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Eine Geschichte, die ihr Geheimnis erst nach und nach preisgibt Seit seine Schwester Lina sich in den Kopf gesetzt hat, dass sie eine Superheldin ist, hat Anton alle Hände voll zu tun. Denn Lina ist zwar total mutig, aber dafür bringt sie sich und ihn ständig in peinliche Situationen. Sie braucht dringend einen Manager: Anton. Doch Lina verlangt Mutproben von ihrem Manager, und Anton muss sich seinen nicht wenigen Ängsten stellen. Zum Beispiel, sich einzugestehen, dass niemand außer ihm selbst Lina sehen kann. Mit viel Feingefühl und Leichtigkeit schreibt Uticha Marmon über das Thema Verlust und Trauer und erzählt dabei eine spannende Freundschaftsgeschichte.
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Seitenzahl: 221
Uticha Marmon
Mit Vignetten von Hildegard Müller
Seit seine Schwester Lina sich in den Kopf gesetzt hat, dass sie eine Superheldin ist, hat Anton alle Hände voll zu tun. Denn Lina ist zwar total mutig, aber dafür bringt sie sich und ihn ständig in peinliche Situationen. Sie braucht dringend einen Manager: Anton. Doch Lina verlangt Mutproben von ihrem Manager, und Anton muss sich seinen nicht wenigen Ängsten stellen. Zum Beispiel, sich einzugestehen, dass niemand außer ihm selbst Lina sehen kann.
Mit viel Feingefühl und Leichtigkeit schreibt Uticha Marmon über das Thema Verlust und Trauer und erzählt dabei eine spannende Freundschaftsgeschichte.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Uticha Marmon wurde 1979 in Berlin geboren. Sie studierte Dramaturgie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Pädagogik und hat danach am Theater und in Verlagen gearbeitet. Heute lebt sie in Hamburg und arbeitet freiberuflich als Dramaturgin, Lektorin und Autorin.
Hildegard Müller ist Diplomdesignerin und Kunstpädagogin. Seit vielen Jahren arbeitet sie erfolgreich als Illustratorin, Autorin, Grafikdesignerin und freie Künstlerin. Hildegard Müller lebt und arbeitet in Ginsheim und Mainz.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
»Toni! Jetzt komm!«
Ich gucke auf meine Schuhe. Die Spitzen ragen schon über die Kante hinaus. Der braune Colafleck an der Seite schwebt über dem Nichts. Nur noch ein Zentimeter. Ein winziges Stück, und ich verliere den Halt. Die Schlaufen meines Schulrucksacks schneiden mir in die Handflächen. Aber der wird mich auch nicht festhalten. Wenn da ein Fallschirm drin wäre, okay. Dann vielleicht. Ohne Fallschirm ist das Dach, auf dem ich stehe, aber einfach nur superhoch. Weshalb Linas Idee, hier runterzuspringen total bescheuert ist. Und lebensmüde.
»Anton Nowak! Mach dir nicht in die Hose!«
Lina guckt mit zusammengekniffenen Augen zu mir rauf.
»Echt! Vertrau mir mal! Das ist babyleicht.«
Ja, für meine Schwester vielleicht.
Trotzdem, ich kann hier nicht den ganzen Tag stehen. Also bleibt nur eins: springen. Ich bin es Lina schuldig. »Aaaaaantooooon!«
Ist ja gut. Geht doch schon los. Ich schließe die Augen und atme ein. Beim Ausatmen springe ich ab. Ich kann fühlen, wie ich fliege. Ich fliege, und das ist richtig schön. Keine Ahnung, wann es das letzte Mal so in meinem Bauch gekitzelt hat.
»Vorsicht!«, brüllt Lina. Ich reiße die Augen auf – und sehe Sternchen. Vielleicht sind es die von Linas Jogginganzug. Es könnte aber auch damit zusammenhängen, dass ich gerade ziemlich hart im Sand aufgeschlagen bin. Eine ganze Ladung davon landet in meinem Mund.
»Bäh, da hat bestimmt schon ein Hund hingepinkelt.« Lina lacht. Na, danke auch. Sie weiß genau, wie sehr ich mich vor so was ekle.
»Haha, superlustig.« Ich rapple mich auf. Von hier unten sieht das Klettergerüst mit dem roten Turm gar nicht so hoch aus. Aber echt, noch mal springe ich da nicht runter.
»Erledigt«, spucke ich zusammen mit etwas Sand aus. Meine Hand gleitet automatisch in meine Hosentasche. Das Fläschchen mit dem Desinfektionsmittel ist noch da. Aber ich kann mir damit nicht den Mund ausspülen. Vorsicht, giftig! Steht extra darauf, so ähnlich jedenfalls. Aber eines ist sicher, wenn ich könnte, würde ich.
»Na ja«, sagt Lina. »So richtig fliegen war das ja nicht.«
Ich gucke sie vernichtend an. »Dann zeig doch mal, wie es geht. Wenn ich mich nicht irre, solltest du das können und nicht ich.«
»Kann ich ja auch«, sagt Lina und klettert mit Superspeed auf den Turm. Ich kann gar nicht so schnell gucken, da ist sie schon wieder unten bei mir. »Tadaa!«, ruft sie und verbeugt sich.
Ich puste mir eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht. »Super«, murmle ich. Das reicht hoffentlich aus, damit Lina nicht gleich wieder anfängt, anzugeben. Und mich am Ende irgendwo noch höher raufschickt, um runterzuspringen. Ich gucke auf die Uhr. Viertel vor acht. Autsch!
»Jetzt aber Beeilung!« In fünf Minuten fängt die Schule an, und ich schreibe gleich in der ersten Stunde Englisch. Eigentlich wäre es ziemlich in Ordnung, da nicht zu erscheinen. Aber dann ruft unsere Schulsekretärin wieder zu Hause an, weil ich ohne Entschuldigung fehle, und es gibt Ärger. Nicht in die Schule gehen, ist keine Option. Obwohl schon jetzt klar ist, dass ich zu spät komme. Vom Spielplatz sind es in normalem Tempo fünfzehn Minuten. Ich renne sehr schnell, aber trotzdem dauert es sicher zehn, vor allem mit Seitenstechen und Schnappatmung. Meine Schwester dagegen schwebt geradezu neben mir her. Ich gebe echt alles. Lina überholt mich trotzdem. »Keine Sorge, ich mach das schon!« Sie greift nach meiner Hand und zieht mich einfach mit sich. Als wir in der Schule die Treppe raufstürmen, sind wir nur zwei Minuten zu spät. Das soll uns erst mal jemand nachmachen.
Lina lässt mich los, aber der Schwung reicht noch aus, um mich mit Raketenantrieb in meine Klasse sausen zu lassen. Fieberhaft überlege ich, was ich als Ausrede vorbringen kann. Die Wahrheit geht ja schlecht: Entschuldigung, Herr Kallenberg, ich musste noch vom Spielplatzturm springen. Das gehört dazu, wenn man der Manager einer Superheldin ist. Da muss man einfach wissen, wie sich fliegen anfühlt. Nein, das ist echt nicht drin. Aber Herr Kallenberg erwartet zum Glück gar keine Entschuldigung. Er ist gerade dabei, die Klassenarbeiten auszuteilen. Als ich zu meinem Platz fege, sieht er nur kurz hoch.
»Na, Anton? Ich dachte schon, du lässt mich im Stich.« Er legt ein Arbeitsblatt vor mich hin, dann schließt er die Tür und geht zu seinem Pult.
Hä? Das war’s? Kein Donnerwetter? Noch nicht mal ein winziger Kommentar darüber, dass ich schon wieder zu spät gekommen bin? Das ist auffällig. In letzter Zeit benimmt Herr Kallenberg sich mir gegenüber öfter merkwürdig. Vielleicht geht es ihm nicht gut?
»Ich würde Sie nie im Stich lassen, Herr Kallenberg«, beruhige ich ihn und drehe das Arbeitsblatt um. Aber als ich die Aufgaben durchlese, kommt es mir eher so vor, als wäre Herr Kallenberg derjenige, der mich im Stich lässt. Ich verstehe nur Bahnhof. Verwirrt starre ich auf das Blatt. Vielleicht wäre gar nicht zu kommen doch die schlauere Lösung gewesen. Schlechte Noten sind auch nicht besser als ein Anruf von der Schule. Bei einem Anruf setzt es ein Donnerwetter, aber schlechte Noten, da machen Mama und Papa sich Sorgen. Und davon haben sie schon genug.
»Pst, Toni!« Lina! Was macht sie denn hier?
»Schhh, ich muss mich konzentrieren«, wispere ich.
Julian neben mir guckt mich verwundert an. »Ich hab doch gar nichts gesagt.«
Ich schüttle nur den Kopf und starre weiter auf mein Blatt. Aber die Buchstaben tanzen vor meinen Augen. Ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, sie zum Stillhalten zu bewegen. Und selbst, wenn sie das tun, kann ich die Fragen, die dastehen, noch lange nicht beantworten.
»Toni, jetzt guck!« Lina fummelt an meinem Schulranzen rum. Dadrin bewegt sich was.
»Anton?«, fragt Herr Kallenberg. »Gibt’s ein Problem?«
»Nein, alles gut«, sage ich schnell. »Ich brauche nur ein Taschentuch.«
Herr Kallenberg runzelt die Stirn, aber er nickt. Ich beuge mich zum Ranzen runter. Und da fiept es leise.
Keks? Das ist Keks!
»Was machst du denn hier?«, flüstere ich ihm zu und versuche, seinen Rattenkopf in den Ranzen zurückzuschieben. Aber Keks ist schneller. Er witscht mir durch die Finger, klettert über den Taschenrand und schon ist er auf dem Weg Richtung Tafel. Unter den Tischen und zwischen den Füßen meiner Klassenkameraden hindurch! Lina kichert leise. Und ich kriege Stress. Denn Keks steuert zielstrebig auf das Lehrerpult zu. Ich weiß, was er da will. Herr Kallenberg hat immer eine Packung Kekse für besondere Situationen in der Schublade. Wenn jemand Geburtstag hat, zum Beispiel. Keks hat sie mit seiner Rattennase natürlich sofort erschnüffelt. Seine Krallen klackern leise auf dem Boden. Jetzt heben sich die ersten Köpfe. Olivia und Anna in der zweiten Reihe haben Keks entdeckt. Und jetzt sehen sie sich um, ob noch jemand von uns Bescheid weiß. Unsere Blicke treffen sich. Ich schüttle langsam den Kopf. Haltet bloß die Klappe, heißt das. Aber Olivia und Anna gehören nicht zu der Sorte Leute, die in wichtigen Augenblicken dichthalten. Wie aus einem Mund kreischen sie los.
»Eine Ratte! Da ist eine Ratte!« Und dann, als wäre ihnen eben erst eingefallen, dass sie Angst vor Ratten haben, springen sie auf und klettern auf ihren Tisch.
»Iiiiiiiiigiiiiiiitt!«, kreischen sie im Chor. Als Nächstes bricht ein irrer Tumult los. Alle wollen die Ratte sehen. Selbst Herr Kallenberg guckt sich neugierig um. Keks scheint sich über die Aufmerksamkeit zu freuen. Er bleibt stehen und schnüffelt. Dann hebt er die Vorderpfoten und piepst. Der Clown. Und er kriegt sogar Applaus. Julian neben mir pfeift auf zwei Fingern. »Yeah, die Ratte macht Männchen!«, ruft er. Keks lässt sich wieder auf alle viere fallen und setzt seinen Weg Richtung Futter fort. Als er beim Schreibtisch angekommen ist, sieht er sich um. Er weiß genau, dass die Kekse in dem Container über ihm sind. Aber wie kommt er da jetzt dran? Einen Moment scheint er zu überlegen. Dann hat er die Lösung. Klar, Ratten sind nicht nur megaschlau, sie können auch super klettern. Und was läge näher, als einfach das Hosenbein von Herrn Kallenberg dafür zu verwenden? Also macht Keks sich an den Aufstieg. Herr Kallenberg erstarrt, als die Rattenkrallen sich durch den Stoff seiner hellbraunen Hose bohren. Und er wird blass. Keks hat sich schon bis zu seinem Knie hochgeangelt. Die anderen aus meiner Klasse kreischen und jubeln abwechselnd. Lina schüttelt sich vor Lachen und Herr Kallenberg schwankt. Er hält sich an der Armlehne seines Stuhls fest. Aber er hat die Rollen darunter vergessen. Herr Kallenberg zappelt mit dem Bein, um Keks loszuwerden – und der Stuhl rollt langsam rückwärts. Keks ist schon auf Herrn Kallenbergs Hüfte angekommen. Jetzt ist es Zeit für ihn, abzuspringen, um auf dem Schreibtisch zu landen. Er macht sich bereit. Nur spielt Herr Kallenberg leider nicht mit. Damit Keks den Sprung schafft, müsste mein Lehrer nämlich absolut stillhalten. Was er nicht tut. Der Stuhl rollt immer weiter nach hinten, und mit ihm verabschiedet sich Herrn Kallenbergs Gleichgewicht endgültig. Eine Sekunde später liegt er auf dem Rücken. Das läuft nicht nach Keks’ Plan. Er rennt den moppeligen Kallenberg-Bauch hinauf und beißt meinen armen Lehrer entrüstet ins Kinn.
»Au!«, ruft der und schlägt nach Keks. Das ist nicht nett, aber gebissen zu werden, hat Herr Kallenberg auch nicht verdient.
Keks kann aber natürlich gar nichts dafür. Der Lärm, den die anderen veranstalten, irritiert ihn total. Es wird Zeit, dass ich was unternehme.
Also renne ich nach vorne und schnappe ihn mir. Keks windet sich in meiner Hand. Klar, er hat ja noch nichts zu essen bekommen.
»Ich darf doch, Herr Kallenberg?«, sage ich, weil man ja nicht, ohne zu fragen, einfach im Lehrerpult herumkramen kann. Herr Kallenberg hat offensichtlich keine Ahnung, was ich dürfen soll, aber er nickt schwach. Also hole ich die Kekse für Keks hervor und nehme sie mit an meinen Platz. Ich packe beides, Keks und Kekse in meinen Rucksack und schließe ihn. Puh!
Mühsam rappelt sich Herr Kallenberg auf. Alle Blicke sind jetzt auf mich gerichtet.
»Die Ratte gehört dir?«, fragt Julian.
»Keks gehört meiner Schwester. Und ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass er hier ist. Er muss sich in meinen Ranzen geschmuggelt haben.«
Dass das sicher nicht Keks selbst war, sondern Lina, behalte ich für mich. Apropos Lina. Wo ist sie eigentlich? Vor lauter Keks und Kallenberg habe ich gar nicht bemerkt, dass Lina nicht mehr da ist. Das ist auch so was. Seit sie ihre Heldenkräfte hat, schleicht meine Schwester sich immer klammheimlich davon. Genauso plötzlich taucht sie wieder auf. Ist ja ganz cool, dass sie das kann. Trotzdem muss ich mit ihr darüber reden.
Herr Kallenberg streicht sich die Hose glatt, obwohl es bei diesem Knitterchaos nicht mehr viel zu glätten gibt. »Na gut«, sagt er noch etwas quietschig. »Ich denke, unsere Klassenarbeit verschieben wir dann wohl. Bedankt euch bei Keks.«
»Danke, Keks«, rufen tatsächlich ein paar meiner Mitschüler.
»Trotzdem könnt ihr euch wieder setzen«, sagt Herr Kallenberg und wirft Anna und Olivia einen richtigen Lehrerblick zu. Die beiden klettern vom Tisch, wobei sie weiter meinen Rucksack beäugen. Aber da müssen sie sich keine Sorgen machen. Keks kommt nicht noch mal heraus. Der ist vorerst beschäftigt. Ich höre ihn schmatzen.
Den Rest der Stunde gucken wir im Internet einen Film über Ratten. Immerhin ist er auf Englisch, so hat Herr Kallenberg nichts, was er später unserer Rektorin beichten muss. Ich passe nicht auf, weil ich meine Lina-Liste vervollständigen muss. Sie steht hinten in meinem Hausaufgabenheft und ist schon ziemlich lang. Seit Lina Heldenkräfte hat, sammle ich hier Dinge, über die wir sprechen müssen. So Sachen wie Nicht heimlich im Kiosk Süßigkeiten mitnehmen. Oder: Heldenkraft nicht beim Anschubsen auf der Schaukel anwenden. Bis ich das mit Lina geklärt habe, werde ich jedenfalls nicht mehr schaukeln, wenn sie dabei ist. Als neuen Punkt schreibe ich Keine Mutproben für den Manager. Und dann: Keks gehört nicht in die Schule. Und: Auftauchen und Verschwinden.
Puh. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es so schwer ist, der Manager einer Superheldin zu sein. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nie im Leben ja gesagt, als Lina damit um die Ecke kam. Außerdem: Es ist schon seltsam, dass sie so anders ist, seit sie zur Heldin wurde. Wie ausgewechselt. Früher war sie immer total vernünftig und hat über alles mindestens achthundertmal nachgedacht. Und jetzt? Das reine Chaos.
»Wir müssen reden!«, sage ich, als wir uns nachmittags auf den Nachhauseweg machen. Seit Englisch habe ich Lina nicht mehr gesehen. Weder in den Pausen noch irgendwie am Fenster oder so. Ich habe echt genau geguckt, sie war nicht da. Keks ist zum Glück auch in meinem Ranzen geblieben. Das lag aber nicht so sehr an seinem guten Benehmen, sondern daran, dass er wirklich die ganze Packung von Herrn Kallenbergs Keksen leer gefuttert hat. Da wäre selbst mir schlecht, und das will was heißen. Lina zieht die Augenbrauen hoch und schmatzt den Lippenkäse weg. Der gehört inzwischen zu ihr wie der graue Jogginganzug mit den neonfarbenen Glitzersternen. Um ehrlich zu sein, finde ich den ziemlich eklig. Aber weil sie nichts dafür kann, dass sich da immer diese weißen Knüddel in ihren Mundwinkeln bilden, muss ich da wohl durch. Wobei sie schon etwas tun könnte, dass es besser wird.
»Trink was«, sage ich. Keine Ahnung, wie oft ich das in letzter Zeit zu Lina gesagt habe. Aber da ist sie irgendwie stur.
»Wir müssen reden«, komme ich zum Thema zurück, als Lina zu lange nichts sagt. Lippenkäse hin oder her, das ist wichtig.
»Ja, ich finde auch, dass du dich bei mir bedanken kannst.« Lina boxt mich lachend in die Seite.
»Nein! Also ja. Danke wegen der Englischarbeit.« Ich bleibe stehen. »Aber so geht das nicht. Du musst aufhören, alles durcheinanderzubringen.«
Wir haben den Volkspark erreicht. Einmal quer durch und wir sind zu Hause. Lina biegt auf die Wiese ab. »Tu ich das denn?« Sie zupft eine Pusteblume ab und pustet mir die Schirmchen ins Gesicht. »Ich hab dich gerettet. Zweimal sogar. Erstens davor, eine ganze Stunde lang durch die Hölle zu gehen, weil du keine Ahnung hast, was du in die Lücken schreiben sollst. Und zweitens«, sie zupft noch eine Pusteblume ab und pustet sie leer, »zweitens vor Mama und Papa. Ich sag nur SORGEN.«
Das kann ich nicht abstreiten.
»Trotzdem. Jetzt denkt der Kallenberg, ich habe Keks absichtlich mitgebracht, um mich vor dem Test zu drücken.«
»Nö, denkt er nicht. Und wenn schon …« Lina grinst und wirft den leeren Pusteblumenstiel nach mir.
»Wetten?«, sagt sie dann.
»Wetten, was?«
»Der Hund.« Lina zeigt auf einen Dackel, der gemütlich vor einer Parkbank in der Sonne lümmelt. Auch der Besitzer lümmelt, allerdings auf der Bank, nicht davor. Und mit geschlossenen Augen. Lina pirscht sich an den Dackel heran.
»Lass das, Lina!«
Aber natürlich lässt Lina es nicht. Im Gegenteil. Sie hat den Dackel fast erreicht. Der hat sie noch nicht bemerkt; kein Wunder, Helden-Lina ist irre leise und schnell. Sie baut sich auf allen vieren hinter dem Dackel auf und macht einen Buckel. Und dann faucht sie, was das Zeug hält. Echt, sie geht tipptopp als Katze durch. Der Dackel kriegt den Schreck seines Lebens und springt laut kläffend auf. Das wiederum lässt den Mann auf der Bank zusammenfahren.
»Ruhe, du blödes Vieh!«, brüllt er, und dann kann ich nicht glauben, was ich sehe. Der Mann tritt tatsächlich nach seinem Hund. Das darf doch nicht wahr sein! Der arme Dackel jault und versucht, seinem Herrchen auszuweichen. Aber der Typ zieht ihn an der Leine zurück, greift nach ihm und schüttelt ihn, als wäre er ein Milchshake oder so was. Hilfesuchend sehe ich Lina an. Die ist genauso fassungslos wie ich. »Na, warte!«, flüstert sie. Sie schleicht zu einem Paar, das auf der Wiese neben den Bänken picknickt, mit Sandwiches, Limo und allem Drum und Dran. Im Handumdrehen hat Lina ihnen eine Flasche Orangenlimo gemopst. Sie schüttelt sie heftig, während sie sich wieder an den Mann heranschleicht. Der ist so damit beschäftigt, seinen Dackel anzuschreien, dass er erst total spät merkt, dass er unter einer klebrig orangefarbenen Dusche steht. Dann aber lässt er den Dackel los und springt wild herum, um dem Regen auszuweichen. Aber das kann ihm natürlich gar nicht gelingen, weil Lina ihm einfach folgt. Und selbst als die Flasche leer ist, hört der Typ nicht auf zu hüpfen. Da kann ich nicht mehr anders und lache laut los. Der Typ bleibt augenblicklich stehen, als hätte mein Lachen den Ausknopf gedrückt. Er dreht sich zu mir um. »Was?«, fragt er und klingt jetzt noch wütender. Und da sehe ich überhaupt erst richtig, was für ein Kaliber er ist. Wenn ihr jetzt denkt, ein Typ mit Dackel trägt bestimmt so einen alten Cordanzug in Spießerbraun, dann muss ich euch enttäuschen. Kann ja sein, dass es solche Dackelbesitzer gibt. Aber dieser hier gehört nicht dazu. Dieser hier sieht so lässig aus, wie man nur lässig sein kann. Auf seinem weiten Pulli prangt ein Comiceinhorn in Ninjapose, er trägt ein Beanie und die weißesten Turnschuhe, die ich je gesehen habe. Die müssen nagelneu sein. Leider hört die Lässigkeit aber bei den Klamotten auf. Alter, was ist denn mit dem kaputt? Sein Gesicht ist in verschiedenen Tönen wutrot. Himbeerrot, tomatenrot, pflaumenrot. Es steht zu befürchten, dass er demnächst platzt. Oder aber, er sucht sich jemand Neuen, auf den er seine Wut abladen kann. Und dieser jemand bin dann wohl ich. Er dreht sich langsam in Startposition, federt in den Knien, und dann sprintet er los, ohne dass es irgendeinen Startschuss gegeben hätte. Ich habe zumindest keinen gehört. Mann, ist der schnell! Sprinter, oder was?
»Lauf, Toni!«, ruft Lina, und da kapiere ich es auch endlich. Der Typ denkt, ich habe ihn mit Limo geduscht. Was auch naheliegt, weil die leere Flasche irgendwie plötzlich neben meinen Füßen am Boden liegt. Mann, Lina!
»Toooniii!«, ruft Lina wieder. Endlich nehme ich die Beine in die Hand. Ich renne, was das Zeug hält. Aber der Typ ist sogar schneller als schnell. Nicht mehr lange, und er hat mich eingeholt.
»Lina! Hilf mir!« Ganz ehrlich, wozu hat man denn eine Heldenschwester?
Aber Lina hat mich entweder nicht gehört oder … keine Ahnung! Es passiert jedenfalls nichts. Der Typ kommt näher. Ich kann fast schon seinen Atem im Nacken spüren. Und dann gibt es auf einmal einen Rums. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen, um nachzusehen, was das war. Lieber renne ich. Meine Beine brennen, und ich kriege Seitenstechen. Ich sollte echt mal sportlicher werden. Wenn das mit Lina so weitergeht, muss ich in nächster Zeit bestimmt öfter mal einen Spurt hinlegen. Ich laufe gegen das Brennen und Stechen an, bis ich sicher bin, dass ich es keinen Schritt weiterschaffe, wenn ich nicht auf der Stelle umfallen will. Ich schwör’s, das wird passieren. Schon seit einer Weile habe ich das Gefühl, dass etwas anders ist. Und tatsächlich, als ich stehen bleibe und mich gerade auf meinen ziemlich sicheren Tod gefasst mache, ist der Typ weg. Was? Hat der sich etwa einfach in Luft aufgelöst? Ich gucke mich um. Das ist eine Finte, oder? Der wartet doch garantiert hinter der nächsten Ecke darauf, dass ich mich in Sicherheit wiege, um genau dann zuzuschlagen. Unschlüssig trete ich auf der Stelle, als plötzlich ein schrilles Kläffen ertönt. Ich gucke in die Richtung, aus der es kommt, und sehe den Dackel aufgeregt um einen grünen Berg herumspringen. Der Berg stöhnt. Und dann erkenne ich auch, warum.
Der Berg trägt einen Hoodie mit Ninjaeinhorn. Der Typ liegt mitten in einem Brombeergestrüpp. Wie ist er denn da hingekommen? Ich wage mich ein paar Schritte näher heran, und da sehe ich es. Mein Rucksack liegt zwischen seinen Füßen. Er hat sich in den Riemen verheddert. Echt jetzt? Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich den gar nicht mehr aufhabe. Wahrscheinlich habe ich ihn beim Rennen abgestreift. So macht man das, um schneller zu werden, oder? Ballast abwerfen? Und wie es scheint, hat Lina den Rucksack genommen und ihn dem Typen zwischen die Füße geworfen. Denn niemand anders als sie hockt mit baumelnden Beinen auf dem Zaun hinter den Brombeeren und grinst. Auf ihrer Schulter sitzt Keks und knabbert an ihren Haaren.
Was bin ich froh! Ich bin so froh, dass ich es selbst nicht glauben kann. Als Lina und ich nämlich nach dem Englischarbeit-Ratten-Dackel-Einhorntyp-Katastrophentag nach Hause kommen, würde ich Keks darauf verwetten, dass Mama schon Bescheid weiß. Dass der Kallenberg längst angerufen hat, um ihr alles zu erzählen. Hat er nicht. Und Mama sagt auch nichts zu meinem ramponierten Rucksack. Weil sie nämlich gar nicht da ist. In der Küche liegt ein Zettel, auf dem steht, dass ich Fischstäbchen aus dem Tiefkühlfach braten soll. Und den Salat auf der Anrichte soll ich auch essen. Fischstäbchen kann ich gut. Wenn man so will, bin ich sogar der beste Fischstäbchenbrater der Welt. Mama hat nicht auf den Zettel geschrieben, wo sie ist, aber das kann ich mir schon denken. Sie ist im Nimmerland. Nicht das richtige, also das von Peter Pan. Aber Mama sagt, es erinnert sie daran. Vielleicht geht sie deswegen so oft hin. Echt, das Nimmerland ist in letzter Zeit so was von ihr Lieblingsort. Normalerweise geht sie morgens hin, weil ich da Schule habe und sie ja weiß, dass ich nicht mitkomme. Auf keinen Fall setze ich da einen Fuß rein. Manchmal, wenn er nicht gerade mit dem LKW unterwegs ist, kann sie Papa überzeugen, mit ihr hinzugehen. Ab und zu geht auch Gitta, ihre beste Freundin mit, dann machen sie sich einen »schönen Mädelsvormittag«, wie sie das nennen. Total schräg, ich weiß.
Ich schleudere meinen Rucksack in die Ecke neben den Schreibtisch und setze Keks zurück in seinen Käfig.
»Heute Mittag wird gefastet«, sage ich zu ihm. Er schnüffelt beleidigt, aber da kenne ich nichts. »Guck nicht so«, sage ich zu ihm. »Ich habe keine Lust, später deinen Käfig zu putzen, wenn du kotzen musst.« Denn es ist klar, dass das an mir hängen bleiben wird. Lina rührt keinen Finger, wenn es um Keks’ Kotze geht. »Da wird mir schlecht«, sagt sie immer. Und weil das sogar stimmt und ich keine Lust auf Doppelkotze habe, gibt es für Keks heute Mittag nun mal Nulldiät.
In der Küche mache ich mir die Fischstäbchen, packe sie zusammen mit einer großen Pfütze Ketchup auf einen Teller und gehe zurück in unser Zimmer. Den Salat lasse ich in der Küche. Kaum habe ich es mir auf meinem Bett gemütlich gemacht, pflanzt Lina sich neben mich.
»Darf ich auch eins?« Sie greift nach einem der Stäbchen, aber ich ziehe den Teller weg. »Nee, darfst du nicht!« Da bin ich genauso eisern wie bei Keks.
»Ach, komm«, sagt Lina und klimpert mit den Augen. »Jetzt sei doch nicht so. Nur eins.« Ich bleibe hart.
»Ein halbes?«
Ich schüttle den Kopf.
»Nur einmal beißen?«
Ich überlege. Lina darf keine ungesunden Sachen essen. Seit einer halben Ewigkeit kriegt sie nur Gesundes, weil es ihr nach Ungesundem immer richtig mies geht. Andererseits, wer weiß, ob das nicht nur für vorher gilt? Mit Heldenkräften müsste man doch eigentlich alles essen können, oder?
Ich schiebe ihr den Teller hin. »Aber nur, wenn du auch Salat isst.«
»Klar doch«, sagt Lina, »genauso wie du.« Was soll denn das jetzt heißen?
Sie wählt sorgfältig das knusprigste Fischstäbchen aus. Eine gute Wahl, das muss ich sagen. Sie schließt die Augen und beißt genüsslich hinein.
»Mjam. Das ist das Beste, was ich je gegessen habe.« Lina kaut mit geschlossenen Augen. Dann schluckt sie und seufzt. »Du hast ja keine Ahnung, was für ein Glück du hast.«
»Glück? Jetzt wegen den Fischstäbchen, oder wie?« Ich tunke das vorletzte in Ketchup und schiebe es mir ganz in den Mund. Keks fängt an, an der Käfigtür zu knabbern. Aber das kann er vergessen; dass ich meine Fischstäbchen mit Lina teile, ist schon das höchste der Gefühle.
»Mit allem«, sagt Lina. »Fischstäbchen, Keks, ich. Ich meine, wer hat schon eine Schwester wie mich? Ich habe dich heute immerhin schlappe dreimal rausgehauen.«
»Und wer hat mich schlappe dreimal reingeritten?«, frage ich. »Außerdem musst du das. Du bist ein Superheld, schon vergessen? Das ist dein Job.« Da fällt mir meine Liste ein. Vielleicht wäre jetzt ein geeigneter Zeitpunkt, mal ein ernstes Wort mit Lina zu reden. Aber das letzte Fischstäbchen liegt da so lecker fettig auf dem Teller, das esse ich lieber erst.
Lina nimmt ihr Handy vom Schreibtisch und macht Musik an. Tim Bendzko singt. Kennt ihr den? So einer mit Wuschellocken, den Lina unerklärlicherweise total süß findet. Ich wär so gern dabei gewesen. Doch ich hab viel zu viel zu tun. Muss nur noch kurz die Welt retten …
Das Lied ist uralt, aber der Tim ist so was von Linas Lieblingssänger. Und das ist sein allerbestes Lied, findet sie. Außerdem sieht er ein bisschen aus wie ich. Oder ich wie er oder so. Wenn es nach Lina geht. Aber da ist sie auf dem Holzweg. Ich bin AB-SO-LUTnicht süß! Und wenn überhaupt, sehe ich aus wie Lina, nur nicht in so blass.
Plötzlich steht Mama in der Tür. Wegen Tim habe ich gar nicht gehört, dass sie nach Hause gekommen ist.
Sie guckt ins Zimmer und lächelt. Wow, das ist toll. Es kommt nämlich nicht so oft vor, dass Mama lächelt. Und dann fängt sie an, mitzusingen. Auch Mama mag Tims Songs.
Lina fällt ein. Bloß ich gucke auf meinen leeren Fischstäbchenteller, auf dem nur noch etwas verschmierter Ketchup ist, und habe auf einmal einen Kloß im Hals.