Allgäuer Sündenbock - Mia C. Brunner - E-Book

Allgäuer Sündenbock E-Book

Mia C. Brunner

4,0

Beschreibung

Zwei mysteriöse Todesfälle beschäftigen die Kemptener Kripo. Ein Mann wird leblos auf einem Misthaufen gefunden. Die einzige Zeugin der Tat beschwört, der Mörder sei eine rotäugige Ziege. Und auch bei dem Suizid einer Frau plagen Hauptkommissar Forster Zweifel. War es wirklich Selbstmord oder musste sie aufgrund ihres Drachen-Tattoos sterben? Die wenigen Hinweise führen Forster zu einer Oberstdorfer Autorin, die sich für ihre Krimis an der Allgäuer Sagenwelt bedient. Hat sie etwas mit den Verbrechen zu tun?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mia C. Brunner

Allgäuer Sündenbock

Kriminalroman

Zum Buch

Sagenhaft tödlich Hauptkommissar Forster weiß nicht, was er von der Zeugenaussage einer jungen Frau halten soll. Sie behauptet, ihr Verlobter sei von einer Ziege mit feuerroten Augen getötet worden. Auch ein zweiter Todesfall beschäftigt die Kripo. Eine Frau mit einem Drachen-Tattoo wurde leblos in ihrer Badewanne aufgefunden. Hat ihr Tod etwas mit der bekannten Sage vom Unheil bringenden Drachen aus dem Seealpsee zu tun? Die Ermittlungen führen Forster zu einer Oberstdorfer Autorin, die sich für ihre Krimis an der Allgäuer Sagenwelt bedient. Sind ihre erfundenen Geschichten der Grund für die schrecklichen Schicksale der Ermordeten? Oder kennt die Autorin den Mörder? Alle Nachforschungen im Oberstdorfer Trachtenverein führen zu keinen verwertbaren Ergebnissen. Widerwillig zieht Florian Forster seinen Vater zu Rate, der endlich entscheidende Hinweise geben kann. Zeitgleich untersucht Hauptkommissarin Jessica Forster einen Zwischenfall mit einer ortsansässigen Kräuterfrau. Ihre Neugier wird geweckt, als sie unerwartet eine Verbindung zu Florians Fall entdeckt. Reichen die neuen Erkenntnisse, um einen weiteren Mord zu verhindern?

Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimi-Erfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. »Allgäuer Sündenbock« ist ihr sechster Allgäu-Krimi im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Dozey / AdobeStock und Lebedev Yury / shutterstock

ISBN 978-3-8392-7266-4

Ein paar Monate zuvor …

Der Sturm hatte sich gelegt.

Den ganzen gestrigen Tag und die halbe Nacht hindurch hatte er gewütet und Mensch und Tier in Angst und Schrecken versetzt. Bäume waren entwurzelt, Häuser beschädigt und Straßen überschwemmt worden.

Nun kehrte endlich Ruhe ein.

Die Wolken waren über die Gipfel der Berge weitergezogen. Der nächtliche Himmel hing tiefschwarz über dem Oytal, doch vor dem dunklen Hintergrund leuchteten unzählige helle Sterne. Der Vollmond tat sein Übriges, sodass die Alphütte und ihre Umgebung, die Berggipfel und die karge Graslandschaft, trotz der späten Stunde gut zu erkennen waren.

Der Seealpsee, der noch vor einer Stunde gebrodelt und geschäumt hatte, dessen vom Sturm gepeitschtes Wasser mit mächtigem Getöse gegen die grasbewachsenen Ufer gedonnert war, lag jetzt nahezu still zwischen den steilen Felswänden. Das Licht des Mondes tanzte auf den seichten Wellen und funkelte mit den Sternen um die Wette.

Endlich war es wieder friedlich.

Keine Menschenseele hatte sich heute am See blicken lassen. Die Nebelhornbahn, von der aus man tagsüber ohne anstrengenden Aufstieg die Seealpe über den Zeigersattel erreichen konnte, hatte ihren Betrieb aufgrund des Unwetters bereits am frühen Morgen eingestellt. Man kam auch zu Fuß zur Alpe, doch es war mühsam, sich den schmalen Pfad aus dem Oytal hinaufzukämpfen. Wenn man aber über die steil abfallende schmale Felskante, den sogenannten Karriegel, ins Tal hinabsah, schaute man aus fast 1.700 Metern Höhe auf das friedlich schlafende Oberstdorf.

Die dünne Wand aus Gestein war der natürliche Damm, der den tiefen Bergsee davon abhielt, seine riesigen Wassermassen über den schönen Ort im Oberallgäu zu ergießen, Häuser zu versenken und Mensch und Tier – jede einzelne Seele – in einen grausamen Tod zu reißen.

Dieses Mal hatte der Damm gehalten.

In diesem Jahr war der Fluch gebannt. Gerade noch rechtzeitig versank der kleine Lederbeutel mitsamt Inhalt auf den kalten Grund des Seealpsees. Dem Dorf würde nichts geschehen am morgigen Fronleichnam. Das Tal blieb verschont, denn das Ungeheuer war besänftigt.

Es schlummerte tief im See.

Doch der Drache musste sterben. Erst dann würde der Frieden auf Dauer anhalten. Nur ein toter Drache war still und friedlich. Bis in alle Ewigkeit.

*

Den ganzen Tag schon war es unerträglich schwül.

Die schwere Luft raubte nicht nur den Atem, sondern vermieste auch die Laune.

Selbst im Haus, das aufgrund seiner dicken Außenmauern kurze Hitzewellen im Hochsommer draußen halten konnte, war die Wärme nach nunmehr zweieinhalb Wochen kaum zu ertragen. Das Thermometer zeigte seit Tagen nachmittags konstant über 35 Grad.

Auch die Nächte brachten keine Erholung. Der leichte Luftzug, der von der geöffneten Terrassentür hereinwehte, streifte nur sanft die verschwitzte Haut auf Armen und Gesicht, sorgte jedoch nicht für Abkühlung.

Aufgrund der äußeren Umstände, aber auch, weil sie eine Langschläferin war, die in den ersten Stunden des Tages nichts mit sich anzufangen wusste, verlegte sie ihre Arbeit gern in die Abendstunden. Deshalb saß sie kurz nach Mitternacht noch immer an ihrem Laptop, starrte auf den grellen Bildschirm und las konzentriert die geschriebenen Zeilen.

Draußen machte sich ein Uhu rufend bemerkbar. Dieser schaurige Ton des edlen Nachtvogels ließ sie zufrieden seufzen. Normalerweise stand sie auf und ging in den Garten, wenn das Tier ihrem Haus so nahe war wie in diesem Augenblick. Vor drei Tagen hatte sie das Glück gehabt, den Schatten des Tieres im hellen Mondschein vorbeihuschen zu sehen. Sie hatte gemeint, der lautlose Schlag der riesigen Flügel würde ihr frische Nachtluft zufächern.

Heute blieb sie an ihrem Schreibtisch sitzen.

Es verging eine weitere Stunde, bevor sie das Gerät abschaltete, zuklappte und sich mit den Fingern über die Augen rieb.

Sie erhob sich, knipste die Lampe aus, die auf ihrem Schreibtisch stand, und ging zielsicher durch das stockdunkle Zimmer in den angrenzenden Flur und ins Bad. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war auf der anderen Seite des Büros, gegenüber dem Flur und direkt neben der offenen Terrassentür. Doch sie entschied sich, vor dem Schlafengehen zu duschen. Sie musste wenigstens kurzzeitig die Hitze aus ihrem Körper bekommen, sonst würde sie kein Auge zumachen.

Als sie wenig später, bekleidet mit einem leichten Morgenmantel aus Seide, erneut ihr Büro betreten wollte, blieb sie zögernd in der Tür stehen.

Hatte sie vergessen, den Bildschirm auszuschalten?

Das helle Licht des aufgeklappten Laptops strahlte in Richtung Terrassentür und verwandelte die Büsche und Sträucher im Garten in unheimlich tanzende Schattenwesen. Draußen weinte ein Kind.

Nein, das musste eine der maunzenden Katzen der Nachbarn sein, die nachts um die Häuser schlichen.

Die Terrassentür war zu.

Hatte sie die Tür geschlossen, bevor sie ins Bad gegangen war? Oder hatte ein plötzlich aufkommender Wind sie zugeschlagen?

Mit dem Rücken zur Wand schlich sie vorsichtig hinüber und sah sich dabei ängstlich um. Ihr Blick blieb auf der Schlafzimmertür haften. War sie vorhin schon halb offen gestanden?

Ihr Herz schlug heftig, als sie mit den Fingern den Griff der Terrassentür ertastete. Den Durchgang zum Schlafzimmer ließ sie dabei nicht aus den Augen.

Verriegelt!

Sie musste die Terrassentür ganz in Gedanken verschlossen haben, als sie vorhin die Arbeit eingestellt und den Laptop ausgeschaltet hatte.

Nein, das hatte sie nicht getan! Der Bildschirm war noch an.

Sie wagte nicht, sich umzusehen, wagte kaum zu atmen, als sie langsam in Richtung Schlafzimmer ging.

Im Türrahmen blieb sie abrupt stehen, lächelte, schüttelte ungläubig den Kopf und rieb sich über die Nase.

»Wurzel? Bist du da drin?«

Aus dem Schlafzimmer erklang ein helles Bellen. Dann wurde es wieder still.

»Willibald von Wurzelhausen, du nichtsnutziger kleiner Giftzwerg. Musst du die Mama so erschrecken?«, schimpfte sie lachend, als sie begriff, dass der kleine weiße Terrier die Tür aufgestoßen haben musste. Der Hund lag bei diesem Wetter normalerweise am liebsten auf den kalten Fliesen in der Küche und kam erst in den frühen Morgenstunden zu ihr ins Schlafzimmer, wo sein Körbchen stand. Er hatte ihr einen riesigen Schrecken eingejagt.

Doch irgendetwas stimmte nicht.

Warum kam der Hund nicht zu ihr? Und wer hatte die Terrassentür geschlossen? War ihre Stieftochter hier?

»Adelheid? Bist du das?«, rief sie. Noch während sie den Namen aussprach, wurde ihr klar, dass sie mit ihrer Vermutung falschlag. Ihre Stieftochter Adelheid bewohnte die obere Etage des Hauses, würde es aber nie wagen, nachts ungefragt das Untergeschoss zu betreten.

Der kleine Hund im dunklen Schlafzimmer knurrte leise, fiepte dann aufgeregt und lief wild umher. Sie hörte seine kleinen Pfoten über den Holzfußboden tapsen.

Ganz plötzlich war wieder alles still.

Mit der Hand schob sie die Tür vorsichtig etwas weiter auf. Sie ließ sich nicht vollständig öffnen. Etwas oder jemand blockierte sie. Sie hörte ruhige, tiefe Atemgeräusche. Jemand verbarg sich hinter der Tür.

Das matte Licht des Laptops auf dem Schreibtisch im angrenzenden Büro reichte gerade aus, um das Fußende ihres Bettes sichtbar zu machen. Wurzel stand dort auf der Bettdecke, wedelte zaghaft mit dem Schwanz und starrte angestrengt auf einen Punkt hinter der Tür.

Sie war einer Ohnmacht nahe, musste sich konzentrieren, um nicht laut aufzuschreien und nicht allzu hektisch zu atmen. Ihren Herzschlag spürte sie bis in den Hals, und sie rieb sich mit ihren eiskalten Fingern über die heftig pochende Schlagader.

Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, atmete tief durch und trat erhobenen Hauptes in das dunkle Zimmer.

Als der Arm sich von hinten um ihren Hals legte, wollte sie laut aufschreien, doch die Hand, die sich augenblicklich auf ihren Mund presste, erstickte den panischen Laut im Keim.

1

Ein nicht enden wollender, greller Schrei ließ ihn erschrocken zusammenfahren.

Im Haus war es stockdunkel. Es war kurz nach Mitternacht.

Er sparte es sich, das Licht anzuschalten, drückte die Haustür mit der Schulter zu, warf den Schlüssel achtlos auf die Kommode im Flur und schlüpfte schnell aus seinen Turnschuhen. Dann lief er eilig die Treppe zum ersten Stock hinauf.

»Tut mir leid, dass ich so spät komme«, entschuldigte er sich, als er das Wohnzimmer betrat und Jessica mit dem weinenden Baby auf dem Arm auf und ab laufen sah. »Schreit der Kleine schon länger?«

Jessica blieb stehen und sah Florian müde an. Ihr Lächeln war eine Mischung aus Kraftlosigkeit und absoluter Verzweiflung. »Nein. Elias schreit seit einer Viertelstunde. Seit Lukas nach zwei Stunden Gejammer endlich eingeschlafen ist.«

»Gib ihn mir. Ich übernehme jetzt.« Jessicas Protest ignorierte Florian, griff nach Elias, legte ihn sich an die Schulter und rieb ihm behutsam den Rücken. »Du musst unbedingt schlafen«, sagte er zu Jessica.

Jessica nickte ergeben, streifte mit ihrer Hand beim Hinausgehen kurz seinen Arm und verließ das Wohnzimmer.

In ein paar Stunden begann ihr erster Arbeitstag nach fast einem Dreivierteljahr Elternzeit.

Florian hielt ihren Wiedereintritt ins Berufsleben für verfrüht, hatte sich aber mit Kritik zurückgehalten. Er verstand, dass sie schnell in den Polizeidienst zurückwollte. Jessica liebte ihren Job und hatte im Laufe der Jahre für die Familie schon mehr geopfert, als man verlangen konnte. Doch die Zwillinge waren noch so klein. Außerdem lief es gerade alles andere als rund.

Seine eigene Elternzeit war schon lange vorbei. Seit über drei Monaten ging er wieder täglich aus dem Haus. Oft mehr als zehn Stunden. Und oft am Wochenende oder nachts. Die beiden Großen mussten ebenfalls zurückstecken. Sein Schwiegervater, der seit einigen Monaten in der Einliegerwohnung des Hauses wohnte, unterstützte sie zwar nach Leibeskräften. Trotzdem war es jeden Tag eine neue Herausforderung, den Reitunterricht der zwölfjährigen Svenja, das Fußballtraining und den Schlagzeugunterricht von Tobias, der seit dem Sommer die dritte Klasse besuchte, und all die Kinderarzt- und Babyschwimmtermine unter einen Hut zu bekommen. Dazu kamen Hausaufgaben, Verabredungen, Probleme in der Schule und die Einkäufe. Windeln waren ständig aus und das Geld am Ende eines jeden Monats restlos verbraucht.

Neben all dem Stress war im Sommer auch noch ihr geplanter Urlaub in Italien ausgefallen, weil die Zwillinge eine Virusinfektion bekommen hatten. Dieser Urlaub wäre der erste als echte Familie gewesen. Das Adoptionsverfahren für Svenja und Tobias, die Kinder von Jessicas verstorbener Schwester Susanne, war endlich durch. Aus einem Forster waren sechs geworden. Alle trugen seinen Namen. Hauptkommissar Florian Forster hatte auf einen Schlag eine Frau und vier Kinder bekommen. Sein Traum war endlich in Erfüllung gegangen.

Trotzdem wuchs ihm der ganze Stress manchmal über den Kopf. Er wagte gar nicht, sich auszumalen, wie es Jessica ging. Er konnte dem Chaos wenigstens für ein paar Stunden täglich entfliehen.

Vermutlich war es richtig, dass seine Frau wieder arbeiten wollte. Die vier Stunden am Vormittag würden ihr guttun. Die Zwillinge würden bei seinem Schwiegervater Herbert gut aufgehoben sein. Florian hoffte, dass Jessica dann endlich wieder mehr Zeit für ihn hätte. In den wenigen Nächten, die sie leibhaftig neben ihm lag und nicht im Kinderzimmer bei den Zwillingen schlief, war sie so erledigt, dass sie nicht einmal mehr mit ihm sprechen konnte – von Dingen, die man als frisch verheiratetes Ehepaar mehrmals wöchentlich tun sollte, ganz zu schweigen.

Er vermisste sie unendlich.

*

»Die Aussicht ist atemberaubend!«

Der Rechtsmediziner Erwin Buchmann stieg aus dem Streifenwagen, stellte sich neben seinen besten Freund Florian Forster und blickte ins Tal. Trotz des wolkenlosen, strahlend blauen Himmels und des herrlichen Sonnenscheins war es heute herbstlich kühl. Hier auf der Alpe wehte ein frostiger Wind, der durch das kniehohe Gras pfiff und an der Kleidung zerrte.

»Der Alpsee ist riesig, wenn man ihn von oben betrachtet«, sagte Ewe. »Wie hoch sind wir überhaupt?«

»Die Hohenschwandalpe liegt laut Google auf 1.022 Metern.« Florian schob sein Smartphone in die Innentasche seiner Lederjacke und zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. »Herrgott, ist das kalt geworden. Letzte Woche hatten wir noch 20 Grad.« Er ging am Streifenwagen vorbei auf die Alphütte zu, vor der zwei Beamte in Uniform standen und sich unterhielten.

Als sie den Hauptkommissar näher kommen sahen, tippten sich die Kollegen aus Oberstaufen grüßend mit zwei Fingern an die Mütze und nickten.

»Die Leiche ist dort. Auf dem Misthaufen hinter der Hütte«, erklärte der ältere der beiden Polizisten und wies mit dem Arm nach rechts.

»Die Freundin des Toten sitzt weinend in der Stube«, fügte der jüngere hinzu und machte ein bedauerndes Gesicht.

»Kümmern Sie sich um die Frau. Ich komme in ein paar Minuten zur Befragung.« Hauptkommissar Forster schob beide Hände in die Hosentaschen. Es war so kalt, dass man seinen Atem sehen konnte. »Gibt es hier oben irgendetwas Warmes zu trinken?«

»Kommst du mit zur Leiche?« Erwin stapfte an ihm vorbei, seinen Koffer in der einen und ein Paar Gummistiefel in der anderen Hand. »Sind die Beamten der Spurensicherung schon da wegen der Fotos?«

»Ja, die waren schon bei dem Toten. Jetzt sind sie in der Hütte.« Der ältere Polizist rieb sich über seine eiskalte Nase. »Ich schaue, ob ich uns allen einen Tee kochen kann.« Er verschwand im Inneren.

»Warte, Ewe, ich komme mit.« Florian folgte seinem Freund, blieb aber kurz darauf etwa drei Meter vor dem riesigen Misthaufen stehen, der abseits der Hütte neben einem kleinen Erdwall aufgeschüttet war.

Den toten Mann sah man sofort. Er lag bäuchlings mitten im Dreck, die Arme ausgebreitet, Kopf und Gesicht tief in den Mist gedrückt. Äußerlich waren keine Verletzungen zu sehen. Zumindest nicht aus der Entfernung.

Erwin Buchmann zog sich den weißen Ganzkörperanzug und die Gummistiefel an und watete nun tapfer durch die Tierexkremente und das verdreckte Stroh. Mit jedem Schritt versank der Stiefel beinahe vollständig in der stinkenden Pampe und machte ein unnatürlich schmatzendes Geräusch, wenn er ihn wieder herauszog.

»Das ist echt widerlich. Der Gestank ist kaum zu ertragen«, jammerte der Rechtsmediziner.

Florian wunderte sich nicht zum ersten Mal über das Ekelempfinden seines Freundes. Wäre der Tote blutüberströmt, gevierteilt und halb verrottet, hätte Ewe zufrieden gelächelt und nicht mehr gesagt als »faszinierend«oder »beeindruckend«. Florian allerdings hätte sich bei so einem Anblick vermutlich übergeben. Der leicht beißende Geruch des Misthaufens hingegen war für ihn erträglich.

»Er hat ein stumpfes Trauma an seinem Hinterkopf, und ich sehe Hämatome in seinem Nacken.« Ohne zu Florian aufzusehen, begutachtete Erwin vorsichtig alle sichtbaren Stellen des Körpers, hob behutsam den rechten Arm an und schob den Hemdärmel nach oben. Der Tote trug keine Jacke. »Am Unterarm und an den Fingern erkenne ich Abwehrverletzungen. Wie lange er hier schon liegt, kann ich nicht sagen. Der Körper ist eiskalt, aber das geht schnell bei den Außentemperaturen.« Er griff nach der linken Schulter der Leiche und drehte sie um. Gesicht und Oberkörper waren mit einer dicken Schicht Kuhmist bedeckt. »Herrgott«, stöhnte Ewe. »Das ist echt abartig!« Mit beiden Händen wischte der Rechtsmediziner den Dreck, so gut es ging, aus dem Gesicht und vom Körper des Toten. »Diese Seite des Mannes ist wenigstens angenehm warm!« Er sah auf und zwinkerte Florian zu, der angewidert den Kopf schüttelte. »Kannst du mir aus meinem Koffer bitte das Thermometer bringen? Ich muss messen, wie hoch die Temperatur im Inneren der Leiche ist.«

»Was stimmt nicht mit dir, Ewe?« Florian verschränkte die Arme vor der Brust und blieb demonstrativ stehen. Wie stellte Ewe sich das vor? Sollte er mit seinen Turnschuhen durch die Exkremente gehen? Es reichte doch, wenn nachher einer nach Kuhstall stank. »Sag mir einfach, wie der Mann gestorben ist, dann kann ich endlich hier weg.«

»Bisher habe ich keine gravierenden äußeren Verletzungen gefunden. Aber er hat Mist im Mund und im Hals. Ich würde raten, er ist erstickt.« Ewe ließ den Toten los und stapfte selbst zu seinem Koffer, der offen neben seinen Schuhen im Gras lag. »Du weißt, Flo, dass ich das erst genau sagen kann, wenn er bei mir auf dem Tisch liegt … und gebadet hat«, fügte er lachend hinzu.

Florian verdrehte genervt die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und ließ seinen Freund allein.

Die Frau saß auf der Bank vor dem Fenster zur Westseite, ihre Arme um die angezogenen Beine geschlungen, ihr Gesicht auf den Knien. Sie zitterte. Auf dem Fensterbrett stand neben einer Vase mit Trockenblumen eine dampfende Tasse Tee.

»Ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Als die Frau aufsah, streckte Florian ihr eine Wolldecke entgegen, die er in einem der alten Bauernschränke gefunden hatte. »Die Beamten haben zwar den alten Ofen angeheizt, aber es ist immer noch verdammt kalt hier.«

Sie nahm die Decke und nickte.

»Es war meine Idee.« Ihre Augen waren rot vom Weinen und wirkten müde und leer. »Er ist meinetwegen tot.«

»Wie meinen Sie das?« Florian setzte sich neben sie und wärmte seine Hände an der Teetasse, die der Kollege ihm gegeben hatte. Wenn sie nicht zwischenzeitlich geduscht und sich umgezogen hatte, war sie nicht auf dem Misthaufen gewesen und hatte ihren Freund erstickt. Ihre Kleidung war sauber.

Nach kurzem Zögern seufzte sie laut. »Ich wollte die Nacht in der Hütte verbringen. Wir wohnen unten in einer Pension in Oberstaufen. Die Wirtin hat uns erzählt, dass die Hütte leer steht, wenn die Rinder im Herbst zurück ins Tal getrieben wurden. Allerdings ist sie für Wanderer immer offen. Man könne hier einheizen und kochen. Ich dachte, das wäre ein Riesenspaß.« Sie verstummte und sah aus dem Fenster. Die imposanten Gipfel der Berge auf der anderen Seite des Tals nahm sie nicht wahr. Ihr Blick war leer.

Florian ließ ihr Zeit, sagte nichts und trank stattdessen einen Schluck von dem warmen Getränk. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, fuhr sie schließlich fort. »Ich habe zwei Bier getrunken. Vielleicht habe ich den Alkohol nicht vertragen, aber …« Sie druckste herum, ballte die rechte Hand zur Faust und biss hinein. Mit Tränen in den Augen sah sie den Hauptkommissar verzweifelt an.

»Was ist mit Ihrem Freund geschehen?«

»Die Augen haben feuerrot geleuchtet.« Ihre Worte waren kaum zu hören, so leise flüsterte sie. »Es hat geklopft … an der Tür … kurz nach Mitternacht. Und ich hatte große Angst.«

Sie zeigte auf die einzige Tür der Hütte, die nach draußen führte. »Doch Robert, mein Freund, hat nur gelacht und mich aufgezogen«, fuhr sie fort. »Er hat gesagt, mehr als rauswerfen können sie uns nicht. Er hat … er hat … die Tür geöffnet.« Wieder entstand eine lange Pause.

»Was ist dann passiert?«

Die Hände der Frau, mit denen sie ihre Unterschenkel umfasst hielt, zitterten plötzlich so heftig, dass Florian beruhigend seine Hand darauflegte.

»Wer war dort draußen?«

»Ich weiß es nicht.« Sie brach schluchzend zusammen.

Florian hielt sie fest und konnte gerade noch verhindern, dass sie von der Bank fiel.

»Wer war an der Tür?«, wiederholte er seine Frage, ließ sie vorsichtig los und reichte ihr die Teetasse von der Fensterbank. »Ein Mann? Eine Frau? Wie sah die Person aus? Waren es mehrere oder nur eine?«

Jetzt lachte die junge Frau verzweifelt. »Ich weiß es nicht. Es war ein Mann, glaube ich. Aber die Augen … Er hatte rote Augen. Und Fell, pechschwarzes Fell. Überall. Hörner. Auf dem Kopf waren Hörner …« Sie rieb sich hysterisch lachend über das Gesicht.

»Sie meinen, es war der Teufel?«, riet Florian und machte sich ernsthaft Sorgen um die Frau. Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch oder war bereits mittendrin. Hoffentlich kam der angeforderte Krankenwagen gleich.

»Nein, nein. Kein Teufel. Eine Ziege. Eine schwarze Ziege! Sie hat Robert gepackt und nach draußen gezogen. Und ich habe so laut geschrien, wie ich konnte.«

»Hat … ähm … die Ziege etwas gesagt?« Fantasierte die Frau? Von zwei Flaschen Bier war man doch nicht so weggetreten, dass man halluzinierte. Er musste daran denken, einen Drogentest anzuordnen, wenn die Sanitäter kamen.

»Auf den Mist mit ihm!«, schrie sie und sprang auf. »Auf den Mist mit dem Abschaum!« Sie brüllte und fuchtelte wild mit den Armen, bevor sie erschöpft zusammenbrach und schluchzend und zitternd am Boden liegen blieb.

2

Die erste Woche war schrecklich gewesen.

Viel besser war es noch immer nicht. Sobald sie das Präsidium betrat, vermisste sie die Kinder und ihr schlechtes Gewissen plagte sie. Und wenn sie nach Hause kam und ihre Familie in die Arme schloss, hatte sie das Gefühl, bei der Arbeit keine große Hilfe gewesen zu sein. War ihr Wunsch nach Unabhängigkeit falsch? War der Zeitpunkt verfrüht? Waren die Zwillinge noch zu jung und brauchten ihre Mutter?

Auch der Kompromiss, den sie mit Florian und dem Dienststellenleiter Götze ausgehandelt hatte, war nicht das, was sie sich wünschte. Jessica arbeitete ausschließlich im Innendienst, nur vormittags und nie am Wochenende.

Die Recherche am Computer und die monotone Schreibtischarbeit waren nicht befriedigend. Das machte den Job nicht angenehmer. Trotz stundenlangen Starrens auf den Bildschirm kam man nicht schnell genug zu verwertbaren Ergebnissen. Doch auch diese Arbeit musste getan werden.

»Haben Sie schon etwas herausgefunden bezüglich des Blutwurzel-Anschlags?«

Jessica fuhr erschrocken herum, als ihr Chef völlig unerwartet mit einem schweren Aktenordner unter dem Arm hinter ihr stand und sie ansprach.

»Herr Götze, hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie ein großes Talent dafür haben, sich lautlos anzuschleichen?«, bemerkte Jessica spöttisch und blickte in das schmunzelnde Gesicht des Dienststellenleiters.

»Vielen Dank, Frau Grothe … oh, Verzeihung, Forster, meine ich.« Er legte den Ordner neben ihrer Tastatur ab und setzte sich ungefragt auf die freie Fläche an der Ecke des Schreibtisches. »Jetzt habe ich zwei Forster im Revier. Wie soll ich Sie beide auseinanderhalten?«

Jessica ignorierte seine scherzhaft gemeinte Frage, lächelte aber höflich über seinen prustenden Lachanfall.

Der Blutwurzel-Anschlag, wie ihr Chef ihn nannte, war lediglich eine Anzeige. Der Kunde einer selbsternannten Kräuterhexe fühlte sich von der Dame hintergangen, weil er statt eines Wundermittels nur nutzlosen Schund bekommen habe, wie er behauptete. Nun forderte er sein Geld zurück, doch die Verkäuferin des Tranks weigerte sich standhaft.

»Bisher gibt es in dem Naturheiler-Fall keine beweiskräftigen Erkenntnisse. Aber ich könnte selbst einmal hinfahren und die Kräuterfrau befragen. Es ist nur eine halbe Stunde von hier. Ich würde das in meiner Arbeitszeit problemlos schaffen.«

»Ganz bestimmt nicht! Ich bekomme sonst Ärger mit Ihrem Mann.« Wieder lachte Götze schallend. Heute schien er besonders gute Laune zu haben.

»Was hat mein Mann damit zu tun? Ich würde eine einfache Befragung machen. Völlig ungefährlich.«

»Nein, Frau … Forster.« Ihr Chef schüttelte heftig den Kopf. »Das ist zu riskant. Wenn Ihnen etwas passiert … Sie haben Kinder! Nein! Rufen Sie diese Hexe an. Das geht vom Büro aus ganz prima.«

»Aber Herr Götze …« Jessica sah ihn flehend an. »Ich muss hinfahren, weil …«

»Nein! Sie haben Innendienst. Basta!« Er griff nach dem Ordner und verschwand, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.

»… die Dame kein Telefon hat«, vervollständigte Jessica ihren Satz, seufzte und sah auf die Uhr. Noch drei Stunden bis zum Feierabend. Sie würde im Kriminaltechnischen Labor anrufen und hoffentlich neue Erkenntnisse über die Zutaten der Kräutermischung erhalten. Und dann würde sie Kaffee trinken. Mehr konnte sie nicht tun.

*

»Keine Drogen? Sicher?« Hauptkommissar Forster ging mit dem Telefon am Ohr in seinem Büro auf und ab, blieb schließlich am Fenster stehen und schaute hinaus. Es waren nicht viele Menschen in der Kemptener Innenstadt unterwegs, denn es regnete seit gestern ununterbrochen. »Okay. Was können Sie mir über den Toten sagen? War die von Erwin Buchmann vermutete Todesursache richtig? Ist der Mann erstickt?« Er drehte sich um und ging zu seinem Kollegen Berthold Willig, der von seinem Bildschirm aufsah und auf Anweisungen wartete. Florian griff nach einem Zettel und schrieb den Namen des Opfers darauf. Daneben kritzelte er »Soziale Medien, Finanzen, Familie«.

Berthold nickte.

»Gut. Und der Zeitpunkt des Todes stimmt mit den Aussagen der Freundin überein?«, wandte sich Forster wieder seinem Gesprächspartner am Telefon zu. »Sind alle Spuren ausgewertet? Wissen Sie was? Schicken Sie mir die Ergebnisse zu. Am besten sofort. Danke.« Er legte auf, ging um seinen Schreibtisch herum und ließ sich auf den Bürostuhl fallen, um kurz darauf wieder aufzuspringen. »Ich gehe zu Jessy runter. Bin in ein paar Minuten wieder da.«

Doch seine Frau war nicht an ihrem Schreibtisch.

»Sie ist nach Hause gefahren.« Der junge Polizeianwärter Timo wies mit der Hand auf den leeren Platz. »Ihrem Vater ging es nicht so gut. Sie musste zu den Kindern.« Dann winkte er lachend ab. »Aber das wissen Sie natürlich, Herr Forster. Sie hat Ihnen sicher Bescheid gegeben. Sie holt die verlorenen Stunden am Samstag nach, hat sie gesagt. Götze war einverstanden.«

Florian sah Timo hinterher, als dieser im Flur verschwand.

*

Es dauerte immer seine Zeit, bis die Zwillinge ordentlich verstaut im Kinderwagen lagen. Zum Glück war das Wetter im Oberallgäu nicht so schlecht wie in Kempten. Die Wolken hingen zwar tief, und die Wiesen und Wege waren nass, doch zurzeit regnete es nicht.

Jessica hatte ihr Auto am Ortsrand von Oberstdorf geparkt. Laut der Wegbeschreibung aus dem Internet musste sie die letzten 300 Meter zu Fuß gehen. Der schmale Schotterweg zum sogenannten Hexenhaus war holprig, uneben und matschig. Sie hatte Mühe, die breite Zwillingskarre den leicht ansteigenden Weg hinaufzuschieben, und war völlig erledigt, als sie die alte Holzhütte endlich erreichte.

Noch bevor sie die vom Wetter dunkel oxidierte Messingglocke neben der alten, mit Ornamenten verzierten Holztür betätigen konnte, klingelte ihr Smartphone. Sie kramte, ohne hinzusehen, in ihrer Handtasche nach dem Telefon und bemerkte, dass aus dem kleinen Schornstein auf dem Schindeldach grauer Rauch aufstieg.

»Wo bist du?« Florians Stimme klang aufgebracht.

Die Verbindung war schlecht. Immer wieder knackte es laut oder es rauschte. Jessica ging ein paar Schritte auf dem Weg zurück.

»Ich …«, begann sie, wurde aber abrupt von ihrem Mann unterbrochen.

»Bevor du auch mir eine dumme Geschichte auftischst: Ich habe mit deinem Vater telefoniert. Er sagte, du hast die Jungs abgeholt und wolltest spazieren gehen!«

»Ja, das stimmt.« Jessica beugte sich über den Kinderwagen und vergewisserte sich, dass Elias und Lukas noch schliefen. Hier, etwa 20 Meter von der Hütte entfernt, klappte es mit der Verbindung etwas besser. »Die frische Luft tut den beiden gut.« Sie versuchte, unbeschwert zu klingen, doch ihr schlechtes Gewissen ließ das nicht zu.

»Bei dem Wetter?« Er war wütend. »Warum? Wo seid ihr?«

»Ich wollte einfach mal raus und habe den Spaziergang gleich mit dem Nützlichen …« Weiter kam sie nicht.

Florian fuhr erneut ärgerlich dazwischen. »Und wie kommst du dazu, Götze anzubieten, am Samstag die Stunden nachzuarbeiten? Wir waren verabredet. Scheint für dich nicht so wichtig zu sein!«

Sie schwieg. An den Termin am Wochenende hatte sie nicht mehr gedacht. Ihr Vater hatte sich bereit erklärt, tagsüber ausnahmsweise alle vier Kinder zu betreuen, um Jessica und Florian ein wenig Zeit zu zweit zu verschaffen. Florian hatte extra seine Schicht am Wochenende mit einem Kollegen getauscht.

»Es tut mir leid, Flo. Ich habe unsere Verabredung vergessen.« Jessica blinzelte und wischte sich eine Träne von der Wange.

»Verstehe. Dann wünsche ich dir einen schönen Tag mit den Jungs.« Er legte auf.

Sie schniefte laut und wischte sich mit dem Unterarm über ihre Nase. »Verdammte Scheiße! Das habe ich total verbockt!«

»Das wird schon wieder, Fehl!« Eine Frau mittleren Alters trat neben sie und warf einen Blick in den Kinderwagen. Sie trug Jeans und einen grob gestrickten Wollpullover. Ihre wirren blonden Locken hatte sie notdürftig unter einem karierten Kopftuch gebändigt. »Das sind aber zwei süße Buben. Wollten Sie zu mir? Ich kann Ihnen ein gutes Hausmittel empfehlen, damit der Ehefrieden wiederhergestellt wird.«

Jessica sah sie verwirrt an. »Ähm, eigentlich …«

»Es ist typisch für junge Eltern. Die gestresste Mutter kann körperliche Nähe nur zu ihrem Baby zulassen. Väter sind dann oft frustriert. Aber ich habe Tropfen, die … sagen wir es mal so … die permanent unbefriedigte Lust, das aufgestaute Verlangen des benachteiligten Partners dämpfen. Gut, es steigert den Appetit, doch wenn Ihr Mann …«

»Benachteiligter Partner? Was soll das heißen? Außerdem ist bei mir und meinem Mann alles in bester Ordnung.« Die Frau brachte Jessica vollkommen aus dem Konzept. Was fiel dieser Kräuterhexe ein, ungefragt Ratschläge zu geben?

Die blonde Frau schob eine verirrte Haarsträhne unter das Kopftuch zurück und lächelte entwaffnend. »Dann vielleicht etwas für die Buben? Meine Arnika-Kräutersalbe ist das beste Mittel gegen Wundsein. Kommen Sie doch bitte herein. Ich habe gerade einen Tee aufgesetzt. Wenn Sie auch einen möchten …« Sie machte eine einladende Bewegung mit dem rechten Arm und deutete auf die nun offene Holztür der Hütte.

Jessica zögerte und sah sie misstrauisch an.

»Keine Angst, es ist ganz normaler Kräutertee. Er macht nichts außer guter Laune bei diesem nasskalten Wetter. Und er schmeckt köstlich.«

Wenig später saß Jessica mit dem kleinen Lukas auf dem Arm in der warmen Stube der Kräuterhexe und schaukelte mit der freien Hand behutsam den Kinderwagen, in dem Elias hoffentlich gleich wieder einschlief. In der Hütte roch es nach Kräutern, alten Möbeln, frischen Blüten, süß wie Honig, und leicht rauchig, aber nicht unangenehm nach dem Holz, das knisternd im Ofen verbrannte. Überall standen Tiegel, Glasbehälter und Tontöpfe in Regalen. Von der Decke hingen getrocknete Blumen und verschiedene Wildkräutersträuße. Genau so hatte sie sich ein Hexenhaus vorgestellt.

»Sie sind also von der Kripo.« Die Kräuterhexe, die sich Jessica als Klarissa Jacobi vorgestellt hatte, goss den frisch aufgebrühten Tee in zwei Keramiktassen. »Diese Angelegenheit ist wirklich ärgerlich. Und vollkommen unnötig. Herr von Bodelsbach übertreibt maßlos.«

»Der Geschädigte behauptet, Sie hätten ihm erstens nicht das richtige Mittel für seine Beschwerden verschrieben und ihn zweitens nicht über die Nebenwirkungen aufgeklärt.«

Klarissa Jacobi schmunzelte, stellte die Kanne mit dem Tee auf den Tisch und schob Jessica eine der Tassen hinüber. »Wissen Sie, Frau Hauptkommissarin Forster, welches Mittel ich ihm empfohlen und verkauft habe?«

»Ähm, ich weiß nicht mehr, wie es heißt, aber es enthielt unter anderem Bischofsmütze und irgendetwas mit Burzel oder so.«

»Erd-Burzeldorn«, korrigierte die Frau. »Und vor allem Ginkgo. Das Mittel soll die Potenz steigern, wirkt jedoch nur unterstützend. Also nur, wenn kein medizinisches Problem vorliegt.«

»Herr von Bodelsbach wollte … er wollte …« Jessica wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Das Thema war ihr peinlich.

Doch Frau Jacobi nahm kein Blatt vor den Mund. »Er wollte seine Manneskraft stärken. Der Bodelsbach hat Probleme, seiner sehr viel jüngeren Frau gerecht zu werden. Er ist Mitte 60, sie erst Ende 20. Wenn ein Partner mehr Sex erwartet als der andere, kann das zur Belastung werden. Womit wir wieder bei unserem anfänglichen Punkt wären. Haben Sie vielleicht doch Interesse an einem Mittelchen für Ihren Mann?«

»Nein. Der braucht sicher kein Potenzmittel. Herrgott, können wir bitte beim Thema bleiben?«

»Ich dachte bei Ihrem Mann auch eher an das Gegenteil. Nur bis Sie, Frau Forster, wieder …«

»Schluss jetzt! Mein Liebesleben geht Sie überhaupt nichts an!« Jessica schnaubte wütend, atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. »Warum haben Sie der Frau von Herrn Bodelsbach nicht diesen Lustkiller verschrieben, den Sie mir andrehen wollen? Dann wären alle Probleme gelöst gewesen«, bemerkte Jessica schnippisch.

»Das habe ich auf Wunsch des Kunden tatsächlich getan. Scheinbar hat er seiner Frau heimlich etwas untergemischt. Aber meine Kräuter wirken nur unterstützend. Es sind keine Allheilmittel.«

»Ist denn die Frau zu Schaden gekommen? Davon stand nichts in den Akten.« Konnte es sein, dass die Ehefrau allergisch reagiert oder Vergiftungserscheinungen gezeigt hatte?

»Seine junge Frau ist ihm fremdgegangen«, erklärte Frau Jacobi amüsiert. »Er gibt mir die Schuld daran. Das Mittel, das er ihr heimlich verabreicht hat, sei unwirksam gewesen und habe das Gegenteil bewirkt. Der bekommt sein Geld nicht von mir zurück, da kann er Gift drauf nehmen!« Sie hob ihre Teetasse an und prostete ihrem Gast zu. »Wohl bekomm’s, Frau Hauptkommissarin!«

3

Das Einzige, was sie zu dem Mordfall auf der Hohenschwandalpe bei Oberstaufen hatten, war die Aussage einer scheinbar verwirrten jungen Frau, die im Dunkeln nicht mehr gesehen hatte als ein mannsgroßes Wesen mit Fell, Hörnern und roten Augen. Es gab keine weiteren Zeugen. Die Alibis der Wirtsleute und Gäste aus der Pension im Ort, in der das Paar gewohnt hatte, waren wasserdicht. Und außer ihnen hatte niemand gewusst, dass die beiden die Nacht in der Hütte verbringen wollten. Nach aktuellem Ermittlungsstand waren der Überfall und die Tötung zufällig. Allerdings widersprach dieser Theorie die Tatsache, dass der Mörder nur den Mann getötet, die Frau aber unversehrt gelassen hatte. Oder vielleicht doch nicht?

Florian Forster fand keine weiteren Hinweise im Umfeld des Toten oder seiner Freundin. Telefonate mit Freunden und Familienangehörigen der beiden waren bisher ergebnislos geblieben. Das Paar, das im Oberallgäu seinen Urlaub verbracht hatte, kam aus Hessen und hatte im nächsten Jahr heiraten wollen.

»Ich glaube, ich hab’s.« Kommissar Berthold Willig sah von seinem Bildschirm auf und winkte seinen Chef heran. »Schau, Florian, diese haarige Ziege gibt es wirklich.«

Als Florian über Bertholds Schulter auf den Bildschirm blickte, starrte ihm ein weißgesichtiges Wesen mit feuerroten Augen und pechschwarzer Ganzkörperbehaarung entgegen. Es hatte Ähnlichkeit mit den Klausen, diesen furchteinflößenden Gestalten, die nach altem alemannischen Brauch am Nikolaustag durch die Straßen zogen und mit Ruten jeden verprügelten, der nicht schnell genug das Weite suchte. Die Gestalt auf dem Bildschirm war aber kein verkleideter Mensch, sondern eine Zeichnung. Das Wesen sah tatsächlich aus wie eine Ziege.

»Was ist das?«

»Es passt perfekt!« Berthold strotzte vor Stolz über seine Entdeckung. »Das ist der Geißbock, der der Sage nach auf der Hohenschwandalpe sein Unwesen treibt. Faszinierend, oder, Chef?«

»Berthold ist um Längen besser beim Recherchieren als ich«, gab Jessica am Abend neidlos zu, als Florian ihr von dem sagenumwobenen Geißbock erzählte, der immer nach dem Tag des heiligen Michael, also nach dem 29. September, auftauchte, Übernachtungsgäste der Alphütte erschreckte und auf den Misthaufen warf. So stand es in den Überlieferungen aus dem 19. Jahrhundert.

Der junge Mann war am 30. September gestorben. Die ganze Angelegenheit war sehr mysteriös.

»Vielleicht solltest du die Kräuterhexe befragen, bei der ich neulich war. Sie hatte viele Bilder von Gnomen, Fabelwesen und anderen Sagengestalten an den Wänden. Vielleicht kennt sie sich …« Jessica verstummte augenblicklich, als Florian ärgerlich knurrte.

»Ganz schlechtes Thema«, warnte er trocken.

Doch Jessica ignorierte seine Laune. Sie hatte sich für ihre Schwindeleien und die vergessene Verabredung mehrfach entschuldigt. Irgendwann war es auch mal genug. »Frau Jacobi, die Kräuterhexe, hat mir für die Zwillinge eine Wundsalbe mitgegeben. Die ist großartig! Die Frau versteht ihr Handwerk.«

»Die Frau versteht, wie man Leute manipuliert und ihnen das Geld aus der Tasche zieht. Was hast du für die Salbe bezahlt?«

Jessica zögerte.

»Schon gut. Ich will es nicht wissen, doch ich vermute, die Salbe war mindestens doppelt so teuer wie jede herkömmliche Wundcreme aus dem Supermarkt.«

»Aber sie ist auch mindestens doppelt so wirksam und viel verträglicher«, warf Jessica ein. »Für dich hat sie mir auch etwas mitgegeben.«

Florian hob fragend eine Augenbraue und sah sie misstrauisch an. »Ich brauche definitiv keine Wundsalbe.«

Ihr schallendes Lachen schreckte den kleinen Elias auf, der auf ihrem Schoß saß, doch er seufzte nur einmal tief und schlief sofort wieder ein.

»Es sind einfache Kräuterbonbons mit Honig. Die Tropfen, die dich vergessen lassen, dass du ein Mann mit gewissen Bedürfnissen bist, habe ich dankend abgelehnt.« Ihre Worte waren scherzhaft gemeint, aber sie sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er alles andere als belustigt war.

Nach einer kurzen Gesprächspause, in der niemand etwas sagte, nickte Florian. »Wenn du nichts dagegen hast, verschwinde ich heute mal für ein paar Stunden. Ewe hat gefragt, ob ich mit ihm Billard spielen gehe. Du kommst sicher alleine klar und schläfst vermutlich wieder bei den Zwillingen. Vielleicht übernachte ich bei Ewe. Wir sehen uns morgen.«

Er verließ das Haus und kam erst in den frühen Morgenstunden zurück.

4