne Stimme sagt: „Herr Pfeffer. Können Sie mich hören? Wir haben Ihnen ein starkes Schmerzmittel gegeben und fahren Sie gleich in die Klinik. Bleiben Sie ganz ruhig, ganz ruhig,...“ Peter sah die Umrisse einer Person in einem weißen Kittel immer verschwommener. So gleißendes Licht. Eine Sirene.