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Die Journalistin Abigail Mühlberg lebt im Schloss des italienischen Malers Moro Rossini in der altertümlichen Kleinstadt Sankt Augustine. Ihr Chef beauftragt sie, die kapriziöse Künstlerin und Schauspielerin Theresa Mansfeld zu interviewen. Während der Interviews mit dieser außergewöhnlichen Frau eröffnet sich Abigail eine ganz neue Welt voller Überraschungen. Die Künstlerin sucht die Sonnenseiten des Lebens und liebt die Erotik des Alltags. Doch Theresa ist auch eine rätselhafte Frau und in einen Mordfall verwickelt, der die beiden Frauen weit in den Süden Italiens führt. Gibt es am feuerspeienden Vulkan Aetna eine Lösung der mysteriösen Geschichte?
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Seitenzahl: 359
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Kapitel (2.Teil)
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Die kleine Dachwohnung im Schloss des italienischen Malers Moro Rossini war inzwischen meine zweite Heimat geworden. Eigentlich hatte sie der Schlossbesitzer meinem Verlobten Rolf vermietet, aber seine Arbeit als Fotograf führte ihn ständig an andere, oft auch weit entfernte Orte, sodass ich seine Räume auch verschiedentlich allein bewohnte, aber mich an manchen Tagen auch gern in die Gesellschaft der anderen Schlossbewohner begab.
In der Dachwohnung neben mir bereiteten sich der Grieche Alexis und Cordula auf ihre Hochzeit vor, die schon in wenigen Tagen im Schlossgarten und im großen Ballsaal stattfinden würde, die Aufregung war den beiden Verliebten deutlich anzumerken. Der Satzteil, den die hübsche Braut mehrmals am Tag genervt von sich gab, lautete: „Oh, ich darf um Himmels Willen nicht vergessen, …“
Von Alexis sonst sehr feurigem Temperament war momentan wenig zu spüren, gelassen nahm er Cordula jedes Mal in den Arm und beruhigte sie. „Du wirst sehen, wir schaffen das alles, wir sind doch ein gutes Team.“
Tag für Tag schleppten sie große Tüten und Kartons an und deponierten sie im Flur zwischen den beiden Wohnungen. Ohne Eile nahm ich den immer schmaler werdenden Korridor in Kauf und versuchte, mich an die Hochzeit mit meinem Exmann zu erinnern. War ich damals auch so aufgeregt gewesen?
Ich dachte nach, aber es war wohl schon zu lange her, denn ich fand nicht einmal ein bisschen Lampenfieber in meiner Erinnerung.
Möglicherweise hatte ich aber auch einiges aus der Vergangenheit verdrängt.
Für Rolf und mich gab es noch keinen Hochzeitstermin, für uns gab es momentan keinen Grund, an der Art der Verbindung etwas zu ändern. Wir genossen die wenige freie Zeit, die uns zwischen unseren Arbeitsaufträgen gemeinsam blieb und freuten uns über jede gemeinsame Minute.
Telefonate und Kurznachrichten mussten uns momentan häufig genügen, hier und da gönnten wir uns ein kleinen Urlaub.
Seit seiner letzten Abreise genoss ich oft den sommerlichen Schlossgarten, in dem zahlreiche Rosenarten und italienische Sommersträucher blühten.
Solange ich mir hier die Arbeit als Journalistin einteilen konnte, hatte es sich in den letzten Tagen so ergeben, dass ich mich auch öfters mit Ada, der deutschen Frau des Malers Rossini in den Mittagsstunden zu einem Tee in ihrem kleinen Salon traf, während ihr Mann aufgrund seines hohen Alters während der Mittagspause ruhte.
Heute klopfte sie an meine Tür und brachte ein Tablett mit Erdbeerkuchen.
„Das waren die letzten Erdbeeren vom Bauernhof“, berichtete sie mir. „Moro ist gerade eingeschlafen. Er braucht im Moment sehr viel Ruhe, man merkt es ihm an, dass er schon über 80 Jahre alt und leider nicht mehr gesund ist.“
„Ja, das tut mir leid“, gab ich ihr zu verstehen. „Immerhin bist du erst Anfang 70, dieser Altersunterschied macht viel aus. Ich hoffe, du bleibst noch recht lange gesund.“
Wir entschlossen uns zu einem Kaffee zum Kuchen, schnell hatte ich das heiße Getränk zubereitet, dessen Duft sich im Wohnzimmer verbreitete.
Ada deckte das Geschirr auf den Wohnzimmertisch, und wir nahmen in der Couchecke Platz.
„Ist der neue Gast schon im Rosenturm von Sankt Augustine?“ erkundigte sich Ada. „Und hat dir dein nerviger Chef wieder umständliche und unnötige Instruktionen gegeben?“
Ich lachte. „Du kennst ihn auch schon recht gut. Ich weiß noch, wie er im letzten Frühling dauernd hier aufkreuzte und mich bei fast jedem Bürger persönlich ankündigte. Zum Glück war er zur Vergabe dieses Auftrags nicht wieder persönlich hier, sondern hat mit mir telefoniert. Diese Theresa hat er mir als ganz komplizierte Person avisiert, ich solle sie mir noch schlimmer vorstellen als Laura oder Leila Macintosh. Leila war damals nicht nur kompliziert, sondern auch völlig hohlköpfig und oberflächlich, sodass ich meine liebe Mühe hatte, aus dem Interview etwas Lesenswertes zu fabrizieren. Wieland hatte mir Theresa als Allroundgenie beschrieben, was auch immer das in diesem Fall heißen soll. Als Beruf hat sie Autorin und Projektleiterin angegeben, was in meinen Ohren eigentlich ganz vernünftig klingt. Ich werde mich wohl überraschen lassen. Gleich heute Nachmittag habe ich meinen ersten Termin bei ihr. Du kannst dir denken, dass ich ungeheuer gespannt bin.“
„Ich bin nur froh, dass du diesmal nicht in irgendeine kriminelle Geschichte verwickelt bist“, freute sich Ada. „Bei deiner letzten Aufgabe war dein Chef nicht zimperlich, dich in einen Mordfall zu verwickeln, der sich nachher auch sehr gefährlich für dich darstellte. Ich hoffe, dass diese Theresa eine weiße Weste hat, und ihre Umgebung ehrlich und durchschaubar ist.“
„Das hoffe ich auch. Ich habe nämlich langsam auch genug von gefährlichen Situationen, aus denen mich jemand retten muss.“
„Hast du eigentlich noch Kontakt mit deinem Lebensretter, dem Ermanno? Er war so verliebt in dich, Abigail.“
„Nein. Nachdem er zurück ist nach Italien, habe ich ihm noch einmal einen Brief geschickt, in dem ich mich für alles bedankt habe. Es ist besser so, dass wir keinen Kontakt mehr haben. Ich bin mit Rolf verlobt, und ich liebe ihn. Da gibt es nur Komplikationen. Aber ich gebe ehrlich zu, dass er ein besonderer Mensch war, zu dem ich mich auch hingezogen fühlte.“
Ada lächelte. „Schlechtes Timing, würde man sagen. Er war ganz schön mutig, als er sich vor dich warf und dich vor der Pistolenkugel dieses Verbrechers rettete.“
„Ich bin froh, dass dieser gewalttätige Peter nicht mehr frei herumläuft, aber ob man es fertig bringt, aus ihm einen Menschen zu machen, der nicht mehr ausländerfeindlich ist, das bezweifle ich. Er kennt keine Grenzen in seiner Aggressivität. Und ich hoffe, dass sich jemand um all seine kriminellen Kumpel kümmert, die immer noch frei herumlaufen.“
Ada nickte. „Es ist schade, dass sie schon so alt sind, dass sie sich nicht mehr beeinflussen lassen. Es ist schwierig, sie in das soziale Gefüge zurückzuholen und sie zu humanen Menschen erziehen. Sie lassen leider niemanden an sich heran. Ich hoffe nur für dich, dass du nicht mehr mit ihnen in Kontakt kommen musst. Wann kommt Rolf zurück? Ihr wollt euch doch endlich einmal einen Urlaub gönnen.“
Ich seufzte. „Du hast Recht, das hatten wir schon längst vor. Aber sein Chef und meiner scheinen der Ansicht zu sein, dass wir auch ohne Urlaub fit bleiben. Sie haben uns erst einmal wieder mit Arbeit überhäuft, die zu Ende gebracht werden muss. Und bevor ich dieses Interview mit Theresa nicht fertig habe, kann ich gar nicht an Urlaub denken.“
„Dann werde ich dich jetzt auch nicht länger daran hindern. Ich werde für Moro noch eine Pizza zubereiten. Er liebt es, wenn ich italienisch koche, weil er dann immer etwas zu lachen hat. Man kann tun, was man will, aber selbst mit all meinen italienischen Rezepten, schaffe ich es nicht, so zu kochen und zu backen wie die Italiener selbst. Es ist wie verhext, weiß der Kuckuck, woran es liegt.“
Ich lachte. „Dabei bist du doch immer schon eine halbe Italienerin gewesen. Als du die Haare noch dunkel hattest, sahst du immer ein bisschen aus wie eine Italienerin. Und du hast mir selbst erzählt, wie oft dich alle Menschen in Venedig angesprochen haben, damit du ihnen den Weg durch die Stadt weist.“
„Vermutlich ist es die italienische Luft, die hier fehlt. Und die ganze Umgebung“, scherzte sie. „Aber jetzt wünsche ich dir viel Spaß mit deiner neuen Klientin, mit der du dich vermutlich nicht langweilen wirst, wenn sie so ein Allroundgenie ist, wie man sie dir angekündigt hat.“
Sie ließ mir den restlichen Erdbeerkuchen da und verabschiedete sich.
***
Die dunkelroten Rosen vor dem Turm standen in voller Blüte, sie dufteten mir entgegen, als ich an der Glocke läutete.
Eine junge Frau mit langem, blonden Haar öffnete mir die Tür. Sie stellte sich als Theresa Mansfeld vor und führte mich nach oben in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer, das mit verschiedenen Blumensträußen für den Gast festlich geschmückt war. Nachdem sie mir ein Glas Wasser gereicht hatte, setzte sie sich mir gegenüber an den Esstisch, wo ich meinen Notizblock und mein Aufnahmegerät niedergelegt hatte.
Sie sah mich kess an. „Sie möchten etwas über mich wissen? Ich fange einmal mit einer kurzen Biografie an. Vor 35 Jahren wurde ich geboren mitten in einer großen Stadt in einem sehr konservativen Elternhaus. Meine Eltern waren beide Lehrer und durchgehend berufstätig. Für mich engagierten sie Tagesmütter, die häufig wechselten, weil meine Eltern viel an ihnen zu nörgeln und auszusetzen hatten. Es waren einige sehr interessante Frauen dabei, aus verschiedenem Milieu mit den unterschiedlichsten Talenten und Qualifikationen. Das hat auch mich sehr vielseitig gemacht, es war sozusagen ideal für mich.“
„Es war also amüsant und gut für sie?“ erkundigte ich mich, um noch einmal nachzuhaken.
Theresa nickte. „Ich habe meine Eltern nicht vermisst. Sie waren viel zu langweilig für mich. Meine erste Kinderfrau sang und spielte und tanzte mit mir bis ich in die Schule kam. Dann wechselten die Kinderfrauen alle zwei Jahre, aber jede hatte ihr eigenes Talent. Eine war Schauspielerin, die kein Engagement hatte, eine andere Schriftstellerin, deren Romane nie gedruckt wurden. Die nächste war Tänzerin ohne Arbeit, und die letzte war eine Zauberin. Sie blieb bis ich aus der Schule kam, die ich nur mit Mühe durchlief.
Meine erste Kinderfrau vermittelte mir auch die Liebe zur Natur und die zweite, die Schauspielerin öffnete in mir mehr als nur sieben Sinne für alles, was es im Leben gibt.“
„Wie hat sie das gemacht?“
„Wenn sie mir Obst zum Essen gab, verband sie mir zuerst die Augen. Dann reichte sie mir einen Apfel zum Betasten und ließ mich daran riechen, ich musste ihr den Duft beschreiben. Mit verbundenen Augen bat sie mich, von dieser Frucht abzubeißen und ihr wieder zu beschreiben, was ich schmeckte. Wenn wir draußen in der Natur waren, setzte sie sich mit mir auf eine Wiese und verband mir ebenfalls die Augen. Dann forderte sie mich auf, tief einzuatmen und ihr zu beschreiben, was ich rieche. Anschließend ließ sie mich genau hinhören. Ich sollte ihr erzählen, was ich höre und was ich dabei empfinde. Fast alles, was sie mir zum Kennenlernen gab, entdeckte ich zuerst mit verbundenen Augen beim Berühren. Sie werden es nicht glauben, aber so handele ich oft heute noch. Ich schließe oft die Augen und nehme die Dinge auch mit meinen anderen Sinnen wahr.“
„Das ist interessant“, fand ich. „Damit lernt man sicher, intensiv zu spüren.“
„Die Schauspielerin war auch sehr musikalisch. Sie sang viel mit mir. Aber nicht nur Lieder, sondern auch ganz gewöhnliche Sätze. Sie machte aus allem eine Melodie. Ging ich eine Treppe hinauf oder hinunter, so ließ sie mich hinhören, wie der Takt war, und sie bat mich, etwas darauf zu singen. Jeder Ton, jedes Geräusch war für sie Musik.“
„Oh ja, ich erinnere mich auch an so etwas in dieser Art, Frau Mansfeld. Es gibt einen Film von einem kleinen Jungen, der schon als Baby von seinen Eltern getrennt wurde. seine Eltern waren Musiker, er komponierte auch aus allen Geräuschen eine Rhapsodie.“
„Sie lehrte mich auch, in stummen Dingen Melodien zu finden, indem ich meine Fantasie anstrengte und nach der Seele der Dinge suchte.“
Ich sah sie groß an. „Das hört sich nicht einfach an. Haben Sie denn an all diesen Dingen Spaß gehabt?“
Theresa nickte. „Ich hatte schon damals das Gefühl, dass all diese Frauen in Wirklichkeit besonders gute Feen waren, die aus irgendeiner anderen glücklichen Welt in mein Leben kamen, um in mir alle Talente zu wecken, die tief in mir schlummerten. Es gab ganz viele Leute damals, die meine Kinderfrauen für verrückt hielten. Und es gibt auch Leute heute, die mich für verrückt halten. Aber wenn sie sich dieses Wort „verrückt“ einmal genauer betrachten, so werden Sie entdecken, dass es gar kein schlimmes Wort ist. Es bedeutet nur, dass man etwas von einer Stelle an eine andere gerückt hat. Und ich bin ganz sicher, dass ich mich an die richtige Stelle gerückt fühle und glaube oft, dass andere Menschen an der falschen Stelle stehen.“
„Vielleicht haben ja auch beide Stellen eine Berechtigung“, fand ich. „Die Welt und die Menschen sind vielseitig. Ich nehme an, dass Sie durch und durch eine Künstlerin sind.“
Wieder nickte sie. „So fühle ich mich auch. Und mein besonderes Thema ist die Liebe.“
„Sie sind verliebt, Theresa?“
„Nein. Das kann ich nicht. Ich kann mich nicht auf einen Menschen beschränken. Ich finde an jedem Menschen irgendetwas Wunderbares. Grundsätzlich an Frauen und an Männern. Aber in der Liebe, in der Erotik, fühle ich mich von Männern angezogen. Und da fängt mein Problem an: Bei dem Einen liebe ich die Augen, bei dem Anderen die Stimme, beim Dritten seinen Duft, beim Vierten seine Hände, beim Fünften seine Art zu kommunizieren, beim Sechsten seinen schönen Körper. Was soll ich da machen?“
„Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, Sie haben im Moment keinen Freund oder Ehemann und finden einfach nur an fast jedem Menschen etwas Ansprechendes?“
„Oh, ich war früher jeden Tag aufs Neue verliebt, weil ich an fast jedem Mann irgendetwas Anziehendes fand. Deswegen nehme ich mich momentan etwas zurück und beschäftige mich hauptsächlich mit der Kunst. Da gibt es auch so schöne Dinge, die Spaß machen. Im Moment habe ich mich in eine Skulptur verliebt, die ich selber geschaffen habe. Wollen Sie sie einmal sehen?“
Ich nickte. „Gern. Ich liebe Kunst. Sie wissen bestimmt, dass ich auf dem Schloss des Malers Moro Rossini lebe. Er hat auch schon sehr viele Skulpturen erschaffen und versteht es, seine Gefühle in Bildern und Figuren auszudrücken. Er ist jetzt über 80 Jahre alt und hat so viel geschaffen, dass es kaum einen Raum im Schloss gibt, den nicht ein Werk von ihm schmückt. Ich bewundere ihn sehr, denn auch seine Sinne sind total offen. Deshalb war er früher auch oft in schöne Frauen verliebt, dennoch ist er imstande, eine einzige Frau zu lieben, mehr als alle anderen.“
Theresa strahlte. „Ich muss ihn unbedingt einmal kennen lernen. Das wird für mich ein Ereignis sein. Aber bei mir ist es doch noch etwas anderes. Die Objekte meiner Verliebtheit müssen nicht immer wirklich total schön sein, vielleicht ist es bei mir auch eine Empfänglichkeit für das Gute in einem Menschen, und fast jeder hat etwas Gutes in sich. Und wirklich lieben? Was ist das überhaupt? Ein warmes Gefühl? In der Brust? Im Bauch?“
„Ehrlich gesagt, ich kann es Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich glaube, meinen Verlobten zu lieben, weil ich den Wunsch habe, so oft wie möglich mit ihm zusammen zu sein, und weil er mir sehr wichtig ist. Ich habe auch das Bedürfnis, ihm oft etwas mitzuteilen und manchmal sorge ich mich um ihn. Aber ist das schon Liebe?“
„Sehen Sie, Frau Mühlberg, ich weiß auch nicht, was Liebe ist. Ich liebe niemanden, es ist mir noch keiner begegnet, von dem ich sagen könnte, er ist mir lieber als all die anderen. Aber warten Sie einmal, ich hole Ihnen jetzt meinen Bronzo. Dann werden Sie staunen.“
Sie lächelte mich geheimnisvoll an, stand auf und verschwand im Nebenraum.
Ich wartete gespannt. Wer mochte das wohl sein, ein Bronzo? Vielleicht die Skulptur eines Elefanten oder eines kleinen Dinosauriers?
Wenige Augenblicke später erschien sie mit einer weiß glänzenden, etwa 50 cm hohen Figur. Vom Material her sah sie auf den ersten Blick aus wie Marmor. Theresa trug diese schwer aussehende Skulptur mit Leichtigkeit, daher konnte meine Vermutung, was das Material betraf, nicht zutreffen. Sie hielt mir Bronzo entgegen, und ich erkannte eine Art Engel mit winzigen Flügeln in unschuldigem Weiß. Den Blick hielt er unschuldig gesenkt, aber um den Mund spielte ein geheimnisvolles, ein wenig spöttisches Lächeln.
„Das ist Bronzo, ein gefallener Engel. Das Material sieht aus wie Marmor, aber es ist nur eine leichte, besondere Knetmasse, die nach dem Erhärten wie Marmor aussieht. Ist er nicht wundervoll?!“ Zärtlich strichen ihre Finger über den glatten Körper.
„Es ist ein sehr hübscher Engel“, bestätigte ich ihr. „Sie sind eine große Künstlerin. Aber warum hat er den seltsamen Namen Bronzo? Und warum ist er ein gefallener Engel? Hat er eine Geschichte?“
Sie sah mir aufmerksam in die Augen. „Oh, ja, er hat eine Geschichte, und sie ist mit meiner Lebensgeschichte verbunden. Er soll meinen Exfreund beschützen, in den ich auch einmal ein wenig verliebt war. Aber nachdem er seine Frau ermordet hat, bin ich geflohen, weit, weit weg von ihm. Und er flieht jetzt vermutlich vor sich selbst.“
Ich erschrak. Theresa sah so glücklich aus, war sie tatsächlich in einen Mordfall verwickelt oder entstammte das ihrer großen Fantasie? Bildete sie sich da vielleicht etwas ein?
„Können Sie mir da ein wenig mehr erzählen, Theresa?“
Sie nickte. „Bis vor kurzem habe ich auf Sizilien gelebt, ganz in der Nähe von Catania. Dort kannte ich zwei Männer. Der eine hieß Giuseppe und hat mich mit den schönsten Materialien versorgt, zauberhaften Farben zum Malen und Ton und Knetmasse für meine Skulpturen, wir waren befreundet. Der andere hieß Giorgio und war schon seit zwölf Jahren verheiratet, bei diesem Paar hatte ich ein Zimmer gemietet, in dem ich nachts schlief. Tagsüber wanderte ich mit meiner Staffelei umher oder streifte durch die Gegend auf der Suche nach Modellen. Es ist zauberhaft dort.“
Ich stimmte ihr zu. „Ich war auch einmal dort, aber es ist schon ein paar Jahre her. Und Moro Rossini, der Maler im Schloss, ist dort geboren im Jahr 1939. Er hat dort seine Kindheit verbracht und wird sich bestimmt gern mit Ihnen darüber unterhalten. Ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen dort gefallen hat, ich finde Sizilien auch zauberhaft. Aber wie kam es zu dem Mord? Und warum ist der Mörder in Gefahr? Sitzt er etwa nicht im Gefängnis?“
„Giorgio wurde von der Polizei verdächtigt, aber er behauptete, dass er nicht der Täter ist. Verdächtig machte ihn, dass er behauptete, mich unsterblich zu lieben, und er wollte sich von seiner Frau scheiden lassen. Ich dagegen war nur verliebt in ihn. Alle Leute wussten darüber Bescheid. Seine Frau war sehr wütend und wollte nicht in die Scheidung einwilligen. Gerade in dieser einen Nacht, in der der Mord geschah, war ich nicht dort, sondern in einem Hotel in Messina, weil ich mich dort mit einem Kunstsammler getroffen hatte, der nicht nur ein Bild von mir kaufen wollte, sondern auch den Auftrag für eine Skulptur bereit hielt. Giorgio und Luciana waren allein zu Haus in dieser Nacht, und es gab keine Einbruchspuren. Als man die Ermordete am anderen Tag fand, war Giorgio schon geflohen. Er behauptete, aus Angst, dass man ihn für den Mörder hielt. Keine Ahnung wo er sich jetzt herumtreibt.“
„Aber woher wussten Sie denn, dass er aus Angst geflohen war. Er war doch dann schon weg, als sie wieder zurück in das Haus kamen, oder?“
„Ich kam erst zwei Tage später, am Vortag hatte eine Freundin Luciana gefunden. Aber unter meinem Kopfkissen in meinem Zimmer fand ich einen Brief von Giorgio, den hatte er in Eile hingekritzelt. Er schrieb mir, dass er unschuldig sei, dass irgendjemand vermutlich mit einem Nachschlüssel ins Haus gelangt sein müsse, und dann seine Frau ermordet habe, während er schlief.“
„Das hört sich alles sehr merkwürdig an, Theresa. Gut, seine Frau wollte sich nicht scheiden lassen, und er wollte die Scheidung. Aber wenn Sie nur verliebt in ihn waren, und Sie ihn nicht geliebt haben, dann hatte er doch sowieso keine Chance, Sie zu heiraten. Warum sollte er seine Frau dann umbringen?“
„Oh, er hat immer gesagt, er würde auf mich warten, bis ich soweit bin. Er sagte, ich sei sein Schicksal, und eines Tages würde ich ihn heiraten. Ich habe ihm gesagt, du spinnst. Ich werde dich niemals heiraten. Auch nicht, wenn du geschieden bist. Aber er hat es mir nicht geglaubt. Alle Nachbarn und Freunde haben gesagt, er muss es gewesen sein. Giorgio muss der Täter gewesen sein. Es war niemand anderes im Haus. Und auch die Polizei ist davon überzeugt.“
„Wie ist denn der Mord vor sich gegangen?“
„Sie wurde erschossen, wahrscheinlich mit Schalldämpfer, denn niemand hat etwas gehört. Aber die Waffe hat man nie gefunden. Nun ja, ich denke, sie war am Meer leicht zu entsorgen. Und so nah an der Mafia konnte der Mörder schon eine Waffe bekommen, wenn er sich ein wenig umschaute.“
„Vielleicht hat die Mafia etwas mit dem Mord zu tun?“ überlegte ich.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Luciana war eine brave Frau. Und auch Giorgio hat sich immer so verhalten, dass er der Mafia nicht im Wege war, unauffällig und ordentlich, und auch sehr bescheiden.“
„Sucht die Polizei denn auch in andere Richtungen, oder wird nur nach Giorgio gefahndet?“ wollte ich wissen.
„Er ist der Hauptverdächtige, und deswegen soll ihn mein Freund Bronzo auch beschützen. Auch wenn ich ihn nicht liebe, möchte ich nicht, dass er unschuldig ins Gefängnis kommt. Und solch eine Suche, eine Verfolgungsjagd kann auch einmal tödlich enden. Und wenn er sich immer verstecken muss, gerät er sicher auch in die eine oder andere Gefahr.“
„Haben Sie denn schon einmal an einen Detektiv gedacht, Theresa?“
„Nicht wirklich. Hier kenne ich keinen und glaube auch nicht, dass von hier aus einer den weiten Weg nach Sizilien machen würde. Und bisher ist mir in Catania und in der Umgebung auch noch kein Detektiv begegnet. Aber was sollte der auch schon ausrichten? Um den Mörder zu finden, muss man dort Land und Leute kennen. Luciana kann nicht mehr sprechen und Giorgio versteckt sich.“
„Aber vielleicht könnte Ihnen dieser Giuseppe etwas helfen, er war doch sonst auch so hilfsbereit“, überlegte ich.
Theresa strich sanft mit der Hand über den Rücken des Engels. „Ich habe ihn schon gefragt, aber er glaubt fest daran, dass es Giorgio war, und er meinte, es sei verlorene Zeit, nach einem anderen Mörder zu suchen.“ „Könnte Giuseppe denn etwas mit dem Mord zu tun haben?“
Theresa schüttelte energisch den Kopf. „Oh nein! Dieser ältere Mann ist fromm wie ein Lamm und kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Und ein Motiv hat er auch nicht.“
„Und wenn er nun Giorgio als Nebenbuhler aus dem Weg räumen wollte?“
„Ach, nein. Das glaube ich nicht. Giuseppe ist alt und wusste, dass ich Giorgio nicht liebe. Er kennt alle meine Probleme in punkto Liebe. Da gab es wirklich keinen Grund für ihn, Luciana zu töten.“
Ich überlegte. „Zufällig kenne ich einen sehr guten Detektiv, er heißt Rüdiger von Ambergs und hat mir in den vergangenen Monaten oft dabei geholfen, Kriminalfälle aufzudecken. Er hat allerdings seinen Wohnort von Deutschland auf Frankreich verlegt, weil dort seine Freundin wohnt. Trotzdem reist er auch sehr viel in Europa umher. Ich werde ihn auf jeden Fall einmal fragen.“
Theresa legte ihre Lippen auf die Wangen des Engels und küsste sie. „Ich habe nicht so viel Geld für einen Detektiv. Das wären doch bestimmt unheimlich hohe Spesen. Sizilien ist weit und das Fliegen ist nicht billig.“
„Im Norden Italiens kenne ich auch noch einen Hobbydetektiv. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass er Verwandte auf Sizilien hat. Es gibt aber einen ganz großen Haken bei der Sache.“
Ihre wunderschönen, großen Augen weiteten sich. „Und der wäre?“
„Dieser schöne italienische Hochschullehrer hat erstens eine Arbeit, die ihm nur in den Ferien große Ausflüge erlaubt, und zweitens hat er mir vor nicht allzu langer Zeit seine Liebe gestanden. Daher werde ich wohl nur im Notfall mit ihm Kontakt aufnehmen, wie Sie bestimmt nachvollziehen können. Ich möchte ihn nicht unnötig wieder verletzen. Ich glaube aber zu wissen, dass er einen sehr intelligenten Cousin besitzt, der in der Nähe von Messina auf Sizilien wohnt. Aber entschuldigen Sie bitte meine Frage, mein Chef hat mir berichtet, dass Sie mit Ihrer Kunst sehr viel Geld verdienen. Ist es Ihnen da nicht möglich, einen Detektiv zu bezahlen?“
Sie lächelte. „Sie haben wirklich gar keine Ahnung. Ich vermute, die Kriminalfälle, die Sie gelöst haben, bezogen sich alle auf dieses Land. Hier mag das ja alles mit einem normalen Detektiv gehen, aber dort nicht. Man muss sich wirklich da auskennen.“
„Aber könnten Sie denn nicht mit einem Detektiv dorthin fahren und ein bisschen bei der Aufklärung helfen? Falls Sie davon überzeugt sind, dass Giorgio nicht der Mörder ist, dann müsste Ihnen doch daran gelegen sein, dass der Fall aufgeklärt wird.“
„Im Prinzip schon, aber im Moment ist es für mich auch nicht ungefährlich, wenn ich mich dort sehen lasse. Die Schwester von Luciana, Maria und ihre Tochter, Anna, sie sind beide sehr böse auf mich, weil sie denken, ich habe Schuld am Tod der Ermordeten. Außerdem ist dort auch noch der sehr aufdringliche Gianni, der so gierig ist auf meine Werke und immer mehr haben möchte. Momentan bin ich gar nicht in der Verfassung, mich gegen solche Leute zu wehren. Hier im Rosenturm finde ich gerade etwas Ruhe und Muße, etwas auszuspannen und wieder neu Atem zu holen.“
„Oh ja, Theresa, das kann ich gut verstehen. Aber wenn Sie trotzdem einmal den Wunsch haben, alles aufzuklären, dann sagen Sie mir bitte Bescheid, ich werde Ihnen dann möglicherweise mithilfe der Detektive ein Angebot machen. Und dieser Giuseppe? Hat er vielleicht ein anderes Motiv?“
„Nein, soweit ich weiß, nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob er Giorgio und Luciana überhaupt kennt. Er hat mich nämlich nie dort in dem Haus besucht, sondern immer in sein riesiges Atelier bestellt. Aber darüber möchte ich jetzt nicht mehr sprechen. Ich mag es nicht, in solch dunklen Dingen herumzuwühlen. Was geschehen ist, ist geschehen. Damit muss man sich abfinden. Ich muss nach vorn schauen, wenn ich produktiv sein möchte.“
Ich überlegte. „Das unterscheidet Sie von Rossini. Einige seiner besten Werke wurden aus Ärger und Wut und Schmerzen geboren. So macht er aufmerksam auf das Unrecht in dieser Welt.“
Sie verzog den Mund. „Ja, vielleicht muss es auch solche Menschen geben. Ich gehöre nicht dazu. Ich bin wählerisch, ich suche die Sonne und das Licht. Ich suche die Liebe, ich bin auf dem Weg zur Liebe.“ Sie liebkoste die Figur.
„Sie lieben diesen Bronzo, wie ist das, wenn man eine Figur liebt?“
Sie lächelte mich mitleidig an. „Es gibt Menschen, die lieben ihr Auto, ihre Handtasche oder ihre Schuhe, manche ein Schmuckstück. Aber ich habe in diesem gefallenen Engel etwas Besonderes gefunden. Er ist wie ein Freund.“
„Aber er spricht nicht mit Ihnen, und er kann Ihnen auch sonst keine Freundschaft zeigen. Was gibt er Ihnen denn sonst?“
Jetzt sah sie mich verächtlich an. „So kann auch nur ein Mensch sprechen, der gar keine Ahnung hat. Wenn ich Bronzo berühre, spüre ich, dass er auf seine Art und Weise lebt. Haben Sie schon einmal einen besonderen Stein angefasst? Man kann seine Energie spüren. Ein Rosenquarz fühlt sich anders an als ein Tigerauge. Wenn man hellfühlig ist, spürt man ein Vibrieren der Energien. Bronzos Haut fühlt sich glatt und seidig an. Wenn ich ihn in den Arm nehme, fühle ich mich wohl und angenommen. Und wenn ich zu ihm spreche, so öffnet er selbst nicht seinen Mund. Aber er gibt mir die Antwort direkt in meinen Kopf. Er ist ein echter Freund, denn er diskutiert mit mir.“
Ich staunte. „Aber wie geht denn das? Sie sprechen etwas und hören dann in Ihrem Kopf eine Antwort. Woher wissen Sie, dass diese Antwort von Bronzo kommt?“
„Also, zuerst einmal müssen wir unbedingt dieses dumme Siezen sein lassen, es macht mich ganz nervös. So viel älter sind Sie ja schließlich auch nicht als ich. Ich weiß, nach den Höflichkeitsregeln muss eine ältere Person der jüngeren zuerst das „Du“ anbieten. Aber in dem Fall hier habe ich eine Sonderstellung, weil ich mich bei Ihrem Chef für dieses Interview bereit erklärt habe. Daher darf ich auch Wünsche ausdrücken. Ist das so in Ordnung?“
Ich lächelte. „Ich habe kein Problem damit. Dass ich Abigail bin, das weißt du ja.“ Ich reichte ihr die Hand.
„Ist mir nicht entgangen, meinen Namen weißt du auch. Wir müssen also keine Sondervorstellung daraus machen. Und nun zu deiner Frage: Es ist ganz einfach. Bronzo hat eine ganz eigene Meinung. Wenn ich ihn frage, ob etwas gut ist, das mir gefällt, dann sagte er mir oft in den Kopf, es könnte besser sein oder es sei schlecht. Man kann gut Zwiegespräche mit ihm führen. Es ist unglaublich, aber wahr.“
Ich bohrte weiter. „Kann nicht jeder Mensch in sich solche Zwiegespräche führen?“
Sie lachte mich aus. „Unser Interview wird wohl eine ganze Zeit lang dauern. Ich sehe schon, du bist gar nicht auf meiner Wellenlänge. Vielleicht sprechen manche Leute mit sich selbst und überlegen hin und her. Aber ich fühle Bronzo in meinem Kopf. Er ist witzig und intelligent. Aber vor allen Dingen ist er ein Meister der Erotik.“
Ich zwinkerte mit den Augen. „Wie bitte?“
„Er ist der Engel der Sinnlichkeit und der flüstert mir ständig schöne Worte ins Ohr.“
„Kannst du mir da mal ein Beispiel sagen?“
„Sieh dich nur einmal um, hier im Raum! Hier gibt es unzählige Gegenstände, die zart, erotisch und begehrenswert aussehen.“
Meinte sie das ernst? „Meinst du damit einfach die Dinge, die beispielsweise den weiblichen Rundungen gleichen?“
Sie lächelte. „Ja, zum Beispiel. Schau dir doch diese Löwenmäulchen in der Blumenvase an! Haben sie nicht besonders sinnliche Lippen an ihren kleinen geöffneten Mäulchen?“
Ich überlegte fieberhaft, was ich davon in meinen Text über die Künstlerin hineinnehmen könnte. Wie könnte ich über sie schreiben, ohne dass sie vom Leser für verrückt erklärt würde?
Ich betrachtete die Blumen genauer. „Ich finde die Blumen sehr ausdrucksvoll, ja. Ihre rote Farbe lockt sicher nicht nur die Insekten an, und ihre Form ist sehr eigenwillig. Möglicherweise reicht meine Fantasie zu mehr aus.“
Jetzt zeigte sie ein geheimnisvolles Lächeln. „Vielleicht bist du auch nur etwas zu sehr gehemmt. Möglicherweise hältst du Erotik für etwas Unanständiges. Erotik ist ein Geschenk der Natur und des Himmels. Die Blumen, die Menschen sagen damit: Hab mich lieb, ich bin auf meine Art und Weise schön. Ist das nicht der innerste Wunsch eines jeden Menschen: Beachte mich! Hab mich lieb!? Die ganze Schöpfung sagt das mit Farben, Formen und Düften.“
„Ja, die Evolutionsgeschichte ist ja auf Vermehrung und Verbreitung aufgebaut. Ich liebe die Natur und Gottes Schöpfung genauso wie du. Aber ich habe nicht diesen erotischen Blickwinkel wie du. Ich fühle mich nicht von allem erotisch angesprochen.“
Sie lachte. „Vielleicht willst du es nur nicht, weil du dich oft auf anderes fokussierst. Zum Beispiel jetzt auf die Arbeit. Meine guten Lehrerinnen in der Kinderzeit haben mich geöffnet für alles, was mir auf dieser Welt und in diesem Leben begegnet. Ich sehe es dir schon an, wie dein Kopf raucht. Ja, das alles kannst du ruhig über mich schreiben. Das bin ich, durch und durch offen für alle Sinnesreize, und ich genieße es, denn es macht das Leben schön.“
„Ich werde es aufschreiben. Du darfst auch gern den Text zum Korrigieren lesen. Gibt es für den Anfang noch etwas, das dir so am Herzen liegt, Theresa?“
„Na ja, ich denke, du hast für heute genug zum Nachdenken und zum Schreiben. Beim nächsten Mal zeige ich dir, was ich unter Tanzen verstehe. Vielleicht gebe ich eine Kostprobe meiner Schauspielkunst. Dein Chef hat mir erzählt, dass du schon viel über Schauspieler geschrieben hast.“
Ich nickte. „Eine meiner Freundinnen ist Laura Camissoll, ihr Vater ist der berühmte Hollywood-Regisseur Johnny Deep. Sie ist eine sehr schöne Frau, und soviel ich weiß, hat sie auch eine große Begabung. Ihre Mutter war auch Schauspielerin, da hat sie wohl auch Talente geerbt. Außerdem gastierte hier im letzten Jahr die berühmte Schauspieltruppe des Puppenspielers Jérôme Tessier. In seiner Truppe lernte ich auch einige begabte Schauspieltalente kennen.“
„Ehrlich gesagt, habe ich von all denen noch nie etwas gehört. Aber ich bewege mich auch nicht in solchen Kreisen. Ich hasse die Aktivitäten beim Film, obwohl manches Mal für die Menschen, die den Film anschauen, oft etwas recht Passables herauskommt. Für den Schauspieler selbst ist das Ganze eine Qual mit den einzelnen Szenen. Es ist ja alles aus zusammengehackten Einzelteilen angestückelt. Da wird eine Szene zig Male gespielt aus dem Zusammenhang heraus bis die Schauspieler gar nicht mehr in Trance sind. Es ist ein Stückwerk für die armen Akteure. Beim Schauspiel ist das anders, man spielt alles hintereinander weg, sofern man dann seine Rolle kann. Man kann von Anfang bis Ende in der Geschichte, im Schauspiel bleiben. In Italien habe ich viel auf den Bühnen gespielt, am liebsten allerdings in Improvisationstheatern, die viel Freiraum für die Fantasie lassen. Da kann sich wahre Schauspielkunst entfalten.“
Ich staunte. „Darüber muss ich erst einmal nachdenken. Aus dieser Sicht heraus habe ich das Ganze noch nie betrachtet. Du hast Recht, es war ein intensives Gespräch heute. Ich danke Dir für Deine Offenheit. Gib mir bitte Bescheid, wann du bereit bist für das nächste Interview.“
Sie versprach es, geleitete mich freundlich hinunter bis an das kleine, alte Ausgangstor und verabschiedete sich mit einer angedeuteten Umarmung.
***
Im Schloss angekommen empfing mich der Maler Moro Rossini.
„Ciao Piccolina! Du siehst heute etwas nachdenklich aus. Hast du ein Problem?“
Er war schon seit ein paar Monaten zum persönlichen Du übergegangen, während ich es immer noch angemessen fand, den berühmten 80-jährigen zu Sietzen. „Es geht um Theresa, die junge Künstlerin aus dem Rosenturm. Hat Ihnen Ada schon von ihr berichtet?“
„Komm, trinkt mit mir einen Schluck Wein“, bat er mich. „Ein guter Freund hat mir gerade wieder einige Flaschen aus meiner Heimat geschickt.“
Ich folgte ihm ins Atelier und setzte mich auf das kleine Sofa vor der Staffelei. Er füllte zwei Gläser mit Wein, reichte mir eins davon und setzte sich mir gegenüber in den bequemen Ohrensessel.
„Sie hat mich gerade selbst angerufen“, begann er. „Anscheinend eine berühmte und begabte Künstlerin. Natürlich wollte sie mich sofort besuchen und sich hier einmal umschauen. Ich habe sie für morgen eingeladen, und weil ich nicht so gut laufen kann, wollte ich dich bitten, ob du sie vielleicht herumführst. So kannst du dir vielleicht auch einen Weg zum Turm sparen und sie hier ein bisschen interviewen. Passt das dir?“
„Eine gute Idee. Aber sie ist auch eine sehr interessante Frau, morgen können Sie sich selbst ein Urteil darüber bilden.“
„Ein paar Minuten werde ich schon für sie abzweigen, Abigail. Aber was hat dich so tief in Gedanken gestürzt?“
„Vermutlich hat sie Ihnen auch erzählt, dass sie eine längere Zeit auf Sizilien gelebt hat, und zwar in Catania.“
Moro nickte. „Ja, und so klein, wie die Welt immer ist, hat sie sogar ganz in der Nähe meines Elternhauses gewohnt.“
„Hat sie Ihnen auch von dem Mord an der Frau ihres Freundes erzählt?“
„Nein, so weit kam sie nicht. Als ich merkte, dass sie mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen wollte, habe ich ihr geraten, damit zu warten, bis wir uns persönlich kennen gelernt haben. Offenbar setzte sie voraus, dass sich Künstler immer blind verstehen.“
Ich lächelte. „Oh, Theresa möchte sich mit allen immer gut verstehen. Sie liebt die Harmonie über alles, sie möchte sich am liebsten nur auf der Sonnenseite des Lebens aufhalten. Bis jetzt ist ihr das allerdings noch nicht so gut gelungen.“
Moro nickte. „Das gelingt den Wenigsten. Aber worüber hast du dir dann solche Gedanken gemacht? Wenn sie so fröhlich ist, hat sie dieser Mordfall offensichtlich nicht sehr erschüttert.“
„Sie behauptet das jedenfalls. Aber ich kann nicht gut in sie hineinsehen. Ist schon ungewöhnlich, diese Heiterkeit. Der Freund Giorgio steht unter Mordverdacht, soll sich irgendwo verstecken. Theresa hat ein Alibi, sie war zu dieser Zeit nachweisbar in Messina.“
Ich erzählte ihm alles, was mir Theresa berichtet hatte, auch von Giuseppe und von der Schwester der Ermordeten, und auch von Bronzo, der Figur mit der Schutzengelfunktion.
„Ich kann mir schon vorstellen, dass man diese Frau dort nicht gern sieht. Die Ermordete wird außer ihrer Familie auch noch Freunde gehabt haben und Nachbarn. Und alle werden denken, dass Theresa mit daran schuld ist an der Zerstörung dieser Ehe. Da hat der eine oder andere schon auch Rachegedanken.“
„Das kann gut sein“, stimmte ich zu. „Was ich aber auch noch nicht verstehen kann, ist, dass beide, Giorgio und Luciana einen sehr tiefen Schlaf gehabt haben müssen, wenn sie beide nicht gemerkt haben, dass jemand zu ihnen ins Schlafzimmer kam. Und ich weiß auch nicht recht, wie sich so ein Schuss mit Schalldämpfer anhört. Müsste Giorgio nicht sofort davon wach geworden sein? Und wenn keiner von beiden den Täter hereingelassen hat, hatte er dann einen Nachschlüssel für die Wohnung? Aber steckt nicht jeder seinen Schlüssel nachts von innen ins Schloss?“
Moro dachte nach. „Es gibt auch Schlösser, die kann man von außen öffnen, wenn drinnen der Schlüssel steckt. Und wenn Giorgio einen tiefen Schlaf hat, dann muss er nicht unbedingt aufgewacht sein. Seine Reaktion ist allerdings etwas merkwürdig. Wer seine Frau morgens neben sich tot im Bett findet, der ruft normalerweise den Rettungswagen und in diesem Fall auch die Polizei.“
„Ja, das macht man wohl so im Normalfall. Bei ihm soll die Angst davor, dass er für den Mörder gehalten wird, so groß gewesen sein, dass er sich zur Flucht entschloss.“
„Auch merkwürdig“, fand Moro. „Anstelle einen Schock über den Mord an seiner Frau zu haben, checkte er blitzschnell, welche Indizien für ihn als Mörder sprachen. Er sah also, dass es keine Einbruchsspuren gab und muss sofort erkannt haben, dass Luciana keines natürlichen Todes gestorben war. Das Letztere setzt auch einige Kenntnisse voraus. Weißt du denn, welchen Beruf er hatte?“
„Nein, keine Ahnung. Theresa kann ich erst einmal nicht fragen, denn sie will nicht mehr darüber sprechen. Sie will sich nur noch mit schönen Dingen abgeben. Aber ich sehe schon, dass auch Ihr Interesse an dem Fall geweckt ist. Eigentlich kein Wunder, da Sie ja früher selbst in Norditalien als Carabinieri tätig waren.“ „Ja, das waren noch Zeiten, Abigail. Und wie du weißt, waren es auch schlimme Jahre, als es dort vermehrt die Attentate gab. Wenn ich nicht schon so alt und gebrechlich wäre, setzte ich mich sofort ins Flugzeug und schaute mich dort einmal um. Ein paar Verwandte von mir wohnen auch noch dort in der Gegend, die würden vielleicht helfen.“
„Das hört sich gut an. Wenn Theresa ihre Meinung ändert und den Fall geklärt haben möchte, dann fliege ich einfach nach Sizilien. Von meinem Chef Jens Wieland bekomme ich bestimmt die Erlaubnis, mich dort ein bisschen umzuschauen und zu fotografieren. Schließlich ist Catania als Hintergrund für Theresas Schaffen sehr wichtig gewesen. Diese Zusatzinformationen von dort ergeben dann ein rundes Bild für das Interview.“
„Sehr gut. Schließlich kann sich dieser Giorgio auch nicht immer weiter verstecken, selbst auf Sizilien schafft das so keiner mehr.“
„Und noch eins macht mir Gedanken: Theresa gibt an, kein Motiv für den Mord zu haben, und ich traue es ihr auch eigentlich nicht zu in ihrer Süße, aber selbst wenn sie in der Nacht in Messina war, hätte sie doch heimlich mit dem Auto schnell nach Catania fahren können, um den Mord zu verüben. Zeitlich hätte sie das geschafft, hin- und herzufahren.“
„Wahrscheinlich hat man das nachgeprüft, Abigail. Es sind zwar nicht viel mehr als zwei Stunden Autofahrt, aber die Straße hat Mautstellen, und da wird man überprüft haben, ob sie jemand dort gesehen hat. Und vielleicht konnte sie es auch glaubhaft versichern, dass sie Giorgio nicht geliebt hat. Also fehlt ihr ein Motiv.“
In meinem Kopf rotierten die Gedanken. „Es sei denn, Luciana war eine widerliche Hexe, und Theresa wollte ihren Freund von dieser Plage befreien. Aber sie sieht wirklich sehr lieb aus, diese Theresa, ich traue ihr keinen Mord zu. Bisher konnte ich mich immer auf mein Bauchgefühl verlassen. Sie ist sehr liebevoll, das werden Sie morgen sicher selber sehen.“
„Aber ich hoffe, nicht zu liebevoll“, ertönte Adelaides sanfte Stimme vom Eingang her. „Dann bin ich auch einmal sehr gespannt auf den Besuch der sagenhaften Künstlerin.“ Sie stellte sich neben Moro, der sie zärtlich ansah und streichelte ihm sanft den Arm. „Darf ich dich zu Pasta einladen, liebe Abigail?“
„Ich danke dir, liebe Ada, aber ich habe noch von gestern etwas übrig, das ich heute aufessen muss. Es ist immer so ein Problem, so wenig zu kochen. Wenn Rolf nicht da ist, habe ich da immer meine Schwierigkeiten. Ich werfe ungern Essen fort.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Adelaide lächelte verständnisvoll. „Und wahrscheinlich brennst du auch darauf, deinem Verlobten die neuesten Nachrichten am Telefon zu übermitteln, stimmt’s?“
„Oh ja, das ist dringend nötig, denn in Gedanken sehe ich mich schon auf der herrlichen Insel im sonnigen Süden. Das Meer dort ist unvergleichlich, auch mit seinen Stränden, der Ätna und seine Umgebung sind faszinierend. Ich habe schon oben gestanden am Rand des Feuer spuckenden Giganten.“
Moros Augen leuchten. „Das ist mein Berg, an dessen Hängen ich mich verwurzelt fühle. Vielleicht geht es mir doch eines Tages noch einmal ein bisschen besser, sodass ich eine Reise dorthin wagen kann.“
„Das hoffe ich für Sie! Mit Ihrer Frau werden Sie das bestimmt wieder schaffen.“ Ich wünschte den beiden einen guten Appetit für ihre Pasta und für später eine gute Nacht.
In Rolfs Wohnung angekommen machte ich es mir auf dem Sofa bequem.
In diesem Augenblick meldete sich das Telefon, es war mein Verlobter, der mich anrief.
„Ich habe gerade an dich gedacht“, teilte ich ihm mit. „Was für ein Zufall! Ich habe dir nämlich eine ganze Menge zu erzählen.“
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihm das Gehörte und Erlebte mitgeteilt hatte.
„Solltest du tatsächlich nach Catania fahren, ist es besser, wenn du dich dann wirklich an Moros Verwandte wendest, damit du dort nicht allein bist“ riet er mir. „Aber ich bitte dich, mach nur die Fotos für das Interview! Mische dich bitte nicht in den Mordfall ein. Du weißt, was du für ein Glück hattest, als du die mysteriöse Geschichte mit dem Wanderfalken aufgeklärt hast. Solch ein Glück darf man nicht strapazieren.“
„Aber natürlich, mein Schatz. Ich hatte sehr liebe und brave Schutzengel und auch noch den Detektiv Ermanno, der mir das Leben gerettet hat. Aber so wie es aussieht, hat Theresa momentan gar kein Interesse daran, den Mordfall aufzuklären. Sie glaubt an ihren Bronzo, der Giorgio auf der Flucht beschützen soll. Hättest du vielleicht auch Interesse an solch einem Engel?“ scherzte ich.
„Wag dich“, drohte er, „so einen möchte ich nicht in meiner Wohnung haben. Außerdem bist du mein Schutzengel.“
Damit hatte er die Überleitung gefunden zu unseren zärtlichen Abschiedsworten, mit denen wir uns etwa drei Minuten lang eine gute Nacht wünschten.
***
Als sich Theresa am anderen Morgen im Schloss meldete, saßen Moro und Adelaide noch am Frühstückstisch. Ich führte die Künstlerin zu ihnen in den kleinen Salon.
Theresa stellte sich vor, reichte Ada die Hand und schenkte ihr einen unschuldigen Augenaufschlag. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Sie sind bestimmt sehr stolz, einen so berühmten Mann zu haben.“
Adelaide nickte. „Oh ja, das bin ich, sehr sogar. Als wir uns kennenlernten, war ich 17 und er 26. Aber da war er noch nicht berühmt, sondern ein einfacher Carabiniere bei der italienischen Polizei. Darf ich Sie zum Frühstück einladen, Frau Mansfeld? Einen Kaffee, Tee oder eine heiße Schokolade vielleicht?“
„Hätten Sie vielleicht einen frisch gepressten Orangensaft für mich?“ ertönte es aus Theresas sanft geschwungenen Lippen.