Hüttentod - Mia C. Brunner - E-Book
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Hüttentod E-Book

Mia C. Brunner

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Beschreibung

Den Urlaub in den Allgäuer Alpen bei Oberstdorf hat Hauptkommissar Forster sich anders vorgestellt. Erst der schwere Lawinenabgang, dann die Leiche eines Professors auf der eingeschneiten Berghütte. Hat einer der fünf Studenten in der Herberge etwas mit seinem Tod zu tun? Und wie ist es möglich, dass viele Kilometer entfernt zur gleichen Zeit ein zweiter Mord geschieht, bei dem alle Indizien ebenfalls auf diese fünf jungen Menschen hindeuten? Als Forster der Lösung näherkommt, gerät er in Lebensgefahr …

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Mia C. Brunner

Hüttentod

Allgäu-Krimi

Zum Buch

Eingeschneit Ein massiver Lawinenabgang in den Allgäuer Alpen schneidet ein Oberstdorfer Hotel komplett von der Außenwelt ab. Hauptkommissar Forster und seine Frau Jessica hatten sich ihren Winterurlaub anders vorgestellt. Als wäre das nicht genug, finden fünf Studenten auf einer eingeschneiten Berghütte die Leiche ihres Professors. Die Ermittlungen, die ganz ohne kriminaltechnische Hilfsmittel auskommen müssen, gestalten sich schwierig. Die fünf Verdächtigen versuchen, Forster mit unvollständigen Aussagen und ständig wechselnden Alibis zu verwirren. Als der Hauptkommissar der Lösung des Falles näherkommt, kostet ihn ein heimtückischer Anschlag fast das Leben.Mehrere Kilometer entfernt wird Forsters Kollege Berthold Willig zur gleichen Zeit zu einem anderen Mordfall gerufen. Wie ist es möglich, dass alle Indizien dieses Tötungsdeliktes auf die fünf jungen Menschen in der Hütte hindeuten? Oder gibt es einen unbekannten Täter, der sich bisher geschickt dem wachsamen Blick der Ermittler entziehen konnte?

Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit fast 20 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimi-Erfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. »Hüttentod« ist ihr achter Allgäu-Krimi im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Markus Trienke auf Flickr creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

ISBN 978-3-7349-3020-1

1

Sie hatte die dicke Wollmütze bis über die Augenbrauen hinuntergezogen. Der knallrote Schal bedeckte einen Großteil des Gesichts. Nur die Augen schauten heraus. Ihr Atem ließ den Stoff vor ihrem Mund feucht werden, doch er wärmte sie so ausgezeichnet, dass sie das unangenehme Gefühl der verschwitzten Haut gern in Kauf nahm.

Die milden Temperaturen vom Monatsanfang hatten vor zwei Tagen umgeschlagen. Tagsüber zeigte das Thermometer kaum mehr als zwei Grad. Nachts fielen die Werte weit in den Minusbereich.

Auf den Dächern der Buden vor dem Kemptener Rathaus funkelte der Schnee. Er war in der letzten Nacht zu Eis gefroren und verlieh dem Markt neben all den hellen Lichtern der Laternen einen himmlischen Glanz. Die köstlichen Düfte nach Süßem, Maroni und Bratwurst ließen Weihnachtsmüdigkeit gar nicht aufkommen. Wer sich bei all dem Glanz und der friedvollen Glückseligkeit nicht auf die bevorstehenden Festtage freute, hatte kein Herz.

Am Glühweinstand drängte sie sich an einer Gruppe junger Leute vorbei und stellte sich zu einem Mann an den Stehtisch, der sich ganz am Rand neben der Bude befand. »Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte sie, sah sich ängstlich um und lockerte den Schal vor ihrem Gesicht.

Der Mann, der auf sie gewartet hatte, griff nach ihren Händen und drückte sie sanft. »Mach dir keine Sorgen. Hier kennt uns niemand«, versicherte er ihr und lächelte beruhigend. »Von diesem Treffen wird keiner erfahren.«

Sie seufzte gequält. »Es ist mir regelrecht peinlich, dich um Hilfe zu bitten, aber ich wusste nicht, wen ich sonst fragen könnte.«

Sie schaute ihn so hilflos an, dass er nicht anders konnte, als liebevoll ihre Wange zu streicheln. Er erschrak über diese viel zu intime Geste, zog abrupt seine Hand weg und entschuldigte sich. Beschämt sah er zu Boden.

»In meiner Verzweiflung habe ich sofort an dich gedacht. Du hast mir immer das Gefühl gegeben, ich könne dir vertrauen.« Sie berührte sachte seinen Oberarm.

Als er in ihr Gesicht blickte, bemerkte er ein mildes Lächeln, doch ihre Augen wirkten so niedergeschlagen, dass es ihn innerlich fast zerriss. »Du darfst auf gar keinen Fall mitfahren, hörst du?«, beschwor er sie flehend. »Bitte versprich mir, dass du mein Geld akzeptierst. Ich weiß, das war nicht abgesprochen, aber du musst die Stadt verlassen. Am besten noch heute.« Auf den Tisch legte er einen weihnachtlich bedruckten Jutebeutel und schob ihn zu ihr hinüber. »Es ist genug für die ersten paar Monate«, sagte er. »Ich bin immer für dich da. Vergiss das nicht.«

Sie nahm den Beutel und schaute hinein. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Das ist viel zu viel! Das kann ich nicht annehmen. So eine große Summe kann ich niemals zurückzahlen!«

»Behalte es. Bitte.«

Nach kurzem Zögern nickte sie. »Es ist mir unangenehm, dich um einen weiteren Gefallen bitten zu müssen, aber würdest du mit der Anzeige bis nach den Feiertagen warten? Es macht kaum einen Unterschied, ob du sofort zur Polizei gehst oder erst in ein paar Wochen. Ich brauche die Zeit.«

»Wozu? Du bist in Gefahr, wenn du noch länger wartest.« Er legte seine Hand auf ihren Unterarm und sah sie eindringlich an. »Verlass ihn! Noch heute.«

»Gefährdet bin ich nur, wenn er etwas von meinem oder von deinem Vorhaben herausbekommt. Bisher ist mein Mann ahnungslos. Ich war vorgestern bei einem Anwalt, der mich vertreten will. Er heißt Manfred Sonnleitner. Den Umschlag mit dem unterschriebenen Formular für den Mandatsauftrag habe ich seitdem immer bei mir, kann ihn aber noch nicht abschicken.« Sie zog einen frankierten Brief aus der Manteltasche, legte ihn auf den Tisch. »Ich muss zuerst alles andere regeln. Das verstehst du doch, oder? Das bedeutet, dass ich mit den anderen in die Weihnachtsferien fahre, damit er keinen Verdacht schöpft. Bitte, warte noch mit der Anzeige.«

Nach kurzem Zögern nickte er. »Gut, dann nimm das hier aber auch. Ich wollte es dir nur im Notfall geben. Jetzt fühle ich mich sicherer, wenn du sie bei dir trägst.« Er sah sich verstohlen um, zog eine Schachtel aus der Umhängetasche, die an seiner Schulter hing, und schob sie zu ihr hinüber.

»Was ist da drin? Hoffentlich nicht weitere Geldbündel.«

»Erschrick bitte nicht.« Er hatte sich nah zu ihr hinübergebeugt und flüsterte direkt vor ihrem Gesicht: »Darin ist eine Waffe. Es ist meine. Bitte nimm sie zu deinem Schutz.«

»Du fürchtest tatsächlich um meine Sicherheit«, war alles, was sie sagen konnte. »Ich hoffe, Dr. Manfred Sonnleitner ist ein guter Anwalt. Oder meinst du, ich soll mir lieber einen anderen suchen?«, fragte sie unsicher, straffte schließlich ihre Schultern, hob das Kinn und fügte tapfer hinzu: »Ich werde den Anwaltsbrief in den nächsten Tagen einwerfen. Mit deiner Hilfe bin ich stark genug für diesen Schritt.«

Bevor sie den Umschlag in die Manteltasche zurückschieben konnte, griff er danach und lächelte aufmunternd. »Lass mich das übernehmen. Ich werde ihn noch heute einwerfen. Mit der Anzeige warte ich bis zum neuen Jahr. Wenn du mich brauchst, ich bin jederzeit für dich da.« Er strich ihr erneut über die Wange. »Und ruf aus dem Hotel an, damit ich weiß, dass es dir gutgeht.«

Sie fiel ihm um den Hals und ließ sich von ihm ganz fest halten. Als er ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte, grinste sie siegessicher. Wenn er wüsste, was wirklich in diesem Umschlag an Manfred Sonnleitner war … Er würde ihr den Beutel aus den Händen reißen und das Weite suchen.

*

Die ganze Nacht hindurch hatte es nicht aufgehört zu schneien. Nun erstrahlte der Himmel in einem leuchtenden Blau.

Der Blick aus dem Küchenfenster in den Garten hatte etwas Magisches. Vom Rand der Scheibe wuchsen wundersame Eisblumen zur Mitte und ließen nur noch eine kleine Öffnung frei, durch die man die schneebedeckten Büsche und Sträucher betrachten konnte. Sie glitzerten im morgendlichen Sonnenschein wie tausend winzige Sterne.

Draußen hupte ein Auto.

»Sie sind da. Bist du fertig?«, tönte es aus dem Obergeschoss.

Jessica trank den letzten Schluck vom heißen Tee und stellte die Tasse in die Geschirrspülmaschine. »Ich komme«, rief sie, nahm sich aber die Zeit und blieb einen kurzen Moment regungslos mitten im Raum stehen. Nach den lauten und fröhlichen Weihnachtsfeiertagen hatte die Stille etwas Fantastisches, kaum Greifbares. Eigentlich war dieses Haus nie leise. Wenn die Kinder nicht lärmten, lief der Fernseher in der Einliegerwohnung ihres Vaters oder das Radio in der Küche. Ansonsten fuhr draußen der Müllwagen vorbei, oder der Nachbar mähte den Rasen. Irgendeiner hing immer am Telefon, polterte die Treppe hinauf oder herunter, sang, stritt, duschte oder knallte mit einer Tür.

Jetzt war nicht einmal Vogelgezwitscher zu hören. Sie nahm einen tiefen Atemzug, als könnte sie so die Stille in sich aufsaugen.

Bis es erneut hupte. Gleich dreimal hintereinander.

»Herrgott«, fluchte Florian, riss die Haustür auf und brüllte: »Wir kommen! Mach gefälligst nicht so einen Krach!«

»Die Tasche muss auch noch mit«, sagte Jessica, während sie in die warme Winterjacke schlüpfte. »Ich hoffe, ich habe nichts vergessen.«

»Das ist unmöglich«, entgegnete Florian sarkastisch. »Du nimmst den Inhalt unseres kompletten Kleiderschranks mit.« Er war schon über und über mit Gepäckstücken bepackt.

Jessica lachte, griff nach der letzten Reisetasche, die noch auf dem Fußboden stand, und schob ihren Mann durch die Haustür nach draußen. »Im Winter braucht man halt mehr Klamotten als im Sommer. Da reichen ein Bikini und ein paar T-Shirts. Um diese Jahreszeit trägt man mehrere Schichten übereinander.«

Sie stapften durch den Schnee zur Straße. Vor der Einfahrt stand Ewe mit seinem Kombi, stemmte die Fäuste in die Hüfte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wo soll ich den ganzen Krempel noch unterbringen? Warum müsst ihr Weiber immer so viel mitschleppen?«

»Moment!« Die Beifahrertür schwang auf, und Paula stieg aus dem Auto. »Der meiste Kram gehört doch euch Männern. Die Skier, die Stiefel und die Helme. Der halbe Kofferraum ist voll mit dem Zeug. Hallo, Jessy«, wandte sie sich an ihre beste Freundin und umarmte sie. »Bin ich froh, wenn die zwei auf der Piste sind und wir uns endlich einen leckeren Glühwein vor dem Kamin gönnen können. Sind die Kinder gut weggekommen?«

Im Sommer war der Weg nach Oberstdorf in einer guten halben Stunde zu schaffen. Heute stellten die heruntergerieselten Schneemassen die Autofahrer vor Herausforderungen. Es schneite wieder. Die Hauptstraße wurde seit 4 Uhr in der Früh im 20-Minuten-Takt geräumt. Für einen kurzen Zeitraum war der Weg weder spiegelglatt noch matschig, wenn man direkt hinter einem der Schneepflüge fuhr. Sobald man jedoch auf eine Nebenstraße abbog, mussten sich die Autos durch zentimeterdicken Schnee kämpfen. Die Fahrt war kein Vergnügen.

Hinter Oberstdorf waren sich zumindest die Frauen auf der Rückbank einig, lieber umzukehren. Sie meinten, dass es lebensgefährlich sei, auf der schmalen Serpentinenstraße den Berg zum Hotel hinaufzufahren. Man sah im Schneegestöber kaum die langen orangefarbenen Stangen, die den Straßenrand markierten.

Ewe lachte. »Ich kann verstehen, dass Jessy Angst hat. Sie kommt aus dem Norden. Da gibt es keinen Schnee«, behauptete er. »Aber Paula, du musst das als echte Allgäuerin doch gewohnt sein. Das bisschen Weiß!«

In diesem Moment drehten die Reifen des Kombis auf einer spiegelglatten Fläche durch, der Wagen stellte sich quer und rutschte ein kleines Stück von der Straße in einen aufgetürmten Schneehaufen.

»Hoppla!«

»Wie wär’s mit Schneeketten?«, schlug Florian gelassen vor und drehte sich zu den Frauen um. »Alles okay bei euch?«

Paula und Jessica nickten synchron, brachten aber keinen Ton heraus.

Der mehrtägige Ausflug war seit Wochen geplant. Die Kinder waren seit dem gestrigen zweiten Weihnachtsfeiertag alle untergebracht. Svenja durfte ihre Freundin und deren Eltern nach Österreich in den Skiurlaub begleiten. Ihr Bruder Tobias war mit seinem Opa Herbert nach Hamburg gefahren. Sie besuchten einen alten Schulfreund von Jessicas Vater. Die Zwillinge Elias und Lukas wurden abwechselnd von Florians Mutter Maria und seinem Vater Franz-Xaver sowie dessen zweiter Frau Regina betreut. Da Florian gern mit seinem Freund Ewe Ski fahren wollte, hatte Jessica beschlossen, Paula ebenfalls mitzunehmen, damit sie ein wenig Gesellschaft hatte, wenn die Männer auf der Piste waren. Ob die beiden überhaupt fahren konnten, wenn es weiterhin so schneite, war ungewiss. Aber das Hotel, das sie ausgesucht hatten, hatte ein schönes Appartement mit Kamin und drei angrenzenden Schlafzimmern. Die noch höher liegende, zum Hotel gehörende Berghütte, die sie ursprünglich hatten mieten wollen, war leider schon reserviert gewesen. Das Essen des Hotels wurde in den Online-Bewertungen in den höchsten Tönen gelobt, und es gab zahlreiche Wanderrouten, die direkt vor Ort vorbeiführten und auch für den Winter geeignet waren. Jessica freute sich seit Tagen auf den Kurzurlaub. Nun mussten sie nur heil ankommen.

Von oben kam ihnen im Schneckentempo ein Auto entgegen und hielt an. Der Fahrer kurbelte das Fenster des Oldtimers herunter. »Brauchen Sie Hilfe?«

Paula öffnete ihr Fenster einen kleinen Spalt. Es war eisig draußen, und im warmen Auto trugen sie keine Jacken. »Nein, vielen Dank. Unsere Männer bekommen das sicher alleine hin. Oder?« Das letzte Wort brüllte sie, um sowohl den laufenden Motor des angehaltenen Wagens als auch den aufkommenden Wind zu übertönen.

»Wir kommen klar«, rief Florian, der inzwischen mit Ewe die Schneeketten montierte, und wischte sich mit den behandschuhten Händen den Schnee aus dem Gesicht. »Ist es noch weit bis zum Hotel?«, wollte er wissen.

»Nach zwei Kurven und etwa 500 Metern können Sie das Haus bereits sehen«, sagte der Mann. »Oben ist es auch nicht mehr so steil und rutschig.« Er hob die Hand zum Abschied, wünschte ihnen einen schönen Aufenthalt, schloss das Fenster und fuhr weiter. Schon nach wenigen Metern konnte man seine roten Rücklichter durch das Schneegestöber nicht mehr sehen.

Es dauerte eine Weile, bis die Männer die Ketten an den Vorderreifen angebracht hatten und total verfroren und über und über mit Schnee bedeckt ins Auto stiegen.

Endlich hatte der Kombi wieder ordentlich Grip. Ewe gab Gas und nickte zufrieden. »Leute, in Kürze beginnt unser Urlaub!«

2

Die schwere Holztür knarzte laut beim Öffnen.

Im Inneren des über 300 Jahre alten Hauses roch es nach Harz und kalter Asche. Im langen Flur mit den alten Dielen war es nur unwesentlich wärmer als draußen. Es war klamm und ungemütlich.

»Der Ofen steht im zweiten Raum, hat Herr Sonnleitner gesagt. Wir heizen erst einmal ordentlich ein. Wer hilft mir, das Holz aus dem Schuppen zu holen?«

Über den schier unbändigen Tatendrang ihres Studienkollegen Valentin konnte Davina Hollfeld nur den Kopf schütteln. Wie über die ganze Situation, in der sie sich befand. Die Studienreise entpuppte sich schon jetzt als totales Fiasko. Was sollten sie in dieser Bruchbude? Die nächsten Tage würden schrecklich werden.

»Herrschaften! Sie kümmern sich um das Feuer, und die Damen um das Mittagessen. Wenn Sie fertig sind, geben Sie mir bitte Bescheid.«

»Und was machen Sie, Professor Engel?«

»Ich werde mich auf mein Zimmer im ersten Stock begeben und ein wenig lesen«, brachte der alte Herr gequält heraus. Seine Stimme klang heiser und krächzend. Er war in einen dicken Schal gewickelt, der ihm bis übers Kinn reichte, und hatte die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Seine Nase war wund und rot vom Schnupfen. Die Brille war beschlagen, obwohl es hier drinnen nur unwesentlich wärmer war als im Freien. »Ganz schön kalt hier.« Seinen Sätzen folgte ein heftiger Hustenanfall.

»Sie hätten im Hotel bleiben sollen, Herr Professor«, sagte Emma Pfaff besorgt. »Kann ich Ihnen etwas aufs Zimmer bringen?«

»Wenn ich im Hotel geblieben wäre, hätten Sie den ganzen Spaß allein gehabt«, lachte er blechern und hustete erneut. »Einen Tee bitte, Emma. Das wäre bezaubernd.«

*

Die Schmankerlstube – so hieß der gemütliche Raum, in dem das Abendessen serviert wurde – war komplett mit hellem Holz vertäfelt. In der Mitte, ganz zentral im Zimmer, stand ein moderner Ofen auf einem Sockel, der von allen vier Seiten durch feuerfestes Glas einen Blick auf das glühende Holz freigab. Neben der großen Doppelschiebetür zum Foyer war ein riesiger Christbaum aufgebaut, an dem die roten und goldenen Kugeln mit der elektrischen Lichterkette um die Wette funkelten. Jeder einzelne Tisch war mit kleinen Weihnachtsgestecken aus Tanne und Christrosen geschmückt. Auch zu späterer Stunde lud der heimelige Raum zum gemütlichen Beisammensein ein.

Ein gemauerter Turm an der südöstlichen Seite des Hotels, der bis über das Dach hinausragte, schloss sich direkt an den Speisesaal an. In der kleinen, ovalen Nische, die dadurch entstand, waren eine weich gepolsterte Bank und ein runder Tisch eingelassen, umrahmt von Sprossenfenstern.

Draußen war es inzwischen so dunkel, dass man nicht einmal mehr die wild tanzenden Schneeflocken vor den Fenstern sehen konnte. Doch der Wind pfiff gehörig um die Häuserecken und übertönte manchmal sogar das Knistern der brennenden Scheite im Kamin.

Jessica saß seit einer halben Stunde mit Paula in dieser Nische und genoss die Zeit mit ihrer besten Freundin. Es hatte in den letzten Monaten kaum Momente gegeben, in denen sie ohne Jessicas Zwillinge aufeinandergetroffen waren.

»Wo wart ihr so lange?«, rief Paula vorwurfsvoll, als Florian und Ewe endlich kamen. Dann entdeckte sie die Weinflasche, die Florian in der Hand hielt. Ihre Stimmung änderte sich schlagartig. »Oh, wie schön! Ihr habt was Leckeres mitgebracht.« Sie schnappte sich die Flasche und goss allen ein.

»Ein Goldmuskateller aus Südtirol. Die Wirtin meint, der schmeckt auch Nicht-Weintrinkern.« Damit meinte Florian sich selbst. Er zog ein gutes Bier jedem Wein vor.

»Habt ihr etwas übers morgige Wetter erfahren? Klappt es mit dem Skifahren?«, wollte Jessica wissen.

Die einzigen Innovationen, über die das Hotel verfügte, waren ein Festnetzanschluss und ein Faxgerät. Sogar der Fernseher im angrenzenden Aufenthaltsraum hatte nur fünf Programme. Hier oben hatte man mit einem Smartphone keine Chance. Wenn man etwas weiter den Berg hinaufging, war es im Sommer bei klarem Himmel mit viel Glück hin und wieder möglich, eine Nachricht zu versenden. Die Wirtsleute bekamen die wichtigen Informationen übers Wetter oder anstehende Lieferungen telefonisch direkt aus dem Tal.

»Heute Nacht zieht ein Sturm auf«, berichtete Ewe. »Herr Sonnleitner sagte, wir hatten Glück, dass wir heute schon angereist sind. Morgen ist die Straße zum Hotel vermutlich nicht mehr befahrbar. Er kommt jetzt schon kaum mit dem Schneeräumen auf dem Parkplatz nach.«

»Hat das Ehepaar Sonnleitner denn keine Hilfe? Die beiden sind um die 60 Jahre alt. Schaffen die das, den ganzen Hotelbetrieb samt der Hütte weiter oben allein aufrechtzuerhalten?«, sinnierte Paula und sah fragend in die Runde.

»Soviel ich weiß, helfen Sohn und Schwiegertochter mit, aber die sind gestern in den Urlaub gefahren«, berichtete Ewe, der sich lange mit dem Hotelier unterhalten hatte.

»Und ist der Sturm morgen durch? Könnt ihr auf die Piste?«, wechselte Jessica das Thema.

Ewe schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ski fahren ist nicht. Wandern auch nicht«, bestätigte Florian, nippte vorsichtig an seinem Weinglas, brummte zufrieden und trank einen großen Schluck.

»Wenn es die nächsten Tage so weiterschneit, kommen wir dann an Neujahr heim?«, fragte Jessica und sah besorgt aus dem Fenster, obwohl es draußen stockfinstere Nacht war und man nichts erkennen konnte.

Florian legte den Arm um seine Frau und zog sie näher zu sich. »Die Weinvorräte sind kurz vor Weihnachten aufgestockt worden, sagt Frau Sonnleitner. Wenn wir wider Erwarten länger hierbleiben müssen, macht das gar nichts. Verdammt lecker, das Zeug. Findet ihr nicht auch?«

3

Der Mann am Kamin schwenkte zufrieden ein Glas mit goldgelbem Cognac, roch genussvoll daran, lächelte und stellte das Getränk auf dem Sims ab, ohne davon getrunken zu haben. Dann trat er an das wandhohe Bücherregal neben der Tür zum Esszimmer und fuhr langsam mit dem Zeigefinger über die edlen Buchrücken, bis er fand, wonach er suchte. Er zog das Exemplar heraus, lehnte sich rücklings gegen den Türrahmen und begann zu lesen.

»Guten Abend, Friedrich!«, grüßte ihn jemand vom Durchgang zum Flur.

Erschrocken schlug er das Buch zu und fuhr herum. »Du?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie bist du reingekommen?« Er war allein, niemand sonst war im Haus, der seinem Besucher die Tür hätte öffnen können. Seine Frau verbrachte den Winter wie in jedem Jahr auf Teneriffa. »Was machst du hier? Die Haustür war abgeschlossen«, fügte er unnötigerweise hinzu.

Der Besucher zog die linke Hand aus der Hosentasche und hielt einen Schlüsselbund in die Höhe.

»Woher hast du …?«

Der Eindringling seufzte so laut, dass Friedrich schlagartig verstummte. Er legte das Buch neben das Cognacglas auf den Kaminsims und wich langsam ein paar Schritte zurück. Der anfängliche Schrecken war erst Verwunderung gewichen und entwickelte sich nun zu einer ausgewachsenen Panik. Das alles hier war surreal. »Wieso machst du …?«

»Du stellst immer die falschen Fragen, Friedrich. Das sage ich dir schon seit Jahren, aber du willst einfach nicht zuhören«, fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. Er wirkte gelassen, trotz der Anspannung, die in der Luft lag. »Frag mich, was ich mit dir tun werde. Ob du den nächsten Sonnenaufgang mit mir gemeinsam erleben wirst. Oder ob ich mir ganz allein die kalte Winterluft ins Gesicht blasen lassen werde, während ich durch den herrlichen Neuschnee in eine traumhafte Zukunft gehe.«

Friedrich schüttelte so zaghaft den Kopf, dass man es kaum wahrnahm.

»Du willst nicht fragen?« Der Eindringling lächelte überheblich. »Irgendwie verstehe ich das sogar. Wenn man die Antwort nicht hören will, darf man nicht um eine Erläuterung bitten.« Er drehte sich um und verschwand im Flur. Es war, als hätte er sich urplötzlich in Luft aufgelöst. Kein einziges Geräusch war mehr zu hören. Nur die glühenden Holzscheite im Kamin knisterten.

Der Hausherr schlich zur Tür und warf einen Blick in den Flur, seine Hände zitterten.

Niemand war zu sehen.

Einen kurzen Augenblick war es, als hätte Friedrich sich diese Begegnung nur eingebildet. So abwegig die Erklärung war, es war die einzig logische Möglichkeit. Man konnte nicht zur selben Zeit an zwei Orten sein. Sein Verstand hatte ihm einen Streich gespielt. Er war überarbeitet, der Cognac auf dem Sims war bereits sein dritter. Hatte er halluziniert?

Er ging zu seinem Schreibtisch unter dem Fenster, griff nach seinem Smartphone und rief die eingegangenen Gespräche auf. Vor nicht einmal einer halben Stunde hatte er dieses Telefonat geführt. Es war unmöglich, in so kurzer Zeit aus Oberstdorf bis zu ihm zu fahren. Erst recht nicht bei diesem unsäglichen Schneesturm, der draußen wütete. Er hatte sich alles nur eingebildet. So musste es gewesen sein. Er seufzte erleichtert, nur um kurz darauf vor Schreck zu erstarren.

Zuerst nahm er den warmen Hauch in seinem Nacken wahr. Dann hörte er die Stimme flüstern: »Unvollkommene Perfektion ist das vollkommene Alibi! Hast du das gewusst?«

Bevor er sich umdrehen konnte, legte sich etwas um seinen Hals und raubte ihm die Luft. Reflexartig griff er mit beiden Händen nach der unerbittlichen Schlinge, spürte weichen Stoff unter den Fingern und versuchte verzweifelt, sich aus der tödlichen Gefahr zu befreien. Immer enger schnürte sich das Tuch. Das weiche Material wurde zu einem harten, unnachgiebigen Strick. Er bekam die Finger nicht dazwischen, konnte sich trotz Aufwendung aller Kraft nicht aus dieser Situation retten. Es war zwecklos. Er konnte nicht atmen, nicht schreien, nicht mehr denken.

In dem Moment, als er ohnmächtig zu werden drohte, löste sich die Fessel um seinen Hals. Er hustete, verschluckte sich an seinem eigenen Speichel und sog gierig Luft in seine Lunge. Jeder Atemzug schmerzte, seine Beine versagten ihm den Dienst. Er sank zu Boden und konnte nicht mehr aufstehen. Er sah auf und blickte flehend in das freundliche Gesicht mit dem gütigen Lächeln.

Das Tuch, das ihn eben fast getötet hätte, lag nun vor ihm auf dem Boden. Ein einfaches Kopftuch mit hübschem floralen Muster. Er musste sich sehr zusammenreißen, um seine wirren Gedanken wieder auf die akute Gefahr zu lenken. Hatte er überhaupt eine Chance?

Im Licht des flackernden Kamins blitzte etwas Silbernes direkt vor seinem Gesicht auf. Die abgrundtiefe Verzweiflung, die von ihm Besitz ergriff, ließ ihn erst hysterisch aufheulen, dann stiegen Tränen in seine Augen. Im Bruchteil weniger Sekunden durchdachte er seine Situation, wog Für und Wider eines Fluchtversuches, eines Gegenangriffs oder einer Bitte um Verhandlung ab. Der Seufzer, der seinen Mund verließ, zeugte von endgültiger Resignation. Er wurde ganz ruhig. »Werde ich den Sonnenaufgang morgen noch sehen?«, fragte er in schonungsloser Selbstaufgabe.

»Nein, Friedrich.« Die Spitze des scharfen Messers legte sich behutsam an seine Stirn und fuhr langsam über seinen Nasenrücken hinunter, ohne dabei sein Gesicht zu verletzen. »Deine Sonne wird heute Abend für immer untergehen.«

*

Das weit entfernte monotone Grummeln wurde stetig lauter und riss Jessica aus dem Schlaf. Sie knipste die Nachttischlampe an.

»Das ist vermutlich eine Lawine«, sagte Florian neben ihr und legte die Hand auf ihren Bauch. »Keine Sorge, um die Zeit kann nicht viel passieren. Es ist niemand draußen.«

»Aber es wird immer lauter.« Sie klang beunruhigt. »Was ist, wenn sie das Haus trifft?«

Er sagte nichts, zog sie nur ganz dicht an sich und hielt sie fest.

Das dumpfe Dröhnen spürte man jetzt auch im Körper. Alles schien zu vibrieren. Die Deckenlampe zitterte, und die Kleiderbügel an der Garderobe klopften rhythmisch gegen die Holzvertäfelung.

»Okay, Jessy«, sagte Florian, nun doch alarmiert, packte sie und zog sie vom Bett auf den Fußboden. »Wir sollten schnell ins Bad …«

Noch während er sprach, ließ ein ohrenbetäubendes Rumsen, einem Donnerschlag gleich, das gesamte Haus erbeben. Die Lawine schlug mit enormer Wucht gegen die Südwand, prasselte sekundenlang aufs Dach und gegen die geschlossenen Fensterläden.

Jemand im Haus schrie.

Polternde Schritte auf der Treppe.

Ein Mann fluchte wüst.

Etwas vor der Hotelzimmertür ging klirrend und scheppernd zu Bruch.

Dann war plötzlich alles still.

»Ist es vorbei?« Jessica hob vorsichtig den Kopf, den Florian mit beiden Armen schützend vor seiner Brust gehalten hatte.

Er ließ sie frei und lächelte beruhigend. »Das kann man leider nie wissen«, sagte er. »Doch die Fenster sind heil geblieben. Das ist gut.«

»Und das Haus steht noch«, fügte Jessica erleichtert hinzu. Ihr Herz schlug heftig. »Obwohl ich mich nicht wundern würde, wenn es ein Stück weiter ins Tal hinabgerutscht wäre, so wie es hier drinnen gerumpelt hat.«

Florian sah sie entsetzt an. »Herrgott, das Auto.« Er sprang auf, griff nach seiner Jeans und riss die Tür auf. Im Wohnbereich des Appartements stieß er fast mit Ewe zusammen.

»Seid ihr okay?«, wollte Florians Freund wissen und klopfte an die Tür zu Paulas Schlafzimmer. »Hey, alles in Ordnung bei dir?« Da sich nichts rührte, trommelte er mit der Faust dagegen.

Erst Sekunden später öffnete sich die Tür. Paula hatte ihre Schlafmaske nach oben geschoben und blinzelte müde. In der Hand hielt sie ihr Smartphone, an dem ein Kopfhörerkabel angebracht war. Als sie bemerkte, wie Ewe, Florian und Jessica sie anstarrten, zog sie fragend die Augenbrauen nach oben und entfernte die Stöpsel aus den Ohren. »Ist was?«

Florian schüttelte ungläubig den Kopf und ging zurück ins Schlafzimmer. »Wir sollten uns warm anziehen und schauen, ob wir den Sonnleitners helfen können, Ewe«, hörte man seine Stimme aus dem Raum nebenan. »Hoffentlich sind die Fahrzeuge heil geblieben.«

*

Im Büro war es viel zu heiß. Die Heizung lief auf Hochtouren. Sie ließ sich nicht regulieren und verwandelte das Zimmer in eine finnische Sauna.

Berthold Willig zog seine warme Winterjacke aus und wollte gerade aus seinem Pullover schlüpfen, als es an der Tür klopfte.

Ohne ein »Herein« abzuwarten, trat der Dienststellenleiter Götze ein und kam direkt auf ihn zu. »Herr Willig«, sprach er ihn an. »Sie brauchen sich gar nicht häuslich einzurichten. Sie müssen sofort los! Ich habe einen Fall für Sie.«

»Was ist passiert?« Berthold schob den Bürostuhl unter den Schreibtisch zurück und griff nach seiner Jacke.

»Wir haben einen Todesfall in Oberstaufen«, berichtete Götze.

Es war ungewöhnlich, dass er sich wegen einer solchen Nachricht persönlich in den ersten Stock bemühte. Normalerweise reichte ein kurzer Anruf oder eine Einbestellung in sein Büro.

»Die Infos, die ich bisher habe, sind etwas verwirrend.« Er fächerte sich mit der Hand Luft zu. »Hier ist es tatsächlich noch brütender als in meinem Büro.« Er ging zum Fenster und öffnete es. »Können Sie sich bitte sofort auf den Weg machen?«

»Also ein Kapitalverbrechen?«, fragte Berthold, der seit Kurzem Oberkommissar war. Es wäre sein erster Fall, den er ohne Vorgesetzten bearbeiten würde. Florian hatte über die Feiertage Urlaub. »Ist die Spurensicherung schon vor Ort?«

»Ich habe alles in die Wege geleitet.« Götze sah zum leeren Schreibtisch von Hauptkommissar Florian Forster und seufzte bedauernd. »In dieser Angelegenheit hätte ich lieber einen erfahrenen Kollegen geschickt. Leider haben alle anderen frei oder sind im Krankenstand. Nichts für ungut, Herr Willig, aber Forster sieht oft Dinge, die anderen entgehen.«

»Ich schaffe das, Herr Götze.« Berthold zog seine Jacke über, nahm sein Smartphone vom Schreibtisch und stopfte es in die Innentasche. »Sie können sich auf mich verlassen.«

Götze nickte und klopfte dem jungen Kollegen aufmunternd auf die Schulter. »Prima. Ich schicke Ihnen alle nötigen Informationen auf Ihr Handy. Viel Erfolg!«

Berthold sah sich in dem geräumigen Wohnzimmer um, in dem es von Polizeibeamten und Mitarbeitern der Rechtsmedizin nur so wimmelte. Die Leiche lag ausgestreckt vor dem Schreibtisch. Die toten Augen starrten an die Decke, die blutverschmierten Hände wirkten unnatürlich verkrampft. Das rechte Bein war angewinkelt, und der Schuh hing über die Zehen des nackten Fußes. Der Strumpf fehlte.

»Trägt er keine Socken?«, fragte Berthold die Rechtsmedizinerin, die sich über den Körper gebeugt hatte, um ihn zu untersuchen.

Die Frau sah – entgeistert über die aus ihrer Sicht unnötige Frage – zum jungen Oberkommissar auf, zog am linken Hosenbein des Opfers und legte den anderen Fußknöchel frei. »Doch, aber nur einen«, sagte sie trocken. »Haben Sie noch weitere Fragen, oder darf ich meine Arbeit machen?«

»Ich hätte gern gewusst, ob Sie schon eine Todesursache für mich haben.« Berthold ließ sich nicht beirren und machte sich ununterbrochen Notizen. Ihm war aufgefallen, dass mittig auf dem Schreibtisch eine schwere Büste stand, an dessen Sockel Blut klebte. Daneben lag ein kleines Steakmesser, ebenfalls blutverschmiert.

»Woran der Mann gestorben ist, kann ich noch nicht sagen.« Die Rechtsmedizinerin erhob sich, ging zu Berthold hinüber, der mit etwas Abstand im Türrahmen stehen geblieben war, und wies auf die Leiche. »Es gibt mehrere mögliche Ursachen.«

»Erschlagen und erstochen?«, riet Berthold. Die Verletzung auf Höhe des linken unteren Rippenbogens war deutlich zu erkennen. Auch aus einer Kopfwunde war Blut in den teuren Teppich gesickert. »Und was ist das am Hals?«

»Würgemale«, erklärte die Rechtsmedizinerin. »Wir vermuten diesen Schal als Tatwerkzeug.« Sie ging zum Couchtisch, auf dem ihr Koffer stand, und zeigte dem Oberkommissar eine der Beweismitteltüten.

»Drei verschiedene Tathergänge? Warum?«

»Eigentlich haben wir fünf«, sagte die Frau und schmunzelte über den verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht des Oberkommissars. »Jemand hat den Mann mit einem Elek­troschocker gequält. So eine Aktion kann leicht zum Herzstillstand führen, vor allem, wenn sie wiederholt ausgeführt wird wie in diesem Fall.« Sie wies auf eine zweite Tüte, in der sich ein solches Gerät befand. »Außerdem vermute ich eine Vergiftung. Die Verfärbungen an den Lippen und der chemische Geruch aus seinem Mund würden diese These untermauern. Die Mundschleimhaut scheint verätzt.«

Berthold Willig deutete auf das leere Glas in einer weiteren Tüte.

»Wir prüfen, ob darin Gift oder Säure war«, informierte ihn die Rechtsmedizinerin.

Berthold schüttelte ungläubig den Kopf. »Und alle Tatwerkzeuge haben Sie hier sichergestellt? Warum hat der Täter keines davon entsorgt? Das verstehe ich nicht. Was ist mit diesem Mann passiert?«

Die Rechtsmedizinerin lachte. »Gott sei Dank muss ich dasnicht herausfinden. Ich kann mit Fakten arbeiten, Sie müssen Mutmaßungen anstellen und Ihre Thesen beweisen. Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen!«

4

Fast drei Meter hoch türmten sich die Schneemassen auf, die an der Seite des Hotels vorbeigerauscht waren und nun den halben Hof und die komplette Zufahrtsstraße blockierten. Auch die Hinterseite des Gebäudes war bis zur Hälfte mit Schnee zugeschüttet. Die Fenster und Terrassentüren, die nach Süden in Richtung Berggipfel ausgerichtet waren, ließen sich nicht mehr öffnen.

Die rechte Seite des Hauses war von der Lawine verschont geblieben. Doch die dicken Flocken, die seit zwei Tagen ununterbrochen heruntergerieselt waren, lagen inzwischen auch dort über einen Meter hoch. Die parkenden Autos auf der Nordseite vor dem Haupteingang waren unversehrt.

Während Herr Sonnleitner, Florian, Ewe und ein weiterer Gast unermüdlich damit beschäftigt waren, die Wege und die Zufahrt freizuschaufeln, bereitete Frau Sonnleitner ein behelfsmäßiges Frühstück vor. Der Strom war ausgefallen. Auch das Telefon funktionierte nicht. Der Kaffee und das heiße Wasser für den Tee und den Früchtepunsch wurden kurzerhand auf dem Gasherd zubereitet. Paula und Jessica halfen beim Anrichten in der Schmankerlstube, feuerten den Kamin an und kümmerten sich um die zwei alten, völlig aufgelösten Damen aus Niedersachsen, die morgen abreisen wollten, nun aber vermutlich gezwungen waren, den Urlaub um ein paar Tage zu verlängern.

»Kann ich auch etwas tun?«

Hinter Jessica stand ein junger Mann, der ihr bisher unter den Gästen nicht aufgefallen war – weder bei ihrer gestrigen Ankunft noch beim Abendessen. Er sah blass und kränklich aus, wirkte kurzatmig und schaute sich immer wieder suchend um.

»Mein Name ist Nevio Aldenhoven. Haben Sie vielleicht Frau Engel gesehen? Sie war nicht auf ihrem Zimmer.«

Jessica zuckte bedauernd die Schultern. »Tut mir leid. Ich bin auch nur Gast. Ich kenne Frau Engel leider nicht.«

Sie beobachtete, wie der junge Mann ein Asthmaspray aus der Hosentasche zog und es benutzte.

»Die kalte Luft ist etwas unvorteilhaft«, entschuldigte er sich unnötigerweise. »Aber immer noch besser als die Pollen im Frühjahr.« Er schob das Medikament zurück in die Tasche. »Beim Schneeschieben mache ich keine gute Figur, doch ich könnte beim Tischdecken helfen.«

»Das wäre prima. Die zwei älteren Damen warten auf ihren Kaffee. Fragen Sie bitte in der Küche, ob Frau Sonnleitner Hilfe braucht.«

Die Erwähnte betrat in diesem Moment den Speisesaal.

»Darf ich Sie alle kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, rief sie mit fester Stimme. Ihre Körpersprache verriet jedoch ihre Unsicherheit. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und die Arme fest um ihren Körper geschlungen. Nun wippte sie nervös von einem Bein auf das andere. »Ist unter den Gästen vielleicht ein Arzt anwesend?«

Niemand meldete sich. Die zwei älteren Damen sahen ängstlich in die Runde.

Eine junge Frau, die mit ihrem Sohn an einem der Tische saß, schüttelte heftig den Kopf. »Mein Mann ist Ingenieur. Er hat vor fünf oder sechs Jahren mal erfolgreich Erste Hilfe geleistet bei einem Verkehrsunfall.«

»Was ist passiert?«, wollte Jessica wissen. »Ist jemand verletzt? Ist einer der Männer draußen verunglückt?«

»Nein, nein.« Frau Sonnleitner legte beruhigend ihre Hand auf Jessicas Arm. »Oben in der Hütte … Es ist …«, stammelte sie und seufzte dann laut. »Wir haben einen Funkruf aus der Hütte erhalten«, fuhr sie fort. »Jemand ist … jemand ist gestürzt.«

»Ach herrje«, rief Paula aufgeregt dazwischen. »Dann müssen wir einen Rettungswagen rufen.«

Frau Sonnleitner wirkte plötzlich so verzweifelt, dass Jessica den Arm um die Schultern der Wirtin legte und sie sachte aus dem Speisesaal in den Flur führte. »Funktioniert das Telefon wieder?«, wollte sie wissen. »Kann man die Hütte zügig erreichen?«

»Nein. Weder noch«, sagte Frau Sonnleitner. »Bei dem Wetter kommt auch kein Rettungsteam zu uns. Kein Krankenwagen und erst recht kein Hubschrauber. Außerdem …« Sie verstummte und starrte wie gebannt auf das Ölgemälde, das über der Rezeption an der Wand hing.

»Was?« Jessica fasste der Frau an die Schultern, drehte sie zu sich herum und zwang sie, sie anzusehen. »Was wollen Sie sagen?«

»Der Gast am Funkgerät sprach nicht von einem Verletzten«, flüsterte Frau Sonnleitner und senkte den Blick. »Er sagte, es wäre jemand ums Leben gekommen.«

»Sollte ich nicht lieber mitfahren?« Ewe saß auf einem alten Küchenstuhl neben dem Herd und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Verdammte Scheiße«, fluchte er laut und biss sich auf die Unterlippe, konnte aber ein qualvolles Stöhnen nicht unterdrücken.

»Du bleibst hier«, befahl Florian und deutete auf das bandagierte Handgelenk seines Freundes. »Damit kannst du dich auf der Pistenraupe nicht festhalten.«

»Aber ich könnte …«, protestierte Ewe, wurde jedoch rüde von Florian unterbrochen.

»Keine Widerrede! Du bleibst hier! Können wir los, Herr Sonnleitner?«, wandte er sich an den Gastwirt, griff nach dem Rucksack auf dem Küchentisch und ging zur Tür.

»Du hast doch gar keine Ahnung von Leichen«, versuchte es Ewe erneut. »Ich bin der Rechtsmediziner. Ich sollte den Tatort als Erster begutachten.«

Florian blieb in der Tür stehen und drehte sich langsam um. Er grinste. »Ich verspreche dir, in unserem nächsten Urlaub darfst du dich um jeden einzelnen Toten kümmern, der uns unterkommt. Es sei denn, du rutschst auch dann wieder ungeschickt aus und brichst dir dein Handgelenk. Wie, bitte schön, kann man sich beim Schneeräumen derart verletzen?«, spottete er und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir bleiben über das Funkgerät verbunden. Bis später.« Er verließ die Küche.

Der Weg zur Hütte hinauf war alles andere als angenehm. Die kleine Pistenraupe, die Mühe hatte, das Gewicht von zwei erwachsenen Männern zu tragen, pflügte durch den weißen Untergrund und wirbelte riesige Wolken Pulverschnee auf, die sich mit den vom bewölkten Himmel herabfallenden Flocken vermischten. Die Sicht war auf ein Minimum beschränkt. Über den Gipfeln der Berge konnte man durch das Schneetreiben hin und wieder die Sonne durchblitzen sehen. Vermutlich war der Himmel auf der anderen Seite der Bergkette strahlend blau. Hier allerdings fühlte sich Florian wie inmitten eines Wintersturms. Der eisige Fahrtwind und die mangelnde Bewegung auf dem Sozius ließen ihn trotz der warmen Kleidung heftig frieren.

Zu Fuß hätten sie über eine Stunde zur Hütte hinauf gebraucht und sich durch hüfthohen Schnee kämpfen müssen. Mit dem kleinen Gefährt sollte es laut dem Hotelbesitzer nicht länger als zehn Minuten dauern.

Doch mit dieser Einschätzung hatte der Mann sich geirrt.