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Eine Serie von vermissten Mädchen erschüttert die Welt der an sich ruhigen Trierer Bürger. Schon acht junge Frauen verschwinden in den vergangenen zehn Jahren in der ältesten Stadt Deutschlands spurlos. Die Kriminalpolizei steht vor einem Rätsel und ist zunächst nicht in der Lage, trotz aufwendiger Ermittlungsarbeit die Mädchen zu finden oder deren Verbleib aufzuklären. Als der leitende Kriminaldirektor aufgrund dieser Entwicklung durch einen Nachfolger aus Koblenz ersetzt wird, taucht plötzlich eine weibliche Leiche in einem Wald am Ufer der Mosel auf. Mit seinem Team rollt Jürgen Klopf die Ermittlungen neu auf und stößt dabei auf zahlreiche Versäumnisse und Widersprüche in der Arbeit seines Vorgängers. Zeugenaussagen werden neu bewertet und die jetzt gefundenen Spuren überarbeitet. Die SoKo aus jungen Wilden, berufserfahrenen Kripo-Beamten und Rechtsmedizinern kann aber zunächst kein Licht in die Vorkommnisse bringen. Als ein weiterer Leichenfund in einer Deponie für Aufsehen sorgt, tauchen plötzlich auch Leichenteile in einem See im Saarland auf. Es stellt sich heraus, dass die beiden Mädchen, die ebenfalls vermisst waren, ermordet wurden. Gibt es einen Serienmörder in Trier? Dann verschwindet plötzlich Nora, Tochter des Anwalts und Journalisten Peter Pfeffer...
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Seitenzahl: 276
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Alle Namen und alle Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder gar verstorbenen Personen, mit bestehenden Unternehmen, Einrichtungen sowie mit öffentlichen oder auch nicht-öffentlichen Stellen ist nicht beabsichtigt, sondern wäre rein zufällig.
Franz von Langen ist Rechtsanwalt und Strafverteidiger seit 1991. Er lebt und arbeitet seit 2005 in Konz und in Trier. Als Moderator und Redakteur hat er über einige Jahre immer wieder Inhalte für Radiosender und Internet-Plattformen in Regensburg, Trier und Luxemburg geschrieben und moderiert. Aktuell ist er zusätzlich noch freier Dozent an der IHK in Trier für Recht und Steuern.
„Die schiefe Bahn“ ist nun sein dritter Roman nach den Büchern „Alles was Recht ist“ und „Der tiefe Fall“, beide erschienen als E-Books im Verlag TWENTYSIX, wieder mit dem Ex-Anwalt und Journalisten Peter Pfeffer, der diesmal nicht nur einen Mörder verteidigen, sondern dazu noch seine entführte Tochter Nora aus den Fängen eines mörderischen Entführers retten muss.
„Jeder Körper behält seine Geschwindigkeit nach Betrag und Richtung so lange bei, wie er nicht durch äußere Kräfte gezwungen wird, seinen Bewegungszustand zu ändern.“
Isaac Newton
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30 (ein Jahr später)
Schlag um Schlag lichtete sich das Grün vor seinen Füßen. Dichtes Gestrüpp und die ineinander gewachsenen Sträucher knickten zur Seite. Das große Buschmesser lag gut in der Hand und war das einzige Mittel gegen die harten Brombeerranken, die sich im Laufe der letzten Jahre hier zügellos vermehrt hatten. Ihre Stacheln bohrten sich sogar in die dicken Arbeitshandschuhe, die die Waldarbeiter trugen. Deren Reste mussten später am Waldrand verbrannt werden. Es gab keine weitere Verwendung. Die Bäume würden nach ihrer Befreiung wieder ungestört weiter wachsen können. Und das war alle zehn Jahre auch mehr als notwendig. Gerade die Brombeere wucherte gerne auf kargen Böden andere Gewächse zu und nahm ihnen die Nährstoffe. An für sie guten Standorten konnte sie bis auf fünf Meter in die Bäume hinauf klettern und von dort ihre Zweige wieder herabhängen lassen. Sie liebte kalkhaltige Böden und Sonne.
Michael Brösch hielt kurz inne, zog sich den Helm mit dem Gesichtsschutz und die Handschuhe aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war zwar erst kurz nach acht Uhr morgens, aber schon sehr warm. Der Sommer schien der heißeste der Wetteraufzeichnungen zu werden. Er war froh, dass er heute schon gegen Mittag Feierabend machen konnte. Danach würden die Grünarbeiten an dieser Stelle zur Tortur werden. Der Klimawandel war deutlich zu spüren. Die Winter wurden immer milder. Das Frühjahr war kurz und ging schnell in den Sommer mit teils sehr hohen Temperaturen über. Werte um die 40 Grad waren schon keine Seltenheit mehr. Hinzu kam noch eine steigende Trockenheit, die es ihm und seinen Mitarbeitern der Stadt Trier immer schwerer machte, die zahlreichen Parks und Grünflächen in einem guten Zustand zu halten. Ohne künstliche Bewässerung war es in der heutigen Zeit gar nicht mehr möglich. Es gab leider immer weniger dauerhaften und kräftigen Regen.
Er sah den Hang hinunter auf die Mosel, deren Wasserstand in den letzten Tagen sehr gesunken war. Wenn nicht bald wieder Regen fiel, würden es die Lastschiffe schwer haben, diese Wasserstraße weiter zu benutzen. Ähnlich ging es der Saar und auch dem Rhein, der bereits erste alarmierende Tiefstände bekannt gab. Wenn die Entwicklung so weiter ginge, würde die Schifffahrt eingestellt werden müssen. Ein großer Verlust für Trier. Die Vergnügungsdampfer, die die Mosel befuhren, brachten jedes Jahr eine Menge Touristen in die berühmte Weinregion, die für ihren Riesling sehr beliebt war.
Aber er war nicht zum Vergnügen hier. Der gelernte Garten- und Landschaftsbauer hatte noch einen Knochenjob zu erledigen. In dieser Steillage bei ansteigender Hitze und in der dicken Arbeitskleidung waren die Rodungsarbeiten richtig anstrengend. Es gab keine Möglichkeit, Maschinen einzusetzen, da sie auf dem Hang nicht gut stehen konnten. Also war die Sache hier reine Handarbeit, um die sich keiner seiner Kollegen drängte. Aber es musste getan werden. Dieses Jahr hatte es ihn getroffen. Er war mit seinen 35 Jahren und seiner robusten Figur auch fit genug dafür. Schwere körperliche Arbeit machte ihm nichts aus. Nach seiner Lehre hatte er in einem großen Betrieb in Trier gearbeitet, der viele Gärten und Grünflächen gestaltet hatte. 2009 war Schluss. In der Wirtschaftskrise und der nachfolgenden Kündigungswelle wurde er entlassen und hatte nach zwei Jahren Glück, die Stelle bei der Stadt zu bekommen. Das Amt StadtGrün suchte gerade einen Nachfolger für einen Landschaftsbauer, der in Rente gegangen war. Der öffentliche Dienst war gut bezahlt und krisensicher. Wie wichtig das war, zeigte sich gerade jetzt in Zeiten der weltweiten Corona-Krise.
Durch den neuartigen und wohl aus China stammenden Corona-Virus, genannt 'Sars-CoV-2', hatte sich in der ganzen Welt die Lungenkrankheit 'Covid-19' ausgebreitet. In Folge dieser Pandemie waren die weltweiten Handelsketten und Absatzmärkte fast vollständig zusammengebrochen. Unternehmen kamen an die Grenzen ihrer Liquidität und mussten staatliche Hilfen in Anspruch nehmen. Es wurde fast flächendeckend in Deutschland die Kurzarbeit eingeführt, in denen der Staat einen Großteil der Löhne zahlte. In allen Betrieben, in denen das nicht mehr half, wurde schließlich gekündigt. Großveranstaltungen fanden wegen der Übertragungsgefahr nicht mehr statt. Viele Künstler, Eventmanager und Ausstatter standen ohne Rücklagen vor dem Aus. Kinos und Theater waren geschlossen. Film- und Fernsehproduktionen völlig zum Erliegen gekommen. Die Gastronomie stellte auf außer Haus Verkauf oder auf Bringdienste um. Zum Glück konnte der öffentliche Dienst in Trier mit Sparmaßnahmen überleben und seine Ämter, wenn auch anfangs digital oder im Home Office, weiter betreiben.
StadtGrün war für alle öffentlichen Grünflächen, wie Park- und Friedhofsanlagen der Stadt zuständig und sorgte dafür, dass Trier nicht nur die älteste sondern auch eine der schönsten Städte Deutschlands war. Der Erhalt der Bäume war besonders wichtig, da vor einigen Jahren ein maroder Baum mitten in der Stadt umgestürzt und Menschen unter sich getötet hatte. Der Fall war damals durch die gesamte Presse gegangen. Seit dieser Zeit wurde besondere Sorgfalt auf die Prüfung und Pflege des Bestands gelegt.
Michael Brösch schob seine schwarzen Haare wieder unter den Helm, zog sich seine Handschuhe an und setzte die Arbeit fort. Bis Mittag wollte er auf jeden Fall einen Großteil der Fläche, die fast die Größe eines Fußballfeldes hatte, geschafft haben. Die Arbeit war zwar eintönig und anstrengend, aber sie musste gemacht werden. Wenn ein Großteil der Brombeeren beseitigt war, hätte die Stadt für die nächsten Jahre wieder Ruhe in diesem Bereich und die Bäume konnten sich erholen.
Seine Machete war extrem scharf und konnte die Sträucher gut schneiden. Sie war durch ihre Schneidelänge wesentlich praktischer als ein Beil. Ein fester Hieb genügte, wenn die Brombeeren sich nicht all zu dick entwickelt hatten. Nach ein paar Hieben hatte er sie von den Bäumen getrennt. Er wollte jetzt noch ein paar Meter in Richtung Norden frei legen und würde dann umkehren, um die Reste aus dem Wald zu ziehen, wo sie gesammelt wurden, um sie später zu verbrennen. Dies würde er dann mit einer langen Harke erledigen, die ihn vor den scharfen Stacheln ganz gut schützen würde. Übrig wären nur noch einige Marken in den Baumrinden, die sie verkraften würden.
Über sich sah er den roten Kalksandstein durch die Bäume schimmern, der von der Sonne bereits bestrahlt wurde. Darüber war der Waldweg, der zur Stadt und zur FH führte. Unter ihm befand sich die Straße zu den Häusern, die am Hang lagen. Der Wald lag genau zwischen den Häusern und der Felswand und stabilisierte sie damit auch ein wenig. Trotzdem hatte Michael Brösch einen schweren Stand und war bei den Schlägen in diesem dichten Unterholz extrem vorsichtig. Vor ihm hatte sich eine regelrechte Wand von Brombeersträuchern gebildet, die er versuchte aufzuteilen, um die einzelnen Segmente abzuschneiden. Er hatte den oberen, fast zwei Meter hohen Teil gekappt, drückte ihn zur Seite und arbeitete sich nun zum Boden vor. Hinter der Wand war eine lichte Stelle. Dort sah er zwischen den Ranken plötzlich einen weißen Fleck. Es war ein Schädel. Er zuckte zurück und konnte seinen Augen kaum glauben, aber es war ein menschlicher Schädel. Vorsichtig kappte er die restlichen Ranken ab und sah weitere Knochen, wohl Arme und Beine, dann Reste von Kleidung und eine Tasche. Daneben lag ein Handy und andere Utensilien. Kleine Fliegen landeten auf den Gebeinen, die fast ausgeblichen waren. Auch Ameisen waren noch am Werk. Er stand da, wie vom Schlag gerührt, und konnte keine weitere Bewegung mehr machen. Vor ihm lag ein Mensch, der hier offensichtlich schon vor einiger Zeit hineingefallen war. Vom Waldweg oberhalb. Wahrscheinlich abgerutscht. Anders konnte der Körper nicht an diese Stelle gelangt sein. Es gab keinen Zugang. Nicht bei diesem Bewuchs. Unmöglich. Wie lange hatte der Körper wohl hier gelegen? Schwer zu sagen.
Er sah zum ersten Mal im Leben eine Leiche und zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. Dann griff er zur Tasche seiner Arbeitsjacke und zog das Handy heraus. Mit zitternden Fingern wählte er die Nummer der Polizei und wartete.
„Polizeiinspektion Trier. Mein Name ist Reuss. Was kann ich für Sie tun?“
„Ja, hallo, hier ist Michael Brösch von der Stadtverwaltung. Ich bin gerade in Pallien am Steilhang an der roten Wand und mit der Rodung beschäftigt. Vor mir … liegt ein Skelett. Eine ... menschliche Leiche, glaube ich. Kommen sie bitte sofort.“
„Eine menschliche Leiche? Sind Sie sicher? Vielleicht ist es nur ein totes Tier?“
„Herr Reuss. Ein Tier, das Jeans und T-Shirt trägt? Und außerdem ein Handy und andere Dinge in einer Tasche dabei hat? Das ist Blödsinn! Das hier sind eindeutig menschliche Überreste. Kommen Sie bitte sofort. Mir wird schon ganz komisch.“
Brösch hörte, wie der Beamte mit Kollegen sprach. Schweißperlen liefen ihm über das ganze Gesicht. Er konnte seine Augen nicht von dem Körper, den er vor sich sah, abwenden. Der war circa 1,70 bis 1,75 Meter groß, wenn die Abstände der Knochen noch halbwegs stimmten. Teile eines weißen T-Shirts und einer blauen Jeans waren noch zu erkennen. Außerdem die Reste von weißen Turnschuhen. Einer lag relativ weit vom Körper entfernt. Die Reste einer Stofftasche lagen zerfetzt daneben. Das war wahrscheinlich Tierfraß. War auch dem Leichnam anzusehen. Er war fast bis auf die Knochen abgenagt worden. Nur wenige Reste waren übrig geblieben. Schwer zu sagen, welcher Mensch hier abgestürzt war. Könnte ein Mann oder eine Frau gewesen sein, wobei die Tasche eher für eine Frau sprach. Es könnte aber auch eine Art von Rucksack gewesen sein. Da war sich Michael Brösch gar nicht sicher. Seine Hände zitterten immer noch heftig. Und ihm war schon ganz schön flau im Magen.
„Sollen wir auch einen Notarzt schicken?“ hörte er die Stimme im Hörer plötzlich.
„Nein, nein. Das können Sie vergessen. Hier kommt jede Hilfe zu spät. Die Leiche ist schon stark verwesen. Liegt anscheinend schon länger hier. Wurde wohl ewig nicht gefunden. Kein Wunder, bei diesem unzugänglichen Gelände. Außerdem ist hier alles mit Gebüsch und mit Brombeeren zugewachsen. Deswegen bin ich ja auch hier.“
„Alles klar, Herr Brösch. Dann bewahren Sie erst mal die Ruhe. Der Anblick ist für Sie bestimmt nicht leicht. Ich schicke Ihnen die Kollegen und ein Team von der KTU. Das ist die Kriminaltechnische Untersuchung. Zur Spurensicherung. Rühren Sie bitte nichts an und verändern Sie an dem Leichenfund und der Umgebung nichts.“
„Den Teufel werde ich tun. Das können Sie mir glauben. Ich gehe jetzt zum Rand und gebe Ihren Beamten ein Zeichen. Die sollen vor der Wand in die Straße abbiegen, die zum Wohnkomplex führt. Dahinter geht der Weg in den Wald rein und dort stehe ich, falls mich meine Beine noch tragen. Ich bin nämlich gerade ein bisschen wackelig.“
„Wir schicken noch einen psychologischen Betreuer für alle Fälle. Ich glaube, den können Sie vielleicht ganz gut gebrauchen, oder?“
„Eigentlich bräuchte ich jetzt einen doppelten Schnaps, aber ich bin ja im Dienst. So wie Sie, Herr Reuss. Dann erst mal vielen Dank und sagen Sie Ihren Leuten, dass sie schnell machen sollen. Mir ist es an diesem Ort nicht mehr ganz wohl. Ich möchte so schnell wie möglich hier weg. Das ist die erste Leiche, die ich gefunden habe.“
„Kann ich mir gut vorstellen, Herr Brösch. Ging mir beim ersten Mal auch so. Darauf ist man nicht vorbereitet. Bleiben Sie trotzdem ganz cool und vernünftig. In wenigen Minuten werden meine Kollegen da sein. Der Rest kommt dann auch schnell. Und dann haben Sie es für heute erst mal hinter sich. Auf Wiederhören.“
„Jo. Tschö.“
Michael Brösch warf noch einen letzten Blick auf den toten Körper und überlegte, ob er ein Foto von diesem ungewöhnlichen Fund machen sollte. Dann wurde ihm klar, wie pietätlos diese Aktion wäre. Tote haben einfach ihre Ruhe verdient. Keiner sollte daraus noch irgendeinen persönlichen Vorteil ziehen, in dem das Foto in einer Galerie verewigt würde. Oder, noch schlimmer, wie nach vielen Verkehrsunfällen Fotos in den öffentlichen Netzwerken auftauchten, damit sich die Inhaber der Profile mit den Fotos bei ihren Freunden wichtig machen konnten. Hauptsache viele Klicks. Nur das zählte in der heutigen Zeit. Nein, das wollte er in keinem Fall. Sollten doch die Beamten die Bilder machen. Er steckte das Handy wieder in die Tasche, drehte sich um und ging durch die Bresche, die er durch den Wald geschlagen hatte, langsam und vorsichtig zurück. Hätte er heute Morgen schon gewusst, was er hier im Wald finden würde, dann wäre er mit Sicherheit einfach im Bett geblieben. Hätte, hätte, na ja...ist klar, oder?
Es dauerte keine zehn Minuten bis Michael Brösch den Streifenwagen kommen sah. Er hatte erst mal in Ruhe eine Zigarette geraucht. Das machte ihn wieder ein kleines Bisschen gelassener. Das blaue Licht leuchtete schon ab dem Eingang zur Straße, die zum Wald hinauf führte, hell über dem Dach des weiß-blauen Einsatzfahrzeugs. Und zu hören war es auch. Der Klang der Sirene wurde von den Felsen im Hintergrund zurückgeworfen. Es war, als wenn zehn Einsatzfahrzeuge kommen würde. Einige Anwohner des neben ihm liegenden Hauses hatten schon aufgeregt ihre Köpfe aus den Fenstern geschoben, um ja nichts Wichtiges zu verpassen. Schaulust war in der heutigen Zeit leider stark vertreten. Hilfskräfte hatten damit immer mehr zu kämpfen. Menschen, die beim Leid anderer offensichtlich nichts verpassen wollten, standen dem Einsatzpersonal, wie Polizei und Feuerwehr aber auch Notärzten, immer mehr im Weg oder behinderten in Extremfällen sogar deren Arbeit. Polizeibeamte gingen in der letzten Zeit verstärkt gegen diese Gaffer vor und verhängten auch hohe Strafen. Ob sie damit jedoch dieses widerwärtige Verhalten eindämmen, war zu bezweifeln.
Kurz bevor sie Michael Brösch erreichten, schalteten die Beamten die Sirene aus. Es wurde auch Zeit. Dieses Martinshorn war wirklich laut. Als die Streife anhielt, ging auch das Licht aus. Die uniformierten Beamten stiegen aus und hatten vorher schon ihre Gesichtsmasken angelegt. Sie kamen auf Brösch zu, der seinen Helm vor dem Rauchen abgelegt hatte, und hielten einen Abstand von 1,5 Metern wegen der immer noch bestehenden Infektionsgefahr mit dem Corona-Virus. Die Infektionszahlen in Deutschland waren zwar in den letzten Wochen relativ konstant geblieben, aber man wollte keinen größeren Ausbruch dieser Krankheit, die insbesondere die Atemwege befiel und mit heftigem Fieber einher ging, provozieren. In der übrigen Welt waren schon Hunderttausende infiziert worden und die Hälfte war davon gestorben.
„Tach, tach. Haben Sie keine Gesichtsmaske?“ fragte einer der beiden Beamten.
„Wieso, bin ich Darth Vader?“ Er grinste, aber keiner der Beamten grinste zurück. Sie sahen so aus, als würden sie in diesem Punkt keinen Spaß verstehen.
„Doch, doch. Sie liegt im Fahrzeug.“ Er deutete auf den am Eingang zum Waldrand geparkten orangenen Kleinlaster mit Ladefläche, auf dem verschiedene Werkzeuge des Grünamts lagen.
„Ich krieg unter den Dingern nur keine Luft. Und die brauche ich, nach dem, was ich gerade da oben gesehen habe, in verstärktem Maße.“
„Schön, wir halten dann einfach den notwendigen Abstand. Mein Name ist übrigens Frank Otto und das ist mein Kollege Baumbach. Sind Sie Michael Brösch? Haben Sie die Leiche hier im Wald gefunden und bei uns angerufen?“
Michael Brösch nickte. Das Zittern war fast verflogen. Er fühlte sich aber immer noch flau im Magen. Otto machte ein verständnisvolles Gesicht. Er war blond. Der kleinere der beiden und etwas fülliger. Lag bestimmt am guten Trierer Essen und an dem einen oder anderen Bierchen, das es dazu gegeben hatte. Baumbach war deutlich größer und auch drahtiger. Ausdauersportler. Marathon oder Triathlon oder so was. Bestimmt an die 1,90 Meter, mit kurzem schwarzem Haar und bestimmenden dunklen Augen, fast durchdringend. Er nahm seinen Beruf mit Sicherheit sehr ernst. Keiner, mit dem sich ein Krimineller unbedingt anlegen sollte. Er würde wohl dabei den kürzeren ziehen.
„Können Sie uns hinführen, Herr Brösch?“
„Klar. Aber den letzten Meter mache ich nicht mehr. Das verstehen Sie wohl?“
„In Ordnung. Ist verständlich. Wir kommen dann schon selber klar,“ sagte Otto.
Michael Brösch ging voraus und die Beamten folgten ihm. Sie trugen diese blauen Schutzhandschuhe, um den Tatort nicht mit Fingerabdrücken zu verunreinigen. In seiner rechten Hand hielt Baumbach eine Kamera. Sie stapften den Hang hinauf und begaben sich dann in die schmale Bresche, die Brösch heute bereits geschlagen hatte. Vorsichtig bewegten sie sich im Gänsemarsch durch die Gasse, um nicht an Resten der Brombeersträucher und ihren Stacheln hängen zu bleiben. Durch die Bäume und das Gestrüpp kamen sie schon nach wenigen Minuten zum Leichnam. Es waren nur einige Vogelstimmen, knackende Äste und erste Geräusche vom Moselufer zu hören. Nach einigen Minuten erreichten sie den Fundort der menschlichen Überreste.
Brösch blieb stehen und ließ die Beamten passieren. Er lehnte sich an einen Baum, den er freigelegt hatte, und sah aus sicherer Entfernung zu, wie die beiden Beamten erste Untersuchungen am Leichnam vornahmen. Baumbach machte die Fotos und der gedrungene Otto sprach in ein kleines Diktiergerät über den Zeitpunkt, den Ort und das Ergebnis ihres Einsatzes. Er fertigte danach noch eine grobe Skizze auf seinem Einsatzblock. Beide versuchten dabei, Abstand zur Leiche einzuhalten und ja nichts zu verändern. Der Erkennungsdienst war in diesen Dingen mehr als pingelig.
„War eigentlich noch jemand bei Ihnen, Herr Brösch?“ fragte Otto.
„Nein, ich war allein. Sie wissen doch bestimmt, dass die Stadt sparen muss. Auf so einer Fläche wie hier wird normalerweise nur ein Mitarbeiter eingesetzt. Das muss reichen. Notfalls brauche ich eben ein bisschen länger als geplant. Aber das ist nicht mein Problem. Ich arbeite nach Tarif. Kennen Sie als Beamte ja auch, oder?“
„Klar. Leider kommen bei uns noch der Schichtdienst und die Überstunden dazu. Das können wir uns eben nicht aussuchen. Haben Sie noch andere Personen hier oben gesehen, die sich in der Nähe dieser Stelle aufgehalten hatten? Ein Wanderer oder ein Spaziergänger? Eventuell auch ein Bewohner aus dem Haus von nebenan?“
„Nein, niemand. Um diese Zeit ist hier oben auch noch nicht so viel los. Die Leute sind gerade erst aufgestanden. Es ist schließlich Samstag. Viele müssen heute nicht oder zumindest nicht so früh arbeiten. Außer uns natürlich.“ Er seufzte.
„Was schätzen Sie, Herr Brösch? Kann diese Person,“ er zeigte auf den hinter ihm liegenden Leichnam, „kann die hier zu Fuß rein gegangen sein?“ fragte Baumbach.
„Keine Ahnung. In den letzten zwei oder drei Jahren mit Sicherheit nicht. Da wird hier schon alles zu gewesen sein. Das sehen Sie ja selbst.“ Er zeigte auf das dichte Gestrüpp links und rechts. „Da müsste die Person schon ein Masochist sein. Sie wäre von den Brombeerstacheln zerrissen worden. Wenn sie überhaupt so weit gekommen wäre. Wie dicht es vorher war, kann ich nicht genau sagen. Ich bin heute zum ersten Mal hier. Aber ich vermute, sie ist vom Hang gestürzt und dann hier rein gefallen. Erst über die Felsen weg, zwischen den Bäumen hindurch und dann rein in die Sträucher.“
Otto sah nach oben. Durch die Baumwipfel konnte man die Kante der roten Wand aus Kalksandstein, die circa fünfzehn oder zwanzig Meter hoch lag, gerade so erkennen.
„Abgestürzt, meinen Sie?“ Er sah ihn an. „Aber da oben ist ein Schutzzaun, soweit ich weiß. Da kann man nicht so einfach abstürzen.“
„Herr Otto, ich bitte Sie. Das Ding ist ca. 1,30 Meter hoch. Da steigt man doch locker drüber, wenn man will.“ Er sah ihn an. Otto war einen guten Kopf kleiner als er.
„Na ja. Mehr oder weniger. Also für mich wäre der Zaun kein Problem...“
„Hab schon verstanden,“ knirschte Otto und diktierte wieder in sein Gerät.
„Vielleicht wurde die Person aber auch runter geworfen?“ überlegte Brösch.
Otto stoppte das Diktat. „Wieso runter geworfen? Wer sollte denn so was tun?“
„Na ja, ein Mörder, der sich der Leiche entledigen wollte, damit sie nicht so schnell gefunden wird. Wenn überhaupt. Oder ein Vergewaltiger, der sein Opfer loswerden wollte, bevor es ihn anzeigen kann. Gucken Sie denn keine Krimis? Tatort oder SoKo oder so was? Sieht man doch andauernd im Fernsehen. Jeden Tag...“
„Sie wissen schon, dass solche Sachen nicht immer realistisch sind, oder? Solange wir keine eindeutigen Anzeichen für eine Fremdeinwirkung haben, müssen wir zunächst von einem Unfall ausgehen. Wir sind nun mal im wirklichen Leben, Herr Brösch.“
Sein Funkgerät machte sich bemerkbar. Eine Stimme sagte ihm, dass die Kollegen von der KTU angekommen wären. Man würde auf sie warten. Otto bestätigte den Ruf und gab Baumbach ein Zeichen. Sie verließen den Ort und stapften zurück.
Zwei Kollegen in weißen Ganzkörperanzügen warteten schon auf sie. Auch sie hatten Kameras und andere Utensilien in Alukoffern dabei, um den Fundort genauestens zu dokumentieren und zu untersuchen. Ihre Feststellungen waren die Grundlage für die weiteren Nachforschungen und Erkenntnisse in diesem Fall und würden hoffentlich hilfreich sein, um die Identität der Person heraus zu finden. Selbst nach Jahren kann ein Kriminaltechniker noch Spuren an einer Leiche sichern, die für die Herkunft des Opfers oder die Person des Mörders wertvolle Hinweise liefern kann. Seien es DNA-Spuren an Kleidung oder Knochen, Einwirkungen am Skelett oder an den Zähnen. So konnte man durch das Abgleichen dieser Daten nicht nur aktuelle, sondern auch einige alte und zum Teil noch ungeklärte Fälle lösen. Voraussetzung war allerdings, dass die Beweismittel nicht durch andere Personen verunreinigt wurden, zum Beispiel durch fremde DNA, Finger- und Fußabdrücke, Reifenspuren oder ähnliches.
„Na, liebe Kollegen, alles schön besichtigt? Und schön vorsichtig gewesen? Oder mal wieder mit den Einsatzstiefeln alle wichtigen Spuren platt getreten? Wäre ja nicht das erste Mal.“ Der Techniker nickte seiner Kollegin, die neben ihm stand, wissend zu.
„Na, na, Kollege Neumeyer“ fuhr Baumbach ihn an, „Eingereiste aus dem Saarland sollten aber den Mund nicht so voll nehmen. Kennst wohl das elfte Gebot nicht?“
Bernd Neumeyer sah ihn unter seinen weißen Maske fragend an. „Und das wäre?“
„Nit doof gin.“ erwiderte Otto. „Wärst du ne Trierer, dann wüsstest du das.“
„So was wie 'nicht dumm kommen',“ raunte ihm seine Kollegin leise zu.
„Na gut. Sehen wir uns den Schlamassel mal an, den ihr uns übrig gelassen habt,“ maulte Neumeyer beleidigt und stapfte mit seinem Koffer in Richtung Wald. Birgit Klein folgte ihm mit schnellen kurzen Schritten. Schon nach wenigen Minuten begann der Schweiß ihnen ins Gesicht zu laufen. Die Anzüge waren fast komplett luftdicht.
„Und kommt nicht vom Wege ab im dichten Wald!“ rief ihnen Otto hinterher. „Der Kollege ist heute Morgen wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?“
„Neumeyer ist öfter so drauf,“ kommentierte Baumbach. „Dabei macht er selber bei den Untersuchungen Fehler. Kannst du dich noch erinnern, als wir seine Frau wegen Mordes gesucht haben? Und das nur, weil die eines seiner Speichelstäbchen benutzt hatte und ihre DNA daran geklebt hat? Ich werde nie vergessen, wie wir morgens mit dem SEK an der Tür standen. Er im Schlafanzug und sie im Nachthemd. Da war aber Schluss mit der saarländischen Fröhlichkeit.“ Er lachte unter seiner Maske.
Otto stimmte kurz mit ein, bis er Michael Brösch ins Gesicht sah, der ernst blieb.
„Tschuldigung, Herr Brösch. Ist ein besonderes Verhältnis zum Kollegen. Schauen Sie zur Straße. Da kommt der Psychologe. Mit dem sollten Sie jetzt mal reden.“
Michael Brösch sah einen schlanken Mann mit legerer sommerlicher Kleidung und grau melierten Haaren, wohl Mitte 50, der den Weg zu ihnen nach oben suchte. Er kam langsam auf sie zu und winkte den Beamten.
„Und danach gehen Sie am besten nach Hause. War sicherlich genug für Sie. Arbeiten können Sie die nächsten Stunden an dieser Stelle sowieso nicht mehr. Wird alles noch abgesucht und gesichert. Danach erfolgt der Abtransport. Danke für Ihre Mithilfe.“
Otto und Baumbach gingen zum Streifenwagen und gaben ihre Funkmeldung an die Einsatzzentrale ab. Dann drehten sie um und fuhren wieder in Richtung Innenstadt.
Brösch erzählte dem Psychologen alles zum Leichenfund und hörte sich einige Worte von ihm an, die ihn psychisch wieder etwas stabilisieren sollten. Der Tod gehört zum Leben. Alles ein einziger Kreislauf. Ein Mensch ist von uns gegangen und wird nie mehr zurückkehren. Das haben wir zu akzeptieren. Nichts ist ewig und so weiter...
Es war okay, aber auch nicht mehr. Er war froh, endlich gehen zu können. Auf dem Weg ins Amt gingen ihm aber noch einige Gedanken durch den Kopf. Wer war die Person und wieso war sie in den Wald gestürzt? Warum wurde sie erst jetzt gefunden? Und – war es wirklich nur ein Unfall? Oder steckte hinter diesem gruseligen Fund doch noch etwas anderes? Michael Brösch lud den LKW im Hof aus, meldete sich im Gebäude vom Dienst ab und fuhr mit seinem Wagen nachdenklich nach Hause.
Kriminaldirektor Jürgen Klopf parkte seinen silbernen Mercedes der C-Klasse auf dem extra für ihn reservierten Platz in der Kürenzer Straße in Trier, direkt vor dem Dienstgebäude der Kriminaldirektion in der Nähe des Hauptbahnhofs. Es war nicht gerade eine leise Gegend, da die Fahrgeräusche der vielen Züge, die hier täglich passierten, trotz der verminderten Geschwindigkeit auch in den Gebäuden daneben noch deutlich zu hören waren. Heute war Montag. Montag Morgen. Gerade fuhr der Regionalzug nach Koblenz ein, der seinen Fahrgästen eine der schönsten Strecken des Moseltals auf dem letzten Stück in Richtung Rhein präsentierte. Da der Zug an den teils sehr engen Stellen nicht so schnell fahren konnte, hatte man immer wieder einen schönen Ausblick auf den Fluss, sein romantisches Tal und auf die idyllischen Dörfer.
Klopf war in Koblenz geboren und aufgewachsen und hatte dort in den verschiedenen Dienststellen die ersten Stationen seiner polizeilichen Laufbahn bis zum mittleren Polizeivollzugsdienst absolviert. Auf einer Demo in Köln wurde er durch einen Stein schwer am Kopf getroffen und musste Wochen im Krankenhaus verbringen. Danach war ihm klar, dass er nicht noch länger zu solchen Einsätzen gerufen werden wollte.
Er strengte sich an und schaffte die Aufnahme in den höheren Dienst. Als er hörte, das in Trier die Stelle eines Kriminalkommissars frei war, hatte er nicht lange gezögert. Er konnte seine Frau Brigitte davon überzeugen, mit ihm und den beiden Kindern in die älteste Stadt Deutschlands zu ziehen, um die nächsten Sprossen der Karriereleiter zu erklimmen. Mit 48 Jahren, die man ihm nicht ansah, hatte er es zum Kriminaldirektor gebracht und war mittlerweile der Leiter der Direktion in Trier. Sein Vorgänger wurde vor ein paar Jahren versetzt, da es Probleme in einem Vermisstenfall gegeben hatte.
Das wäre normalerweise nicht der Grund, um einen hohen Beamten wie Horst Schäfer zu versetzen, aber der Fall der vor ca. zehn Jahren verschwundenen Maja Graf hatte in der Presse deutschlandweit sehr hohe Wellen geschlagen. Die von Schäfer eingesetzte Kommission, die den Fall untersuchen sollte, hatte in vier Jahren keine brauchbaren Ergebnisse geliefert. Hinzu kamen dann noch Pannen und Nachlässigkeiten bei der Ermittlungsarbeit und ein Streit mit der zuständigen Staatsanwaltschaft Trier.
Die Familie der verschwundenen Studentin hatte mit ihrem Anwalt versucht, auf die in ihren Augen völlig unzureichende Tätigkeit der Polizei einzuwirken, aber ohne Erfolg. Als man seine Tochter nach weiteren Jahren immer noch nicht gefunden hatte, starb Majas Vater am Verlust seines Kindes. Seine Frau aber hatte nicht aufgegeben, sondern zusammen mit der Bevölkerung Triers und den Medien weiter versucht, Informationen über den Verbleib der Tochter zu erhalten. In allen Geschäften und Kneipen der Stadt waren Handzettel mit Bildern von Maja und den bisher bekannten Fakten über den letzten Verbleib verteilt worden. Selbst ein Aufruf in der Sendung 'Aktenzeichen XY ungelöst' führte zu keinem stichhaltigen Hinweis. Als die negativen Wogen über den Fall immer höher schlugen, nahm man den leitenden Beamten aus der Schusslinie und der Weg für Jürgen Klopf war plötzlich frei.
Er nahm das graue Sakko seines Anzugs vom Lederrücksitz. Dazu trug er ein blaues Oberhemd mit rotblau gestreifter Krawatte. Als Leiter der hiesigen Dienststelle war er sich der Wirkung seines Auftretens bewusst. Einige seiner Kollegen nahmen es mit dem zivilen Outfit, das ihnen als Kriminalbeamten statt der Uniform zugestanden wurde, nicht so genau. Er wollte sich aber als ihr Vorgesetzter eindeutig positionieren und natürlich auch eine angemessene Form von Seriosität in diesem Amt ausstrahlen.
Er warf noch einen letzten Blick auf seine gescheitelten, kurz geschnittenen, braunen Haare im Innenspiegel, die er leicht über die Narbe am Kopf drapiert hatte, stieg aus und zog das Sakko an. Er sah aus wie ein Banker oder Anwalt. Aber gerade das gefiel ihm gut. Gab ihm ein Gefühl von Überlegenheit. Dann griff er zu seiner schwarzen Aktentasche auf dem Beifahrersitz, verriegelte den Wagen und begab sich zum neben dem Parkplatz liegenden Haupteingang. Er hatte seine neue Ermittlungseinheit zum Leichenfund in Pallien für heute Morgen um neun Uhr zusammengerufen, denn die Untersuchungsergebnisse waren eingetroffen. Der Gerichtsmediziner Dr. Karl Börner, ein erfahrener aber auch etwas eitler Pathologe, würde nun hoffentlich die Identität der verstorbenen Person und auch die Todesursache aufklären können. Danach würde man noch die Presse informieren und eventuell auch weitere Ermittlungen einleiten. Das Telefon hatte die letzten zwei Wochen vor Anfragen nicht mehr still gestanden. TV- und Radiosender sowie verschiedene Zeitungen wollten unbedingt wissen, wer hinter der unbekannten Person, die im Wald gefunden wurde, steckte. Und er auch.
Er passierte den Pförtner und ging die Treppe zu den Diensträumen im ersten Stock hinauf. Dabei trug er vorschriftsmäßig den Mund- und Gesichtsschutz, der in der vor einiger Zeit erlassenen Corona-Verordnung für alle Bundesländer in geschlossenen Räumen zwingend vorgeschrieben war. Am Ende des langen Ganges lag sein Büro und dahinter der Tagungsraum für die verschiedenen Sonderkommissionen, die in den letzten Jahren gebildet wurden. Trier galt zwar als eine der sichersten Städte in ganz Deutschland, was die tägliche Rate an Straftaten anging, aber es gab doch immer wieder einige schwere Verbrechen, die nur im Team aufgeklärt werden konnten. Dazu zählte seit 10 Jahren auch das bisher ungeklärte Verschwinden von acht jungen Frauen im Stadtgebiet und im Umland, das sich im Süden bis zur Grenze des Saarlandes und im Westen nach Luxemburg und auch nach Belgien erstreckte. Es handelte sich um Studentinnen oder Auszubildende, die zuletzt in Clubs oder auch auf verschiedenen Partys gesehen wurden und dann spurlos verschwanden. Man hatte bis heute nichts mehr von ihnen oder ihrem Verbleib gehört. Auch die Nachforschungen hatten keine verwertbaren Ergebnisse geliefert. Es gab zwar schon einige Verdächtige, aber keine gesicherten Erkenntnisse, die zu einer Anschuldigung ausreichen würden. Also hatte man ab einer gewissen Zeit die Fälle auf Eis gelegt. Die Erfahrung zeigte, dass ab ein oder zwei Jahren keine Informationen mehr eingingen, die zur Lösung führten. Das hatte aber nichts mit dem fehlenden Interesse der Beamten, sondern vielmehr mit dem abnehmenden Erinnerungsvermögen der Zeugen und Beteiligten zu tun. 'Cold cases' nannte man solche Fälle im amerikanischen Fachausdruck. Manchmal wurden sie nach fünf bis sechs Jahren wieder aktiviert, aber in den seltensten Fällen gelöst.
In seinem Büro nahm Jürgen Klopf die Akte über den Leichenfund aus der Tasche und legte sie auf seinen Schreibtisch. Er passte perfekt zu der restlichen Einrichtung, die ausschließlich vom Hersteller UTM Haller stammte. Es war ein Büromöbel-System, das vielseitig kombinierbar war. Ähnlich einem Baukastensystem. Funktional. Klare Linien, klare Farben. Hier war es Schwarz und Chrom. Metall und Glas. Das gesamte Gebäude war nach der notwendigen Renovierung in diesem Stil eingerichtet worden.
Nicht ganz billig, aber haltbar. Er suchte auf der gläsernen Oberfläche nach neuen Nachrichten oder Post-Its, die für ihn deponiert wurden und in seiner Abwesenheit eingegangen waren. Nichts. Auch die Mailbox seines Dienstapparates zeigte keine neuen Nachrichten oder Anrufe in Abwesenheit. Er fuhr seinen Dienstrechner hoch und warf einen letzten Blick auf eingegangene E-Mails. Dort waren noch drei neue Anfragen wegen des Leichenfundes eingegangen. Er würde diese beantworten, wenn er auch wirklich neue Informationen hätte. Wahrscheinlich in einem Zug mit der Presseerklärung, die sein Referent in dieser Sache noch verfassen würde. Er sah auf die gegenüberliegende Pinnwand und die Vermisstenmeldungen, die alle noch aktuell waren. Acht junge und alle sehr hübsche Mädchen, die ihr Leben noch vor sich hatten.
Alle hatten auch ein gutes Elternhaus. Kein Grund, plötzlich wegzulaufen. Die Fotos strahlten Zuversicht und Neugier auf das, was in ihrem Leben noch kommen würde, aus. Und Lebensfreude. Keine Kandidatinnen für einen möglichen Suizid. Das hatten auch alle Angehörigen bestätigt. Sie konnten sich das plötzliche Verschwinden ihrer Töchter und Enkeltöchter nicht erklären. Keine Anzeichen für ein Stimmungstief oder gar Depressionen. Auch wenn nicht alle Jugendlichen über solche Dinge frei reden, es hätte doch verdächtige Verhaltensweisen geben müssen. Gab es aber nicht.