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Ein Mädchen ist spurlos verschwunden. Saß sie in dem Bus, der kürzlich auf der Landstraße Richtung Oberstdorf tragisch verunglückt ist? Hauptkommissar Forster macht sich auf die Suche. Jede Spur scheint bei der Trachtenmanufaktur Laubenberger zu enden. Wurde das Mädchen entführt? Auf einer Dirndl-Modenschau bekommt er einen entscheidenden Tipp. Hat ein ungelöster Fall aus den 1950er Jahren mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun? Forster setzt alles daran, den Teenager lebend zu finden.
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Seitenzahl: 321
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Mia C. Brunner
Dirndltod
Allgäu-Krimi
Allgäuer Niedertracht Auf der Landstraße Richtung Oberstdorf verunglückt ein Bus mit über 50 Passagieren. Es gibt Tote und Verletzte. Obwohl alle Insassen identifiziert wurden, behauptet ein Ehepaar, ihre seit dem Unfall spurlos verschwundene Tochter habe in dem Fahrzeug gesessen. Wurde das Mädchen entführt? Hauptkommissar Forster ermittelt in alle Richtungen. Immer wieder stößt er bei seinen Recherchen auf die Familienmitglieder der Trachtenmanufaktur Laubenberger. Auch ein ungelöster Vermisstenfall aus der Nachkriegszeit bringt die Familie in Verruf. Doch der Hauptverdächtige in dem Cold Case ist seit vielen Jahren tot, und alle anderen waren damals noch nicht geboren. Gibt es zwischen den fast 70 Jahre auseinanderliegenden Kriminalfällen einen Zusammenhang, den Forster bisher nicht sieht? Trüben private Sorgen seinen klaren Blick auf die Dinge? Er weiß, dass seine verzweifelte Suche nach dem Mädchen ein Wettlauf gegen die Zeit ist …
Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit fast 20 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimi-Erfahrungen mit selbst verfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. »Dirndltod« ist ihr siebter Allgäu-Krimi im Gmeiner-Verlag.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © fottoo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7740-9
Das monotone Wummern der Musik gepaart mit dem lauten Singsang einer ganzen Horde angetrunkener Partygäste drang selbst durch die geschlossenen Fenster nach draußen.
Die Laternen im Außenbereich warfen ein mattgelbes Licht auf die Bierbänke im Garten des Gasthofes. Die Wiesen und Bäume dahinter verschwanden jedoch in kompletter Dunkelheit.
Die Wirtschaft, in der am heutigen Tag die Silberhochzeit von Franz-Xaver Lorenz und seiner Frau Regina gefeiert wurde, lag weit ab vom nächsten Dorf. Der Lärm und das Licht störten hier niemanden.
Florian trat aus dem Gebäude, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und atmete tief durch. Drinnen im Saal war es stickig und schwül. Hier draußen blies ihm ein angenehm frischer Wind ins verschwitzte Gesicht.
»Nimmst du mir wenigstens deine Jacke ab?«
Als er sich umdrehte, sah er Jessica und die Kinder. Seine Frau trug den kleinen Elias auf dem Arm, der mit seinem Kopf an ihrer Schulter friedlich schlief. Die Tasche, dieses sperrige Teil, das man als Eltern von einjährigen Zwillingen immer dabei haben musste, hing zusammen mit seiner Anzugjacke an ihrem freien Arm. Er hatte das Sakko vor über zwei Stunden ausgezogen, als die Feier nach dem etwas steifen Festmahl an einer langen Tafel endlich lockerer geworden war. Noch dazu schob Jessica zusätzlich die Zwillingskarre, in der Lukas fröhlich vor sich hinbrabbelte. Svenja, Florians 13-jährige Adoptivtochter, hielt die acht Monate alte Johanna auf dem Arm. Tobias, Svenjas jüngerer Bruder, trug den leeren Autositz für das Baby. Florians Nichte Johanna war das Kind seiner verstorbenen Halbschwester. Sie sollte drei Tage bei ihnen bleiben, damit Florians Vater Franz-Xaver nach der Feier mit seiner fast 30 Jahre jüngeren Ehefrau Regina das Wochenende in einem Wellnesshotel verbringen konnte. Dass Florians Vater, ein katholischer Pfarrer, schon so lange glücklich verheiratet war, lag nicht nur an der Zölibatsdispens, die ihm von oberster Stelle erteilt worden war. Florian war sich sicher, dass vor allem Reginas geduldige und verständnisvolle Art maßgeblich dazu beigetrug. Die beiden liebten sich innig.
»Herr im Himmel, wart ihr schon immer so viele?« Florian eilte zu seiner Frau und nahm ihr seinen schlafenden Sohn ab. »Gibst du mir bitte den Autoschlüssel aus meiner Jackentasche, Jessy?«
»Ich fahre«, sagte sie und schob den Kinderwagen quer durch den menschenleeren Biergarten zum Parkplatz.
»Kommt überhaupt nicht infrage!«, rief Florian ihr nach. »Wir hatten vereinbart, dass ich den Heimweg übernehme.« Er wusste, dass Jessica es hasste, mitten in der Nacht über die schmalen und unbeleuchteten Straßen zu steuern. Bis sie im nächsten Ort waren, führte die Straße mehrere Kilometer durch einen dunklen Wald.
Jessica blieb abrupt stehen, drehte sich zu ihm um und sah ihn streng an.
»Ich bin definitiv noch fähig, uns sicher nach Hause zu bringen«, verteidigte er sich, ohne direkt angegriffen worden zu sein. »Die paar Bier sind schon ewig her.«
»Die Biere schon.« Jessica setzte ihren Weg fort und betätigte noch im Laufen den Knopf für die Zentralverriegelung. Der VW-Bus reagierte mit dem typischen Lichtsignal und dem klackenden Geräusch. »Danach hast du mehrmals mit diesem komischen Typen angestoßen. Mit Whisky.«
»Herrgott, Jessy. Glaub mir, ich bin absolut fahrtüchtig. Ich schwanke ja nicht einmal beim Gehen.« In diesem Moment machte er einen kleinen Ausfallschritt und stützte sich kurz mit der freien Hand an der Heckklappe eines alten Mercedes ab. Elias in seinem Arm schlief friedlich weiter. Florian rieb sich mit dem Handrücken über die Schläfe und seufzte. »Okay. Du fährst.«
Bis sie alles und jeden in dem geräumigen Siebensitzer verstaut hatten, verging eine halbe Ewigkeit. Elias quengelte, weil er müde war, und Tobias plapperte ununterbrochen, schnallte sich dreimal wieder los, um seinen Platz zu wechseln, bis Florian ein Machtwort sprach, die Kinder sortierte und persönlich anschnallte. Währenddessen verstaute Jessica den Kinderwagen im Kofferraum, setzte sich hinter das Lenkrad und stellte Sitz und Spiegel ein.
Um kurz vor Mitternacht kamen sie endlich los.
Es war so dunkel, dass selbst das Fernlicht nur die vor ihnen liegende Straße, nicht aber den Waldrand ausleuchtete. Jessica befürchtete, dass jeden Augenblick ein Reh oder ein Wildschwein aus dem Dickicht sprang und sie eine Vollbremsung machen musste. Außerdem sah sie immer wieder in den Rückspiegel. Das Auto, das sie seit geraumer Zeit verfolgte, drängte sie mit wiederholter Lichthupe dazu, schneller zu fahren. Sie hasste diese engen Straßen und betete, dass ihr kein Fahrzeug entgegenkam. Rechts neben dem asphaltierten Weg fiel der baumbewachsene Hang etwa 80 bis 100 Meter steil ab.
Florian legte die Hand auf ihren Arm. »Halt bitte an. Das Arschloch hinter uns knöpfe ich mir vor.«
»Lass gut sein. Ich fahre vorsichtig und lass mich nicht hetzen. Ist doch sein Problem, wenn er mies drauf ist. Nicht meins.«
Wenige Meter weiter allerdings entschied sie sich um. Der Wagen fuhr inzwischen so dicht auf, dass sie die Motorhaube und die Scheinwerfer im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte. Sie fuhr langsam an den Straßenrand und schaltete den Warnblinker ein. Das Auto wurde ebenfalls langsamer und hielt ein paar Meter hinter ihnen an.
Florian sprang aus dem VW-Bus. »Was hast du eigentlich für ein Problem?«, hörte Jessica ihn rufen. »Fahr vorbei und verschwinde!«
Noch bevor Florian den Wagen erreichte, setzte dieser zum Überholen an, fuhr an ihnen vorbei und gab Gas. Die hell erleuchteten Rücklichter verschwanden hinter der nächsten Kurve.
»So a bledr Siach!«, fluchte Florian und setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. Dann sah er zu Jessica. »Ich könnte das Fahren übernehmen. Mein Adrenalinspiegel ist gerade so hoch, dass der Alkohol kaum noch Wirkung zeigt. Bin hellwach und völlig klar.«
»Natürlich«, sagte Jessica zynisch, schaltete den Warnblinker aus und lenkte den Bus zurück auf die Straße.
Das grelle Licht, das mit enormer Geschwindigkeit von links auf sie zuraste, wurde stetig heller und füllte den gesamten Innenraum des Wagens taghell aus. Der augenblicklich folgende Schlag gegen die Fahrertür ließ den Bus schlingern und schließlich von der Straße abkommen. Der rechte Vorderreifen rutschte über die grasbewachsene Kante. Sobald der Schwerpunkt des Fahrzeugs über dem Abgrund hing, zog der massive Motor unter der Frontklappe den Bus unnachgiebig in die Tiefe. Die jungen Baumstämme am Straßenrand knickten unter dem Gewicht des hinabstürzenden Autos um wie dürre Streichhölzer. Erst fiel das Fahrzeug auf die Seite, dann überschlug es sich, drehte sich einmal vertikal um die eigene Achse, rutschte noch ein paar Meter weiter und blieb abrupt mit den vier Rädern im weichen Waldboden stecken.
Wenige Sekunden blieb es still, dann brach im Inneren Chaos aus.
Noch nie zuvor hatte Florian den kleinen Elias so laut schreien gehört. Blitzschnell drehte er sich um. Ein unerträglich stechender Schmerz fuhr ihm in den Nacken und verteilte sich in seinem Körper. Er hatte das Gefühl, irgendetwas explodierte in seinem Kopf. Seiten- und Frontairbag hatten verlässlich ausgelöst, doch beim seitlichen Aufprall des Wagens musste er sich heftig den Nacken gezerrt haben.
Erst jetzt bemerkte er die nach innen gewölbte Karosserie auf Höhe der Rückbank und das von unzähligen Rissen übersäte Fenster. Der Kindersitz, in dem Elias saß, war zerbrochen und weit in die Mitte der Sitzreihe geschoben worden. Elias schrie herzzerreißend, und der neunjährige Tobias, der zwischen den Zwillingen saß, starrte auf seinen verletzten Arm, holte tief Luft und brüllte dann ebenfalls aus Leibeskräften. Der kleine Lukas, den die Wucht des Aufpralls beinahe aus dem Sitz geschleudert hatte, sah seinen Vater mit Tränen in den Augen an. Seine Unterlippe zitterte heftig, doch er brachte keinen Ton heraus.
Florian befreite sich aus seinem Gurt und quetschte seinen Oberkörper zwischen den Sitzen hindurch. »Butzala, ich bin da, alles wird gut.« Er legte seine flache Hand behutsam auf Elias’ Brust und tätschelte Tobias’ Knie. »Svenja? Ist bei dir alles okay? Wie geht es Johanna? Seid ihr verletzt?« Es war stockfinstere Nacht im Wagen.
»Johanna weint nur ein bisschen«, tönte Svenjas zitternde Stimme aus der Dunkelheit. »Ich habe mir nicht wehgetan. Ich glaube, Johanna auch nicht«, fügte sie hinzu. »Soll ich sie …?«
Urplötzlich ruckelte es heftig. Der Bus rutschte, neigte sich ein wenig zur Seite und blieb wieder stehen.
»Jessy, wir müssen schnell die Kinder aus dem Auto schaffen. Wenn der Wagen weiter abrutscht …« Florian kletterte zurück auf den Beifahrersitz und öffnete die Tür. Von seiner Frau kam keine Reaktion. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte er, bevor er sich langsam zu ihr umdrehte und entsetzt stöhnte.
»Oh Gott, Jessy!« Er legte die Finger an ihren blutüberströmten Hals und suchte ihren Puls. Ihr Kopf hing kraftlos über ihre rechte Schulter, die Arme lagen schlapp auf ihren Beinen. Das Auto war an der Beifahrertür dermaßen demoliert und eingedrückt, dass Jessicas Körper direkt an dem verbogenen Metall klebte. »Lieber Gott, lass nicht zu, dass sie …«
Elias schrie immer noch herzzerreißend. Die Karosserie machte ein metallisch ächzendes Geräusch. Der Wagen ruckelte heftig, rutschte aber nicht weiter ab.
»Wir müssen hier raus!«
Florian fand sein Smartphone, wählte den Notruf und sprang aus dem Wagen. Er öffnete die Schiebetür, die glücklicherweise nicht blockierte. Die rechte Seite des Fahrzeugs hatte kaum etwas abbekommen. Lukas fiel ihm mitsamt des Kindersitzes entgegen.
Svenja hatte die kleine Johanna auf dem Arm und stieg aus. »Soll ich zur Straße hochgehen?«
Die Notrufzentrale meldete sich.
»Forster. Wir hatten einen Unfall mit dem Auto. Mindestens drei Verletzte, davon ein Kind und ein Baby«, meldete er der Zentrale, schüttelte gleichzeitig seinen Kopf und schob Svenja sanft am VW-Bus vorbei. »Gasthof Zum Waldwichtelauf der Straße Richtung Füssen. Das Auto ist den Abhang hinuntergerutscht. Bitte kommen Sie schnell. Klar bleibe ich in der Leitung.« Ohne das Telefon vom Ohr zu nehmen, setzte er Lukas vorsichtig auf den Boden. »Svenja, nimm deinen Bruder an die Hand und geht dort zu dem dicken Baumstamm. Nehmt die Wolldecke mit und wickelt euch alle darin ein. Verstanden?«
Svenja nickte und griff nach der Hand des Einjährigen.
»Du lässt ihn unter gar keinen Umständen los, Svenja.« Dann sprang er hinten in den Wagen und schnallte die beiden verletzten Jungs ab. Tobias’ Arm war gebrochen. Er weinte lautstark. »Ja, meine Frau ist bewusstlos«, erklärte er dem Notfallsanitäter am Telefon, der unaufhörlich auf ihn einredete. »Ich muss zuerst die Kinder aus dem Auto holen, der Wagen stürzt jeden Moment ab. Warten Sie …« Er legte das Smartphone beiseite, riss sein Hemd an der Knopfleiste auf und zog es aus. Mit dem Stofffetzen band er den Arm seines Sohnes fest an dessen Oberkörper. »Du bist wahnsinnig tapfer, Tobi. Ich bin stolz auf dich!« Er küsste die Stirn des Jungen und half ihm beim Aussteigen. »Meinst du, du kannst zu Svenja rübergehen? Nimm meine Jacke mit und kuschelt euch eng aneinander. Gleich kommt Hilfe.«
Kaum hatte Tobias die Gefahrenzone verlassen, geriet der Bus erneut in Bewegung und prallte gegen Florian. Er stolperte und fiel ins nasse Laub. Die Hinterachse des Fahrzeugs blieb an einem dünnen Baum hängen, der sich gefährlich bog, aber dem Gewicht standhielt. Florian rappelte sich auf und stieg zurück in den Innenraum, wohl wissend, dass sein zusätzliches Gewicht den Wagen wieder zum Rutschen bringen konnte.
»Elias, mein Engel. Ich weiß, es tut weh, aber ich muss dich jetzt aus dem Kindersitz heben.« So vorsichtig es ihm möglich war, nahm er das schreiende Kind auf den Arm und kletterte langsam aus dem Auto, den kleinen Körper behutsam an sich gedrückt. Der dünne Stamm des Baumes, der den schweren Wagen hielt, brach im gleichen Moment, als seine Füße den Boden berührten. Er sprang zur Seite und rannte los, stolperte, drehte sich im Fallen blitzschnell um und landete schmerzhaft mit dem Rücken auf einer Baumwurzel, das Kind sicher in seinem Arm.
Nun gab es für den VW-Bus keinen Halt mehr. Er rutschte weiter in die Tiefe, beschleunigte immer mehr, prallte gegen einen Baum und überschlug sich mehrfach, bevor er unten in der Senke auf der Beifahrerseite reglos liegen blieb.
Die Kinder kreischten entsetzt, doch Florians Schrei übertönte alles.
»Jessy!«
»Kannst du dich erinnern, was passiert ist?«
Die Stimme war freundlich, der Ausdruck auf seinem Gesicht zeigte Besorgnis. Sie hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Die Dunkelheit und die Kälte machten ihr Angst. Ihre direkte Umgebung erkannte sie schemenhaft, alles andere versank in tiefschwarzer Nacht. Wo war sie?
»Kannst du verstehen, was ich sage?«, versuchte er es erneut, als sie nach mehreren Sekunden keine Antwort gegeben hatte. »Parlez-vous français? Oder sprichst du unsere Sprache?«
Sie nickte, doch als er vorsichtig seine Hand nach ihr ausstreckte, wich sie erschrocken zurück und rutschte über den eiskalten Boden von ihm weg. Der steinerne Grund unter ihrem Körper war staubig. Sie spürte den Dreck an ihrer feuchten Haut. Warum war ihr Kleid nass? Warum trug sie keine Schuhe? Warum lag sie auf nacktem Boden?
»Hier bist du sicher«, flüsterte der Mann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er zog eine alte Öllampe heran und stellte sie neben ihr Gesicht.
Endlich wurde es etwas heller, doch nun sah sie ihn direkt über sich. Er war riesig. Er machte ihr Angst.
»Oje, du fürchtest dich schrecklich«, stellte er besorgt fest. »Das musst du nicht. Ich werde mich um dich kümmern. Bist du verletzt?«
Sie schüttelte zaghaft den Kopf. »Ist wieder Krieg? Sind die Panzer zurück? Was ist passiert?«
Auf keine einzige ihrer Fragen bekam sie eine Antwort. Stattdessen lächelte er nur beruhigend. »Dir wird kein Unheil geschehen. Ich werde nun gehen und dir trockene Kleidung besorgen. Und etwas zu essen. Warte hier.« Er griff nach der Öllampe und schritt durch den Raum.
Sie sah gemauerte, unverputzte Wände und eine massive Holztür, jedoch keine Fenster, keine Möbel und keine Deckenlampe. Kein einziger Gegenstand war in dem kalten, kargen Raum. Es roch wie damals im Bunker. Feucht und moderig. Doch es fehlte das Zittern der Wände und das Geräusch der dumpfen Einschläge der Granaten. Hier war es totenstill.
An der Tür drehte sich der Mann noch einmal zu ihr um. »Ich bin gleich wieder da. Nicht weglaufen. Verstanden?« Er lächelte im Schein der Öllampe und winkte ihr zum Abschied. Die Tür fiel klackend ins Schloss.
Das Rasseln eines Schlüsselbundes verriet ihr, dass sie von nun an eine Gefangene war.
*
Die grelle Beleuchtung der Neonröhren im Wartebereich des Krankenhauses ließ die Zeit bedeutungslos werden. Selbst mit geschlossenen Augen sah man es hell strahlen, und die Nacht wurde zum Tag. Wenn man direkt hineinblickte, konnte man für den Bruchteil einer Sekunde die schrecklichen Bilder aus den Gedanken verbannen. Das Licht war für einen kurzen Augenblick unendliche Qual und Heilung zugleich.
»Die Kinder sind gut zu Hause angekommen.« Florians Vater Franz-Xaver Lorenz betrat den Aufenthaltsraum, blieb aber neben der Tür stehen. »Regina und deine Mutter kümmern sich um sie. Gibt es schon etwas Neues?«
Florian, der eben noch ins Licht gestarrt hatte, ließ nun den Kopf sinken und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Sein Schwiegervater Herbert saß neben ihm und schüttelte resigniert den Kopf, was Franz-Xavers Frage beantwortete. Er hatte vor einer Stunde neben Florian Platz genommen und wich seitdem nicht von seiner Seite. »Elias wird noch operiert, aber die Ärzte haben uns Hoffnung gemacht, dass alles gut geht. Und Tobis Arm wird gerade eingegipst. Kannst du den Jungen später nach Hause bringen, Franz-Xaver? Ich würde gern hierbleiben.« Herbert legte die Hand auf die Schulter seines Schwiegersohns und seufzte.
»Selbstverständlich. Wer ist bei Tobias? Soll ich mal nach ihm sehen? Er hat sicher schreckliche Angst«, bot Franz-Xaver an.
»Paula kümmert sich um ihn.« Florian erhob sich, ging zum Fenster, legte beide Hände flach auf die Fensterbank und drückte die Stirn an das kalte Glas. Draußen wurde es bereits langsam hell. Die Sterne, die hier in der Stadt nicht so zahlreich zu sehen waren wie auf dem Land, verschwanden nach und nach in der Morgendämmerung. Bis Jessicas beste Freundin Paula vor einer Stunde – zusammen mit Herbert – im Krankenhaus eingetroffen war, war Florian abwechselnd bei seinen Söhnen Tobias und Elias gewesen, hatte sie beruhigt, die gesunde Hand des großen Jungen gehalten und dem kleinen zärtlich über das verschwitzte Köpfchen gestrichen. Mehr konnte er nicht tun. Seine Frau Jessica hatte er nicht mehr gesehen, seit die Männer von der Feuerwehr sie mit einer Flex und einem Brecheisen aus dem völlig zerstörten Fahrzeug geborgen und den Hang hinaufgetragen hatten.
Bevor die Rettung eingetroffen war, hatte er selbst versucht, die demolierte Fahrertür zu öffnen. Der VW-Bus war auf der Beifahrerseite unten in der Talsenke zum Liegen gekommen, und das Einzige, was Florian hatte tun können, war, auf den Wagen zu klettern und mit aller Kraft an der Tür zu zerren. Er hatte es nicht gewagt, das zersplitterte Fenster einzutreten. Wenn eine der Scherben Jessicas Halsschlagader aufgeschlitzt hätte, hätte es keine Rettung für sie gegeben. Sie war ohnehin schon blutüberströmt und bewusstlos im Sicherheitsgurt gehangen. Doch er hatte die verdammte Tür nicht aufbekommen. Auch das Fenster zur Rückbank, das stark beschädigt war, hatte er mit den Füßen nicht zum Bersten gebracht. Als es ihm endlich gelang, mit einem schweren Ast das Glas zu durchstoßen, war das Rettungsteam eingetroffen. Und plötzlich war alles ganz schnell gegangen. Die Feuerwehr hatte Jessica aus dem Wagen gezogen. Er war vom Fahrzeug weggebracht und in eine Rettungsdecke gewickelt worden. Er hatte gesehen, wie sie ihren reglosen Körper auf den Waldboden gelegt hatten. Ihr Gesicht war unter dem vielen Blut nicht mehr zu erkennen gewesen. Die panischen Rufe des Notarztes hallten noch jetzt in Florians Ohren. »Verdammter Mist, sie stirbt uns noch unter den Händen weg«, hatte der Mann gerufen und mit der Wiederbelebung begonnen.
An all die anderen Dinge erinnerte sich Florian nur sehr verschwommen. Jemand hatte ihn zu den Kindern zurückgeführt. Kurze Zeit später war ihm der kleine Lukas aus dem Arm gerissen worden, den er versucht hatte zu trösten. Zwei weitere Rettungssanitäter hatten zeitgleich die anderen Kinder untersucht und anschließend der Familie beim Aufstieg zur Straße geholfen. Dort hatten sie bestmöglich den schwer verletzten Elias versorgt und der kleinen Johanna ein Stofftier geschenkt. Florian war mehrfach mit einer Lampe in die Augen geleuchtet worden, um die Reflexe seiner Pupillen zu kontrollieren. Er hatte unter Schock gestanden, gezittert und sich kaum auf den Beinen halten können, aber jede weitere Untersuchung abgelehnt. Jemand hatte ihm seine Jacke gereicht. Er hatte in Jessicas Nähe bleiben wollen, doch der RTW war ohne ihn abgefahren.
Nun lag sie seit Stunden im OP, und niemand konnte ihm eine Auskunft geben, niemand hatte die erlösende Antwort für ihn, niemand nahm ihm die Sorge um Jessica.
»Guck mal. Wie findest du meinen Gips? Sieht toll aus, oder?«
Florian fuhr herum und sah Tobias neben Paula in der Tür stehen. Er hatte geweint. Das verriet sein gerötetes Gesicht. Doch nun strahlte er und tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger auf den bandagierten Arm.
»Wow, der ist wirklich beeindruckend«, sagte Florian und kniete sich vor den Jungen. »Du bist unheimlich tapfer. Ich bin stolz auf dich!« Mit den Fingern berührte er vorsichtig Tobias’ Wange. »Jetzt fährst du mit Franz-Xaver nach Hause und schaust, ob die anderen schon artig schlafen. Ich komme später nach, und dann trinken wir gemeinsam einen leckeren Kakao.«
Tobias nickte. »Und wie geht es Mama? Bringst du sie mit heim?«
Florian stockte der Atem. Sein Adoptivsohn Tobias war wie die 13-jährige Svenja das Kind von Jessicas verstorbener Schwester. Tobi hatte Jessy bisher immer beim Vornamen angeredet. Doch das war es gar nicht, was Florian so aus der Fassung brachte und weswegen er im ersten Moment kein Wort herausbekam. Was sollte er den Kindern sagen, wenn Jessica nicht mehr nach Hause kam? Wie würde es weitergehen, wenn sie …? Herrgott, wie sollte er ohne sie weiterleben?
»Natürlich bringt Florian deine Mama mit nach Hause.« Franz-Xaver legte seinem Enkelsohn die Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich herum. »Doch erst einmal muss sie vermutlich noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Wir zwei fahren jetzt zu deiner Oma.« Er nickte Florian zu und schob den Jungen zur Tür hinaus.
Paula folgte ihnen.
Florian schlang die Arme um seinen Körper und versuchte verzweifelt, sowohl das unkontrollierte Zittern als auch die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
Beides gelang ihm nicht.
»Fantastisch!« Dienststellenleiter Götze schlug den Bewerbungsordner zu, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, verschränkte die Arme und beugte sich über die Tischplatte. »Haben Sie noch Fragen? Oder darf ich Ihnen gleich Ihren neuen Arbeitsplatz und Ihre neuen Kollegen vorstellen?«
Das Gespräch mit Kommissarin Sabine Strodl war nur pro forma gewesen. Ihre Einstellung war bereits beschlossene Sache gewesen, als sie vor einer Viertelstunde sein Büro betreten hatte. Die Kemptener Dienststelle benötigte eine halbjährige Vertretung für einen Beamten, und Frau Strodl hatte sich nach fünf Jahren Erziehungsurlaub um eine Wiedereingliederung ins Berufsleben bemüht. Kempten war sicher nicht ihre erste Wahl, doch die angebotene Halbtagsstelle in diesem Präsidium war zu verlockend.
»Gehen wir zu meinen neuen Kollegen«, schlug die Kommissarin vor und erhob sich. »Ich freue mich auf die neue Herausforderung in Ihrem Revier, Herr Götze. Die Arbeit als Polizeibeamtin hat mir gefehlt, auch wenn ich mich in der Mutterrolle durchaus wohlfühle. Man vermisst dennoch den Umgang mit Erwachsenen, bei denen sich nicht alles um Kinder dreht.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Götze öffnete die Tür zum Flur und ließ Frau Strodl vorausgehen. »Ich hoffe, Ihnen sagt das neue Berufsfeld zu. Bisher waren Sie hauptsächlich im Grenzschutz tätig.«
»Ich bin dankbar für die Chance, für Ihr Vertrauen und bin gespannt auf die neuen Aufgaben. Die Kollegen werden mich bestimmt gut einarbeiten.«
Wenig später betraten beide das Büro von Hauptkommissar Forster und seinem Kollegen Kommissar Berthold Willig.
»Ist Forster noch nicht da?« Götze deutete mit dem Daumen auf den leeren Arbeitsplatz und sah den jungen Beamten fragend an.
»Florian lässt sich entschuldigen. Er nimmt kurzfristig ein paar Tage frei, weil …«
»Ach, tatsächlich?«, fuhr Götze aufgebracht dazwischen. »So geht das nicht! Er muss mich fragen.«
»Sie sind nicht ans Telefon gegangen«, erklärte Berthold und versuchte erneut, die Abwesenheit seines Chefs zu begründen. »Es ist leider …«
»Herrgott noch mal! Macht hier jeder, was er will? Ich werde den werten Kollegen sofort kontaktieren und herzitieren.« Dann wandte er sich an Kommissarin Strodl, die neben der Tür stehen geblieben war und die Szene amüsiert beobachtete. »Eigentlich habe ich meine Leute ganz gut im Griff, aber Hauptkommissar Forster ist … na ja, etwas schwierig. Ich hoffe, Sie können mit seinen Macken umgehen.«
»Herr Götze! Bitte!« Berthold war aufgestanden und ging um den Schreibtisch herum. Er reichte der neuen Kollegin zum Gruß die Hand und stellte sich vor. Dann beugte er sich zum Dienststellenleiter hinüber und flüsterte: »Jessica ist am Wochenende verunglückt. Bisher können die Ärzte nicht sagen, ob sie es schafft. Haben Sie bitte Verständnis für Florian. Er möchte in der Nähe seiner Frau sein.«
»Wie ist das passiert?« Götze sah den jungen Beamten entsetzt an.
»Soviel ich weiß, hat jemand ihren Van von der Straße gedrängt. Die ganze Familie saß in dem Fahrzeug, aber Florian und den Kindern geht es soweit gut. Der Unfallverursacher ist flüchtig. Hauptkommissar Graf ermittelt in dem Fall.«
Götze atmete tief durch und sah zu Boden. »Gut. Ich werde mit Forster reden müssen. Wie ich ihn kenne, wird er keine Ruhe geben, bis der Schuldige gefasst ist. Und das ist bei Unfallflucht oft aussichtslos.« Er schaute auf und legte Berthold die Hand auf die Schulter. »Richten Sie bitte herzliche Genesungswünsche von mir aus, wenn Sie den Kollegen sprechen. Mit dem Sonderurlaub bin ich selbstverständlich einverstanden.« Er wandte sich an die junge Kommissarin. »Sie entschuldigen mich? Kommissar Willig wird sich Ihrer annehmen und Ihnen alles Weitere erklären. Ich gehe derweil zu Hauptkommissar Graf und informiere mich über die Ermittlungsergebnisse zur Fahrerflucht.«
*
Das leise Rauschen des Bildschirms auf dem Schreibtisch des Chefarztes war das einzige Geräusch im Raum. Die Fenster schienen gut isoliert zu sein, sodass man den Verkehr der nahe gelegenen Schnellstraße hier drinnen nicht hören konnte. Auch aus dem Flur drangen keine Laute durch die geschlossene Tür.
Florian schloss die Augen und lehnte sich zurück. Der Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, auf dem er vor wenigen Minuten Platz genommen hatte, war hart und unbequem, aber Florian war inzwischen so müde, dass er im Stehen hätte einschlafen können, wenn ihn die schrecklichen Bilder des Unfalls und die Sorgen um Jessica nicht wachhielten. Immerhin hatte er sich vorhin vom erfreulichen Zustand des kleinen Elias überzeugen können. Das Bein seines Sohnes war operativ gerichtet und stabilisiert worden. Nun ragten allerlei Schrauben und Stangen aus dem Verband hervor, aber der Kleine wirkte fröhlich und hatte Florian sofort erkannt. Paula war nach wie vor bei ihm.
Hinter ihm öffnete sich die Tür.
»Herr Forster? Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Die Visite dauert manchmal länger als geplant.« Der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung reichte ihm die Hand und setzte sich anschließend. »Mein Name ist Doktor Hafner. Ich habe Ihre Frau operiert. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie sehen nicht gut aus, Herr Forster. Hat Sie nach dem Unfall jemand durchgecheckt? Haben Sie überhaupt geschlafen?«
»Ich war kurz zu Hause. Meine Kinder brauchen mich auch. Aber nun wollte ich so schnell wie möglich wieder zu meiner Frau. Mir geht es gut. Wie geht es ihr? Ist sie endlich bei Bewusstsein?«
Den gesamten Sonntag hatte Florian an Jessicas Bett gewacht, obwohl sie nicht ansprechbar und an allerlei Infusionsschläuche und Messgeräte angeschlossen war und seine Anwesenheit nicht wahrnehmen konnte. Am Abend hatte sein Schwiegervater ihn abgelöst und die Nachtwache übernommen, sodass Florian zu Hause ein wenig ausruhen konnte. An Schlaf war kaum zu denken gewesen. Nach nicht einmal vier Stunden hatte ihn nichts mehr im Bett gehalten.
»Wir haben Ihre Frau in ein künstliches Koma versetzt. Das war notwendig, um die nun einsetzende Heilung bestmöglich zu unterstützen. Ich versuche Ihnen den Zustand Ihrer Frau zu erklären. Bitte unterbrechen Sie mich gern, wenn Sie etwas nicht verstehen.«
Florian nickte.
»Ihre Frau litt bei Einlieferung in die Klinik unter einem traumatischen Pneumothorax, einer Milzruption, einem leichten Schädel-Hirn-Trauma, diversen Kontusionen und einer Tibiafraktur des linken Beines. Die inneren Verletzungen haben uns besonders Sorgen gemacht, aber wir konnten die Einblutungen in die Lunge stoppen und auch eine Splenektomie verhindern.«
Florian wollte etwas sagen, doch das Denken fiel ihm schwer. Stattdessen rieb er sich mit der flachen Hand über die Nase.
»Sie haben kein Wort verstanden, oder?« Der Arzt faltete die Hände wie zu einem Gebet, stützte die Unterarme auf der Tischkante ab und beugte sich vor. »Entschuldigen Sie bitte. Ich vergesse manchmal, dass ich es bei Angehörigen nicht mit medizinischem Personal zu tun habe.«
»Schon gut«, sagte Florian und sah den Doktor beunruhigt an. »Das mit den inneren Verletzungen habe ich begriffen. Mir ist nur wichtig, dass sie wieder gesund wird. Können Sie dazu eine Prognose abgeben?«
»Aufgrund der Schwere und der großen Anzahl der Verletzungen haben wir Frau Forster – wie bereits erwähnt – in ein künstliches Koma versetzt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch keine Entwarnung geben. Vor allem die inneren Blutungen können noch zu Problemen führen. Aber nun warten wir erst einmal ab und gehen nicht gleich vom Schlimmsten aus.« Doktor Hafner warf einen Blick auf seinen Bildschirm und rief mit ein paar kurzen Eingaben auf der Tastatur Jessicas Patientenakte auf. »Mmh«, machte er und runzelte die Stirn. Dann wandte er sich wieder Florian zu. »Da wäre noch eine Sache, die ich Ihnen leider mitteilen muss. Das Kind hat es nicht geschafft. Es tut mir leid.«
Florian lächelte irritiert. »Sie irren sich. Meinem Sohn geht es gut. Ich war gerade bei ihm auf der Kinderstation. Die Prognosen für den Beinbruch stehen gut. Er wird keine bleibenden Schäden davontragen.«
»Das freut mich zu hören, Herr Forster.« Der Arzt setzte sich aufrecht hin und nickte. »Es geht um das ungeborene Kind. Wir konnten den Fötus nicht retten. Normalerweise nimmt mit dem dritten Schwangerschaftsmonat das Risiko einer Fehlgeburt deutlich ab, doch so ein Unfall kann schlimmste Folgen haben, die bei Ihrem Kind leider eingetreten sind. Und ich muss Ihnen außerdem mitteilen, dass eine weitere Schwangerschaft zukünftig ausgeschlossen ist. Es tut mir leid.«
Florian verschlug es die Sprache. Mehrere Sekunden blieb er reglos auf dem unbequemen Stuhl sitzen, dann sprang er abrupt auf, drehte sich auf dem Absatz um und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro des Chefarztes.
»Oh mein Gott! So etwas habe ich noch nie gesehen! Jedenfalls nicht live und real.« Sabine Strodl senkte den Blick und starrte auf ihre Schuhe. »Warum genau sind wir hier, Berthold? Es war doch nur ein tragischer Unfall. Reicht da nicht die Anwesenheit der Beamten der Verkehrseinheit?«
Kommissar Berthold Willig sah seine neue Kollegin irritiert an. Der tragische Unfall eines Linienbusses mit zahlreichen Verletzten und einigen tödlich Verunglückten war vor gut eineinhalb Stunden passiert. Alle Rettungsmaßnahmen waren bereits abgeschlossen, alle Verletzten auf dem Weg in die umliegenden Krankenhäuser oder bereits dort. Zurzeit sicherten zwei Streifenwagen und vier Beamte den Tatort und warteten auf das Team der Bergungstruppe, die mit schwerem Gerät anrücken musste. Der Bus lag neben der Straße auf der Seite. Ein kurzer, laienhafter Blick reichte aus, um zu sehen, dass die Vorderachse gebrochen und die Vorderreifen geplatzt waren. Die Felge des linken Vorderrades war verbogen, die Frontscheibe zerschlagen. In den Bus hatte Berthold bisher nicht geschaut, doch die hohe Anzahl an schwer verletzten Insassen ließ vermuten, dass die Zerstörung im Inneren ebenfalls verheerend war.
Erst jetzt begriff Berthold, was seine Kollegin so aus der Fassung brachte. »Ach so. Verstehe«, sagte er, nachdem er den Kinderwagen wenige Meter vor ihnen im nassen Gras liegen sah. Trotz der Feuchtigkeit des morgendlichen Frühtaus war die dunkle Blutlache auf dem Boden gut zu erkennen. Ein Teddy lag bäuchlings daneben. Es sah aus, als würde das Stofftier bluten. Berthold blätterte durch die Liste der Passagiere, die ein Beamter ihm gegeben hatte, überflog die Namen und Angaben und nickte dann. »Es waren nur zwei Kleinkinder im Bus.« Er hielt seiner Kollegin die Liste entgegen und tippte auf den handschriftlichen Vermerk. »Beide Kinder sind unverletzt«, las er vor. »Auf diese Aufzeichnungen kann man sich verlassen. Die Beamten, die als Erste am Tatort waren, kenne ich gut. Die machen ihre Arbeit gewissenhaft und gründlich. Das sagt sogar Florian.«
Kommissarin Strodl lachte amüsiert. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du Hauptkommissar Forster ständig erwähnst? Du bist schwer beeindruckt von deinem Vorgesetzten. Muss ein außergewöhnlicher Mann sein, dein Chef.«
Berthold nickte. »Das ist wahr. Von ihm habe ich sicher mehr gelernt, als ich in den nächsten Wochen auf der Polizeischule beigebracht bekommen werde. Du wirst ihn bald kennenlernen. Nächste Woche kommt er wieder zur Arbeit.« In ein paar Tagen begann Kommissar Berthold Willigs Ausbildung zum Oberkommissar. Er würde in München für einige Monate die Polizeischule besuchen. Kommissarin Sabine Strodl war bis zu seiner Rückkehr seine Vertretung.
»Ich hoffe, Forsters Frau geht es inzwischen besser.« Die Polizeibeamtin hatte Berthold die Liste der Unfallbeteiligten abgenommen und zählte die notierten Namen. »58 Personen waren im Bus. Das scheint mir ein wenig viel. Wie viele Sitzplätze hat so ein Fahrzeug?«
Berthold zuckte mit den Schultern. »Zuallererst werden wir uns bei Hauptwachtmeister Hehl erkundigen, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Er ist Sachverständiger für Verkehrsunfälle. Die Straße ist trocken und an dieser Stelle pfeilgerade. Vor einem halben Jahr wurde sie frisch asphaltiert. Schlaglöcher kommen deshalb vermutlich auch nicht infrage.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen uniformierten Beamten auf der anderen Straßenseite, der sich an die Motorhaube eines Streifenwagens lehnte und Fotos auf dem Bildschirm einer digitalen Spiegelreflexkamera betrachtete. »Kannst du das übernehmen, Sabine? Ich befrage derweil die Ersthelfer. Wenn der Busfahrer ansprechbar war, hat er möglicherweise Auskunft gegeben. Ansonsten fahren wir im Anschluss gleich ins Krankenhaus.«
»Vielleicht stand der Fahrer unter Alkoholeinfluss«, mutmaßte Kommissarin Strodl. »Oder er hatte einen Herzinfarkt.«
»Wie auch immer.« Berthold griff nach der Liste. »Wenn Florian nächste Woche zurückkommt, müssen all diese Informationen auf seinem Schreibtisch liegen.«
»Ich schlage vor, wir klären die Sache schnell auf. Dann brauchen wir Herrn Forster nicht an seinem ersten Tag mit einem tragischen Verkehrsunfall zu nerven.« Sabine Strodl wandte sich ab und ging zur Straße. »Herr Hehl?«, rief sie dem Beamten mit der Kamera zu. »Darf ich Ihnen zum Unfallhergang ein paar Fragen stellen?«
*
Jessica hatte mehrere Tage im künstlichen Koma gelegen. Florian war nicht von ihrer Seite gewichen, hatte beinahe jede Minute an ihrem Bett verbracht und war nur nach Hause gefahren, um zu schlafen, zu duschen und zu essen. Seit sie wieder bei Bewusstsein war und die Ärzte ihr eine gute Prognose zur Genesung gestellt hatten, hatte er seine täglichen Besuche im Krankenhaus auf ein Minimum reduziert. Er kümmerte sich stattdessen um die Kinder, die zuvor hauptsächlich von seinem Schwiegervater gehütet worden waren. Herbert lebte seit über einem Jahr in der Einliegerwohnung ihres Hauses und war eine große Hilfe, denn Elias war bereits vor zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen worden und benötigte aufgrund seines komplizierten Beinbruches weiterhin intensive Betreuung.
Heute war es so weit: Jessica durfte nach Hause.
»Geht’s?« Florian lief um den Wagen herum und zog die Beifahrertür auf, die Jessica bereits entriegelt hatte. »Soll ich dir helfen?«
Sie reichte ihm die Krücken, die sie während der Fahrt zwischen den Beinen platziert hatte, und sah ihn hilflos an. »Allein komme ich nie aus dem Auto.«
Jessica hatte sich im Krankenhaus erstaunlich schnell erholt. Die behandelnden Ärzte waren zufrieden mit ihrer Rekonvaleszenz. Seit sie jedoch in der Klinik mit der Physiotherapie begonnen hatte und ihr mehr und mehr bewusst wurde, welche Arbeit und Mühe noch erforderlich waren, bis sie wieder ganz die Alte sein würde, wuchs ihre Frustration. Vorsichtige Schätzungen des Therapeuten stellten eine mehrmonatige Nachbehandlung in Aussicht. So lange war sie auf Hilfe angewiesen. Das gefiel ihr gar nicht. Sie wurde zusehends mut- und kraftloser. Ihre gute Laune war meist gespielt. Den Kindern konnte sie etwas vormachen, ihrem Mann jedoch nicht.
»Es wäre vielleicht besser gewesen, du hättest in die stationäre Reha eingewilligt«, sagte Florian, griff nach ihrem Arm und half ihr beim Aussteigen. »Es ist mir ein Rätsel, wie du in unserem Haus die Treppe hinaufkommen willst. Ich bin schließlich nicht ständig da.«
Es sollte kein Vorwurf sein, doch seine Worte brachten sie zum Weinen. Das passierte in den letzten Tagen oft.
Florian nahm sie in den Arm. »Hey, Jessy. Du hast so gekämpft, um schnell nach Hause zu dürfen. Jetzt sind wir da. Schau! Die Kinder haben ein Willkommensschild für dich gemalt.«
Über der Eingangstür hing ein großes Plakat, und viele bunte Luftballons zierten das Geländer der Steintreppe vor dem Haus. Jessica lächelte dankbar. Er küsste ihre Stirn, ließ sie los und reichte ihr die Krücken. »Komm. Alle warten schon sehnsüchtig auf dich.«
Die Begrüßungsfeier hatte Paula, Jessicas beste Freundin, zusammen mit den großen Kindern organisiert. Svenja hatte einen Kuchen gebacken, und Tobias war bemüht wie ein kleiner Diener, Jessica jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er brachte ihr Getränke, ein weiches Kissen zum Sitzen und schob einen Hocker neben ihren Platz, damit sie ihr eingegipstes Bein darauf ablegen konnte. Seinen eigenen Gips war Tobias vor zwei Tagen losgeworden. Der Bruch war gut verheilt.
Florian wusste Jessica im Kreise der Familie gut versorgt und verließ das Haus nach wenigen Minuten. Er wollte ins Präsidium fahren, um Berthold zu verabschieden und eine geregelte Übergabe der laufenden Fälle zu gewährleisten. Sein offizieller Dienst begann erst am Montag, doch da würde sein Kollege bereits in München sitzen und die Schulbank drücken. Heute war die letzte Möglichkeit, ihn noch persönlich zu sprechen.
*
Die Kleider, die er ihr gebracht hatte, waren viel zu groß, aber von guter Qualität. Derart teure Blusen und Röcke hätte sie sich nie leisten können. Das glaubte sie zumindest, denn sie konnte sich immer noch nicht an ihr altes Leben erinnern. An das Leben vor der Gefangenschaft. Sie fühlte sich unsicher und unwohl. Das lag weniger an der schlecht sitzenden Bluse, deren Ärmel zu lang waren, und dem zu weiten Rock, der nur über ihren schmalen Hüften hielt, weil sie einen Gürtel trug. Seit Tagen hielt er sie hier gefangen. Sie hatte zwölfmal für eine längere Zeit auf dem kalten Steinboden geschlafen und inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. In ihrem Gefängnis war es immer dunkel, weil es kein Fenster gab. Nur wenn er Essen brachte, kam er mit der Öllampe und dem ersehnten Licht. Nur dann wurde die Umgebung sichtbar und damit real. Nur dann war sie nicht allein in dieser unwirklichen Welt.
»Was wünschst du dir?« Diese Frage stellte er ihr bei jedem seiner Besuche, und jedes Mal schwieg sie beharrlich und blieb ihm eine Antwort schuldig. Sie fürchtete sich vor dem Mann, der so freundlich zu ihr war, dessen Stimme gütig klang und dessen Augen sie liebevoll ansahen. Sie fürchtete sich vor ihm, weil er sie gefangen hielt.
Heute allerdings nahm sie all ihren Mut zusammen. »Es ist so dunkel hier. Mir geht es nicht gut. Darf ich gehen?«
Sein herzlicher Gesichtsausdruck wurde schlagartig ärgerlich. Er griff nach der Lampe und dem leeren Teller, auf dem er ihre Mahlzeit gebracht hatte, drehte sich um und ging zur Tür. »Du darfst alles haben«, sagte er streng, ohne sich umzudrehen. »Alles. Nur das nicht. Noch nicht.« Er verließ den Raum und schloss die Tür.