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Sammelband: Die ersten drei Fälle für Kommissare Jessica Grothe und Florian Forster in einem Band. Schattenklamm: Mitten im schönen Allgäu geschieht ein brutaler Mord. Jessica Grothe, eine Hamburger Hauptkommissarin, die gerade in die Gegend gezogen ist, gerät unfreiwillig in die Ermittlungen des Kemptener Hauptkommissars Florian Forster. Er vermutet eine Verbindung zu einem Verbrechen in der Hansestadt. Viel zu spät erkennt Jessica die lauernde Gefahr, in der sie und ihre Familie schweben. Als auch noch Hauptkommissar Forster spurlos verschwindet, beginnt für Jessica ein Wettlauf um Leben und Tod. Schonfrist: Der jährliche Kemptener Stadtmarathon wird zum Schauplatz eines Mordes. Schnell wird ein 16-jähriger Junge als Täter ermittelt, doch ist der Teenager wirklich schuldig? Und was ist mit dem anderen Jungen, der plötzlich auftaucht, den niemand kennt und den niemand als vermisst gemeldet hat? Hat er etwas mit dem Mord zu tun? Hauptkommissar Forster ermittelt fieberhaft, doch der wahre Täter scheint ihm immer einen Schritt voraus zu sein. Tödliche Klamm: Im Allgäu richtet ein Jahrhundertunwetter großen Schaden an. Als ein verheerender Erdrutsch in der Breitachklamm eine Leiche freilegt, stellt deren Identifizierung Hauptkommissar Florian Forster zunächst vor ein scheinbar unlösbares Rätsel. Seine Kollegin Jessica Grothe ermittelt währenddessen in einem schweren Verkehrsunfall. Hinweise legen nahe, dass ihre beiden Fälle miteinander zusammenhängen. Doch was hat der Unfall mit den sterblichen Überresten in der Felsspalte zu tun?
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Seitenzahl: 1178
Mia C. Brunner
Schattenklamm
Schonfrist
Beweislast
Allgäu-Krimis
Schattenklamm
Auf einem Parkplatz in Kempten wird ein Mann kaltblütig und scheinbar völlig grundlos erschossen. Der einzige Hinweis, dem der Kemptener Hauptkommissar Florian Forster nachgehen kann, führt nach Hamburg. So gerät die ehemalige Hamburger Hauptkommissarin Jessica Grothe, die seit einigen Monaten im Allgäu wohnt, zuerst in die Rolle der Verdächtigen, dann unfreiwillig in die der Ermittlerin. Im Umfeld des Ermordeten scheint niemand ein Motiv zu haben. Erst als Hauptkommissar Forster plötzlich spurlos verschwindet, begreift Jessica die wahre Tragweite dieses dramatischen Falles und erkennt, in welcher Gefahr sie und ihre Familie schweben. Kann sie die drohende Katastrophe zusammen mit Hauptkommissar Forsters Kollegen noch rechtzeitig verhindern? Oder wird es noch mehr unschuldige Opfer geben? Ein Wettlauf um Leben und Tod beginnt.
*
Schonfrist
Der Mord an einem Polizisten auf offener Straße beschäftigt Hauptkommissar Forster. Seine neue Kollegin Claudia Pechschwader aus München ist fest davon überzeugt, den Täter kurze Zeit später bereits überführt zu haben. Alle Beweise scheinen eindeutig, doch Florian Forster glaubt an die Unschuld des 16jährigen Hauptverdächtigen und ermittelt in eine andere Richtung. Als ein weiterer Teenager auftaucht, der weder einen Namen hat, noch von irgendjemandem vermisst zu werden scheint, führt die Spur Florian Forster und die ehemalige Hauptkommissarin Jessica Grothe nach Norddeutschland. Doch was hat dieser Junge mit dem Mord in Kempten zu tun? Und warum müssen die beiden plötzlich so tief in der Vergangenheit graben? Als sie schließlich den wahren Grund erkennen, ist es beinahe zu spät. Werden sie schneller sein als der wahre Mörder und einen weiteren Mord verhindern?
*
Tödliche Klamm
In den Voralpen wütet ein Jahrhundertunwetter. Als ein gewaltiger Erdrutsch in der Breitachklamm im idyllischen Oberallgäu eine verweste Leiche freilegt, stellt deren Identifizierung Hauptkommissar Florian Forster zunächst vor ein scheinbar unlösbares Rätsel. Niemand in der Gegend wurde zur fraglichen Zeit als vermisst gemeldet und auch die polizeiliche Datenbank liefert keine verwertbaren Hinweise. Wer ist die unbekannte Person und warum musste sie sterben? Seine Kollegin Jessica Grothe ermittelt währenddessen in einem schweren Verkehrsunfall. Hinweise legen nahe, dass ihre beiden Fälle miteinander zusammenhängen. Doch was hat der Unfall mit den sterblichen Überresten in der Felsspalte zu tun? Während die Ermittlungen nur sehr schleppend verlaufen, kommt Forsters ganz persönlicher Erzfeind ihm und seiner Familie wieder gefährlich nahe …
Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit fast 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimierfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. Nach »Schattenklamm« und »Schonfrist«, ebenfalls erschienen im Gmeiner Verlag, ist »Tödliche Klamm« ihr dritter Allgäukrimi.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Produktion: Mirjam Hecht
Covergestaltung: Susanne Lutz unter Verwendung von © M W / Pixabay
ISBN 978-3-7349-9470-8
Schattenklamm
Copyright der Originalausgabe © 2016 by Gmeiner-Verlag GmbH
Schonfrist
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Gmeiner-Verlag GmbH
Tödliche Klamm
Copyright der Originalausgabe © 2019 by Gmeiner-Verlag GmbH
Schattenklamm
Schonfrist
Tödliche Klamm
»Nein danke, wirklich nicht.« Martin Hansen schüttelte nicht nur vehement den Kopf, sondern hob zusätzlich noch abwehrend die Hand.
»Ach, komm schon, Martin. Das wird doch lustig.« Die junge gut aussehende Frau mit der etwas ungewöhnlichen dunkelbraunen Lockenpracht legte herausfordernd ihren Kopf leicht schräg und lächelte, unterstrich ihre Geste noch mit einem ausgedehnten »Bitte«, und zog schließlich schulterzuckend ab, als Martin erneut dankend, doch dieses Mal etwas rüder, ablehnte.
»Es reicht mir schon, dass ich überhaupt hier sein muss, da will ich mich nicht auch noch bei dämlichen Partyspielen zum Affen machen«, zischte er seinem besten Freund und Kollegen Wolfgang zu, der neben ihm stand und zustimmend nickte. Diese Party hier war der reinste Kindergeburtstag.
Doch die jährliche Weihnachtsfeier im hiesigen Polizeirevier war eine Pflichtveranstaltung, vor der man sich nicht so leicht drücken konnte. Wie in jedem Jahr wurde die Kantine in einen Partyraum umgewandelt, winterlich geschmückt und mit allerlei stimmungsvollen Liedern beschallt. Die Kolleginnen und Kollegen der Davidwache im Hamburger Stadtteil St. Pauli feierten ausgelassen, sangen vergnügt und lauthals die abgedroschenen Weihnachtslieder mit, die von Schnee, Schlittenfahrten und klingenden Glöckchen handelten, und aßen und tranken viel zu viel. Von weißer Weihnacht waren die Reeperbahn und ganz Hamburg jedoch weit entfernt. Draußen fielen dicke Tropfen auf den Asphalt und die wenigen Menschen, die sich bei diesem Wetter überhaupt auf die Straße trauten, liefen tief gebückt, mit hochgestellten Mantelkrägen oder unter großen Schirmen vor Nässe geschützt, so schnell sie konnten zu dem Ziel ihrer Träume. Selbst die Nutten hatten sich heute in ihre Löcher verkrochen. Kundschaft gab es bei diesem Wetter höchstens in der Herbertstraße oder in den unzähligen schillernden Klubs, die an so einem verregneten Tag nicht nur Amüsement, sondern auch Wärme und Trockenheit boten. Es würde ein ruhiger Abend für die diensthabenden Polizisten werden und das war gut so, denn richtig feiern konnten die Beamten nur, wenn sie wussten, dass ihre arbeitenden Kollegen nichts auszustehen hatten.
Polizeiobermeister Wolfgang Reuter lehnte mit dem Rücken an der Wand neben der Tür, die linke Hand in der Hosentasche, die rechte hielt ein Glas Bier. Er zog es genau wie Martin vor, den ganzen Trubel aus der Ferne zu beobachten.
»Hallo, ihr beiden!« Eine kleine rothaarige, etwas untersetzte Frau baute sich vor ihnen auf. »Warum probiert ihr nicht den Punsch? Zu Weihnachten trinkt man doch kein Bier«, sagte sie und versuchte dabei, recht streng und ermahnend zu schauen. Da sie aber aufgrund ihrer gerade mal einsfünfundfünfzig weit zu den beiden Männern hochschauen musste und da noch dazu ihre Augen strahlten, sei es nun, weil sie sich so sehr amüsierte oder weil sie selbst schon ein paar Gläser Punsch intus hatte, verlor die gespielte Strenge ihre Wirkung und alle drei prusteten wie auf Kommando los.
»Nee, Irene, vielen Dank.« Martin schüttelte heftig den Kopf. »Ich verarbeite immer noch den Alkohol von der letzten Weihnachtsfeier. Das Zeug war die Hölle.« Wolfgang stimmte lachend in das Kopfwackeln ein, nur dass er im Gegensatz zu seinem Freund heftig nickte.
»Genau«, brummte er. »Ich war drei Tage tot nach diesem Teufelszeug. Das will ich nicht noch einmal riskieren. Morgen ist ein Ausflug mit den Kindern geplant«, erklärte er, hob sein Glas und prostete ihr lächelnd zu. Irene war sozusagen die gute Seele der Wache. Als Schreibkraft erledigte sie unliebsame Tipparbeiten genauso wie die Vorsortierung der Post. Außerdem kochte sie den besten Kaffee von ganz Hamburg und hatte ein offenes Ohr für die Probleme der Kollegen und immer einen kessen Spruch auf den Lippen. Wolfgang mochte sie sehr und wusste, dass es nicht nur ihm so ging.
»Gestorben ist noch keiner an dem Punsch«, kicherte Irene nun und schlug ihr Glas klirrend an das Bierglas von Wolfgang. »Du gibst allerdings eine prima Zielscheibe ab«, flüsterte sie augenzwinkernd und tippte Wolfgang mit dem Zeigefinger auf die Brust. Genau über seinem Herzen leuchtete ein blutroter, kreisrunder Fleck. »Ketchup?«, fragte sie, grinste breit und ließ die beiden Männer einfach stehen.
»Scheiße, so ein Mist.« Fluchend rieb Wolfgang mit dem Hemdärmel über seine Brust. Natürlich hatte diese Aktion nur zur Folge, dass der Fleck größer wurde und der Ärmel ebenfalls rote Farbe annahm. »Warum hast du denn nichts gesagt?« Vorwurfsvoll schaute er seinen Freund an, der nur entschuldigend die Schultern hob, reichte ihm schließlich sein Bierglas mit den Worten: »Sofort die Luft rauslassen. Bin gleich wieder da« und verließ die Kantine in Richtung Umkleideräume.
Wolfgang Reuter war Streifenpolizist mit Herz und Seele. Er liebte seinen Job, mochte sein Revier und war gleichermaßen beliebt bei Arbeitskollegen und den Menschen auf der Straße. Natürlich nicht bei denen, die Dummheiten machten, die meinten, das Gesetz könnte hier und da etwas gebeugt werden zu ihren Gunsten. In diesen Dingen verstand Wolfgang überhaupt keinen Spaß. Und ebenso wenig mochte er Unordnung und Dreck. Er war einer der wenigen Polizisten, dessen Schreibtisch immer aufgeräumt, dessen Kleidung immer sauber und dessen Ausdrucksweise immer korrekt war. Ein kleiner Fehler, eine kleine Unachtsamkeit hatte große Folgen, also lebte er mit dem Vorsatz, allen Unwägbarkeiten schon im Vorfeld vorzubeugen.
Gerade als er ein frisches Hemd aus seinem Spind zog, klingelte sein Handy.
Nach einem kurzen verwunderten Blick auf das Display lächelte er zufrieden.
»Hallo Schatz«, begrüßte er seine Frau und knöpfte sein Hemd auf. »Alles in Ordnung?«
»Ja, mein Mausebär. Ich wollte nur deine Stimme hören«, kam ihr klingender Sopran durch das Telefon. Wolfgang liebte ihre glockenhelle Stimme. Seine Frau sang die Worte mehr, als dass sie sie sprach, und das gefiel Wolfgang sehr. Sie verbreitete so immer Freude und gute Laune. Er war gesegnet, eine solche Frau gefunden zu haben, und oft wunderte er sich, wie er dieses Glück verdient hatte.
Lächelnd machte er sich auf den Weg ins angrenzende Badezimmer, legte das saubere Hemd vorsichtig auf eines der Waschbecken und zog sich das schmutzige aus.
»Ich vermisse dich auch«, hauchte er mit tiefer, brummender Stimme, weil er wusste, wie sehr seine Frau das liebte. »Was hältst du davon, wenn ich hier die Zelte abbreche und gleich nach Hause komme?« Doch dann fiel ihm ein, dass auch seine Frau heute auf einer Weihnachtsfeier war und seine Kinder den Abend mit ihrer Tante verbrachten. »Bist du noch mit Jutta und Sylvia unterwegs?«
»Ja, wir sind im Apollo! Doch ich habe mich auf die Toilette verzogen, um mal kurz mit dir zu sprechen. Himmel, die spielen hier heute nur so doofe Weihnachtsmusik. Ist nicht zum Aushalten. Es ist ja nicht so, dass man in den Geschäften schon seit Wochen mit diesem Mist vollgedröhnt wird«, jammerte sie und ihre Stimme hallte vom Echo des gefliesten Raumes, in dem sie gerade stand. »Wenigstens hier hat man seine Ruhe.«
Wolfgang lachte. »Ja, ich bin auch gerade im Bad«, erklärte er. »Weihnachtsmusik ist echt ätzend.«
Eine kurze Pause entstand, dann seufzte seine Frau plötzlich und er hörte sie sagen: »Ich haue hier auch ab. Ich werde meinen Mädels einfach vorlügen, mir wäre nicht gut, und dann komme ich nach Hause. Treffen wir uns dort in einer halben Stunde?«, flüsterte sie verführerisch, wartete seine Antwort aber nicht ab und legte einfach auf.
Das war typisch für seine Frau, dachte Wolfgang lächelnd. Und genau diese Art von Spannung, diese unterschwellige Erotik, die immer wieder aufflammte, hielt ihre Beziehung spannend und aufregend. Ja, dieser Abend versprach nett zu werden. Zufrieden warf er das mit Ketchup befleckte Hemd auf ein weiteres freies Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Erstens wollte er die noch feuchten Ketchupflecken auswaschen und zweitens sich selbst kurz frisch machen. Warum sollte er kostbare Zeit zu Hause mit Duschen verschwenden, wenn er doch gleich mit den wichtigen Dingen beginnen konnte und noch dazu angenehm riechen würde! Er drückte mit dem Ellenbogen auf den Seifenspender und ein Schwall giftgrüner Seife ergoss sich über seine Hand. Achseln, Hals und Brust wurden kräftig eingeseift und mit klarem Wasser abgespült. Zum Abtrocknen gab es leider nur diese kleinen Papierhandtücher, doch im Umkleideraum würde er sicher noch ein Handtuch finden. Als er den Waschraum verlassen wollte, schwang plötzlich die Tür weit auf und er sprang erschrocken einen Schritt zurück, um einer gebrochenen Nase oder einer Beule auf der Stirn vorzubeugen.
Verwundert starrte er den Eindringling an. Schließlich gewann er seine Fassung wieder.
»Du? Was machst du denn hier?«, fragte er, entspannte sich aber schließlich merklich und lächelte.
Sein Gegenüber schaute ihn ernst an. Keine Spur von einem Lachen, doch jede Menge Hass und Wut im Blick.
Wolfgang Reuter war verunsichert und vergaß in diesem Augenblick sogar sämtliche in seiner Ausbildung gelernten und immer wieder erfolgreich angewendeten Redetaktiken, wenn er Verbrechern gegenüberstand. Verbrechern? So ein Quatsch. Das hier war schließlich kein Verbrecher, das hier war …
Scheiße!
Eine Pistole blitzte vor ihm auf und zielte genau auf seine Brust, genau auf den Punkt, den der Ketchupfleck vor Kurzem noch so blutrot markiert hatte. Es war eine SIG Sauer, eine gängige Dienstwaffe, die zur Ausrüstung jedes Polizisten gehörte. Langsam wurde er panisch.
»Hallo, Wolfgang«, tönte die Stimme seines Gegenübers beinahe dröhnend an sein Ohr. Ein Strom von Adrenalin donnerte durch seine Venen und er hatte das dringende Bedürfnis zu fliehen, doch er rührte sich nicht. Ihm wurde heiß und er spürte sein Herz heftig und hämmernd in seinem Hals schlagen. Schweiß brach ihm auf der Stirn aus und er trat langsam einen Schritt zurück. »Lange nicht gesehen!«
»Was soll das? Das willst du doch nicht wirklich tun«, brachte der Polizist in ihm schließlich hervor und der einfache Mann in ihm fragte verzweifelt: »Warum?« Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Angst und er begann fast hemmungslos zu zittern. Langsam und um Fassung bemüht schüttelte er den Kopf, doch von dem Eindringling, der Person, die nicht in dieses Badezimmer gehörte, kam nicht der Hauch einer Reaktion. Dann lächelte sie überlegen und arrogant.
»Das hättest du nicht tun dürfen, Wolfgang«, sagte sein Gegenüber und Aggressivität und Hass schwang in seiner Stimme mit. Doch nicht diese Art von Hass, die wütend und unkontrolliert war, dieser Hass, der Menschen Fehler machen ließ, weil sie bei ihren Reaktionen nicht auf den Ausgang ihrer Handlungen achteten, die Art von unkontrollierter Wut, die nur noch zu Reaktionen fähig war und keinen klaren Gedanken mehr zuließ. Hier sah und spürte Wolfgang eiskalten und absolut berechnenden Hass. Diese Aktion hier im Badezimmer war bis ins Detail durchdacht, geplant und würde gerade deshalb auch garantiert ausgeführt werden.
»Bitte«, flehte er schließlich, als sich der bösartige Gesichtsausdruck seines zukünftigen Mörders nicht änderte. Aus starken eiskalten Augen wurde er angestarrt und so weiter an die harte hellblau geflieste Wand getrieben. Sein nackter Rücken presste sich gegen die kühlen Fliesen, doch er nahm die Kälte nicht wahr, sondern konzentrierte sich darauf, seinen Herzschlag wieder ruhig zu bekommen und seine Stimme wiederzufinden. Er musste reden. Solange er redete, würde sein Gegner nicht schießen.
»Warum? Was bringt dich dazu …«, stöhnte er dieses Mal. Jedes Wort, das seine Lippen verließ, war schwer wie Blei und es kostete ihn große Mühe, es überhaupt hinauszubekommen. Angst und Panik schnürten ihm die Kehle zu und seine Gedanken überschlugen sich. Er fand keine Erklärung, keinen noch so kleinen Grund für seine ausweglose Lage. Er fühlte sich zu Unrecht bedroht. Das hier war einfach nicht richtig.
»Was mich dazu bringt?« Er hörte hämisches Lachen und erkannte diese Stimme nicht wieder. Die dreckige Verachtung und die lodernd heiße Wut vergifteten die Raumluft und ließen ihn schwer nach Atem ringen. Sein Blick trübte sich, das Bild der Waschbecken und Toilettentüren verschwamm vor seinen Augen und erst jetzt begriff er, dass er weinte. Wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er seinen Gegner so beruhigen, doch dieses Verhalten beruhigte nicht einmal ihn. Instinktiv griff er nach seinem Handy, das neben dem sauberen Hemd auf dem Waschbeckenrand lag. Kurz überlegte er, ob er damit werfen sollte, ob diese Aktion seinen Angreifer ablenken würde, ob er so seinen Gegner überwältigen könnte, doch er dachte diesen Gedanken nicht zu Ende. Nicht, weil es vielleicht keine gute Idee gewesen wäre, sondern weil ganz andere Gedanken sein Gehirn blockierten und den Wunsch nach Flucht komplett verdrängten.
Er atmete schwer. Warum hatte er nach dem Telefon gegriffen? Wen sollte er anrufen? Und vor allem, wieso sollte sein Mörder zulassen, dass er überhaupt um Hilfe rief?
Er könnte schreien!
Würde ihn jemand hören? Würde er jemanden in eine tödliche Falle locken, wenn er sich bemerkbar machte? Würde er … würde er seine Kinder jemals wiedersehen?
Die Gewissheit traf ihn hart, doch sie ließ ihn schlagartig ganz ruhig werden. Er würde sterben, er würde diesen Raum nicht lebend verlassen. Er würde seine beiden Kinder niemals wiedersehen.
»Okay«, schloss er verbittert, aber seelenruhig sein Leben ab. »Dann drück ab!«
Er hörte den Schuss nicht, fühlte nur die Wucht der Explosion in seiner Brust, spürte keinen Schmerz, aber auch keine Angst mehr. Das Gefühl für seinen Körper verließ ihn gänzlich. Seine Beine gaben nach, widersetzten sich jeglichem Versuch der Kontrolle und sackten einfach in sich zusammen. Langsam rutschte er an der glatten Wand hinunter, bis sein Hintern den Boden berührte und sein Oberkörper zur Seite kippte und schwer auf dem Boden aufschlug. Er hatte vergessen zu atmen und sog mühsam die trübe Luft durch seinen Mund, füllte seine Lungen mit Sauerstoff und schmeckte verbrannten Atem und Eisen auf seiner Zunge.
Schlagartig setzte der Schmerz ein und ließ ihn stöhnen. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
War Hilfe gekommen?
Gab es Rettung?
Gut, dass sein beflecktes Hemd jetzt nicht auch noch Blut durchtränkt war. Blut war schwer wieder rauszubekommen, hatte er einmal gehört. Seine Hand fuhr instinktiv an das klaffende blutende Loch in seiner nackten Brust und er presste mit aller Kraft seine Finger dagegen, um den Blutfluss zu stoppen, um den Tod aufzuhalten, um den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen. Doch als er mühsam an sich hinuntersah, bemerkte er, dass nichts – keine Hand, keine Finger – sein Blut aufhielt, weiter ungehindert seinen Körper zu verlassen. Sein Arm lag reglos hinter seinem Rücken, unwirklich verschränkt und ebenso nutzlos wie der Rest seiner Gliedmaßen.
Ergeben schloss er die Augen, rief sich das Bild seiner beiden Kinder ins Gedächtnis, atmete ein letztes Mal aus und ging für immer.
Wieder und wieder stieß die kleine Handschaufel in die kalte, schwarze Erde und grub kleine Löcher von etwa 15 Zentimeter Tiefe. Eins neben dem anderen.
Jessica Grothe kniete im viel zu hohen Gras vor dem noch recht kargen Beet am Grundstücksrand, hob die Hand, in der sie die Schaufel hielt, und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke den Schweiß von der Stirn. Dunkler Sand rieselte auf ihre Jeans.
Es war Oktober, ein sonniger Tag, doch der kalte Wind ließ einen frösteln, wenn man sich nicht einhüllte in warme Klamotten oder sich ausreichend bewegte. Wenn man beides tat, dann kam man ganz schön ins Schwitzen.
»Tante Jessi?« Das kleine, blonde Mädchen neben ihr sah sie fragend an. »Warum pflanzen wir die Blumen jetzt, wo doch schon bald der Winter kommt? Blumen mögen doch den Winter nicht, oder?« Auf allen vieren kroch die Kleine näher zu Jessica und setzte sich neben sie ins Gras, dann zog sie den Korb mit den Tulpenzwiebeln zu sich heran, griff hinein und versenkte eine der Zwiebeln in einem der noch freien Löcher.
»Das stimmt, Svenja«, gab ihre Tante zu. »Doch die Tulpen bleiben im Winter unter der Erde und sobald es im Frühjahr warm wird, kommen sie heraus und blühen in den schönsten Farben. Tulpen und Krokusse sind die ersten bunten Blumen zu Beginn der warmen Jahreszeit«, erklärte sie, nahm dann ebenfalls eine Tulpenzwiebel aus dem Korb und hielt sie ihrer Nichte vors Gesicht. »Hast du daran gedacht, dass du die Zwiebeln immer mit dem Popo nach unten in die Erde legst?«
Svenja kicherte: »Klar, sonst wachsen sie ja in die falsche Richtung und kommen in Australien heraus.« Dann nahm sie Jessica die Zwiebel aus der Hand und stopfte sie in ein Erdloch. »Gute Nacht, kleine Blume«, sagte sie und füllte das Loch mit Erde auf. »Bis zum Frühling, dann sehen wir uns wieder.«
Jessica schmunzelte. Die Tochter ihrer Schwester Susanne war ein so fröhliches, liebreizendes Mädchen, überhaupt nicht schüchtern, doch höflich und stets darauf bedacht, anderen zu helfen. Und dabei war sie gerade erst sechs Jahre alt. Vor ein paar Wochen wurde sie eingeschult und ging seit diesem Tag jeden Morgen stolz und erhobenen Hauptes in die nahe liegende Grundschule, erledigte sorgfältig die Hausaufgaben und war dann stets mit Kindern aus der Nachbarschaft oder aus ihrer Klasse zum Spielen verabredet. Susanne konnte wirklich stolz auf sie sein. Auf ihre beiden Kinder, denn auch ihr kleiner Sohn Tobias entwickelte sich prächtig. Tobias war noch nicht ganz drei Jahre alt und besuchte einen Kindergarten am Stadtrand. Trotz anfänglicher Befürchtungen, er würde nicht dort bleiben wollen, hatte auch bei ihm alles wunderbar geklappt und er hatte sich ohne Probleme gut in die neue Gruppe integriert.
»Meinst du, Oma und Opa kommen nicht doch schon heute?« Svenja drückte die letzte kleine Blumenzwiebel in die Erde und rieb dann ihre schwarzen Hände an ihrer Cordhose ab. »Wenn der Zug ganz schnell fährt, dann kommen sie vielleicht früher«, sagte sie hoffnungsvoll.
Gespielt entsetzt schlug Jessica die Hände über dem Kopf zusammen: »Himmel, nein. Ich hoffe, die beiden lassen sich noch ein bisschen Zeit. Wir haben doch noch nicht einmal den Kuchen gebacken.«
Svenja nahm die Hand ihrer Tante und ließ sich von ihr hochziehen. »Ja«, nickte sie zustimmend. »Gut, wenn Oma und Opa erst morgen kommen. Falls der Kuchen anbrennt, können wir morgen immer noch einen kaufen.«
Das heiße Wasser lief in breiten Rinnsalen über ihren schlanken Körper und wärmte und belebte sie gleichermaßen. Jessica liebte es, richtig heiß zu duschen. So heiß, dass es beinahe schon wehtat. So heiß, dass dicke Nebelschwaden die Luft im ganzen Badezimmer in eine trübe milchig-matte Soße verwandelte, warmer Sauerstoff beim Atmen in ihre Lungen strömte und sie auch von innen wärmte. Nachdem das Wasser auch die letzten Reste Seifenschaum aus ihrem schulterlangen Haar gespült hatte, griff sie nach der Mischbatterie und drehte den Hebel von links ganz nach rechts, sodass die eben noch brühheißen Tropfen schlagartig um gute 30 Grad kälter auf ihren Körper prasselten. Wie immer biss sie fest die Zähne zusammen und unterdrückte den Schmerzensschrei, der ihrer Kehle entrinnen wollte. Scharf sog sie die Luft durch die Nase, zählte rückwärts von zehn bis null und schaltete dann die Dusche aus. Sie stieg aus der schmalen Duschkabine. Ihre Haut war aufgrund der angeregten Durchblutung schön gerötet und schimmerte von unzähligen Wassertropfen, ihre Haare klebten dunkel und schwer an ihrem Kopf. Eigentlich waren sie blond und wellten sich recht wild um ihr Gesicht, fielen ihr über die Augen und waren kaum zu bändigen. Also wurden sie meist morgens mit einem Zopfband auf dem Hinterkopf zusammengebunden und erst am Abend wieder befreit. Ein Pferdeschwanz war praktisch, unkonventionell und pflegeleicht. Er ersparte ihr viele Stunden Haarpflege wie Kämmen, Föhnen oder womöglich häufige Friseurbesuche und machte das Leben um einiges leichter.
Sie ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt, um die Raumluft in dem winzigen Badezimmer wieder klar zu bekommen. Das viel zu kleine Fenster reichte in den Garten hinaus. Es war von außen nicht einsehbar, da es unter der Erde lag und lediglich ein kleiner Schacht Licht von der Erdoberfläche zu ihr in den Keller leitete.
Schon beim Einzug vor vier Monaten war sofort klar, dass sie mit ihrer Habe in den Kellerraum des Reihenhauses ziehen würde, damit ihre Schwester mit ihren zwei Kindern im ersten Stock jeder ein Zimmer bewohnen konnte und die ganze kleine Familie zusammenlebte. Die drei brauchten sich gerade jetzt sehr.
Gut, im Gegensatz zu ihrem Leben früher hatten sie sich mit diesem Vorstadtreihenhaus um einiges verschlechtert, doch es erfüllte seinen Zweck, war immerhin bezahlbar und weit genug weg, um vom alten Leben Abstand zu bekommen und wieder Ruhe zu finden.
Auch Jessicas Leben hatte sich verschlechtert. Von einer Dreizimmer-Einliegerwohnung mit eigener Küche und großem Badezimmer in einer geräumigen Altbauvilla in Hamburg-Winterhude war sie in dieses Kellerzimmer mit winzigem Fenster im schönen Allgäu geraten. Immerhin hatte sie ein eigenes Badezimmer und einen eigenen Zugang über eine Kelleraußentreppe. Auch der Ort, in dem sie jetzt wohnten, war schön, bot alle Annehmlichkeiten einer mittelgroßen Stadt und, was besonders wichtig war, hatte eine direkte Bahnverbindung in die alte Heimat. Der Hauptbahnhof Kempten im Allgäu war nur zirka acht Zugstunden vom Hauptbahnhof Hamburg entfernt.
Doch eines war gleich geblieben. Wie bereits in Hamburg teilte sie sich ein gemeinsames Haus mit ihrer Schwester und den beiden Kindern.
Jessica griff nach dem großen Badehandtuch und trocknete sich sorgfältig ab, dann öffnete sie den Spiegelschrank über dem kleinen Waschbecken und holte ihre Schminktasche mit dem Lidschatten und dem Eyeliner heraus, lehnte sich dichter an den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht.
Sie hasste es, sich für die Arbeit zu schminken. Es war irgendwie nicht richtig und sie kam sich verkleidet vor. Eigentlich hatte sie immer gedacht, sie wäre schön genug ohne diese Maskerade, doch ihr neuer Chef bestand darauf.
»Wenn ich Sie einstellen soll, dann müssen Sie schon etwas mehr auf jugendlich machen«,hatte er gesagt und süffisant gelächelt. »Immerhin sind sie schon über 30!«
Ihr 30. Geburtstag war am Tag des Vorstellungsgespräches gerade zwei Tage her und bis zu diesem Tag hatte es ihr gar nichts ausgemacht zu »nullen«. Doch nach diesem Gespräch hatte sie sich alt gefühlt.
Sie trug Lidschatten und Wimperntusche auf, wickelte sich in ihr Handtuch und lief hinüber in ihr Schlafzimmer. Dort angekommen, zog sie Unterwäsche, Nylonstrumpfhose und den kurzen schwarzen Rock über, der ebenfalls Voraussetzung für den neuen Job war, ging zum Kleiderschrank und suchte eine Bluse. Natürlich war wieder keine frische im Schrank. Sie würde eine bügeln müssen, bevor sie um 19 Uhr das Haus verließ. Jetzt musste erst einmal ein alter Pullover ausreichen. Fertig angezogen trat sie aus ihrem Zimmer, lief durch den kahlen, betongrauen Kellergang zur Innentreppe und ging hinauf in den Wohnbereich.
»Hallo, Jess.« Ihre Schwester Susanne schloss die Haustür hinter sich, schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie ordentlich an den Garderobenständer im kleinen Flur. »Bist du schon startklar?«
Jessica rollte genervt mit den Augen. »Fast, habe noch eine gute Stunde, bis ich losmuss. Leider muss ich auch noch bügeln.« Sie zog genervt an ihrem dunkelbraunen Pullover, um zu demonstrieren, dass sie so sicher nicht gern gesehen wurde. »Und der Kuchen ist auch noch nicht gebacken.«
Susanne trat auf sie zu, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie war gut einen halben Kopf kleiner als ihre Schwester. Ihre Haare waren ebenfalls blond, allerdings glatt und um einiges länger, doch trug sie sie im Gegensatz zu Jessica immer offen.
»Du backst den Kuchen«, bestimmte sie und zwinkerte ihr gleichzeitig zu. »Und ich bügle für dich. Dann tut jede das, was sie viel besser kann als die andere. Okay?«
Natürlich war Jessica einverstanden und natürlich hatte Susanne recht. Bügeln war nicht eine von Jessicas Stärken, doch Kuchen backen und Kochen konnte sie prima. Das war das einzige Talent, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, all die anderen Vorzüge und positiven Eigenschaften hatte ihr Vater mit in den Topf ihrer Erbmasse geworfen. Susanne war da anders. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester kam sie beinahe ausschließlich nach ihrer Mutter. Sie war ordentlich, still, aber bestimmt, führte ihren Haushalt gut, schaffte es, Arbeit, Kinder und das Bügeln unter einen Hut zu bekommen, und war nahezu immer gut gelaunt. Gut, in letzter Zeit fiel ihr das Glücklichsein natürlich etwas schwerer und wie ihre beiden Kinder besuchte auch Susanne seit ein paar Monaten regelmäßig einen Therapeuten, doch wer mochte ihr das verdenken. In so jungen Jahren den Ehepartner und den Vater ihrer Kinder auf so tragische Weise zu verlieren, das war kein Pappenstiel, damit wurde keiner so leicht fertig.
Jetzt arbeitete Susanne vormittags im Büro einer Anwaltskanzlei und war mittags immer pünktlich zu Hause, um Tobi aus dem Kindergarten abzuholen und Svenja nach der Schule bei den Hausaufgaben zu helfen. Es war ein großes Glück für Susanne gewesen, als angehende Junganwältin diesen Halbtagsjob zu bekommen, nachdem ihr Mann gestorben war. Ab und zu standen natürlich Überstunden an oder ein Gerichtstermin, der nicht in die Vormittagsstunden fiel. Doch das war relativ selten. Am Nachmittag schmiss sie dann den Haushalt, fuhr die Kinder zu Spielkameraden oder zum Blockflötenunterricht und saß abends gemütlich, aber allein auf dem Sofa und las oder schaute irgendeinen Krimi im Fernsehen. Manchmal weinte sie und schlief nach Stunden auf dem Sofa ein. Jessica fand sie dann immer dort, wenn sie nachts um 1 Uhr von ihrer Schicht nach Hause kam, legte liebevoll eine Wolldecke über ihre Schwester und strich ihr zärtlich über das samtweiche Haar.
Für Jessica war es selbstverständlich gewesen, ihre Schwester ins Allgäu zu begleiten, als diese nach dem Tod ihres Mannes in Hamburg nichts mehr hielt. Wolfgang war ermordet worden. Jemand hatte ihn mit seiner eigenen Dienstwaffe erschossen, im Badezimmer der Wache, an der er seit vielen Jahren als Streifenpolizist gearbeitet hatte. Das ganze Unglück passierte auf der letztjährigen Weihnachtsfeier und wirklich niemand hatte etwas bemerkt. Auch die Spurensicherung hatte keine Finger- oder Fußabdrücke gefunden, keine anderen Rückstände wie Haare oder Stofffasern, absolut nichts, das einen Hinweis auf den Täter gegeben hätte. Auch Wolfgangs privater Hintergrund wurde durchleuchtet. Susanne musste in diesen Tagen viel ertragen. Musste berichten, ob ihre Ehe auch gut war, ob sie immer wusste, wo ihr Mann sich aufhielt oder ob Wolfgang irgendwelche verdächtigen Telefonate geführt hatte. Susanne wurde das alles zu viel. Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Mann weder korrupt noch in irgendwelche kriminellen Geschichten verwickelt gewesen war. Auch Jessica war genau ihrer Meinung. Ihr Schwager war ein verlässlicher Polizist, der seinen Job beinahe genauso sehr liebte wie seine kleine Familie. Als leitende Kriminalhauptkommissarin fiel Jessica damals in Hamburg die Aufgabe zu, den Mord an ihrem Schwager aufzuklären. Doch obwohl ihre Erfolgsquote normalerweise erstaunlich hoch war und ihr Gespür sie bisher immer auf den richtigen Weg zum Mörder geführt hatte, kam sie bei diesem speziellen Fall keinen Millimeter voran. Noch nie hatte sie so sehr gewollt, dass ein Fall aufgeklärt wurde, und noch nie hatte sie so kläglich versagt. Vor allem die traurigen Augen ihrer Schwester waren ihr Vorhaltung genug. Obwohl Susanne ihr niemals einen Vorwurf gemacht hatte und immer wieder beteuerte, dass es nicht Jessicas Schuld war, dass der Mörder noch frei herumlief, gönnte sie sich keine Ruhe und arbeitete verbissen weiter an dem Fall, obwohl keine neuen Erkenntnisse zutage kamen. Sie trat auf der Stelle, ganze fünf Monate lang. Dann hängte sie ihren Job an den Nagel und zog mit ihrer Schwester ins Allgäu.
»Tante Jessi?« Eine kleine Kinderhand schob sich in ihre und zwei große dunkelblaue Augen schauten zu ihr hinauf. »Wollen wir jetzt backen?«
»Hey, Kleines. Hast du auch eine Telefonnummer?« Ein großer, breitschultriger Mann mit viel zu langem, rotblondem Haar stellte sich Jessica in den Weg, sodass sie erschrocken ins Straucheln geriet und beinahe das Tablett mit dem Bier und den Tortillas für Tisch 16 fallen ließ. Sie schob die verrutschten Gläser wieder zurecht, atmete einmal tief durch und setzte dann ein breites Grinsen auf.
Jessica wurde bereits beim Vorstellungsgespräch erklärt, was ihr Chef und Besitzer der Kneipe, Markus Mertens, für sein Geld erwartete. Offenheit, Schlagfertigkeit und hier und da ein wenig flirten waren Pflicht. Auch durfte die Hand eines Gastes auf dem eigenen Hintern kein Problem darstellen und wäre sogar erwünscht. »Der Gast ist bei uns König, Kleines«, hatte Herr Mertens frivol grinsend bestimmt, »und zwar in jeder Beziehung. Ich hoffe, wir verstehen uns.«
Nach bis dahin mindestens zehn Absagen hatte Jessica diese Arbeit schließlich dankend angenommen. Und die Gäste der Kneipe waren in Wahrheit erstaunlich umgänglich, nett und sehr gesittet. Wären da nicht diese ungewohnten und vor allem unbequemen Klamotten, würde ihr der Job sicher auch noch Spaß machen.
»Bitte sehr, die Herren. Zwei Pils, ein Radler und die Tortillas. Zum Wohl!« Jessica griff nach den leeren Gläsern der letzten Bierrunde und platzierte sie auf ihrem Tablett.
»Wie heißt du? Du bist neu hier, oder?« Ein junger Mann beugte sich über den Tisch, um wegen der lauten Musik und dem Stimmengewirr von den Nachbartischen nicht allzu laut schreien zu müssen.
»Ja, ich bin neu. Sozusagen noch ganz frisch«, gab Jessica spontan zur Antwort, erinnerte sich dann wieder an die Ermahnungen ihres Chefs und zwinkerte dem Mann zusätzlich noch zu.
»Und wie heißt du?«, fragte der Mann erneut und grinste jetzt breit.
»Frag sie, ob sie einen Freund hat«, kam die Anweisung von links neben ihm. Ein etwas untersetzter Mittzwanziger boxte seinem Nachbarn grob gegen die Schulter.
»Ich heiße Jessica und nein, immer wenn ich hier arbeite, habe ich keinen Freund.« Den zweiten Teil ihrer Antwort richtete Jessica direkt an den dickeren Mann. »Und du?«
»Ich bin solo. Steh nicht so auf diesen Beziehungsquatsch«, verkündete er, lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück und fuhr sich arrogant mit der Zunge über die Vorderzähne. »Aber gegen ein wenig Spaß habe ich nichts.« Jetzt zwinkerte er Jessica zu.
Jessica lachte. »So viel geballter Manneskraft, wie du ausstrahlst, bin ich gar nicht gewachsen«, hauchte sie und versuchte ihrer Stimme gleichzeitig Bewunderung und eine leise Spur von Schüchternheit zu verleihen. Mit einer einzigen fließenden Bewegung griff sie nach dem letzten leeren Glas, drehte sich auf dem Absatz um und ließ diesen eingebildeten Schnösel einfach stehen.
Ein wenig wunderte sie sich immer noch darüber, wie leicht es ihr fiel, Situationen wie diese zu meistern, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken oder vor Peinlichkeit kein Wort herauszubekommen. Schlagfertig war sie schon immer gewesen, doch mit derben Anmachsprüchen hatte sie als Kriminalbeamtin selten zu tun gehabt. Mit ihrer Uniform, ihrem Polizeiausweis und ihrer Dienstwaffe bekleidet, hatten Männer entweder genug Respekt vor ihr gehabt oder hielten sie für eine Furie, ein keifendes, abartiges Miststück, mit der man absolut keinen Spaß haben konnte. Jetzt hielten sie alle für ein dummes Blondchen ohne eigene Meinung, die nur darauf wartete, von heißen Verehrern erobert und genommen zu werden. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sich wirklich hineinversetzen in all diese Frauen, die auf der Hamburger Reeperbahn aus den unterschiedlichsten Gründen anschaffen gingen. Trotz der Demütigungen, denen sie täglich ausgesetzt waren, trotz der Abhängigkeit von Freiern und dem eigenen Zuhälter gab ihnen das abartige und unterwürfige Begehren in den Augen der notgeilen Männer eine gewisse Art von Macht, eine Überheblichkeit und Stärke, die sie durchhalten ließ und die sie für ihren eigenen Selbstwert nur zu gut gebrauchen konnten. Wenn man die Sache aus ihrer Sicht betrachtete, waren sie diejenigen, die Macht ausübten und viel stärker waren als all die kleinen Schwächlinge, denen die herrschsüchtige Ehefrau zu Hause oder eigene solide Handarbeit einfach nicht ausreichte.
Zufrieden lächelnd schlenderte Jessica mit ihrem Tablett hinter den Tresen und stellte die leeren Gläser auf die Ablage neben dem Spülbecken. Sie verschaffte sich einen kurzen Überblick über den Gastraum und stellte fest, dass alle ihre Tische gut versorgt waren und nirgends auch nur ein annähernd leeres Glas zu sehen war. Jetzt, um kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger in der Kneipe. Ruhig allerdings nicht im eigentlichen Sinne, denn der Geräuschpegel nahm im Laufe des Abends stetig zu, doch die Anzahl der Gäste war jetzt überschaubar, ab 23 Uhr konnte auch kein warmes Essen mehr bestellt werden und die Bedienungen hatten deutlich weniger zu tun. Um diese Uhrzeit saßen die meisten der Gäste auch nicht mehr an den Tischen, sondern direkt an der Theke. Die Arbeit im Thekenbereich erledigte fast ausschließlich Paula, eine junge, vollbusige und rothaarige Frau, die genau wegen dieser körperlichen Attribute vom Chef hier platziert worden war und bei den Kneipengästen hervorragend ankam. Sie plauderte und flirtete mit den Männern am Tresen und Jessica war sich sicher, dass der eine oder andere Gast auch mal mehr Service von ihr geboten bekam als nur einen tiefen Einblick in ihr allzu üppiges Dekolleté. Dennoch hatte sich Jessica von Beginn an ausgezeichnet mit Paula verstanden.
»Hi, Jess. Läuft alles gut?«, fragte die rothaarige Kollegin und begann, die mitgebrachten Gläser zu spülen.
»Alles prima, Paula. Jetzt wird’s ja auch etwas ruhiger.« Jessica ließ sich auf den kleinen Hocker plumpsen, der hinter der Theke stand. Sie wusste, dass Markus Mertens diese offensichtlichen Pausen nicht guthieß, doch da er heute nicht in der Kneipe war, nutzte Jessica die Gelegenheit, kurz ihre Beine auszustrecken und aus ihren Schuhen zu schlüpfen.
»Du, Jess?« Paula drehte sich zu ihr um, setzte ein beinahe sorgenvolles Gesicht auf und hob gleichzeitig fragend ihre Augenbrauen. Sie hatte eine ganz eigene theatralische Art, Dingen, und seien sie noch so unwichtig, durch einen dramatischen Gesichtsausdruck mehr Präsenz zu verleihen.
»Was denn?«
»Kannst du mich nachher mitnehmen? Mein Auto streikt schon wieder. Ich muss die olle Karre morgen wohl wirklich in die Werkstatt bringen.« Ein heftiges Kopfschütteln und ein Griff mit der Hand an ihre Schläfe unterstrichen auch dieses Mal die Dramatik eines Werkstattbesuches und das tragische Schicksal eines autolosen und damit verlorenen Mädchens.
»Klar.« Jessica schlüpfte in ihre Schuhe und stand auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie Paula nach Hause brachte, und es war auch nicht gerade auf dem Weg, somit auch kein »Mitnehmen«, sondern eher ein unglaublicher Umweg, doch Jessica machte es gern. Sie liebte das Autofahren, besonders in der Nacht. Es gab ihr die Gelegenheit zum Nachdenken und Ruhe finden. Im Auto konnte Jessica prima entspannen.
Eine Stunde später saß Paula neben Jessica auf dem Beifahrersitz und plapperte fast ununterbrochen. Jessica konnte nach einem Abend in der Kneipe gar nicht verstehen, dass ihre Kollegin immer noch so ein Mitteilungsbedürfnis hatte. Man konnte doch annehmen, sie hätte seit Stunden nichts anderes getan, als zu reden, zu lächeln und zu flirten. Um 1 Uhr Nachts sollte man ruhig sein, die Dunkelheit genießen und nur noch das leise Brummen des Motors hören müssen. Auch das Radio blieb bei Jessica in der Nacht immer aus, obwohl sie sonst geradezu ein Musik-Junkie war, alte und neue Rocksongs liebte und auch in einer Lautstärke hörte, die für ihre Ohren nicht mehr gesund war. Genau aus diesem Grund brauchten ihre Ohren nachts ihre Ruhe.
Genervt schaltete sie in den dritten Gang runter und gab richtig Gas, als sie auf die B 12 fuhr, um nach Wildpoldsried zu kommen. Ihr BMW heulte zufrieden auf und beschleunigte beinahe ohne jeden Widerstand. Jessica lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und lächelte selig.
»Guck mal, Jess. Was blinkt denn da?« Verwundert deutete Paula mit dem Zeigefinger in die Dunkelheit vor ihnen, tippte sogar von innen gegen die Windschutzscheibe und schaute dann zu Jessica hinüber.
»Scheiße. Verdammter Mist. Ausgerechnet …!« Jessica trat auf die Bremse und reduzierte ihr Tempo auf ein angemessenes Maß. Die rot leuchtende Polizeikelle etwa 100 Meter vor ihr wies sie trotzdem an, in die Parkbucht einzubiegen und direkt hinter dem dort parkenden Streifenwagen, einem dunklen VW-Bus, anzuhalten.
»Was wollen die denn von uns?«, fragte Paula vorwurfsvoll und starrte wütend auf das Auto der Polizisten, obwohl das nun wirklich nichts für Jessicas überhöhte Geschwindigkeit konnte.
Jessica schaltete den Motor aus und ließ durch einen Knopfdruck die Scheibe auf der Fahrerseite hinunter. Kalte Nachtluft strömte in den warmen Innenraum und Paula schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.
»Einen schönen guten Abend, junge Frau. Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?« Eine ältlich aussehende Polizistin mit einem kantigen Gesicht und tiefen Falten auf der Stirn blickte streng und unerbittlich in den Wagen, schnüffelte dann, verzog angewidert das Gesicht und legte ihre rechte Hand auf ihre Dienstwaffe, die in einem Halfter an ihrem Gürtel hing. »Steigen Sie bitte aus. Haben Sie etwas getrunken?«, fragte sie. Es klang allerdings nicht so, als würde sie eine Antwort erwarten. Es war mehr eine Feststellung. Sie trat einen Schritt zurück und Jessica stieg tief seufzend aus dem Wagen.
»Nerve ich Sie?«, fragte diese Polizistin überheblich lächelnd, ohne ihre Hand von ihrer Dienstwaffe zu nehmen, und Jessica beschloss, sie nicht zu mögen. Eine wirklich unangenehme Person, die glaubte, sie sei etwas Besseres, nur weil sie eine Uniform trug. Solche Menschen waren Jessica zuwider.
»Selbstverständlich nicht, Frau …?« Fragend sah Jessica zu der Polizistin hinüber, die sich jetzt erhobenen Hauptes vor ihr aufbaute.
»Oberwachtmeisterin Schneible«, half sie ihrem Opfer auf die Sprünge und grinste dann wieder breit.
»Oh Mann, entschuldigen Sie«, trällerte Jessica fröhlich. »Da hätte ich Sie doch beinahe falsch angeredet. Ich hatte vermutet, dass Beamte in Ihrem Alter und mit Ihrer Kompetenz bereits Hauptwachtmeister wären. Sie legen sicher großen Wert auf eine korrekte Anrede, Frau Schneible.« Hatte ihre Aussage bis dahin noch nicht Frau Oberwachtmeisterins Nerv getroffen, ließ nun das komplette Weglassen ihres Titels sie beinahe explodieren. Wäre es nicht so dunkel gewesen, dann, da war Jessica sich sicher, hätte sie in ein purpurfarbenes, wütend verzerrtes Polizistinnengesicht geblickt.
»Haben Sie etwas getrunken?«, presste Frau Schneible zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Zuallererst gebe ich Ihnen einmal meinen Führerschein. Sie haben vergessen, danach zu fragen«, belehrte Jessica die Beamtin und konnte nicht umhin, selbst breit zu lächeln, kramte in ihrer Handtasche und zog ihre Geldbörse heraus. »Und nein«, fügte sie hinzu, »ich habe nichts getrunken.«
Sie reichte Frau Oberwachtmeisterin Schneible ihren Führerschein.
»Jetzt belügen Sie mich aber.« Polizistin Schneible war sichtlich um Fassung bemüht. Ihre Stimme bebte leicht, doch sie strengte sich an, ruhig und überheblich zu klingen, und nahm Jessica den Führerschein ab. »Sie riechen bestialisch nach Alkohol. Sie sind voll wie eine Haubitze …«, verkündete sie triumphierend, leuchtete mit der Taschenlampe erst auf die Papiere in ihrer Hand und dann direkt in Jessicas Gesicht. »… Frau Grothe.«
Jessica hob abwehrend die rechte Hand vor ihre Augen, um sich vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen, und wollte gerade etwas auf die unberechtigten Vorwürfe erwidern, als Paulas glockenhelle Stimme aus dem Innenraum ihres BMWs nach draußen wehte.
»Liebe Frau Wachtmeisterin«, sang sie fröhlich, »meine gute Freundin Jessica riecht nur so komisch, weil sie sich ein komplett volles Bierglas über ihren Rock geschüttet hat. Und da wir im Anschluss sowieso die Kneipe verlassen haben, hätte sich das Auswaschen auf dem Klo gar nicht mehr gelohnt.«
Frau Oberwachtmeisterin Schneible beugte sich hinunter und blickte durch die geöffnete Fahrertür in den Wageninnenraum und direkt in Paulas tiefen Ausschnitt, die sich weit hinübergebeugt hatte, um von dem Geschehen draußen nichts zu verpassen. Jessica schüttelte seufzend ihren Kopf, verdrehte ihre Augen und flüsterte ein »Na, herzlichen Dank« in die kalte Nachtluft.
Als Polizistin Schneible sich wieder aufrichtete und sich nach einigen Sekunden scheinbar von Paulas Anblick erholt hatte, setzte sie erneut ihr überheblich grinsendes Gesicht auf.
»So, liebe Frau Grothe. Würden Sie mir bitte zum Wagen folgen. Schauen wir doch einmal, ob ich Ihren Führerschein gleich behalten darf.« Sie packte Jessica an der linken Schulter und schob sie vorweg zum Kleinbus und durch die geöffnete Seitentür. Dort wartete ein großer, schlaksiger Polizist an einem kleinen Schreibtisch, nahm den Führerschein an sich und lächelte Jessica freundlich entgegen.
»Frau Grothe, wie ich sehe«, sagte er nach einem Blick auf ihre Papiere. »Nehmen Sie Platz. Wenn Ihnen kalt ist, dann schließen wir die Tür.« Er strich sich beinahe schüchtern eine Haarsträhne seines haselnussbraunen Haares aus der Stirn und griff nach einem Kugelschreiber. »Nehmen wir erst einmal Ihre …«
»Halt«, unterbrach ihn seine resolute Kollegin. »Zuerst einen Alkoholtest. Die hat getrunken«, befahl sie, drehte sich um, ließ den jungen Mann mit Jessica allein und die Seitentür weit offen.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte der Polizist erneut und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Nein, nein. Kein Problem«, hielt ihn Jessica zurück. »Machen Sie bitte nur schnell diesen Test. Ich bin wirklich froh, wenn ich weiterfahren kann. Es ist schon so schrecklich spät.« Sie schob sich in die Bank ihm gegenüber, legte ihre Hände flach auf den Tisch vor sich und wartete.
Kurze Zeit später, nach Aufnahme ihrer Personalien und der Ermahnung für zu schnelles Fahren, las der junge Polizist das Alkoholkontrollgerät ab, lachte triumphierend und verkündete: »Nullkommanull. Ha, das wird ihr gar nicht gefallen.« Er überreichte ihr den Führerschein und wünschte ihr noch eine gute Heimfahrt, dann entließ er Jessica aus dem Polizeibus, nicht ohne seiner Kollegin mit Handzeichen und fröhlichem Lächeln verständlich zu machen, dass alles in Ordnung sei.
Nur sehr widerwillig ließ Frau Schneible Jessica schließlich weiterfahren.
»So eine blöde Kuh«, schimpfte Paula vom Beifahrersitz und kicherte dann plötzlich hinter vorgehaltener Hand. »Hihi, das passt ja. Scheißbullen …«, betonte sie jede einzelne Silbe des Wortes und wippte dabei langsam mit dem Kopf nach links und rechts. Ihr erhobener Zeigefinger tippte im gleichen Takt in die Luft. »… blöde Kuh. Haha, verstehst du, Jess? Weibliche Polizisten sind natürlich Kühe und keine Bullen. Komisch, oder?« Paula hielt sich den Bauch vor Lachen und krümmte sich in ihrem Sitz nach vorn.
Jessica gab Gas.
Zweimal am gleichen Abend wurde man bestimmt nicht angehalten.
»Fantastischer Mohnkuchen, Susi. Herrlich locker und leicht, nicht zu süß. Genau richtig«, lobte Elfriede Grothe ihre jüngere Tochter und hob mit elegant abgespreiztem kleinen Finger ihre Kaffeetasse zum Mund, nahm einen großen Schluck und lächelte begeistert.
»Danke, Mutti«, trällerte Susanne und sah zu ihrer Schwester hinüber, »aber das Lob muss ich an Jess weitergeben. Sie hat den Kuchen gemacht.« Liebevoll legte sie Jessica ihre Hand auf den Unterarm. Die Augen ihrer Mutter schnellten zu ihrer älteren Tochter und sie nickte dieser schließlich wohlwollend zu.
»Ja, ich und Svenja haben gestern gebacken. Aber die Tischdecke, die hat Susi gebügelt. Toll, nicht? Das hätte ich niemals so gut hinbekommen.« Lauthals lachend schlug sie sich mit den Händen auf die Oberschenkel und zwinkerte ihrer kleinen Schwester zu. Jessica wusste, wie sehr es ihrer Mutter zuwider war, am Tisch und vor allem beim Essen, derart laut zu lachen. Schon lautes Sprechen war ihrer Meinung nach nicht schicklich, doch Jessica hatte das nie gestört und auch Susi stimmte jetzt in ihr Lachen mit ein. Ihr Vater Herbert allerdings tupfte sich schnell mit seiner Serviette ein paar imaginäre Kuchenkrümel von seinen Lippen und versteckte so ein viel zu breites Grinsen.
»Schön habt ihr es hier«, sagte er schließlich mit einem Blick in den kleinen Garten hinter der großen Fensterfront im Wohnzimmer. »Der Garten ist aber noch nicht fertig«, entschied er schließlich.
»Wir haben gestern aber schon Blümchen gepflanzt, Opa«, meldete sich jetzt die kleine Svenja zu Wort. Susannes Tochter rutschte vom Esszimmerstuhl, lief zu ihrem Großvater und kletterte auf seinen Schoß. »Jetzt schlafen sie aber noch«, verkündete sie und legte ihm ihre kleinen Ärmchen um den Hals. »Erst im Frühjahr kommen sie heraus …«
»Im Frühjahr oder in Australien …«, warf Jessica ein und sorgte damit wieder für ausgelassene Stimmung.
Über den Besuch ihrer Eltern freuten sich die beiden Schwestern sehr. In Hamburg hatte sich die Familie regelmäßig getroffen und Zeit miteinander verbracht. Seit ihrem Umzug vor gut vier Monaten waren sie nicht mehr zusammengekommen, was bei einer Entfernung von guten 800 Kilometern auch nicht verwunderlich war. Auch Wolfgang hatte von Anfang an zur Familie gehört, war herzlich in ihren engen Kreis mit aufgenommen worden und wurde von ihren Eltern wie ein drittes Kind geliebt. Der Verlust ihres Schwiegersohns hatte auch Elfi und Herbert Grothe schwer getroffen.
Als ehemaliger Kriminalhauptkommissar war Jessicas Vater erschüttert über den Mord an einem Kollegen. Obwohl er seit guten fünf Jahren im Ruhestand war, nahmen ihn solche Schreckensmeldungen nach wie vor unheimlich mit und er wollte über den Stand der Ermittlungen ausführlichst unterrichtet werden. Dass er, genau wie seine Tochter, keinen Hinweis auf den Mörder sehen und finden konnte, nahm ihn beinahe genauso mit wie der eigentliche Verlust seines geliebten Schwiegersohnes. Herbert Grothe war Kriminalbeamter mit Herz und Seele. Seine Beliebtheit im Revier und seine immer professionelle Arbeit machten es Jessica nicht leicht, in seine Fußstapfen zu treten. Dennoch musste sie zugeben, dass wohl vor allem der gute Name und die empfehlenden Worte ihres Vaters ihren eigenen raschen Karriereaufstieg gefördert hatten. Mit 29 Jahren bereits zur leitenden Hauptkommissarin ernannt zu werden, war selten und ungewöhnlich. Nicht wenige ihrer Kollegen beneideten sie damals, doch sie strafte alle Zweifler Lügen, indem sie genau wie ihr Vater sauber, präzise und erfolgreich arbeitete.
Ihr Vater hatte ihren Ausstieg aus dem Polizeidienst nicht gutgeheißen. Für ihn war ihre Aufgabe ein Zeichen von Schwäche und entsprach in keiner Weise seinem persönlichen Lebensmotto. Jessicas Vater war der Meinung, dass nur sehr wenige Menschen tief in ihrer Seele so gut waren, dass sie sich in ihrem Leben nicht anstrengen mussten, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Die meisten Menschen hatten dunkle Flecken auf der Seele und mussten sich tagaus, tagein bemühen, ihre schlechte Seite zu unterdrücken, um wirklich gut zu bleiben.
Und Jessica hatte mit ihrem Ausstieg aus dem Polizeidienst einen Schritt in die falsche Richtung getan. Sie sah an den enttäuschten Augen ihres Vaters und seinem durchdringenden Blick, dass sie seiner Meinung nach den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Doch gesagt hatte er nie etwas. Rein äußerlich hatte er ohne Murren ihre Fehlentscheidung scheinbar respektiert.
»Guck mal, Opa«, plapperte Svenja weiter, die ihren Großvater durch die Terrassentür in den kleinen Garten gezogen hatte und jetzt mit ihm vor dem dunklen und leeren Beet am Gartenzaun stand, »hier schlafen die kleinen Tulpen.« Dann sah sie ihren Opa mit großen runden Kinderaugen an und lächelte ihm entgegen. »Und da hinten soll die Sandkiste für mich und Tobi stehen.« Sie deutete mit ihrem kleinen Zeigefinger an den Rand der gefliesten Terrasse und erinnerte ihren Opa an das Versprechen, das er ihr noch in Hamburg gegeben hatte.
Herbert Grothe brach in schallendes Gelächter aus. »Das hast du also nicht vergessen!«, polterte er, hob seine Enkeltochter hoch in die Luft und drückte sie dann fest an sich. »Gleich morgen gehen wir in den Baumarkt und kaufen dir und deinem Bruder die versprochene Sandkiste. Ihr müsst mir aber helfen, sie aufzubauen, okay?«
»Klar, Opa. Das machen wir.«
Klaus Vollmer verließ als einer der letzten den Baumarkt, in dem er seit mehreren Jahren arbeitete. Er zog seinen alten Lederblouson fest um seinen Körper und schloss die Druckknöpfe über seiner Brust. Der Reißverschluss war seit Langem schon kaputt, doch er hatte weder das Geld für eine Reparatur noch konnte er sich eine neue Jacke leisten. Zu Hause warteten drei kleine Kinder und eine Ehefrau, die selbst kein Geld verdiente. Sein Ältester war letzte Woche gerade vier Jahre alt geworden und alle drei Kinder brauchten noch intensive Betreuung und kosteten jede Menge.
Doch bald würde es ihnen allen besser gehen.
Noch immer fröstelnd, stapfte Klaus Vollmer über den leeren Parkplatz zu seinem alten Ford, der am äußersten Rand parkte und das einzige Auto in diesem Bereich des großen Platzes war. Er zog seine Zigaretten aus der Jackentasche, ein Feuerzeug aus der Gesäßtasche seiner dreckigen Jeans und blieb kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Trotz der Flutlichtbeleuchtung war der Parkplatz um diese Uhrzeit bereits recht dunkel und umso weiter er sich vom Gebäude weg bewegte, umso schummriger wurde die Umgebung. Er parkte immer ganz am Rand und in dieser abgeschiedenen Ecke. Niemand sollte zu aufmerksam werden auf seine alte Rostlaube, die wirklich schon bessere Tage gesehen hatte, ihm aber treu und ohne Murren auch in ihrem hohen Alter noch ihren Dienst erwies. Doch bald würde er sich ein besseres Auto zulegen können. In der einen Hand seine brennende Zigarette, in der anderen seinen Autoschlüssel, ging er weiter auf den Ford zu. Er freute sich auf sein Zuhause, auf sein Sofa, das kalte Feierabendbier und das Abendessen.
Dann bemerkte er neben der Fahrertür seines Autos die dunkle Gestalt. Wie lange stand sie schon dort?
»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Klaus Vollmer ohne jeglichen Argwohn und hob zusätzlich grüßend die Hand mit dem Schlüsselbund.
»Ja, das können Sie tatsächlich«, begrüßte ihn die Person an seinem Auto und hob ebenfalls zum Gruß die Hand. Die Stimme klang hohl, etwas arrogant und passte überhaupt nicht zu diesem Menschen. Sie war beinahe furchteinflößend. Bei diesen Gedanken schüttelte Klaus Vollmer lächelnd den Kopf. Natürlich würde ihm hier nichts passieren. Niemand hatte einen Grund, ihm etwas zu tun. Er sah nicht aus, als hätte er Geld und seine alte Karre war noch weniger wert als seine kaputte Jacke. Trotzdem blieb er erschrocken wie versteinert einige Meter vom Auto entfernt stehen, als er diesen Menschen eiskalt und verbittert lachen hörte.
»Ja, Sie können mir tatsächlich behilflich sein, lieber Herr Vollmer«, wiederholte die Person dieses Mal flüsternd, doch nicht, um die Nachtruhe nicht zu stören, sondern um der eigenen Stimme Dramatik und eine unterschwellige Drohung zu verleihen. Beinahe theatralisch hob die dunkle Gestalt beide Hände gen Himmel und seufzte.
Klaus Vollmer kroch die Angst fröstelnd und unaufhaltsam über seinen Rücken, seinen Nacken und direkt in sein Gehirn. Dieser Mensch, der ihm gegenüberstand, war durch und durch böse. Er konnte die Augen nicht erkennen, denn sie lagen im Schatten eines dunklen Hutes, doch der etwas schief zu einem hämischen Grinsen verzogene Mund flößte ihm Panik ein.
»Was … wie kann ich Ihnen helfen?« Er wählte die Worte mit Bedacht und hoffte, er könne mit Ruhe und Selbstbeherrschung nicht nur seine Furcht bekämpfen, sondern auch die Situation zu seinen Gunsten ändern. »Ich habe absolut nichts, was Sie interessieren könnte«, fügte er hinzu und bereute sogleich seine Aussage, denn sein Gegenüber lachte erneut, dieses Mal beinahe belustigt, doch eiskalt.
»Oh doch, Herr Vollmer. Sie haben etwas, das mir gehört, und ich lasse mir nichts wegnehmen«, sagte die Stimme ruhig und bedächtig. »Niemals würde ich so etwas zulassen. Sie sind mir im Weg, Herr Vollmer. Sie … müssen weg!«
Als Klaus Vollmer sich auf dem Absatz umdrehte und zu rennen begann, wusste er im ersten Moment noch nicht, warum er so reagierte. Sein Verstand versuchte krampfhaft, ihm Gründe für diese merkwürdige Begegnung zu geben, doch ihm fiel absolut nichts ein, das ihm derartige Reaktionen verständlich machen konnte. Seine Flucht war eine absolut instinktive Handlung und auch diese Reaktion vermochte er nicht zu deuten. Bereits wenige Schritte später hallte die hämische Lache seines Angreifers erneut in sein Ohr und würde ihn verfolgen, bis er wieder nahe genug am Gebäude des Baumarktes und damit in Sicherheit und im Licht war. Schall war schneller, als er jemals würde laufen können, doch auch dieser gottverlassenen Stimme versuchte er zu entkommen und rannte jetzt noch schneller. Dann plötzlich dröhnte die Luft um ihn herum donnernd und brüllend und übertönte alles andere. Alle Lichter um ihn herum erloschen schlagartig und er hatte plötzlich das Gefühl zu fliegen, abzuheben und endlich frei von jeder Angst zu sein. Danke, er war gerettet.
Trotz der zwei Personen mehr im Haus verliefen die nächsten Tage ruhig und entspannt. Das lag vor allem daran, dass Susanne ihre Eltern, so oft es nur ging, zu Ausflügen mit den Kindern überredete und die Nachmittage deshalb immer still und friedlich waren. Jessica verbrachte diese freien Momente meist auf dem Sofa vor dem Fernseher. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie für den Besuch ihrer Eltern keinen Urlaub genommen. Sie war noch in der Probezeit und durfte um freie Tage noch nicht bitten, wenn sie ihren Job behalten wollte.
Heute verbrachte die Groth’sche Familie den Nachmittag im Augsburger Zoo. Alle fünf waren, gleich nachdem Svenja aus der Schule kam, losgefahren und würden vermutlich erst gegen Abend wieder in Kempten sein. Jessicas Schicht begann bereits um 19 Uhr und sie glaubte nicht, dass sie ihre Schwester und den Rest heute noch sehen würde. Sie liebte ihre Nichte und ihren Neffen sehr, doch es war ausnahmsweise auch einmal schön, keine kleinen Kinder um sich herumwuseln zu haben. Solche Momente waren selten genug, also genoss Jessica die vermutlich letzten warmen Sonnenstrahlen des Oktobers, warm eingepackt in eine Wolldecke, auf einem Liegestuhl auf der winzigen Terrasse. Ihr Vater hatte am Samstag im Baumarkt nicht nur die Sandkiste für seine Enkelkinder gekauft, sondern seinen beiden Töchtern zum Einzug gleich noch zwei teure Holzliegen spendiert, zwei wunderbare Teile ganz ausgezeichneter Qualität. Wenn Herbert Grothe etwas kaufte, dann musste es gut sein und sehr lange halten. Jedenfalls war Jessica mehr als dankbar für dieses herrliche Geschenk. Wenn es nach ihr ginge, würde sie jede freie Minute im Freien verbringen, egal in welcher Jahreszeit und bei welchem Wetter.
Gerade hatte sie sich eine Tasse heißen Kakao aus der Küche geholt, ihn auf das kleine Tischchen gestellt, das eigentlich neben das Sofa im Wohnzimmer gehörte, und sich wieder auf die Liege gelegt, als es an der Tür läutete. Genervt warf sie die Wolldecke beiseite, erhob sich erneut von der Liege und betrat das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Dann ging sie am Esstisch vorbei und schritt durch den kleinen Flur. Vor der mattierten Glasscheibe der Haustür konnte sie zwei dunkle Umrisse erkennen. Vermutlich waren das irgendwelche unangenehmen Vertreter von Staubsaugern oder merkwürdigen Glaubensformen, die ihr gleich mit Dreck auf dem Fußboden oder Blödsinn aus den verdrehten Gehirnen auf die Nerven gehen würden. Solchen Leuten musste man sofort zeigen, dass sie nicht willkommen waren. Also setzte Jessica eine betont ärgerliche Miene auf und öffnete die Tür.
»Da stehen zwei Namen an der Tür, Chef«, stellte der junge Beamte fest, als er die Haustür noch vor seinem Vorgesetzten erreichte und den Klingelknopf betätigte. Er verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und baute sich neben dem Briefkasten auf. Hätte er nicht so zappelig und nervös sein Gewicht immer wieder von dem einen auf den anderen Fuß verlagert, dann wäre seine Körperhaltung beinahe majestätisch gewesen. Kommissar Berthold Willig war groß und schlaksig, überragte seinen Kollegen um einen ganzen Kopf und machte seinem Namen alle Ehre. Er war willig bemüht, aber bisher konnte Hauptkommissar Florian Forster noch keine außergewöhnlichen Talente an seinem Untergebenen feststellen. Er schien loyal und ehrlich zu sein, aber auch tollpatschig und scheinbar wenig intelligent. Florian Forster war es ein Rätsel, warum der Junge unbedingt zur Kriminalpolizei wollte, doch er behielt seine Meinung für sich.
»Hauptsache ist, der Name ›Reuter‹ steht auf dem Klingelschild«, sagte er sarkastisch. »Sonst stehen wir vorm falschen Haus!«
»Ja«, bestätigte Berthold Willig und beugte seinen Oberkörper weit hinab, um das Schild neben der Tür noch einmal ganz aus der Nähe zu betrachten, nickte dann und wiederholte seine Aussage. »Ja, Chef. Wir sind richtig. Hier wohnt aber auch noch ein Herr oder eine Frau Grothe.«
»Nicht ›Chef‹, Berthold. Wir hatten uns doch geeinigt, uns zu duzen.« Hauptkommissar Forster setzte ein charmantes Lächeln auf und sah zu seinem Kollegen auf. Auch daran würde er sich gewöhnen müssen. Sein vorheriger Kollege und Partner war mit ihm wenigstens auf Augenhöhe. Dabei war er selbst nicht einmal klein. Mit seinen eins neunundachtzig überragte er einige seiner Kollegen, seinen neuen Partner schätzte er auf zwei Meter zehn.
Die Haustür vor ihm wurde mit Schwung aufgerissen und Berthold Willig zuckte erschrocken zusammen. Die Dame, die sich im Eingang vor ihnen aufbaute, starrte sie beinahe böse an und presste ihre Lippen fest aufeinander. Als sie jedoch die Uniformen bemerkte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck merklich und wirkte jetzt überrascht.
»Ja?«, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben, hielt aber nach wie vor die Tür fest und ließ keinen Blick in die Wohnung zu.
Gerade als Hauptkommissar Florian Forster den Mund öffnete, um sich vorzustellen, fiel ihm sein Kollege Willig ins nicht ausgesprochene Wort.
»Guten Tag, verehrte Frau Reuter. Wir sind von der Polizei. Kriminalpolizei Kempten. Hier.« Er zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn der Dame so dicht vors Gesicht, dass diese einen Schritt zurückwich und wieder ärgerlich schaute. »Mein Name ist Kommissar Willig und das hier ist mein Kollege …«
»Hauptkommissar Forster«, meldete sich jetzt der leitende Kommissar selbst zu Wort. »Dürfen wir kurz reinkommen, Frau Reuter? Wir hätten da einige Fragen an Sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er auf die Tür zu und die Dame ließ ihn widerstandslos passieren. Berthold Willig folgte ihm auf dem Fuße.
»Schön, dass Sie den Weg in unser Haus so problemlos alleine finden, Herr Hauptkommissar«, hörte Florian Forster die Dame kühl und leicht überheblich sagen, als er den Flur hinter sich gelassen hatte und jetzt im Wohnzimmer stehen blieb. »Mein Name ist übrigens Grothe. Meine Schwester, Frau Reuter, ist nicht im Hause. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Ihr letzter Satz war nicht wirklich eine Frage, sondern eine Aufforderung, ihr zu erklären, aus welchem Grund sie überhaupt da waren. Hauptkommissar Forster lächelte zaghaft, setzte dann wieder sein charmantes Grinsen auf und drehte sich zu Frau Grothe um.
»Vermutlich können auch Sie uns die nötigen Auskünfte geben«, teilte er ihr mit und nahm unaufgefordert Platz auf einem der Stühle am Esstisch im Wohnzimmer. Etwas verlegen stellte sich Berthold Willig neben ihn.
»Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Herren.« Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit und beinahe theatralisch deutete sie auf zwei Stühle gegenüber von Florian Forster. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee? Kaffee? Ein Glas Wasser?« Fragend hob sie die Augenbrauen, doch in ihrem Blick sah Hauptkommissar Forster Argwohn und Misstrauen.
»Gern. Zwei Glas Wasser, bitte«, bestellte der Beamte, zog demonstrativ den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor und deutete seinem Kollegen an, sich zu setzen.
Wütend stampfte Jessica in die Küche, riss den Vitrinenschrank über der Kaffeemaschine auf und holte zwei Gläser heraus. Dann griff sie nach der Wasserflasche neben dem Kühlschrank und transportierte alles zurück an den Esszimmertisch. Höflich lächelnd platzierte sie die Gläser und die Flasche vor den beiden Beamten. Dann setzte sie sich selbst den Beamten gegenüber.