Als Jesus mir Tee servierte - Stefan Kettner - E-Book

Als Jesus mir Tee servierte E-Book

Stefan Kettner

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Beschreibung

Joshua erfährt auf ungewöhnliche Weise, wie es in den Himmeln zugeht. Ungewöhnlich eigentlich nur für Seelen auf Erfahrungswelten, wie die Erde eine ist. In einem der Himmel freundet sich Josh mit Stanik an, der ihm hilft, mit all dem klarzukommen. Allerdings ist das gar nicht so einfach. Da sind zum Beispiel die Sachen mit den Erfahrungsstufen und seiner Glückszahl oder die Angelegenheit mit Jesus. So begibt er sich auf die Suche und trifft dabei auf außergewöhnliche Charaktere, die ihm helfen, immer mehr Puzzleteile zusammenzusetzen. Das Leben an den verschiedenen Orten ist ereignisreich und interessant, neu und vertraut. Doch das größte Abenteuer wartet auf ihn in Erscheinung von Theresia. Im Roman von Stefan Kettner geht es um Bedeutung und Sinnsuche des Lebens, welche Ressourcen uns zur Verfügung stehen, welchen Widerständen wir dabei ausgesetzt sind und was Leben und Liebe auf einer ungewöhnlichen Reise bedeuten können. "Glaubt nicht bedingungslos den alten Manuskripten, glaubt überhaupt nicht an etwas, nur weil die Leute daran glauben oder weil man es euch seit eurer Kindheit hat glauben lassen." Buddha (560 - 480 v. Chr.)

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Stefan Kettner

Als Jesus mir Tee servierte

Yeshua Ben Yoseph

Jesus, Sohn von Joseph

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2024

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Lubo Ivanko [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.engelsdorfer-verlag.de

Cover

Titel

Impressum

I. Synthese

________________________________________

II. Wandlung

________________________________________

III. Versuchung

________________________________________

IV. Reife

Und ich hörte die Worte des Höchsten, des Vaters meines Herrn, wie er zu meinem Herrn Christus, der Jesus genannt werden soll, sprach: „Geh und steig hinab durch alle Himmel und steig hinab zum Firmament und zu dieser Welt …

Und keiner von den Engeln dieser Welt wird erkennen, dass du mit mir zusammen der Herr der sieben Himmel und ihrer Engel bist.“

Apokryph: Martyrium und Himmelfahrt des

Jesaja 10, 7 - 8 und 11

Im Augenblick

Ich hieß Joshua Carlyle, war durchschnittlich intelligent, durchschnittlich attraktiv und durchschnittlich begabt, was das Leben an sich betraf …

Nun bin ich zum sechsten Male hier, sitze in innerer Stille unter einer alten Ulme an einem leisen Bach und schreibe nieder, was zwischen Tod und Geburt geschah.

In einer friedvollen Welt, in der Liebe alles ist.

I. Synthese

Das Licht und die Finsternis, das Leben und der Tod, Rechts und Links sind einander Brüder. Sie sind untrennbar. Deswegen sind weder die Guten gut noch die Schlechten schlecht, noch ist das Leben ein Leben, noch der Tod ein Tod.

Evangelium nach Philippus, Spruch 10

Der Guten Morgen Raum

1.

Dunkelheit.

Völlige Dunkelheit umgibt mich.

Eben war noch ein helles Licht, warm und vertraut. Nun ist es vollkommen finster.

Ich kann mich an nichts erinnern. Weder wo ich bin noch was ich hier mache.

Denken fällt mir schwer. Mein Gehirn scheint wie ausgeschaltet oder gar verschwunden zu sein. So angestrengt ich auch versuche Gedanken zu fassen – sie scheinen an mir vorbeizufliegen, langsam und träge. Ich kann sie nicht greifen, nicht erreichen. Sie bleiben einfach nicht bei mir. Ich bin zu langsam dafür.

Dunkelheit.

Alles ist schwarz.

Was ist mit mir geschehen? Wie kam ich hierher? Und wo ist hier?

Bin ich am Leben?

Ich bin in einem Körper. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.

Ich stecke in einem Körper. Es ist ein eigenartiges, absonderliches Gefühl. Fremd und neu und doch vertraut.

Doch? Überlege ich.

Es fühlt sich zudem gewohnt an, gar nicht so fremd. Sogar mehr vertraut und warm als orientierungslos und kalt. Und Vertrautes ist gut.

Ich erinnere mich, ich erinnere mich an meinen Körper. Ich entsinne mich an zwei Hände, meine Hände, meine Arme, meinen Rumpf, meine Beine.

Und an meinen Kopf.

Ich erinnere mich nicht nur, ich kann sie auch spüren. Ich kann all meine Gliedmaßen spüren.

Wie einen Mantel. Nein, enger. Wie eine Haut. Wie meine Haut.

Und noch immer diese Dunkelheit. Alles da draußen ist schwarz.

Habe ich meine Augen geöffnet?

Ich spüre, wie meine Augenlider zucken. Ich behalte für einen Augenblick meine Augen zu, versuche ein Reset.

Öffne sie wieder, in der Hoffnung etwas zu sehen.

Nichts.

Ich senke meinen Kopf, blicke mich um. Ich versuche meine Hand zu bewegen. Langsam, wie in Zeitlupe, hebe ich sie vors Gesicht. Ich kann sie nicht sehen. Trotzdem bin ich mir sicher, sie ist vor meinem Gesicht. Die Sensoren meiner Gelenke geben mir Signale, dass sie da sein muss.

Vorsichtig bewege ich meine Finger, führe sie näher an mein Gesicht. Ganz behutsam sind sie auf dem Weg, um mich zu berühren. Ich kann ihre Nähe erahnen. Von ihnen geht eine feine Wärme aus. Und als ein Finger meine Wange berührt, zuckt meine Hand zurück. Ein elektrisierendes Gefühl durchfährt meinen Körper. Als hätte jemand einen Lichtschalter angeknipst. Es durchzuckt mich wie ein Blitz und ich schüttle mich.

Und doch wächst eine gewisse Erleichterung in meinem Inneren. Ich kann mich spüren!

Noch einmal fährt meine Hand an mein Gesicht. Diesmal rascher, und diesmal berührt sie mit allen Fingern die Wange. Ich bin auf eine Weise erregt, dass ich mich spüre, eine Empfindung erkenne, die neu erscheint und trotzdem vertraut ist. Angenehm und wohltuend.

Ich begreife, dass ich mich bewege, obwohl ich keinen Widerstand spüren kann.

Nichts an meinem Körper bestätigt mir das. Nichts deutet auf eine Existenz hin.

Ich spüre nicht, worauf ich stehe, liege oder sitze. Ich scheine zu schweben!

Ich spüre nicht einmal einen Puls, keinen Herzschlag, keine …

Luft!

Mein Atem. Ich atme nicht. Habe ich es gar nicht erst versucht?

Von Anfang an schon?

Wieder versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Wenigstens einen Gedanken zu erhaschen.

Da kommt unvermittelt ein Bild. Ein Astronaut, der in einem Shuttle durch die Kabine schwebt und mir zuwinkt. Nein, er winkt in eine Kamera.

So schwerelos wie er treibe auch ich. Irgendwo im Nichts.

Das hat fast etwas Poetisches.

Ich denke … Ich denke wieder. Gut …

Sag mir, wo ich bin, wer ich bin, was geschehen ist mit mir und was ich hier soll?

Zu viel. Zu viel auf einmal.

Das funktioniert so nicht.

Ich muss mich auf eine Sache konzentrieren.

Erst einmal: Wo bin ich?

Schwarz.

Das sehe ich selbst. Ich möchte wissen, wo ich bin.

Raum.

Raum?

Schwarz? Raum?

Hm … das geht so nicht.

Meine Gedanken verlieren sich immer wieder. Gleiten immer wieder weg.

An was muss ich denken? Was ist am wichtigsten? Ich muss es schaffen, meine Gedanken zu bündeln. Oder einen Gedanken zu erhaschen und ihn festzuhalten.

Ich will weg, weg von hier. Will mich wieder geborgen fühlen. Ich will nach Hause …

Ich erinnere mich schlagartig. Mein Zuhause, Freunde, Snowy …

Ich bin … ein Mensch …

Was soll das alles? Was soll ich hier?

Ich spüre, wie es mir meine Kehle zuschnürt, meinen Hals verkrampft und mein Gesicht verzerrt. Meine Augen fangen an zu tränen und mein Bauch schmerzt.

Jetzt kann ich mich spüren. In einem solchen Übermaß, doch ich begreife noch immer nicht.

„Aaargh.“

Erschrocken zucke ich zusammen.

Ich kann mich hören. Ein Schrei, laut und rau.

„Aaargh“, schreie ich noch einmal. In die Dunkelheit, die mich vollständig umgibt, mich nicht loslässt und das, was immer da draußen ist, vor mir verbirgt.

Ich ergreife endlich einen Gedanken, eine Emotion … Furcht. Ich bin angespannt und zittere.

Langsam schließe ich meine Augen. Ich möchte, muss, mich noch einmal mit aller Kraft und ganzem Willen gegen diese Dunkelheit auflehnen. Ich lasse … alles … los.

Ich warte. Vielleicht eine Ewigkeit. Ich weiß es nicht. An diesem Ort scheint alles zeitlos.

Ich öffne meine Augen, ängstlich und voller Hoffnung. Obwohl ich nicht weiß, woher dieses Gefühl kommt, bin ich zuversichtlich.

Ein Licht! Ist da ein Licht?

Ganz schwach dringt ein Schimmer, kaum mehr als ein Glimmen, zu mir durch.

Alles, was ich brauche, ist Geduld. Woher weiß ich das nur? Alles ist jetzt in Ordnung. Ich warte, bin geduldig.

Soll ich mich trauen?

„Hallo?“

Nach und nach breitet sich das Licht um mich herum aus. Allmählich kann ich Konturen erkennen.

Einen großen, gewaltigen Raum mit hohen Wänden. Eine große Glaskuppel lässt ihn in warmem, hellgelbem Licht erscheinen. Was sich außerhalb befindet, kann ich nicht erkennen.

An allen vier Wänden ziehen sich mächtige Bücherregale aus edlem Holz empor, vollgefüllt mit alten, großen Büchern. Der Boden ist mit einem prächtigen Teppich bedeckt, der in vier gleichen Teilen unterschiedliche Muster erkennen lässt. Ich sehe in einem Teil Tiere, in dem anderen Menschen, dort mir nicht bekannte Formen, die sich noch am ehesten als Wolkengebilde beschreiben ließen. Im vierten Teil erkenne ich Zahlen oder Striche, die ich ebenfalls nicht deuten kann.

Der riesige Teppich, der einen Großteil des Bodens bedeckt, lässt an den Seiten geschliffene Schiffsplanken erkennen. Im ganzen Raum verteilt stehen antiquarische Möbel. Links von mir sehe ich eine runde Tischplatte, die von einem starken Baumstumpf getragen wird, dahinter eine geschwungene hölzerne Doppeltür mit edlen Griffen aus Messing. Auf der rechten Seite steht ein klobiger Sekretär aus massivem Holz, flankiert von einer hohen, geschwungenen Deckenleuchte, deren Lichtquelle in ein großes, halbrundes, blasses Glas gefasst ist.

All das sehe ich wie durch einen Schleier. Alles ist wie weichgezeichnet. Es kommt mir unwirklich vor und trotzdem vertraut, ja sogar fast wie das Gefühl von vorhin, es ist wie zu Hause.

Doch es ist nicht mein Zuhause. Es ist …

„Joshua.“

Ich blicke in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Ich bin überrascht, dennoch nicht erschrocken.

„Hab keine Angst und komm ruhig näher.“

Sie ist männlich und klingt jung. Und gelassen.

„Komm hierher und setz dich bitte.“

Ich kann immer noch nicht meinen Herzschlag spüren.

Ich spüre auf einmal festen Boden unter meinen Füßen.

Trotzdem fühlt sich alles schwammig an.

„Kannst du immer noch nicht richtig sehen? Ist alles wie im Nebel? Dann schließe noch einmal die Augen.“

Zuversichtlich schließe ich meine Augen, und als ich sie wieder öffne, ist mit einem Mal alles klar. Ich sehe den Raum in seiner Gesamtheit vor mir.

Ich sehe an mir herab und kann auch meine Hände sehen, deutlich. Die Finger, Arme, Beine. Ich trage eine blaue Hose, doch ich bin barfuß.

„Joshua, komm näher.“

Ich blicke wieder auf.

2.

An dem Sekretär sitzt ein Mann mittleren Alters, ich schätze ihn auf Anfang vierzig. Er hat kupferrotes, kurzes Haar und einen akkurat rasierten Dreitagebart um zwei schelmische Mundwinkel. Er sitzt nach hinten gelehnt auf einem pompösen, rot bestickten Ohrensessel, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

Er grinst mich an. „Und?“

Ich bin so beschäftigt zu überlegen, wo ich bin, dass er mich noch einmal fragen muss.

„Na? Und?“ Er steht unvermittelt auf und kommt auf mich zu. Auf halber Strecke bleibt er stehen und stützt seine Arme locker in die Hüfte. Er deutet mit dem Kopf nach mir und fragt verschmitzt: „Wie geht’s dir?“

Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich weiß bis jetzt nicht einmal, wer ich bin. Ich weiß nichts. Also zucke ich mit den Schultern.

Er hebt die Augenbrauen und fragt erneut: „Wie war es?“

Ich habe keine Ahnung, was ich antworten soll.

In diesem Moment geht linker Hand eine Seitentür auf und eine Frau betritt den Raum.

Langes, blondes Haar fällt ihr über die Schultern. Sie ist groß, schlank und ihre Bewegungen sind sanft und behutsam.

Sie schaut zu dem Mann und schüttelt bedächtig den Kopf. „Stanislav, du kannst wohl nicht anders?“

Sie kommt auf mich zu und bleibt kurz vor mir stehen. Ich schaue in ein Gesicht, dessen Lächeln in mir unvermittelt eine erstaunliche Wärme entfacht.

Sie fragt mich: „Kannst du dich wieder spüren?“ Ihre Stimme klingt weich, wie ein sanftes Singen.

Ich nicke.

Sie wartet darauf, dass ich etwas sage.

„Wo“, meine Stimme hört sich vertraut an, als ob sie mich eine lange Zeit begleitet hat, „wo bin ich?“

„Du befindest dich im Guten Morgen Raum. All das wird dir mit der Zeit bewusster werden, Joshua. Lass alles in Ruhe geschehen.“

„Woher kennst du meinen Namen?“

„Du wirst all das verstehen. Bitte setz dich.“

Sie deutet auf drei große Sessel, die einladend an dem massiven, runden Tisch mit dem Baumstumpf stehen.

Während ich mich setze, spüre ich die harte Armlehne unter meinen Armen, den gepolsterten Sitz und die weiche Lehne. Ich spüre mich endlich wieder.

Mein Herzschlag und mein Atem sind noch immer nicht da. Ich bin noch immer verwirrt, und ich habe noch immer keine Ahnung, was hier geschieht. Doch diese Frau vor mir strahlt solch eine Geborgenheit und Vertrautheit aus, dass ich mich in ihrer Gegenwart wohl und sicher fühle.

Sie setzt sich in den Sessel neben mir. Der Mann kommt ebenfalls zu uns und nimmt auf der anderen Seite des Tisches Platz.

„Also“, beginnt sie, elegant nach hinten gelehnt. Ihre übereinander geschlagenen Beine von einem langen Kleid bedeckt, welches fast bis auf den Boden reicht, die Arme, in ebenfalls lange, weite Ärmel gehüllt, auf den Lehnen abgelegt. „Dieser Raum nennt sich Guten Morgen Raum. Er heißt auch Raum des Erwachens.“

„Manche sagen Reset-Raum dazu“, petzt jetzt der Mann dazwischen.

Ein kurzer Blick der Frau bringt ihn zur Räson, dann wendet sie sich wieder mir zu.

„Joshua“, fährt sie mit ruhiger Stimme fort, „du bist im Himmel der Tapferkeit und befindest dich in deinem wirklichen, eigentlichen Leben. Du kommst von einer Erfahrungswelt und zwar von der Erde. Mein Name ist Svenja, ich bin eine Seele der siebten Stufe“, sie wendet sich dem Mann zu, „Stanislav befindet sich in der sechsten Stufe. Wir beide werden dir helfen, all dies zu begreifen. Stanislav wird dein Deph-Kuth’r sein, dein Anleiter.“

Mein Blick ist starr auf Svenja gerichtet. Ich versuche zu fühlen. Irgendetwas Unangenehmes, Unsicheres. Doch ich spüre nur Vertrautheit, Sicherheit und … Liebe.

Sachte beugt sich Svenja zu mir nach vorn, sodass ihre langen Haare auf ihre Oberschenkel fallen. „Du verspürst keine Angst oder sonstige negative Empfindungen. Das kannst du hier nicht.“

„Ebenso keine starken positiven Gefühle“, bemerkt Stanislav, der mir mittlerweile vertrauenswürdiger erscheint als vorher. Zumindest verspüre ich ihm gegenüber keine Scheu mehr.

Svenja nickt. „An diesem Ort ist nichts furchterregend, alles ist reine, bedingungslose Liebe. Hier hast du keinerlei Zweifel oder unterliegst irgendwelchen Einflüssen von irgendwoher oder irgendwem. Du bist nur du selbst.“

„Warum verspürte ich dann vorhin diese Schmerzen in meinem Bauch?“, frage ich dazwischen. „Und meine Augen tränten!“

„Das ist“, tröstet mich Svenja, „ganz natürlich in der Übergangsphase. Du bist von einer Erfahrungswelt hierher in einen Himmel transformiert oder gereist, wie wir lieber sagen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Du wirst das später alles verstehen.“

Mein Gedankenkarussell dreht sich allmählich langsamer. Hier und da rastet der ein oder andere Gedanke, die ein oder andere Emotion ein.

Ich schaue Svenja an, versuche in ihr zu lesen, sie zu begreifen. „Bist du ein … Engel?“

„Ja“, nickt sie, „genau wie du.“

„Ich sehe in dir ein Wesen“, entgegne ich, „obwohl ich in deinem Äußeren eine Frau erkenne. Bist du eine Frau? … Ein Mensch, ein Wesen? Ich spüre Neutralität in dir und Kompromisslosigkeit.“

Sie lächelt liebevoll.

Ich verspüre keinerlei Ungeduld. Ich nehme die Ungewissheit an und integriere sie. Es fällt mir leicht. Und es tut gut.

„Ich überlasse dich jetzt für einige Zeit Stanislav. Er wird dir deine Fragen beantworten und überdies alles, was du vorerst wissen musst, erklären. Er wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Er ist dein Deph-Kuth’r.“

Sie steht auf und verbeugt sich leicht vor mir. Ich neige ebenfalls meinen Kopf und schaue ihr nach, wie sie anmutig den Raum durch die große, geschwungene Doppeltür verlässt.

„Welche Fragen hast du?“, lenkt Stanislav meine Aufmerksamkeit zurück auf uns beide. „Oder soll ich einfach mal beginnen?“

Mit großen Augen und einem vermutlich sehr verdutzten Gesichtsausdruck schaue ich zu ihm hinüber. Geduldig wartet er auf meine Fragen.

„Ich … habe so viele Fragen und … so viele Gedanken. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Was kommt dir als erstes in den Sinn?“

„Ich habe, glaube ich, erst einige Fragen zu meinem früheren Selbst. Wer war ich auf der Erde? Was habe ich dort getan? Und wie oder durch was kam ich her? Wie bin ich gestorben? Weshalb …“

„Halt, halt, halt!“, unterbricht mich Stanislav. „In Ordnung. Ich glaube, ich muss dir vorerst einiges erklären, damit du meine Antworten auch verstehst. Ich werde dir erst einmal die Himmel erklären.“ Er macht mit den Armen eine ausladende Bewegung: „All das hier! Gut?“

„Nur eine Frage noch. Habe ich wen zurückgelassen?“

„Auch das werde ich dir erklären.“ Er nickt und ich lasse mich tiefer in den Sessel sinken, bereit, ihm zuzuhören.

3.

Stanislav steht auf, geht einen Schritt in den Raum und fängt an: „Du kommst von einer Erfahrungswelt, die wir Erde nennen. Dein Name dort war Joshua Carlyle. Wenn du willst, kannst du dich hier auch so nennen, doch es ist nicht wichtig, wie du heißt. In den Himmeln erkennen wir uns an Symbolen und Farben und Mustern, die wir in uns tragen. Doch zu unseren Erkennungsmerkmalen später.“ Er geht langsam einen Schritt auf mich zu. „Du befindest dich bereits in Stufe vier. Es gibt insgesamt sieben Stufen, wobei die siebte Stufe die Stufe der Unendlichkeit darstellt. Da bist du eins mit allem und bewegst dich quasi auf göttlicher Ebene.“

Er überlegt kurz und spricht leise, mehr zu sich selbst: „Nun ja, das ist momentan die verständlichste Erklärung, denke ich.“ Dann schaut er mich wieder an und beginnt, um den Tisch zu schlendern: „Du warst als Mensch in einen Körper reinkarniert und befindest dich nun, entkoppelt oder entkörpert, wie ich genauso gern sage, im Himmel der Tapferkeit. Das ist einer von insgesamt sieben Himmeln. Jeder Himmel steht für eine Stufe, die du erreichen kannst. Hast du alle erreicht, bist du in der göttlichen siebten Stufe.“

Er bleibt stehen, überlegt wieder kurz, dann: „Ich werde dir erst einen kurzen Überblick geben und danach die einzelnen Details näher beschreiben.“ Er dreht sich um, blickt zu mir und fügt erklärend hinzu: „Ich bin noch nicht sehr lange im Guten Morgen Raum, das heißt, ich leite noch nicht lange an. Und ich merke gerade, dass einiges an Übung dazu gehört, ein System zu erklären, das anfangs so komplex scheint und einfach zugleich ist. Ich will damit sagen, dass alles hier perfekt ist, im Einklang, selbstverständlich“, seine Augen werden größer, „voller Gleichmut.“

Ich nicke ihm zu, bin gelassen, nehme all das in Ruhe auf und bin neugierig auf seine Ausführungen.

Er setzt seinen Weg um den Tisch fort und schaut dabei entweder auf den Boden oder zur Decke. „Anfangs muss jede Seele die Gewohnheiten, Vorgehensweisen und Regeln in den Himmeln immer wieder neu erlernen, da sie es auf den Erfahrungswelten verlernt oder, besser gesagt, vergisst.“ Er macht eine Pause, schaut mich prüfend an und meint dann versöhnlich: „Wie du es gerade erlebst.“ Er setzt seinen Rundgang fort. „Du wirst dich schnell daran gewöhnen und es ebenso zügig wiedererlenen. Deshalb bist du im Guten Morgen Raum oder umgangssprachlich auch Reset-Raum.“ Stanislav grinst, als er an seine anfängliche Reset-Raum-Bemerkung und Svenjas mahnenden Blick denkt und ich frage prompt: „Kennt ihr euch schon lange?“

„Wer? Svenja und ich?“

„Ja.“

Er legt ein schelmisches Lächeln auf und nickt, in Gedanken vertieft.

„Das sieht nach einer interessanten Beziehung aus.“

Er schaut mich an und wendet sich dann wieder ab. „Ja, das ist eine interessante Geschichte und vielleicht erzähle ich sie einmal irgendwann.“

„Willst du mir nicht sagen, woher ihr euch kennt?“, löchre ich ihn weiter.

„Also gut“, er kommt zu mir, „wir kennen uns aus der Zwischenwelt.“

„Aus der Zwischenwelt?“

„Ich erzähle dir später davon. Eins nach dem anderen, Joshua. Wo waren wir?“

Er schaut auf und breitet seine Hände aus. „Ah ja, im Reset-Raum.“

Ich stelle zu dieser Zwischenwelt keine Fragen mehr und höre, was er sagt. „Ich versuche dir das vielleicht anhand einer Parabel zu erläutern. Vergleichen wir einen Lebenszyklus, also ein ganzes Seelendasein, mit einer Schulklasse, mit all den Aufgaben, Problemen, Schwierigkeiten, Erfolgen und Misserfolgen. Dann entspricht ein Leben auf einer Erfahrungswelt, zum Beispiel auf der Erde, einer Klassenstufe. Beispielsweise der ersten Klasse, wenn du als Seele neu beginnst. Einem solchen Zeitraum des Lernens folgt eine Zeitspanne der Ferien, in der manchmal versäumte oder mangelhafte Lernprozesse nachgeholt werden müssen. Nach den Ferien kommst du in eine neue Klasse. Doch es kommt ganz darauf an, wie viel du von der letzten Klasse ins Bewusstsein integrieren konntest. Dementsprechend wirst du versetzt oder musst die gleiche Klasse noch einmal wiederholen.“

Ich unterbreche ihn. „Du meinst, jede Klasse steht für ein Leben im Diesseits, also auf den Erfahrungswelten, und die Ferien sind Aufenthalte im Himmel, im Jenseits?“

„Genau. Das Jenseits allerdings ist eine Frage des Standpunktes. In den Himmeln betrachten wir das Hiersein als Diesseits, daraus folgt, dass die Erfahrungswelten das Jenseits darstellen!“

„Und die Erfahrungswelten? Sie sind Planeten wie die Erde, auf denen wir lernen?“

„Richtig. Auf diesen Welten leben und lernen wir, in Körpern oder körperlos, um Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse zu sammeln.“ Er schaut mich an und ich schaue anscheinend sehr verwirrt aus, denn er entgegnet mir: „Du darfst das Leben nicht als separate Einmaligkeit sehen, sondern als Element in einer bedeutenden Kette! Das ist die Erkenntnis über das wahre Leben, das Leben mit Gott und all den anderen Seelen im Weltenall.“

„Weltenall?“, entfährt es mir.

Er ist etwas irritiert. „Ja, Weltenall, Allwelten. Allumfassend und großartig. Ich denke dieses Wort erklärt sich von selbst, oder?“

„Natürlich. So höre ich es allerdings zum ersten Mal. Weltall ist mir geläufiger.“

„Eigentlich gibt es gar keinen Namen für das alles hier. Zumindest keinen, der das alles in einem Wort beschreiben könnte. Es existieren Symbole dafür. Doch dazu später, wie gesagt.“

Ich nicke und er fährt fort.

„Die einzelnen Lebenskreisläufe auf den Erfahrungswelten sind, wie schon gesagt, Elemente einer Kette, die dein wahres Leben charakterisieren. Sie bilden die gesamte Lebenslinie, durch die sich deine Bestimmung erfüllt. Die Gesamtheit deines wahren Seelenlebens ergibt sich also aus den Lernprozessen der einzelnen Erfahrungsweltenleben deines Lebenszyklus oder – vielleicht besser verständlich – Lebenslaufbahnen. Das schließt die bisher geführten und die noch folgenden mit ein. Das“, er überlegt kurz und zählt dann mit den Fingern auf, „nennen die Menschen auf der Erde zum Beispiel Schicksal, Kismet, Vorsehung oder Karma.“

Ich rutsche nach vorne und lehne mich mit ausgestreckten Beinen entspannt in den Sessel.

„Zurück zu den Himmeln.“ Er bleibt stehen und schaut zur Decke. „Ich werde dir das Weltenall erklären. Zusätzlich zu den sieben Himmeln gibt es noch eine Zwischenwelt und“, er dreht sich zu mir um, „diverse Erfahrungswelten, wie die Erde eben. Wir nennen sie auch Arbeitswelten, weil die Seele dort an sich arbeitet und Erfahrungen sammelt, um so eine weitere Stufe zu erreichen. Die sieben Himmel, die Zwischenwelt und die Erfahrungswelten erkennen wir an ihren Symbolen. Und jedes Symbol einer Seele birgt in irgendeiner Form einen Teil des Symbols eines jeden Himmels in sich, den die Seele schon besucht hat. Doch dazu … später mehr.“

Er setzt sich wieder in Bewegung, schreitet bedächtig durch den Raum, stets darauf bedacht in meiner Hörweite zu bleiben. „Die Zwischenwelt allerdings bildet von den Himmeln eine Ausnahme“, er hält nachdenklich inne, bevor er seinen Gang wieder aufnimmt: „Sie ist ein Ort der Ruhe, ein Ort der Erneuerung für die Seelen, die ihr Leben auf einer der Erfahrungswelten selbst beendet haben.“

„Du meinst durch Suizid?“

„Ja.“

„Wie sieht es in der Zwischenwelt aus?“

„Die Zwischenwelt ist den sieben Himmeln sehr ähnlich. Keine Ahnung, weshalb sie Welt genannt wird. Auch dort gibt es so etwas wie einen Guten Morgen Raum. Es ist eine Art Bahnhof, in den diese Seelen von anderen Engeln gebracht werden. Diese Welt ist anfänglich etwas fester in ihrer Struktur. Die Seelen dort können sich nicht gleich alles wünschen, sondern lernen, in Anhaftung ihres Erfahrungswelten-Daseins, erst sich selbst zu verzeihen und sich selbst so anzunehmen, wie sie sind. Dafür stehen ihnen zwei Deph-Kuth’r zur Verfügung, die sie fortlaufend betreuen. Die Beziehung zu beiden Deph-Kuth’r ist intensiver als in den übrigen sieben Himmeln, da die Seelen in einem verwirrten Zustand in der Zwischenwelt ankommen.“

„Was meinst du mit verwirrt?“

„Naja, sie sind noch sehr mit der Erfahrungswelt verhaftet. Sie tragen noch Angst und Zorn in sich. Anders als die Engel, die auf gängigem Wege in die Himmel kommen: sie sind frei von allen Anhaftungen.“

„Hm.“ Ich muss das alles erst verstehen.

„Die Seelen können dort noch einmal in bestimmte Situationen eintauchen, verschiedene Erlebnisse wiederholen und besser verarbeiten. Sie lernen damit andere Möglichkeiten und Verhaltensweisen kennen. Sie werden auch stets mit dem Körper und dem Aussehen in die Zwischenwelt geholt, mit dem sie auf der Erfahrungswelt waren. Intakt, wohlgemerkt.“

„Weshalb?“

„In diesem Körper sollen sie sich mit sich und ihrem Schicksal auseinandersetzen. Später dann, wenn sie sich rehabilitiert haben, können sie sich wieder in jede beliebige Form wandeln.“

„Aha.“ Langsam begreife ich.

Er nickt bedächtig. In seinem Gesichtsausdruck liegt etwas Unergründliches. Sein Blick ist in eine Ferne gerichtet, die weit über den Raum hinausgeht.

„Stanislav?“, frage ich vorsichtig und er kommt mit dem Blick wieder zu mir. Er schüttelt die Gedanken ab und fährt fort: „Dort halten sich Seelen auf, die auf den Erfahrungswelten keine Kraft mehr hatten und keinen Weg mehr wussten, die Gefühle zu begreifen, sie zu ordnen und dementsprechend zu handeln. Es ist die einzige Welt, die nicht zu den Himmeln zählt, da auf ihr ebenso negative Gefühle existieren.“

„Das überrascht mich.“

Stanislav nickt mir verständnisvoll zu und breitet seine Arme aus, um unseren Himmel bildlich zu umfassen, „Dort können Seelen weinen, Wut und Trauer empfinden, Hass und Neid. Es gibt auch einige Regeln dort, anfangs sind zum Beispiel nur Kontakte zu bestimmten Seelen erwünscht. Das soll helfen, sich besser zurechtzufinden und sich auf sich selbst zu konzentrieren.“

„Das heißt, die Seelen können nicht in den Austausch mit anderen Seelen gehen?“

„Naja, am Anfang hast du gar kein Bedürfnis danach. Du musst erst einmal mit dir klarkommen, verstehst du?“

„Einigermaßen.“

„Alleinsein ist das Wichtigste, allein mit sich und das Zusammengehörigkeitsgefühl erspüren. Ich meine, dass wir alle eins sind.“ Er schüttelt kurz den Kopf. „Es ist schwer zu erklären, wenn man noch nicht dort war.“

„Okay, ich denke, ich kann es mir halbwegs vorstellen.“

„Um ein gutes, ausgewogenes Reflektieren zu ermöglichen, werden die Sinneseindrücke anfangs minimiert. Das heißt, alles, was die Sinne beeinflusst, wird sozusagen reduziert.“

„Und das bedeutet?“

„Für Seelen von der Erde sind die Farben schwächer, die Geräusche leiser und so weiter.“

„Aha“, ich bin fasziniert, „und sonst?“

„Wie, sonst?“

„Was gilt für Nichtmenschen? Für Seelen, die von anderen Erfahrungswelten kommen?“

„Dann werden deren Sinneswahrnehmungen reduziert.“

„Die da wären?“

„Es gibt zig Wahrnehmungsarten. Weit mehr als du als Mensch kennst. Ich weiß nicht genau, fünfzig, siebzig?“

„So viele? Das heißt, wir Menschen sind mit unseren sieben Sinnen gar nicht so …“, ich suche nach dem Wort, „privilegiert?“

„Selbstverständlich! Als Mensch lebst du eher auf eine primitive Weise, zumindest was die Sinnesorgane angeht.“

Nach kurzer Überlegung sagt er noch: „Die Erde bietet lange nicht für alle Sinne etwas.“

Er überlegt kurz. „Wie dem auch sei. Nachdem die Seelen ihre Anhaftungen verloren haben, können sie regellos und wieder ohne Einschränkungen für eine gewisse Dauer dort verweilen. Eine weitere Regel besagt nämlich, dass die Seelen dort – anders als in den sieben Himmeln – nur eine begrenzte Weile bleiben können.“

„Wovon hängt das ab?“

„Keine Ahnung.“

„Wohin geht die Seele von dort aus?“

„Das kommt darauf an. Bis Stufe vier kann die Seele nach der Reflektion in einen der ersten vier Himmel. Ab Stufe fünf kann sie in alle der sieben Himmel reisen. Dazu sage ich später noch etwas.“ Er macht eine Pause und schaut sich im Raum um.

Derweil will ich wissen: „Wie kamst du eigentlich dorthin? Wenn ich fragen darf?“

Stanislav blickt mich abrupt an, dann lächelt er. „Du gibst ja doch keine Ruhe. Also, ich kam von der Erde dorthin.“

„Aha.“

„Ich war ein reicher Segelschiffer im alten Ägypten, in Memphis, um genau zu sein. 1400 vor Christus, zur Zeit des Pharaos Amenophis III. Dem Land ging es gut, mir ging es prächtig. Ich sonnte mich so sehr im Glanz meines Reichtums, dass ich arrogant wurde und überheblich. So wettete ich eines Tages um all mein Hab und Gut … und verlor.“

Stanislav schüttelt bedächtig den Kopf. „Da mein ganzes Geld und mein Ruhm und damit meine Macht verloren waren, verlor ich den Sinn und nahm mir das Leben.“

Stille.

Ich bin verblüfft und mir fällt nur ein: „Also so kamst du in die Zwischenwelt.“

„So ist es, so kam ich dorthin.“

„Und Svenja?“

„Das“, er schaut mich mit festem Blick an, dem ich nicht widersprechen kann, „ist eine andere Geschichte.“

Er kommt auf mich zu. „Wo waren wir? Ah ja. Jeder der sieben Himmel steht für einen der sieben Hauptwerte: Mäßigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Hoffnung, Glaube und Liebe. Diese Werte muss eine Seele erleben, erfahren, erlernen. Um letztlich gottgleich zu werden. Um mit Gott und dem Universum eins zu werden. Das ist das Ziel einer jeden Seele. Dann ist die Seele nicht mehr auf eine Erfahrungswelt angewiesen. Sie kann sich frei in allem bewegen, ist zeitlos und all das.“

Stanislav setzt seinen Rundgang fort: „Die Himmel sind aufgeteilt. Das wirst du merken beim Umherreisen zwischen den Himmeln. Die untersten oder ersten vier sind die sogenannten Himmel der Nebenwerte. Sie stehen sozusagen in einer Reihe. Das sind die Himmel der Mäßigkeit, der Weisheit, Gerechtigkeit und der Tapferkeit, in welchem wir uns gerade befinden. Engel der Stufe eins bis vier können ohne weiteres zwischen diesen vier umherwandern. Mit deiner nächsten erfolgreichen Aufgabe auf einer Erfahrungswelt erreichst du Stufe fünf und kannst somit in die übrigen Himmel.“

„Ich kann also erst mit Stufe fünf in die Himmel der Hoffnung, des Glaubens und der Liebe.“

Er dreht sich zu mir um und hebt die Augenbrauen. „Genau, erst wenn du die Himmel der Nebenwertigkeiten absolviert hast. Soweit verstanden?“

Ich seufze und meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis. Ich fühle, es wird klarer, doch noch lange nicht … transparent.

Ich, eine Seele, von einer Erfahrungswelt zurückgekehrt, zurück im Himmel. Bin zu Hause.

„Genauso ist es“, stimmt mir Stanislav zu und ich schaue erschrocken zu ihm auf.

„Es gibt viele Kommunikationsarten. Eine davon ist Sia.“

„Sia?“, schaue ich ihn stirnrunzelnd an.

Er schüttelt ungläubig den Kopf. „Natürlich! Telepathie, wie man auf der Erde sagt. Wir nennen es hier Sia, Seeleninhaltsaustausch oder Seeleninformationsaustausch.“

„Seeleninformationsaustausch? Das macht es einem nicht gerade leichter, all das zu verstehen.“

„Dass wir beide gerade verbal miteinander reden, heißt nicht, dass wir darauf angewiesen sind.“

Er setzt sich zu mir, in den Sessel, auf dem vorher Svenja saß.

„Schau, Joshua, wir kommunizieren natürlich auf eine andere Art als auf den Erfahrungswelten. Die verbale Kommunikation oder gar die nonverbale, also beispielsweise die Körpersprache, sind letztendlich sehr primitive Kommunikationsarten. Diese führen auf Erfahrungswelten oft zu Missverständnissen. Sie transportieren nur einen Bruchteil der Informationen, die vermittelt werden sollen. Entweder der Sender spricht eine andere Körpersprache oder der Empfänger kommuniziert in einer ungleichen verbalen Sprache. Darauf sind wir hier nicht angewiesen. Wir kommunizieren auf verschiedenste Weise. Es kommt auf all die Erfahrungen an, die du gesammelt hast im Laufe deines Lebenszyklus und auf die Stufe, die du erreicht hast.“

Er lehnt sich im Sessel vor und fragt mit einer leichten Kopfbewegung, ob ich ihm folgen könne.

„Warum unterhalten wir uns dann nicht von Anfang an über Sia?“

„Ganz einfach: es ist für dich leichter zu verstehen. Du bist diese Art der Kommunikation von deiner vorherigen Erfahrungswelt gewohnt und somit fällt es dir leichter, dich so zu unterhalten. Wir bleiben auch dabei, denn für Sia braucht es einiges an Übung und dafür ist später noch genügend Zeit.“

„Okay.“

„Sieh, auf den meisten Erfahrungswelten kommunizierst du verbal oder durch Körpersprache. In den Himmeln lässt du dich intuitiv auf die Kommunikationsart ein, die dein Gegenüber mit dir aushandelt. Das geht nach kurzer Zeit wie von selbst, ohne dass du bewusst darüber nachdenkst. Es kann höchstens sein, dass du eine Sprache nicht sprichst, dann einigt ihr euch auf Sia.“

„Gut, dass es Abkürzungen gibt. Seeleninformationsaustausch ist ziemlich … lang.“

„Normalerweise trägt hier alles ein Symbol.“ Er lächelt.

Ich lächle zurück „Doch dazu später …“

4.

Nach und nach begreife ich.

Und je mehr ich begreife, desto mehr Unruhe verspüre ich in mir. Da sind Fragen nach meinem früheren Selbst. Wer war ich auf der Erde? Wodurch kam ich hierher? Und immer wieder die Frage nach meinem Erfahrungsziel. Mit welcher Aufgabe ging ich auf die Erde? Und: habe ich die Anforderung erfüllt?

Da steht Stanislav abrupt auf und legt mir seine Hand auf die Schulter.

„Ich weiß, du bist neugierig zu erfahren, wer du auf der Erde warst. Es ist jetzt an der Zeit, diesen Fragen auf den Grund zu gehen.“

Er holt tief Luft und während er ausatmet, durchfährt mich eine tiefe Woge voller Frieden und Geborgenheit.

Dabei kommt mir eine andere Frage in den Sinn: „Warum atme ich nicht und verspüre keinen Herzschlag?“

Er schaut mich verblüfft an: „Ich dachte, das wäre klar, nachdem ich dir jetzt einiges erklärt habe.“ Doch als ich den Kopf schüttle, erläutert er mir: „Dein Herz und deine Lungen brauchst du lediglich auf einigen wenigen Erfahrungswelten.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schaut er mich eindringlich an. Dann grinst er. „Okay, deine Lungen brauchst du natürlich zum Atmen. Die Atmung ist nur auf den Erfahrungswelten von Bedeutung.“

„Aha“, frage ich ihn irritiert, „weshalb atmest dann du?“

„Ich?“, er lacht. „Du hast recht. Jetzt, wo du es sagst. Weiß nicht. Ich mache das ständig, wenn Seelen hier ankommen. Vermutlich aus Empathie.“ Er fasst sich an seine Brust und spürt nach, wie sein Brustkorb sich hebt und senkt. Dann schaut er wieder zu mir: „Dein Herz allerdings ist eine Art Gefäß für deine Seele.“

„Wie bitte?“

„Die Seele ist nicht irgendwo“, antwortet er mir, „sie wandelt! In deinem Körper und auch außerhalb. Und sie zieht sich dorthin zurück.“ Er zeigt auf meine Brust, „deine Seele schläft in deinem Herzen, wenn du so willst.“

Ich bin verblüfft: „In einer Pumpe?“

„Das Herz ist keine Pumpe. Völliger Blödsinn. Es ist ein Energiespeicher und Verteiler. Die menschlichen Muskeln dienen als Pumpe für das Blut. Das Herz nimmt die Energie, die aus dem Druck gewonnen wird und verteilt sie im Körper. Dorthin, wo sie gerade gebraucht wird und überdies speichert sie sie.“

Ich spüre seine Augen auf mir ruhen, abwartend und musternd zugleich.

„Dann ist die Menschheit also auf dem Holzweg?“

„Die Menschheit?“ Ich glaube, einen leicht belustigten Unterton herauszuhören. „Ja! Natürlich. Die Menschen glaubten noch bis vor kurzem, dass sich die Sonne um ihre flache Erde dreht.“ Er bemerkt meine Verwunderung und fügt sogleich hinzu: „Das ist natürlich in Ordnung so“, seine Stimme klingt wieder vertraut, „darum ist es ja auch eine Erfahrungswelt. Die Wesen sollen auf ihr etwas lernen. Und das können sie nur, wenn die Welt, in der sie leben, unvollkommen ist, wenn die Seelen dort aus Fehlern und Misserfolgen lernen und sich daraus entwickeln, verbessern und verwirklichen können. Dafür sind sie da. Die Erfahrungswelten sind für den Lernvorgang unumgänglich.“

Ich verstehe immer mehr. Das alles ist einerseits so unwirklich groß — mir fällt kein anderes Wort dazu ein, wahrscheinlich gibt es dafür ein Symbol — und andererseits so vertraut und im Einklang mit mir. Alles scheint bereits in mir verankert zu sein, und nun kommt es nach und nach an die Oberfläche. Aus einem Abgrund, deren Tiefe ich nur erahnen kann. Doch ich habe keine Furcht, keine Scheu, all das zu erleben und zu erfahren.

„Ist das ganze Wissen bereits in mir? Es kommt mir vor, als wäre alles schon immer selbstverständlich in mir gewesen.“

Stanislav nickt: „Ja, es ist in jeder Seele, jedoch verschlüsselt und gut versteckt, sodass Seelen auf Erfahrungswelten nicht darauf zugreifen können. Allein so können sie lernen. Du verstehst?“

„Ja.“ Ich denke an all die Menschen auf der Erde, die mit dem gesamten Wissen auf ihr wandeln, sich bekriegen, lieben und streiten, lachen, weinen, arbeiten, handeln, diskutieren, sich versuchen und scheitern und es wieder versuchen. Wenn sie allerdings wüssten, wie einfach es ist. Aber es muss ja so sein, damit sie etwas lernen. Trotzdem, es ist irgendwie …

„So!“ Stanislav reißt mich aus meinen Gedanken. „Nun zu deinen Fragen. Du bist gespannt darauf zu erfahren, wer du auf der Erde warst, wie du hierherkamst und durch was.“

Ich nicke und er fährt fort: „Die Seele kehrt nach dem Leben im Jenseits, also in deinem Falle der Erde, in den Himmel zurück, dessen Aufgabe er sich ausgesucht hat. Ein Beispiel: Wenn eine Seele sich Gerechtigkeit als nächstes Lernziel gesetzt hat, fährt sie nach Beendigung auf der Erfahrungswelt in den Himmel der Gerechtigkeit auf. Natürlich nur“, und dieses Wort unterstreicht er mit erhobenem Zeigefinger, „wenn sie die Aufgabe, das Ziel, erreicht hat. Oft gelingt dies nicht beim ersten Mal und so muss die Seele wieder in jenen Himmel zurückkehren, von dem aus sie gestartet ist.“

„Was bedeutet das für mich?“

„Das“, Stanislav beugt sich zu mir und lächelt, „findest du besser selbst heraus. Dabei kannst du mehr über die Himmel lernen.“

„Und wie stelle ich das an?“

„Du kannst dich durch Gedankenkraft an fast jeden beliebigen Ort begeben: innerhalb des Himmels, in dem du dich befindest, zwischen den schon besuchten Himmeln und der Erfahrungswelt, auf der du warst. Überall dort warten Antworten. Es ist bloß anfangs schwer für einen Neuankömmling.“ Er grinst bei dem Wort und fügt gleichwohl beruhigend hinzu: „Keine Angst, ich werde dir bei den ersten Malen helfen. Komm.“

Er winkt mich zu sich in die Mitte des großen Raums an einen Platz, der frei von Möbeln ist. Ich folge ihm, vorbei an den hohen Bücherregalen, antiken Kunstgegenständen und mächtigen Bildern, deren Spezies, Landschaften und Horizonte ich noch nie zuvor gesehen habe. Mein Blick fliegt flüchtig über ein paar wenige Titel, allerdings kann ich die Schriftzeichen nicht entziffern. Ich laufe über den großen Teppich mit seinen Bildern und nehme mir vor, Stanislav später danach zu fragen.

Als ich vor ihm stehe, meint er: „Es gibt vieles, dass du wieder in Erfahrung bringen wirst, das heißt wieder in dir entdecken musst. Über die Himmel, meine ich. Und du wirst Neues entdecken.“ Er strahlt mich leichtherzig an und fügt hinzu: „Zeit, Joshua, spielt hier keine Rolle … Was ich dir bis jetzt berichtet habe, reicht erst einmal. Zumindest, um dich einigermaßen zurechtzufinden auf der Erde. Alles andere dann vor Ort.“

Er klopft mir auf die Schulter: „Wir gehen jetzt gemeinsam auf die Erde. Ich werde dir bei den ersten Sprüngen helfen. Später wirst du deine Reisen allein unternehmen. Du musst wissen, ein Sprung auf eine Erfahrungswelt ist immer etwas Kraftvolles. Du brauchst dazu Energie. Du bekommst in den Himmeln genügend Energie von überall her, allerdings kannst du sie nicht unbegrenzt bei dir halten. Das heißt, dass du nach jedem Sprung erst auftanken oder eine gewisse Zeit vergehen lassen musst. Wenn du dich in einem der Himmel befindest, kannst du rasch diese Energie in dich hineinholen. Auf den Erfahrungswelten ist das nur begrenzt möglich.“

„Aus was besteht diese Energie?“

Er hält inne und antwortet mir dann kurz und knapp: „Liebe.“

In Erwartung eines längeren Vortrags bin ich überrascht: „Liebe?“

„Ja, Liebe herrscht hier in den Himmeln überall, in jeder Winzigkeit. Auf den Erfahrungswelten sieht das anders aus. Dort musst du eine gewisse Zeit verstreichen lassen, je nach Ausdehnung der Liebe. Das heißt …“

„… es kommt darauf an, von wie viel Liebe ich umgeben bin“, vollende ich den Satz.

„Genau.“

„Woran merke ich, wann ich genügend Energie habe, um zu reisen?“ Dieses Wort scheint mir etwas belanglos, um es für solch eine gewaltige Unternehmung zu nutzen.

„Du wirst es merken“, meint er beiläufig und reckt seinen Oberkörper. Er atmet tief ein, und als er langsam ausatmet und dabei seine Augen schließt, spricht er mehr zu sich selbst: „Ich tue es immer noch. Das Einatmen ist eine zu schöne Geste auf den Erfahrungswelten, als dass ich sie ablegen möchte.“ Er schaut mich wieder an: „Bist du bereit?“

Ich nicke.

„Ich bringe dich erst einmal an den Ort, von wo aus du die Erde verlassen hast.“ Er hält einen Moment inne und ich bin voller Erwartung.

„Du wirst dort nicht alles erfahren, Joshua. Um mehr Wissen zu erlangen, musst du an einen Ort mit starker Emotion. Doch dazu später.“

Das kenne ich bereits …

Der Unfall

5.

Er ergreift meine Hand und sie fühlt sich weich an und warm. Ich erinnere mich an einen Händedruck, an Berührungen, an kräftig…

Plötzlich wird alles um mich herum heller, verschwimmt allmählich und löst sich in einem Schleier aus weißem Licht, überwältigendem, süßlichem Duft und vibrierenden Klängen auf. Ich bewege mich nicht, bleibe auf der gleichen Stelle, so fühlt es sich jedenfalls an.

Der Druck seiner Hand wird sanfter, bis ich sie nicht mehr spüre. Der Duft verblasst und der Klang verweht. Ich bin so verzückt über diese Gefühle, dass ich nicht merke, wie dunkel es auf einmal wird.

Im nächsten Augenblick wird mir mit voller Wucht die gesamte Gegenwart der Erde bewusst. Ich kann zwar noch nichts erkennen, doch weiß wieder, wie es ist, Mensch zu sein. Ich kann nichts Bestimmtes spüren, doch ich erfasse meine alten Gefühle. Sie überkommen mich, schwappen über, in meinen Geist, und meine Auffassung ist innerhalb eines einzigen Momentes überreizt. Mir wird schwindelig. Ich taumle nicht, nur mein Geist ist überflutet von Emotionen, die sich nicht, aber auch gar nicht zuordnen lassen.

Im nächsten Moment ist alles klar. Ich bin Joshua Carlyle. Nein, war Joshua Carlyle.

Ich stecke wieder in meinem alten Körper, in dem Körper von Joshua, so scheint es mir zumindest. Meine Erinnerungen sind wieder da, bei mir. Meine Gedanken rasen um alles Mögliche, können allerdings nichts fassen, nichts greifen. Einen weiteren Moment später kommen mir die Erinnerungen an den Eintritt in den Himmel wieder in mein Bewusstsein, als ich im Guten Morgen Raum zur Besinnung kam. Meine Gedanken sind klar, aber alles um mich herum ist undeutlich.

Nur langsam kommen Umrisse. Ich sehe Bäume, viele weiße Bäume. Es ist Schnee, sie sind mit Schnee bedeckt. Und die Perspektive: Es liegt alles unter mir. Ich schaue von oben auf einen Wald. Ja, ich schaue wie ein Vogel, von oben. Unter mir liegt ein riesiges Areal mit schneebedeckten Bäumen. Eine Furche zieht sich durch den Wald. Ein Weg, nein, eine Straße, eine breite Verkehrsstraße. Es laufen Menschen umher. Dort, an einer Stelle, die wie schwarz bemalt erscheint.

„Stanislav?“ Ich brauche Klarheit.

„Ich bin hier, neben dir“, höre ich direkt an meiner Seite. Ich drehe mich um und schaue ihm geradewegs in seine leuchtenden Augen.

„Wo sind wir?“ frage ich irritiert.

„Wir befinden uns in der Nähe des Ortes, von wo aus du in den Himmel gekommen bist, Joshua.“

Ich blicke ihn immer noch verständnislos an und daraufhin ergänzt er: „Du hattest einen Unfall.“

Ich bin verwirrt und weiß zugleich, dass ich wieder etwas auf die Reihe kriegen muss.

„Ich kann es nicht erkennen“, sage ich, während meine Augen sich zu Schlitzen verengen. „Wir sind zu weit weg.“

„Komm, wir gehen näher heran.“ Er fordert mich auf, ihm zu folgen.

Stanislav bewegt sich auf den schwarzen Fleck zu und ich sehe, wie er sich rasant von mir entfernt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und versuche zu laufen. Meine Beine bewegen sich, mein Oberkörper und meine Arme schwingen im Bewegungsablauf mit, doch nichts passiert.

Während ich völlig auf meine Bewegung konzentriert bin, schwebt auf einmal Stanislav wieder neben mir.

„Du kannst“, erklärt er, „jeden Platz einnehmen, der dir gefällt. Das funktioniert wie bei den Sprüngen beispielsweise zwischen den Himmeln. Hier auf den Erfahrungswelten gibt es für dich als wahrhaftige Seele, die vom Himmel sozusagen auf Besuch kommt, keine Begrenzung. Du kannst durch alles, beziehungsweise in allem wandeln, durch Gegenstände, Gebäude, Gebirge und Flüsse. Sogar durch menschliche Körper.“

„Du meinst …“, in meinem Innern regt sich ein Gefühl der Neugier. Und obwohl ich es auf eine Weise als selbstverständlich in mir fühle, merke ich, wie sie in mir hochsteigt und mich eine Lust erfasst, es auszuprobieren.

„Oder durch Pflanzen“, fährt er fort: „du kannst durch große, kräftige Bäume wandeln, das ist eine wundervolle Erfahrung. Es sind Seelen, die schon seit ewigen Zeiten auf den Erfahrungswelten sind und eine ganz eigene, besondere Art an sich haben.“ Er fährt mit großen, strahlenden Augen fort. „Etwas Würdevolles und Reifes. Sie strahlen allein durch ihre bloße Anwesenheit Ruhe und Kraft aus. Wenn du durch sie hindurchgehst, kannst du das wahrhaftig spüren. Um es in menschlichen Maßstäben zu erklären: Baumseelen nehmen alles wie in Zeitraffer auf, in vielfacher Geschwindigkeit. So werden aus Hunderten von Menschenjahren nur wenige Augenblicke. Darum nehmen Pflanzen im Allgemeinen und Bäume im Besonderen nur dann Seelen wahr, wenn diese langsam und behutsam an ihnen vorübergehen und besonders in den Momenten, wenn sie bei ihnen verweilen.“ Er schaut mich fragend an: „Verstehst du?“

Dann schließt er die Augen und sein Gesichtsausdruck verwandelt sich, als ob er gerade ein wundervolles Bild vor sich sehen würde.

„So können sie die Aura der Seelen erfassen und ihnen womöglich Energie abgeben. Noch besser ist es, bei einer großen Pflanze, wie beispielsweise einem alten Baum, regelmäßig für längere Zeit innezuhalten. So nimmt sie den Erfahrungsweltler besser wahr und wird so von ihrer Energie Positivität auf ihn übertragen. Siddhartha weilte regelmäßig unter einem Assattha-Baum. Dieser trägt außergewöhnliche herzförmige Blätter, die mit einer langen, seitlich abgebogenen Spitze enden, was für Erdenbäume sehr ungewöhnlich ist.“

Er öffnet die Augen und schaut mich an. Doch“, er hebt warnend den Zeigefinger, „sei bei Menschen vorsichtig! Sie merken es! Sie können es bestenfalls nicht zuordnen, dennoch spüren sie etwas. Je nach Stufe können sie deine Nähe spüren und bemerken vor allem einen Durchgang. Hörst du! Also hab Acht bei den Menschen.“

Ich nicke und schaue ihn irritiert an.

„Warum sollte ich durch Menschen hindurchgehen wollen?“

„Es passiert. Häufiger als du dir vorstellen kannst. Du willst es gar nicht und plötzlich laufen sie durch dich hindurch.“

„Aha.“

„Bei Tieren verhält es sich ähnlich. Es geschieht seltener, trotzdem ähnlich. Auch wenn deren Seelen meist höhere Stufen besitzen.“

„Weshalb? Ich meine, weshalb sind in Tieren Seelen mit höherer Stufe?“

„Es ist schwieriger, in einem Tierkörper zu lernen. Sie sind eingeschränkter und mehr von der Umwelt abhängig.“

„Aha!“ Ich bin verblüfft.

„Noch etwas. Je nach Seele und Stufe können sie dir Liebe geben oder nehmen. Und das in rauen Mengen!“

Er wendet sich dem Unfallort zu. „Du kannst es ja einmal versuchen.“

Ich spüre, wie sich in mir ganz zart eine Unruhe breitmacht. Es scheint eine Art Ungeduld zu sein, mich meinem Verbleib zu widmen, was mit mir geschehen ist und wie es dazu kam. Doch diese Emotion ist noch so weit weg und all das, was Stanislav mir erzählt und begreiflich macht, ist so voller neuer Erkenntnisse.

Ich schaue ebenfalls zum Unfallort hinunter und frage unbefangen: „Wohnen in allen Pflanzen und Tieren Seelen?“

Stanislav hebt die Brust, dann schaut er zu mir: „Oh ja, Joshua, oh ja! In all den Pflanzen und Tieren befinden sich Seelen. Allerdings nicht ständig. Pflanzliche und tierische Körper sind jedoch robuster und stärker. Sie können auch einige Zeit ohne Seele existieren. Nicht so bei menschlichen Hüllen, sie können ohne Seele nicht existieren. Und bei Pflanzen verhält es sich zudem so, dass beispielsweise innerhalb einer Blumenwiese nur eine Seele wohnt, die schließlich über die Erde mit jedem einzelnen Grashalm verbunden ist.“

„Mutter Erde“, erinnere ich mich.

Stanislav lächelt und nickt, dann strafft er sich, holt tief Luft und pustet sie ganz aus, als würde er etwas von sich abstreifen. „Zurück zu den Sprüngen und den Bewegungen innerhalb der Erfahrungswelten. Du musst es dir wünschen, musst mit deinen Gefühlen und Vorstellungen an diesem einen Ort sein.“

„Und wie mache ich das?“

„Versuche dich zu konzentrieren. Fokussiere den Baum dort.“ Er zeigt mit dem Finger auf eine mächtige Tanne, die zwischen den anderen Bäumen einige Meter herausragt, und ich versuche mich auf die weiße Spitze zu konzentrieren. Mein Kopf zieht nach vorn, meine Augen verengen sich und meine Lippen pressen sich aufeinander.

Plötzlich spüre ich deutlich Bewegung um mich herum, der Baum kommt näher und Stanislav bleibt hinter mir zurück.

Mit einem Mal befinde ich mich neben der Tannenspitze. Mein Gesicht ist eine Handbreit von den schneebedeckten Zweigen entfernt. Noch bevor ich darauf reagieren kann, ist Stanislav neben mir.

„Sehr schön. Du hast schnell begriffen. So, und nun versuche es gleich noch einmal bei dem Hügel dort.“ Er zeigt auf eine Anhöhe, an deren Fuß sich Menschen tummeln und Autos stehen. Direkt an der Straße.

Ich versuche mich wieder zu konzentrieren und fokussiere dabei den Hügel, doch meine Gedanken schweifen ab. So kann ich den Hügel nicht erfassen, mich nicht ausschließlich auf ihn konzentrieren. Ich werde immer wieder abgelenkt von dem Geschehen unterhalb des Hügels.

„Lass deine Gedanken zu“, flüstert er mir zu, „und dann dürfen sie wieder weiterziehen.“

„Das ist schwierig. Ich lasse mich ständig ablenken von den Leuten da unten.“

„Anfangs ist es schwer. Darum bin ich bei dir. Du wirst es bald allein können.“

Er legt sachte seine Hand auf meine Schulter und führt mich langsam auf den Hügel zu. Je näher wir dem Unfallort kommen, umso mehr Erinnerungen steigen auf.

Und ich erinnere mich an den zwölften November zweitausendelf. Ich befand mich auf dem Weg nach Hause … es war später Nachmittag … von der Arbeit … in der Klinik … Leiter einer Abteilung innerhalb des Medizinischen Dienstes …

6.

Der Unfallort wirkt bizarr. Meinem alten Volvo Kombi fehlt das komplette Heck. Er liegt in einer stark bewaldeten Böschung, gute fünf Meter unterhalb der nassen Straße auf dem Dach, völlig ausgebrannt. Während der Lastzug, der in mich hineinraste, in einiger Entfernung auf der Seite liegt. Ewig weit weg, auf der anderen Straßenseite, am Rande eines Steilhangs, der nach oben auf eine Bergkuppe führt.

„Können wir noch näher heran?“, meine Augen fokussieren voller Erwartung, um mehr Details zu erkennen.

Stanislav nimmt mich bei der Hand und leitet mich geradewegs in die Nähe, sodass ich beinahe auf der Straße stehen kann. Ich schwebe knapp über ihr.

„Können sie uns nicht sehen?“, flüstere ich leise.

„Du brauchst nicht zu flüstern. Sie können uns weder sehen noch hören.“ Stanislav verkneift sich ein Lachen angesichts der Umstände. „Das ist typisch für das erste Mal.“

Ich befinde mich in unmittelbarer Nähe von Feuerwehrleuten, die gerade dabei sind, Schläuche zusammenzurollen. Mit großen Helmen und schweren Anzügen stiefeln sie in tiefem Schneematsch, der durch den Brand geschmolzen ist und große Pfützen hinterlassen hat.

Es ist faszinierend, die Menschen so aus einer Art Vakuum zu beobachten. Die Gesten und Geräusche wahrzunehmen, die sie machen, während sie ihrer Arbeit nachgehen und sich nicht von einem Außenstehenden beobachtet fühlen.

Wie eingesperrt sie sind und nicht das Geringste davon wissen. Sie sind sich ihrer tatsächlichen Aufgabe auf der Erde mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht bewusst. Mit einem Mal wird mir klar, dass nicht ich mich in einem Vakuum befinde, sondern diese Leute! Alle Menschen. Ich hingegen bin frei. Wahrhaftig frei, von allem.

Tatkräftig gehen sie ihren Wünschen, Sehnsüchten und Trieben nach und sind doch so blind. Blind vor Egoismus, Habsucht, Gier und Hass und ständig auf der Suche nach Anerkennung und Wertschätzung.

„Hey“, hör ich da Stanislav. „Sei nicht so streng mit den Menschen. Sie geben ihr Bestes. Vor allem die Menschen, die anderen helfen. Auch wenn es ihr Job ist, wie sie sagen. Jede einzelne Seele ist kostbar, so wie die Helfer hier wichtig sind.“

Ich bin erschöpft. Groll und Neid … Müdigkeit und brennender Schmerz. Urplötzlich überkommen mich starke Emotionen. Ich kann mich ihrer nicht erwehren, mich nicht mehr konzentrieren. Alles verschwimmt, dreht sich vor meinen Augen. Ich fühle, wie ich taumle, drohe nach hinten zu fallen. Kann mich nicht halten, es überkommt mich. Was ist das? Ich falle, ich falle!

Da ist Stanislav, er packt mich am Arm, gibt mir Halt.

„Joshua“, ruft er und rüttelt an mir, „Joshua. Es ist alles okay! Das sind Gefühlsströme, die du gerade abbekommst.“

Er nimmt mich und zieht mich einige Meter weg von den Feuerwehrmännern.

„Gefühlsströme?“, meine Stimme fühlt sich heiser an und ich habe einen Impuls zu husten. Ich schwanke, fühle mich überwältigt von Sinneserfahrungen und von Tausenden Reizen. „Was meinst du damit?“

Stanislav räuspert sich: „In unmittelbarer Nähe eines Menschen fließen seine Emotionen zu dir über. Die Intensität hängt davon ab, ob du in seiner Aura bist oder wie weit du außerhalb und von ihr entfernt bist. Das kann sehr überwältigend sein und es ist ein wichtiger Aspekt für den Verbleib. Und ein noch wichtigerer für deinen Transfer.“

Bevor er mir das näher erläutern kann, ist meine Aufmerksamkeit wieder ganz gefangen von dem Geschehen.

Ich sehe die Feuerwehrleute, Polizisten, die Unfallstelle, blinkende Feuerwehr- und Polizeiwagen, überall den vielen Schnee, der die umliegenden Wälder einhüllt; eine intensive Pracht in einem detaillierten Szenario und meine Gedanken fließen durch all das hindurch, richtungslos, diffus, außer Kontrolle.

Schwindel befällt mich erneut, ich muss in die Hocke gehen. Ich versuche mich mit den Händen am Boden abzufangen, doch greife ins Leere, falle durch den Asphalt. Ich erschrecke. Da greift Stanislav erneut meinen Arm und hält mich.

Ich bin nicht wirklich gefallen, mein Geist ist überwältigt und so spüre ich nicht mehr, wo beziehungsweise wie ich bin.

„Verzeih mir, Joshua“, dringt Stanislavs Stimme durch das alles zu mir durch, „ich hätte es dir vorher sagen sollen.“

Meine Augen blicken über den Boden vor mir, streifen seine Füße, seine Beine, kriechen an ihnen hoch, bis sich unsere Blicke treffen. Stanislav schaut mich mit großen Augen an.

„Das wäre nicht schlecht“, höre ich mich sagen, „in Anbetracht der Stärke und Flut …“, der Schwindel vergeht allmählich, „dieser Unvorhersehbarkeit.“

Stanislav seufzt besorgt. „Geht es wieder?“

Ich nicke und er lässt mich los.

„Jede Seele wird von einer Aura umgeben, die sie umhüllt. Stell sie dir vor wie einen Mantel. Je nachdem, wie viel Wissen diese Seele hat, beziehungsweise in welcher Stufe sie sich befindet, ist die Aura größer, farbenfroher, klarer und intensiver, also mit mehr Wissen gefüllt. Je näher wir uns ihr begeben, desto höher ist die Wirkungsstärke, und obwohl eine große Aura für eine hohe Stufe und ein größeres Wissen steht, befinden sich immer noch viele Zweifel und Ängste, Hass, Wut und so weiter in ihr. Dieses Negative ist es, was du eben gespürt hast, als du dich in die Nähe der Feuerwehrmänner begeben hast.“

Ich fange an zu verstehen. Vorsichtig stehe ich wieder auf und reibe mir die Augen, fühle meine Sinne klarer werden.

Mein Gegenüber hebt die Augenbrauen und nimmt seine Erklärung wieder auf, die mein Schwindel so unsanft unterbrochen hatte: „Dieses Wissen ist von größter Wichtigkeit für deinen weiteren Verbleib auf den Erfahrungswelten und für deinen Transfer. Darum hör mir jetzt gut zu! Du musst unbedingt auf dich achten. Wenn du in die Aura eines Wesens gehst oder dich ihr näherst, nimmst du die Gefühle dieser Seele in dich auf. Du hast das soeben – leider unvorbereitet – erfahren. Positive Gefühle füllen deine Energie auf, negative entziehen sie dir. Und wenn ich von Energie spreche, meine ich reine Liebe. Das bedeutet: Positive Gedanken tun dir gut und geben dir Energie, also Liebe, die du brauchst, um wieder in die Himmel oder auf eine andere Welt zu gelangen. Negative Gedanken hingegen entziehen dir Energie und leeren deinen Vorrat.“

Stanislavs Augen verengen sich prüfend: „Hast du das verstanden?“

Es kostet mich Anstrengung, ihm zu folgen: „Ich verstehe. Von einer positiven Aura, also von positiven Gefühlen und Gedanken erhalte ich Liebe. Die brauche ich, um wieder von hier weg zu kommen. Es ist wie eine Art Auftanken.“

Er schürzt die Lippen und nickt: „Das war die Kurzform, okay.“

„Und was passiert, wenn mein Tank leer ist und ich niemand finde, der positive Gedanken hat?“

„Jede Seele hat einen Energieort. Das ist ein Platz, mit dem die Seele stark verknüpft ist. Das kann der Geburtsort sein oder ein Ort, an dem etwas mit starker Emotion passierte, eine Prüfung, der Tod eines Freundes oder ähnliches. An diesem Ort kannst du deine Energie ebenfalls aufladen.“

„Und wenn ich es selbst dorthin nicht mehr schaffe?“

„In dem Fall musst du mich rufen. Ich bringe dich entweder zu dem Energieort oder in den Guten Morgen Raum und wir starten eine Art Reset. Das wäre für dich wahrscheinlich nicht so dramatisch, aber ich würde es mir gerne ersparen.“

„Weshalb denn?“

Er atmet aus: „Na, weil wir dann wieder von vorn beginnen würden, zumindest teilweise. Dein Erlebtes, deine Empfindungen an all das nach deinem Tod als Joshua Carlyle wären lückenhaft. Du würdest dich wahrscheinlich nur an Gefühlsspitzen erinnern. Und durch den starken Energieverlust würden neue Erinnerungen und Ereignisse gelöscht werden.“

„Aha. Und …“

„Und deswegen“, fällt er mir ins Wort, „habe ich einfach kein Interesse, das noch einmal zu erleben. Du bist eh eine eher außergewöhnliche Seele im Guten Morgen Raum.“

„Warum?“

„Weil du unglaublich viele Fragen stellst!“

„Kommt so ein Reset oft vor?“

„Siehst du, das meine ich damit!“ Dann sagt er gelassener: „Nein, keine Sorge. Ich habe zumindest noch nicht davon gehört.“

Ich grinse. Zum ersten Mal, seit ich wieder auf der Erde bin.

„Und wie weiß ich, wann ich genügend Energie für eine Reise habe?“

„Die Seele merkt instinktiv, wann sie genügend Energie gesammelt hat für den Transfer. Es drückt sich bei jeder Seele ein wenig unterschiedlich aus. Es kommt auf die Stufe und verschiedene äußere Faktoren an. Du wirst jedenfalls wissen, wann du genügend hast.“

„Wie stelle ich es an?“

„Was? Den Transfer?“

„Ja, wie mache ich das? Wie springe oder reise ich?“

„Du musst erst wissen, wohin du reisen willst. Du brauchst für verschiedene Orte unterschiedliche Energiemengen. Wenn du innerhalb der Erde hier springen möchtest, brauchst du weitaus weniger, als wenn du in deinen Himmel zurückwillst. Auf eine andere Welt hingegen brauchst du wieder nicht so viel. Probiere es aus, Joshua. Ich werde noch eine Weile bei dir bleiben. Wir können es also zusammen ausprobieren.“

„Gut.“

„Du musst es dir nur wünschen.“

„Den Transfer?“

„Ja.“

„Wie? Wünschen?!“

„Stell dir vor, du wärst dort. An dem Ort, wo du gerne sein möchtest. Du siehst die Umgebung, eventuell die Menschen und Tiere und Pflanzen, die ihn bewohnen, du spürst den Wind auf deiner Haut, riechst den Duft und hörst die Geräusche.“

„Du meinst, ich soll es mir so vorstellen, wie ich es als Mensch auf der Erde getan habe?“

„Ja, so könnte man sagen. Es ist … intensiver, deutlicher. Klarer. Als Erfahrungsweltler kannst du deine Vorstellungskraft nicht bewusst mit dem Unterbewusstsein koppeln. Deshalb fällt es vielen Seelen schwer, sich etwas zu wünschen. Sie brauchen für vieles Beweise und harte, wenn auch oberflächliche Fakten, die die Möglichkeiten stark eingrenzen. Allerdings soll das ja auf Erfahrungswelten so sein. Wir Engel kennen keine der beiden Bewusstseinszustände. Engel sein heißt, alles ist eins! Wir handeln aus keinem Bewusstsein heraus. Wir fühlen und denken nicht, weil wir keiner Kausalität folgen. Wir sind. Also, wenn du als Engel auf einer Erfahrungswelt an einen Ort reisen möchtest, fühle dich dahin. Später geht das von selbst. Du brauchst lediglich ein wenig Übung, dann weißt du wieder, wie es geht.“

Er lässt mir ein wenig Zeit darüber nachzudenken, dann fügt er hinzu: „Was auch noch hilft: Versetze dich in eine Situation, die du auf der Erde erlebt hast und du wirst sehen, es geht ganz einfach. Es wird nicht lange dauern, bis du den Dreh raushast. Danach geht es wie von selbst.“

Ich atme tief durch und nicke ihm kaum merklich zu.

„Erst mal möchte ich hierbleiben.“

„In Ordnung, Joshua. Dann gehen wir wieder zur Unfallstelle zurück?“

„Okay.“

Als er sich umdreht, frage ich ihn noch: „Warum muss ich all das lernen? Ich meine, ich habe das doch schon einige Male durchgemacht. Warum behalte ich solches Wissen nicht? Gibt es keinen Schalter, der sich umlegt, sobald man in den Himmeln ist und zack … ist einem alles wieder klar!?“

„Das“, Stanislav runzelt die Stirn, „kann ich dir nicht genau sagen. Ich vermute stark, es liegt daran, dass wir, wenn wir auf die Erfahrungswelten kommen, so authentisch wie möglich sein sollen, sodass wir uns an nichts mehr aus den Himmeln erinnern können.“

„Das klingt nur halblogisch.“

„Halblogisch? Logisches Wissen bringt dich nicht im Entferntesten weiter. Das Weltenall besteht nicht aus Logik, sondern aus Liebe!“

Er reibt sein Kinn und schaut mich abschätzend an: „Mir ist bekannt, dass du schon auf der Erde ungeduldig warst. Du scheinst deine schlechten Gewohnheiten mit in den Himmel genommen zu haben.“ Dann verzieht sich sein Mund langsam zu einem breiten Grinsen, und ich bin beruhigt und gelobe, mich in Geduld zu üben.

„Komm, wir gehen zur Unfallstelle zurück.“

Erst jetzt fällt mir auf, dass wir gut hundert Meter von der ursprünglichen Stelle entfernt sind.

Ich konzentriere mich, schließe meine Augen und stelle mir vor, ich bin wieder dort. Nicht so nah, aber in unmittelbarer Nähe des Unfallortes. Ich rieche den nassen Nadeltannenduft, gemischt mit verbranntem Metall und verkohltem Holz. Der eisige Wind streift mein Gesicht und die Beamten und Feuerwehrleute brabbeln undeutlich miteinander.

Nichts geschieht. Doch als ich die Augen aufschlage, befinde ich mich etwa an demselben Ort wie vorher, nur ein Stück weiter von den Feuerwehrmännern entfernt.

Neben mir steht Stanislav. Mir kommt es so vor, als würden wir schon eine ganze Weile hier sein.

Er grinst mich an, sagt: „Na? Geht doch!“ Dann deutet er mit dem Kinn auf einen Mann vor uns: „Siehst du seine Aura?“

Meine Augen konzentrieren sich und da ist etwas, ein Licht, das ihn umgibt, schwach und kaum wahrnehmbar.

„Ja. Da ist ein … Schimmern.“

Es wird deutlicher.

„Ein dunkles Schimmern!“

Stanislav raunt mir zu: „Lass es zu. Lass es sich dir zeigen.“