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Jannik und Loni sind beste Freunde. Zusammen mit den anderen Kindern aus der Straße erleben sie die enormsten Abenteuer. Die Geschichten dafür gibt Bo vor, Janniks älterer Bruder. Doch irgendwann verändern sich ihre Spiele, denn Bo erfindet immer neue Regeln. Eine davon lautet: Loni ist anders. Und das nur, weil ihre Mutter aus Kenia kommt. Jannik muss sich entscheiden, was ihm wichtiger ist – dazuzugehören, oder Loni als Freundin nicht zu verlieren. Aber dann passiert etwas, was niemand vorausgesehen hat … »Als wir Adler wurden« erzählt von der Angst vor dem Anderen. Von einer Art der Ausgrenzung, vor der auch eine Elfjährige nicht verschont bleibt. Aber auch davon, wie wichtig es ist, nicht wegzusehen, sondern gegen das Unrecht seine Stimme zu erheben.
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Seitenzahl: 212
Uticha Marmon
Als wir Adler wurden
FISCHER E-Books
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© S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Dass wir wieder werden wie Kinder, ist eine unerfüllbare Forderung. Aber wir können zu verhüten versuchen, dass die Kinder so werden wie wir.
Erich Kästner
Ich bin ein Adler! Endlich. Sie sagen, bei den Adlern geht es vor allem darum, zusammenzuhalten. Abenteuer zu erleben. Den Menschen zu helfen, die sich selbst nicht helfen können. Ist das nicht toll? Die Leute in unserer Straße freuen sich, wenn wir kommen. Wenn wir da sind, während sie ihren Bohnenkaffee trinken. Wenn wir ihnen die Einkäufe erledigen. Wenn wir ihr kaputtes Fenster reparieren. Gestern haben wir zum Beispiel die Druckerei besucht. Wir hatten Äpfel, zusammen mit den Königskindern, vom Baum in Königs kleinem Garten geholt und sie verteilt. Die Idee dazu hat Otto gehabt. Er hat immer die besten Ideen von uns allen. Außerdem lernen wir so vieles, was uns nützlich sein könnte. Seile knoten. Feuer machen. Wir gehen schwimmen, fahren mit den Rädern raus, erleben Abenteuer! Vor allem aber sind wir eine eingeschworene Gemeinschaft. Freunde für immer. Wir Adler, aber allen voran Otto und ich. Ja, das will ich!
»Happy Birthday to you!«, drängelte es sich vielstimmig in Janniks Traum. »Happy Birthday to you! Happy Birthday, Jannik und Loni! Happy Birthday to you!«
Jannik blinzelte verschlafen. Und auch Loni auf der Matratze neben seinem Bett bekam die Augen noch nicht richtig auf. Bis spät in die Nacht hatten sie an ihrem nächsten Spielzug gegen die Krakenköpfe gefeilt.
»Los, pustet die Kerzen aus!«, rief Mama.
»Aber alle auf einmal!«, wies Opa Paul an.
»Und was wünschen!«, lachte Lonis Mutter Hanne.
Papa und Bo sagten nichts. Und Oma Marianna lächelte nur ihr strahlendes Oma-Lächeln. Alles wie immer, dachte Jannik glücklich. Er wusste exakt, was er sich wünschen würde.
Loni gähnte. Es war wirklich spät gewesen.
»Zusammen!«, sagte Mama.
Gemeinsam beugten sie die Köpfe über den Kuchen. Eine Hälfte mit heller, eine mit dunkler Schokolade überzogen. Hell für Loni, dunkel für ihn. Innen drin war es genau andersrum. So, wie sie es beide am liebsten mochten.
»Eins«, sagte Jannik.
»Zwei«, sagte Loni.
»Drei«, sagten sie zusammen. Dann pusteten sie, mit geschlossenen Augen. Und Jannik wünschte sich, dass alles so bleiben sollte, wie es gerade war. Als er die Augen öffnete, stieg ihm der Qualm hinein. Alle Kerzen waren aus. Bis auf eine.
»Und jetzt: Auspacken!« Bo pustete die widerspenstige Kerze aus und stellte den Kuchen auf Janniks Nachttisch. Dann überreichte er Loni und ihm sein Geschenk. Bos Geschenk war immer das erste, das sie bekamen. Und es war nie verpackt. Verpackung war Müll. Müll war umweltschädlich. Und Bo sorgte sich um die Umwelt. Also verpackte er seine Geschenke nicht.
Sie bekamen ein Buch, ein Notizbuch. Ein Adler prangte auf dem Deckblatt. Er hatte die Schwingen ausgebreitet und die Krallen gespreizt, als wäre er im Anflug auf seine Beute.
»Hast du den gemalt?«, fragte Jannik überflüssigerweise.
Sein großer Bruder war schon immer gut im Zeichnen gewesen. Loni nahm ihm das Buch aus der Hand. »Natürlich hat Bo den gemalt«, sagte sie.
»Warum ein Adler?«, wunderte sich Jannik.
»Schlag es auf«, sagte Bo zu Loni.
Loni öffnete das Buch und las, leise.
»Was steht denn drin?«, wollte Jannik wissen. Neugierig schob er sich neben sie.
»Die Adler kamen nicht plötzlich, nicht über Nacht«, las er vor. »Sie erschienen langsam, einer nach dem anderen. Waren sie gut? Waren sie böse? Man wusste es nicht. Erst versteckten sie sich und waren sehr vorsichtig. Doch als sie merkten, dass niemand sie vertrieb, ja im Gegenteil, dass sie von einigen sogar gerne gesehen waren, da blieben sie. Und es wurden immer mehr. Vielleicht sagten aber deswegen später so viele, sie hätten es nicht mitbekommen. Vielleicht …« Er sah Bo an. »Was bedeutet das?«, fragte er.
Bo wischte sich die ampelbunt gefärbten Haare aus der Stirn. Sie fielen sofort zurück. »Das bedeutet, dass ihr jetzt elf seid.«
»Hä?«, machte Loni.
»Ihr seid groß. Keine Kinder mehr, die Aliens wie den Krakenköpfen nachjagen«, erklärte Bo.
»Das ist eine gute Neuigkeit«, ging Mama lachend dazwischen. »Also, wer hat alles Frühstückshunger?«
»Ich, und zwar einen riesigen«, sagte Opa Paul.
»Na, dann los. Wer in fünf Minuten nicht am Tisch sitzt, muss den ganzen Tag die Küche aufräumen. Das gilt auch für Geburtstagskinder!«
Alle stürmten los. Der Tisch im Wohnzimmer war bereits gedeckt. Es gab Rührei und Müsli, Toast und Wurst, Käse und Pudding. Papa saß als Letzter auf seinem Stuhl.
»Papa muss!«, rief Jannik, und alle lachten. Dabei war es sowieso klar gewesen, weil Papa am Wochenende immer die Küche aufräumte.
Jannik und Loni futterten, als hätten sie seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Zwischendurch packten sie alle anderen Geschenke aus. Bücher, ein neues Brettspiel, ein Pulli für Loni, einer für Jannik und eine im Dunkeln leuchtende Sternenkarte für beide. Alles tolle Sachen, doch als Jannik zum Abschluss des Frühstücks den Geburtstagskuchen anschnitt, musste er endlich auf Bos Geschenk zurückkommen.
»Wie meinst du das, wir sind keine Kinder mehr?«
Bo biss in ein Stück Kuchen von Lonis Seite.
»Krakenköpfe, Weltraumschlachten«, sagte er kauend. »Das ist cool, klar. Aber wird euch das nicht mal langweilig?«
»Nö«, sagte Loni. »Wir haben gerade erst den nächsten Spielzug geplant.« Und das war ziemlich kompliziert gewesen.
»Und dann?«, fragte Bo. »Wenn ihr den gespielt habt?«
»Dann haben wir die Krakenköpfe besiegt.«
»Und nach den Krakenköpfen?« Bo ließ nicht locker. Worauf wollte er hinaus?
»Dann kommen andere.«
»Und immer wieder andere und andere. Aber es bleibt immer dasselbe«, sagte Bo und wischte wieder die grüne Strähne beiseite, die ihm andauernd ins Gesicht fiel. Sie rutschte sofort zurück. »Ich glaube, ihr braucht mal ein bisschen Abwechslung.«
»Ich auch.« Mama grinste. »Ich brauche dringend Abwechslung von euren Aliens.«
Papa und Janniks Großeltern lachten, und Hanne kicherte leise. Jannik seufzte. Die Erwachsenen hatten das mit den Rollenspielen noch nie verstanden, auch nicht bei Bo. Dass sein 17-jähriger Bruder alle zwei Monate ein Wochenende lang mit einer Gruppe von Leuten irgendwohin reiste, um auf einer Burg oder in einem Wald jemand zu sein, der er nicht war und der in einer anderen Zeit als ihrer lebte, das konnten sie sich einfach nicht vorstellen. Sie hielten es für Theater. Oder, noch schlimmer, für so eine Art Kleinkinder-Räuber-und-Gendarm-Spiel. Aber das war es nicht. Jannik wusste ganz genau, was Bo daran fand. Es machte riesigen Spaß. Für die Zeit, in der man in die ausgedachte Figur schlüpfte, war man sie. Voll und ganz. Und all diese Figuren hatten eine Geschichte. Gemeinsam mussten sie Rätsel lösen, gegen Feinde kämpfen, Abenteuer erleben.
Schon immer hatte Bo ihnen Geschichten erzählt. Zuerst waren sie bevölkert von Igeln, Mäusen, Amseln und Wurzelzwergen aller Art. Eines Tages dann hatte Bo den ersten Alien eingebaut. Das war, als er selbst anfing, sich mit Planeten zu beschäftigen, und jeden Nachmittag Schülerjobs machte, um sich ein Zimmer-Teleskop zusammenzusparen. Zuerst waren es nur friedliche Besucher gewesen. Und nur Loni und er. Dann war irgendwann das erste feindlich gesinnte Wesen in den Geschichten aufgetaucht, und ungefähr zur selben Zeit kamen Elias, Pinar und Kai dazu. Sie wohnten auch in ihrer Straße. Janniks Eltern waren mit denen von Elias befreundet, und Elias’ Vater, Klaus König, gehörte das Haus, in dem Jannik und Loni wohnten. Dieses und noch einige andere in der Straße. Sie nannten sie die »Königshäuser«. Elias’ Vater selbst hieß nur »Der König«. Pinar wohnte ein paar Nummern weiter, ebenfalls in einem Königshaus. Und Kai lebte in der Wohnung unter Pinar.
Dass sie die Geschichten von Bo nachspielten, war eines Tages einfach so losgegangen. Es war der Zeitpunkt gewesen, an dem sie sich hatten entscheiden müssen. Fanden sie es peinlich, immer noch bei Janniks großem Bruder auf dem Teppich zu sitzen und sich Geschichten anzuhören? Oder war es cool? Es war auch der Zeitpunkt gewesen, als Bo selbst mit den Rollenspielen angefangen hatte. Erst mit ein paar Freunden aus seiner Schule, später dann an den Wochenenden. Also hatten sie beschlossen, das auch zu machen. Und sie waren konsequent. Ihren Treffpunkt nannten sie den Mars. Ihre Straße war fortan die Milchstraße. Und seitdem hatten sie in der Milchstraße schon unzählige Aliens gefangen. Ganz plötzlich hatten auch ihre Eltern und die Nachbarn begonnen, von der Milchstraße zu sprechen. Das passte, fanden alle, denn die Milchstraße war wirklich so etwas wie eine ganz eigene Galaxie.
Während seine Eltern und Großeltern es sich mit Hanne auf dem Sofa gemütlich machten, kam Jannik auf das Wesentliche zurück.
»Was können die Adler?«, fragte er. Denn das war das Wichtigste bei den Rollen. Was konnten sie? Worin waren sie besser als alle anderen im Spiel?
»Das werdet ihr dann schon sehen«, sagte Bo und grinste geheimnisvoll.
»Wann?«, fragte Loni.
»Wenn ihr spielt.«
Und damit hatte er es geschafft. Jannik merkte, wie die Neugier in ihm hochstieg. Auf neue Rollen. Auf eine neue Welt.
»Los geht’s!«, rief Loni plötzlich und sprang auf. Sie rannte zurück in Janniks Zimmer, und bevor Jannik kapiert hatte, was los war, kam sie angezogen wieder heraus. Da endlich fiel der Groschen.
»Boah, Loni«, rief er und beeilte sich nun ebenfalls. Im Schlafanzug konnte er wohl kaum los. Aber er durfte auch nicht zulassen, dass Loni die Erste auf dem Mars war. »Du bist echt eine Plage! Wer hat dich eigentlich hier reingelassen?«
»Du«, sagte Loni ungerührt, während sie sich die Schuhe anzog. »Beziehungsweise ihr alle. Die gesamte Familie Adler. Vor elf Jahren. Kommst also ein bisschen zu spät, falls du dich beschweren willst.«
Loni lief zur Tür und verschwand aus dem Zimmer. Ihre Locken wippten, wie immer, wenn sie lief.
»He, wo willst du hin?«, rief Jannik, während er, einbeinig in der Jeans steckend, hinter ihr herhüpfte. Dabei wusste er es genau.
»Ich«, sagte sie, »gehe jetzt die anderen treffen. Keine Ahnung, was du machst.« Sie grinste, wedelte mit dem Adlerbuch, und schon war sie zur Wohnungstür raus. Jannik hörte, wie sie die Treppe hinunterlief, dann schlug die Haustür zu. Jetzt musste er sich wirklich beeilen, denn Loni durfte Elias, Kai und Pinar auf gar keinen Fall alleine von den Adlern berichten. Hastig kehrte er in sein Zimmer zurück und zog sich fertig an.
»Tschüss, bin weg!«, rief er kurz darauf durch den Flur.
»Stopp«, kam es als Antwort aus der Küche, dicht gefolgt von Janniks Mutter, die eine Tüte in der Hand hielt.
»Mama«, drängelte Jannik. »Ich muss los, die anderen warten schon.«
Janniks Mutter verkniff sich ein Grinsen. »War Loni also wieder schneller«, stellte sie fest. Dann drückte sie ihm die Tüte in die Hand.
»Geburtstagskuchen für alle«, sagte sie. »Wer auf fremden Planeten unterwegs ist, um die Menschheit zu retten, darf keinen leeren Magen haben. Und jetzt geh schon.«
Jannik warf ihr ein halbes Lächeln zu, während er in die Sneakers schlüpfte. Mama dachte immer voraus. Allerdings nicht ganz uneigennützig, das wusste Jannik. Sie würden spätestens in zwei Stunden Hunger bekommen und in Janniks Küche einfallen, denn seine Mutter machte einfach die weltbesten Stullen. An Samstagen aber hatte Mama ihren Freundinnentag und konnte keine fünf Raumfahrer dort brauchen. Denn meistens saßen dann Pinars und Elias’ Mütter und Susanne Wilke aus der Nummer 9 in der Küche und redeten. Manchmal, wenn sie Zeit hatten, waren auch Luisa und Hanne dabei. Meistens aber musste Kais Mutter in ihrem Café nach dem Rechten sehen, und Hanne arbeitete sowieso fast immer, weshalb Loni ja auch seit jeher mehr bei Jannik lebte als bei Hanne. Wegen ihres Freundinnentags hatte Janniks Mutter also vorgesorgt.
»Tschüss«, sagte Jannik noch einmal, hängte sich die Tüte ans Handgelenk und sah zu, dass er wegkam.
Als er vors Haus trat, empfing ihn, wie an jedem anderen Tag, das Geräusch der Druckerei am Ende der Straße. Die Druckmaschinen standen fast nie still, ihr leises Brummen war die Musik, die das Leben in der Milchstraße begleitete. Das Tor für die Angestellten befand sich genau neben Luisas Café.
Der Weg zum Mars führte dort allerdings nicht vorbei. Er war, entgegen allen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht weit. Jannik musste nur zwei Häuser weiter, in die Milchstraße Nummer 4. Im ersten Stock wohnte Elias. Aber dorthin wollte Jannik nicht. Er lief durch die Hintertür in den Garten. Das war anders als bei ihrem Haus. Es war auch anders als bei allen anderen Häusern in der Milchstraße. Die hatten nur Hinterhöfe. Den Garten der Nummer 4 hatte der König sich extra anlegen lassen, als er das Haus gekauft hatte und in die Wohnung im ersten Stock eingezogen war. Im Erdgeschoss hatte er sein Büro, von dem aus er seinen Besitz verwaltete.
Jannik öffnete die Tür. Sie quietschte leise. Durch den Spalt spähte er hinaus. Der Garten lag verlassen da. Kurz überlegte er, ob das vielleicht eine Täuschung war und irgendwo feindlich gesinnte Krakenköpfe auf der Lauer lagen. Es war sogar ziemlich wahrscheinlich an einem Samstagvormittag. Aber dann dachte er wieder an die Adler und dass Loni ihm womöglich zuvorkam.
Er hatte keine Wahl. Mit einem Ruck öffnete er die Tür ganz und trat auf den Rasen. Hatten sich die Bäume am anderen Gartenende bewegt? Nein, das war nur der Wind gewesen. War da ein Geräusch? Ach, bloß das Signal, dass sich bei der Druckerei das Tor öffnete. Jannik sprintete los.
Er rechnete mit einem Angriff. Wenn der kam, würde es heikel werden, Freund von Feind zu unterscheiden. Die Aliens tarnten sich neuerdings in Menschengestalt. Rasch näherte er sich den Bäumen. Noch immer war es still. Jannik spähte zum Haus zurück. Waren sie doch drin und lauerten hinter den Fenstern? Nein. Die waren leer. Wie dunkle Augen schienen sie auf ihn herabzuglotzen. Das ganze Haus war ein vieläugiger Zuschauer.
»Du bist echt ein Schisser, Jannik Adler«, schimpfte er sich selbst.
Er hatte die Bäume erreicht und duckte sich in den Schatten, den das dichte Blätterdach warf. Noch immer rührte sich nichts. Lauerten sie dort oben und hielten die Luft an? War Loni überhaupt schon da?
Da war die Leiter. Sollte er hinaufklettern und riskieren, ihnen direkt in die Falle zu gehen?
Elias hatte das Baumhaus zum achten Geburtstag bekommen. Es war eine Überraschung gewesen. Immer wenn Elias in der Schule war, hatte der König heimlich daran gearbeitet. Um sicherzugehen, dass sie es auch nachmittags nicht entdeckten, hatte er ihnen gesagt, sie dürften nicht zwischen den Bäumen spielen. Ein Fuchs habe dort seit kurzem seinen Bau und es sei zu gefährlich für sie. Sie hatten ihm geglaubt. Alle, bis auf Loni. Die hatte nachgelesen, ob Füchse wirklich so nah bei den Menschen wohnten. Sie taten es nicht. Gefährlich waren sie normalerweise ebenso wenig. Aber das hatte sie ihnen umsonst immer wieder erklärt. So war die Überraschung gelungen, und Elias hatte das Baumhaus tatsächlich erst an seinem Geburtstag entdeckt.
Sie waren noch am selben Nachmittag mit Sack und Pack dort eingezogen. Seitdem war es ihr Hauptquartier.
Jannik kletterte die Leiter hoch. Langsam, leise. Er traute sich kaum zu atmen. Das war es, wodurch sich die meisten Angreifer verrieten. Der Atem. Denn der kündigte sie an, ganz egal, wie leise sie sonst waren. Oben angekommen, guckte Jannik nicht nach unten. Der Mars lag nicht besonders hoch, aber hoch genug, um zittrige Knie zu kriegen. Die anderen kletterten die Leiter immer hinauf, als wäre es nichts. Jannik mochte sie nicht. Aber er musste, wie hätte er sonst den Mars beschreiten können? Er wartete einen Augenblick. Die Planetenkugeln des Vorhangs am Eingang schaukelten im Wind. Sie waren wie die Leuchtsterne über seinem Bett. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als alles angefangen hatte.
Jannik überlegte, was er tun sollte. Die Plastikplaneten klapperten beim Hindurchgehen. Spätestens dann würde er sich also auf jeden Fall verraten. Er kletterte auf die Plattform vor dem Eingang. Noch immer geräuschlos, noch immer auf alles gefasst. Wie weiter? Er krabbelte auf allen vieren voran, linste durch den Vorhang. Auf dem Mars war es dunkel. Jetzt war der Moment gekommen, es blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzusehen. Langsam streckte er die Hand aus und schob den Vorhang beiseite. Im säuberlich aufgefädelten Weltraum tat sich ein schwarzes Loch auf. Venus, Pluto, Jupiter und eine Reihe kleiner Sterne kollidierten miteinander. Das Weltall zog sich zusammen und beschwerte sich laut klackernd. Er rappelte sich auf und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch.
»Ha!«, brüllte er. Überrumpeln war immer die beste Taktik, wenn man vielleicht dabei war, in eine Falle zu tappen. »Stellt euch!«
Doch der Mars war leer. Durch die Ritzen zwischen den Holzlatten der Wände fiel Licht herein und malte ein Schottenkaro auf den Boden. Oder Gitterstäbe, dachte Jannik.
Die Kisten mit all ihren Sachen, die zusammengerollten Schlafsäcke für die Sommernächte, die sie hier verbrachten, ein paar leere Limoflaschen, alles war da, wo es sein sollte. Das war entscheidend. Auch wenn der Mars aussah wie ein einziger großer Verhau, Jannik kannte den Platz jedes einzelnen Teils, das sie hier oben abgestellt hatten. Und es sah nicht so aus, als wäre gerade erst jemand hier gewesen. Selbst die Hängematte in der Mitte des kleinen Raums hing bewegungslos herab.
Jannick lauschte. Bloß das Knistern der Kuchentüte an seinem Handgelenk und das leise Kratzen, wenn die Äste des Baumes im Wind an den Wänden entlangschrappten.
»Wo seid ihr?«, rief er. Seine Stimme klang viel zu laut in der Stille ihres geheimen Planeten. »Zeigt euch, ihr Krakenköpfe! Ich werde euch zur Strecke bringen.«
Rummmms!
Ein Geräusch, so laut wie ein Donner, ließ Jannik zusammenfahren. Er drehte sich um, aber es war niemand da.
Rummmms!
»Wo seid ihr?«, jetzt brüllte er. Es gelang ihm nicht, die Angst in seiner Stimme zu unterdrücken. Fehlte bloß noch, dass er piepste wie eine Maus.
»Hier!«, donnerte jemand. Das kam von oben. Jannik guckte zur Decke.
Rummmms!
Das Geräusch kam ebenfalls von oben. Wie waren sie denn …? Jannik ließ die Kuchentüte fallen und sprang zum Eingang. Aber die Leiter war weg.
»Was soll das?«, rief er. »Das ist nicht witzig!«
»Ha! Wer ist jetzt der Feigling?«, donnerte die Stimme erneut. Hier draußen, ohne von dem Wellblechdach des Mars gedämpft zu sein, klang sie verdächtig nach Elias.
Jannik lehnte sich hinaus, aber er konnte nichts sehen.
»Elias!«, rief er. »Lass das!«
Er guckte nach unten. Die Leiter lag im Gras neben dem Baum.
»Okay, dann springe ich jetzt!«, rief Jannik. Natürlich würde er den Teufel tun, der Baum war viel zu hoch, da würde er sich alle Knochen brechen. Aber es wirkte. Augenblicklich hörte Elias auf, das Dach als Trommel zu benutzen, und wie aus dem Nichts tauchten Loni, Kai und Pinar unten auf.
»Aha!«, rief Jannik ihnen zu. »Eine Meuterei.«
»Los, das reicht«, sagte Loni.
Pinar und Kai hoben die Leiter an und stellte sie wieder auf. Und in diesem Moment erschien Elias’ Gesicht oberhalb des Eingangs. Er lag bäuchlings auf dem Dach, ließ den Kopf nach unten hängen und grinste Jannik an.
»Na, hatte da wohl jemand Muffensausen?«
»Denkste«, sagte Jannik.
Elias grinste ihn so breit an, dass er lachen musste. Was für ein Hasenfuß er doch war. Die Leiter wackelte, und Kai kletterte ins Baumhaus.
»Du wolltest nicht wirklich springen«, sagte er.
»Und wenn doch?«, fragte Jannik.
»Das hättest du dich nicht getraut.« Loni erschien auf der Leiter.
»Vielleicht ja schon«, sagte Jannik, und als Pinar sich zu ihnen gesellte, fügte er hinzu: »Ich heiße Adler, schon vergessen? Tja, und Adler können fliegen.«
»Du bist ein Adler?« Elias, immer noch kopfüber, sah ihn zweifelnd an. »Ich habe noch nie einen Adler gesehen, der so viel Schiss vor allem hat wie du. Das mit deinem Nachnamen muss ein Versehen sein.«
Jannik sah zu Loni. »Fragt doch Loni. Die hat den Be weis, dass ich für das nächste Abenteuer mehr als bereit bin.«
»Ach ja, habe ich den?« Loni guckte, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach.
»Und wie du den hast. Los, Leute, holt ihn euch!«
Und damit hatte er den Spieß umgedreht. Denn augenblicklich stürzten Kai und Pinar sich auf Loni und kitzelten den Beweis aus ihr heraus.
»Hilfe«, rief Loni, die schrecklich kitzelig war. »Stopp, stopp! Ich gebe auf.«
Die anderen ließen von ihr ab, und Loni zückte das Notizbuch.
»Was ist das?«, fragte Pinar.
»Das …«, begann Jannik. »Das sind die Adler. Kommt her und staunt!«
»Noch mehr Adler?« Elias schwang sich vom Dach zu ihnen herein. »Also, einer reicht mir.« Er rempelte Jannik an. Jannik boxte zurück. Nichts davon tat weh.
»Die Adler sind die Zukunft«, sagte er bedeutungsvoll.
»Hä?«, machte Kai, rückte aber neugierig näher. Zufrieden ließ Jannik sich in die Hängematte fallen. Das lief genauso, wie er es sich ausgemalt hatte.
»Jetzt sag schon.« Pinar ließ sich neben ihn fallen und griff nach dem Notizbuch. Schnell zog Jannik es weg.
»Die Adler …«, begann er wieder, »werden die Aliens ablösen.«
»Warum?«, fragten Kai, Pinar und Elias im Chor.
»Weil wir keine Kinder mehr sind, sagt Bo.« Loni machte es sich auf dem Sitzsack in der Ecke bequem.
»Und Aliens sind kindisch?«, fragte Kai. Er wollte empört klingen, doch er konnte die Aufregung nicht verbergen.
»Das hat Bo nicht gesagt«, lenkte Jannik ein.
»Aber ich mag die Aliens«, sagte Elias.
»Du kennst die Adler noch nicht«, sagte Jannik.
Feierlich schlug er das Notizbuch auf und las ihnen den Anfang der Geschichte vor.
»Und weiter?«, fragte Elias sofort, als er geendet hatte.
»Weiter nichts«, sagte Loni. »Das werden wir erfahren, wenn wir die Adler spielen. Sagt Bo.«
»Aber ich kenne mich mit Adlern gar nicht aus«, warf Pinar ein. »Mit dem Weltraum schon.«
Auch Kai schien nicht begeistert. »Ist das so ’ne Öko-Welt? Wäre ja typisch Bo.«
Das stimmte. Bo hatte nicht bloß was gegen Müll. Er hatte sich schon für den Umweltschutz engagiert, bevor alle anderen damit angefangen hatten. Einmal die Woche ging er dafür zu einem Treffen einer großen Umweltorganisation. Da planten sie dann Aktionen. Manchmal stellten sie sich bloß in die Fußgängerzone und verteilten Infozettel, auf denen die Leute nachlesen konnten, wie sie umweltbewusst einkaufen konnten oder solche Dinge. Aber es gab auch Aktionen, von denen Bo seinen Eltern nichts erzählte. Zum Beispiel, wenn seine Gruppe und er sich mit Fahrradschlössern an die Gleise irgendeiner Bahnstrecke ketteten, damit ein Zug nicht durchkam, der radioaktives Material geladen hatte. Aber Jannik wusste Bescheid. Und Loni.
»Nein, das ist keine Öko-Welt«, widersprach Jannik Kai, obwohl er es selbst noch gar nicht sicher wusste. Er blätterte um.
Auf den nächsten Seiten waren eine Menge Informationen über Adler zu finden. Welche Arten es gab. Was sie so besonders machte. Jannik hatte nicht gewusst, wie toll sie waren. Sie konnten unglaublich hoch fliegen, sahen gestochen scharf, waren ausdauernd, hatten Kraft und waren vor allem nicht zähmbar wie andere Vögel.
Die Welt der Adler war auch die der Ritter, der Könige, der Armeen. Jeder, der etwas auf sich hielt, hatte früher den Adler in seinem Wappen getragen, sogar schon die römischen Legionäre. Ein herrschaftliches Tier. Und das gab ihnen Bo nun als neue Welt für ihre Spiele. Was für eine super Idee!
»Also, ich weiß schon genau, was ich sein werde«, sagte Jannik, dabei hatte er eigentlich mindestens fünf Figuren im Kopf, die er toll fand.
»Ach ja, und was?«, fragte Elias.
»Ein Raubritter vielleicht?«, erklärte Jannik. Elias’ Augen funkelten. Er hatte angebissen.
»Ich könnte ein einsamer Waldläufer sein, der sich einen Adler zum Freund gemacht hat«, überlegte Loni.
»Ich weiß nicht«, sagte Kai. Er war noch nicht überzeugt.
»Kai, guck doch mal.« Jannik schob ihm das Notizbuch hin. »Die Jagd auf die Aliens war cool. Aber das hier … diese Welt … ist viel …« Er stockte.
»Größer«, half Loni ihm.
»Größer«, sagte Jannik. Genau das war es.
Kai hatte die Kuchentüte entdeckt, die Jannik fallen gelassen hatte, und zog sie mit dem Fuß zu sich heran.
»Also, ich finde, das klingt jetzt erst mal noch nicht so toll«, fand auch Pinar. »Das sind tausend Welten. Da können wir uns ohne eine Geschichte doch nie auf eine einzige einigen.«
»Überlegt doch!«, rief Jannik laut. »Bisher waren wir entweder Raumschiffcrew oder Alien. Aber hier können wir viel mehr sein!« Er warf Loni einen Blick zu. Sag was, versuchte er sie zu beschwören.
Aber Loni zuckte mit den Schultern und stand auf.
»Also gut«, sagte sie. »Wenn ich mich nicht irre, sind noch zwei Krakenköpfe unterwegs. Wir müssen ihnen heute auf die Spur kommen.« Sie blickte vom einen zum anderen. Prüfend. Der Captain versuchte herauszufinden, wer auf seiner Seite war.
»Wir sollten uns aufteilen«, schlug Kai vor und war wieder Feuer und Flamme. Jannik steckte das Notizbuch ein. Es stand zwar drei gegen zwei, aber so lief das bei ihnen nicht. Sie machten eine Sache nur, wenn alle einverstanden waren. Der Adler war vorerst nicht gelandet.
Und Kais Idee war okay. Nur wenn sie die Krakenköpfe in dem Glauben ließen, sie hielten sie für einen Teil der Crew, würden sie sie früher oder später enttarnen können. So etwa ging auch Lonis und seine Strategie.