12,99 €
Die große Einsamkeit und eine Taschenlampe als Rettung in der Not. Ein spannender Krimi und eine Geschichte über Zusammenhalt, Freundschaft und die Wichtigkeit des Hinsehens Im "Kaninchenbau", wie das Haus, in dem die Zwillinge Nikosch und Nini wohnen, genannt wird, ist immer was los. Man kümmert sich umeinander, die Kinder wachsen gemeinsam, man kennt sich. Aber dann ist von einem Tag auf den anderen alles anders, niemand darf raus, keine Schule, keine Freunde. Das ist nicht nur langweilig, das ist auch anstrengend. Schnell werden die Kinderzimmer viel zu eng, die schulfreie Zeit stressig. Und was soll man denn die ganze Zeit machen? Nikosch sieht wie seine Schwester aus dem Fenster, und da fällt ihm alles Mögliche auf. Zum Beispiel, dass sich in dem nagelneuen, superschicken Haus gegenüber etwas tut. Nachts blinkt dort immer wieder eine Taschenlampe. Bald erkennen Nikosch und Nini: Das ist ein Morsecode. SOS! Da ist jemand in Gefahr!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 196
Uticha Marmon
Das stumme Haus
FISCHER E-Books
Ist euch schon mal ein lebendig gewordenes Marshmallow begegnet, gepaart mit einer grünen Seifenblase? Nein?
Seht mich an. Ich bin genau das.
Und habt ihr schon mal versucht, in diesem Aufzug einen Einbrecher dingfest zu machen? Nein, habt ihr nicht, schon klar. Ich auch nicht. Aber genau das ist der Plan. Kein guter, wie sich gerade herausstellt.
»Virus, bist du da?«, knistert Ninis Stimme aus dem Funkgerät.
Nicht so laut. Das hört man ja noch drei Straßen weiter. Aber ich komme leider nicht an den Knopf, um Nini leiser zu drehen. Die Seifenblase, ihr wisst schon.
»Virus 1, hier ist, äh, auch Virus 1«, plärrt Nini noch mal. »Bitte kommen!«
Witzig.
Diese ganze Sache war die dümmste Idee der Welt. Selbst wenn wir den Einbrecher heute Nacht enttarnen – nur für den Fall, dass er taub und bei Ninis Geplärre nicht schon längst über alle Berge ist: Wie soll ich ihn denn so verfolgen? Die Seifenblase ist mal das eine. Der Marshmallow-Anzug das andere. Aber das ist echt noch nicht alles. Bevor ich rennen kann, muss ich erst mal aufstehen. Und das gelingt mir leider nicht. Es ist nicht zu glauben. Vor kurzem bin ich noch schwerelos in der Ewigkeit herumgeschwebt, und jetzt liege ich hier auf dem Rücken und zapple wie ein umgekippter Käfer. Vor zehn Minuten habe ich es wenigstens geschafft, mich vom Bauch in diese Position zu rollen. Ich dachte, das wäre schlau. War es nicht. So herum ist die ganze Sache noch viel unbequemer und aussichtsloser.
»Nikosch! Mann, wo bist du?!«, ruft Nini aus dem Lautsprecher.
Ich würde meine Schwester zu gerne fragen, wo zum Geier sie ist. Aber das Funkgerät liegt irgendwo unter meinem Po, also unter dem Gummiball, in dem ich stecke. Gleich bei meiner Brille. Wie die beiden da hingekommen sind?
Bevor ich euch das erzähle, müsst ihr erst noch ein paar andere Sachen wissen.
Erstens: Wir wohnen im Kaninchenbau. Wir, das sind Mama, Papa, Natti, die eigentlich Natalja heißt, der Zwerg, der noch in Mamas Bauch ist und darum keinen Namen außer Zwerg hat, meine mir total unähnliche Zwillingsschwester Nini, die eigentlich Nina heißt, und ich, Nikosch. Ich heiße eigentlich Nikolai. Nikolai Wolkow.
Denkt nicht, das hier wird so eine Phantasiegeschichte, in der wir alle Tiere sind und ihr am Ende was gelernt habt über euch oder die Welt. Nein, das hier ist echt. So echt, dass mir ein bisschen Phantasie gerade ganz lieb wäre. Aber man bekommt eben nicht immer, was man sich wünscht, richtig? Der Kaninchenbau ist darum jedenfalls kein Erdloch. Das ist unser Haus. Den Namen habe aber nicht ich erfunden und auch Nini nicht, obwohl das gut sein könnte. Das Haus wird irgendwie schon immer so genannt. Es war mal als Schimpfwort gedacht, weil hier auf fünf Stockwerken so viele Leute leben, dass man echt den Überblick verlieren kann.
Aber alle wohnen gerne hier. Darum nennen wir unser Haus auch selbst den Kaninchenbau. Kaninchen sind doch auch ganz niedlich, oder? Ihr sagt aber nicht weiter, dass ich das finde! Ehrenwort?! Das könnte ernsthaft meinen Ruf gefährden.
Manchmal ist es bei uns ziemlich laut, weil die Wohnungen für die meisten Familien zu klein sind. Darum stehen immer ein paar Wohnungstüren offen, und es sitzt irgendwer auf den Stufen oder im Hinterhof, unterhält sich oder telefoniert. Manche kommen auch einfach in den Hof, um die Sonne zu sehen. Irgendwer hat mal einen großen Stapel Plastikstühle gekauft. Die stehen kreuz und quer im Hof, aber man weiß immer, wer zuletzt mit wem zusammensaß. Man erkennt es an ganz winzigen Dingen: eine Kaffeetasse, die neben einem Stuhl vergessen wurde. Ein Sitzkissen. Ein roter Nagellackkratzer. So was eben. Aber sie erzählen einem ziemlich viel über die Bewohner des Kaninchenbaus.
Zum Beispiel dass Banu Shirvani, die Mutter von Ajas aus dem Erdgeschoss, immer Schlappen mit schwarzen Sohlen trägt. Die haben an fast allen Stuhlbeinen schon Striemen hinterlassen. Oder dass Oma sich jeden Morgen ein Butterbrot mit Erdbeermarmelade schmiert, um es im Hof zu essen. Ihren Lieblingsplatz erkennt man daran, dass die Armlehnen klebrig sind. Der rote Nagellack stammt von Frau Lehnhardt, die im ersten Stock wohnt. Die Lehnhardts sind zu viert. Wenn man nur die Menschen zählt. Sie haben auch noch zwei Katzen und einen Dackel. Und einen Hamster in dritter Generation. Die ersten beiden Nager haben sich mit den Katzen nicht verstanden. Bei den Lehnhardts müsst ihr eigentlich nur Jan kennen und vielleicht noch seine Schwester Lena.
Die ganzen bunten Kleckse auf den Stühlen stammen von Severina, Alex und Leonora. Die wohnen im dritten Stock. Alex ist der Cousin von Leo und Sevi, und alle drei können richtig gut malen. Die werden bestimmt mal Graffiti-Sprayer. Im vierten wohnen keine Kinder. Da sind Oma und Opa Stein, die Großeltern von Alex, Sevi und Leo. Die heißen aber nur Oma und Opa. Sie sind so jung, dass man sie garantiert nicht für Großeltern halten würde, wenn man es nicht genau wüsste. Neben Oma und Opa Stein wohnen noch andere Steins. Auch lauter Cousinen und Cousins, allerdings von Oma Stein, nicht von Alex, Sevi und Leo.
Es gibt auch vier Wohngemeinschaften im Haus mit Studenten. Die wechseln aber so oft, dass man da wirklich keinen Überblick behalten kann. Und dann sind da noch Steffi und Rieke, ganz unten neben den Shirvanis, die sind neu eingezogen und kriegen, wie wir, bald ein Baby. Unten wohnen auch noch die Meiers, Siggi und Gerlinde. Die haben eine Tochter, aber sie ist schon lange ausgezogen. Dann gibt es noch die Yilmaz’ im dritten Stock. Die haben auch Zwillinge – noch ganz winzige.
Ein anderer Nachbar, den man den Innenhofstühlen auch ansieht, ist Ralf. Ralf wohnt zur Untermiete bei Oma und Opa. Sonst hätten sie sich ihre Wohnung im ersten Stock neben den Lehnhardts nicht mehr leisten können. Weil die Miete teurer geworden ist. Was seltsam ist, weil sich sonst im Kaninchenbau nichts verändert hat. Jedenfalls hat sich Opa eines Morgens zur Universität aufgemacht. Er hat dazu ein Hemd angezogen und seine besten Schuhe. Sogar die Krawatte. In der Uni hat er einen Zettel aufgehängt. Und schon zwei Tage später ging die Schlange der Studenten, die sich das Zimmer ansehen wollten, einmal um den Block. Warum sich Oma und Opa für Ralf entschieden haben, weiß ich nicht. Vielleicht weil er es nicht seltsam fand, dass er in ihrem Schlafzimmer wohnen sollte. Natürlich haben Oma und Opa ihr Bett rausgeräumt, als Ralf eingezogen ist. Aber der Kleiderschrank ist fest an der Wand, den mussten sie drin lassen. Jetzt holt Ralf seine Kleider jeden Morgen aus der Einbauschrankwand im Wohnzimmer und Oma und Opa ihre aus dem Schrank in Ralfs Zimmer. Aber das klappt gut, Ralfs Kleider stören sich nicht daran, im Wohnzimmer zu liegen.
Ich finde Ralf irgendwie unheimlich. Nini und Paula auch. Ganz blass und dünn ist er, und er guckt immer schrecklich ernst. Alle paar Sekunden schiebt er seine Brille zurück auf die Nase, was aussichtslos ist, weil sie gleich wieder runterrutscht. Und er starrt immer so seltsam vor sich hin. Also, da sind wir uns einig. Mit Ralf stimmt was nicht.
Leider sind wir die Einzigen im Kaninchenbau, die das so sehen. Alle anderen fliegen auf ihn. Weil Ralf ihnen bei all den komplizierten Briefen hilft, die sie nicht verstehen. Meistens sind es welche vom Amt. So offizielle, wisst ihr? Wichtige Post, in der steht, dass man was Bestimmtes tun muss, und zwar sofort, sonst kostet es Geld. Meistens ist das jedenfalls so. Für Ralf sind die aber ein Klacks. Er studiert Jura. Da hat er den ganzen Tag mit Sätzen zu tun, die wie ein Geheimcode klingen. Zum Beispiel so was wie »Die Wohnung ist unverletzlich«. Das hat Ralf neulich mal zu Kamran gesagt. Warum der das wissen wollte? Keine Ahnung. Wer Kamran ist, erzähle ich euch später. Und warum sich eine Wohnung nicht verletzen kann? Das dürft ihr mich nicht fragen. Geheimcode. Sag ich doch. Im Übrigen sehe ich das seit neuestem auch anders.
Die Plastikstühle im Hof verraten jedenfalls immer durch Kaffeeflecken, dass Ralf auf ihnen gesessen hat. Er trinkt eine Unmenge davon, wenn er hier draußen über seinen Büchern und den Briefen sitzt. Manchmal machen Nini, Paula und ich auch draußen Hausaufgaben. Das zeigen die Tintenflecken auf den Sitzflächen. Noch öfter als im Hof sitzen wir zum Hausaufgabenmachen allerdings im Treppenhaus. Zumindest im Frühling, im Herbst und natürlich im Winter. Vor unserer Wohnungstür steht ein kleiner Tisch. Den benutzt Mama, wenn sie frei hat, für ihren Kaffeeklatsch mit Vicky und Neneh, der Mutter von Ebo aus dem zweiten Stock. Vicky wohnt nebenan und ist die Mutter von Paula. Und die ist Ninis beste Freundin. Meine auch. Wobei auch Ebo und Ajas nah dran sind, meine besten Freunde zu sein.
Das sind übrigens immer noch nicht alle. Im zweiten Stock wohnen auch noch Çilgins. Das sind Mehtap und Filiz mit ihren Eltern.
Neneh sagt über uns Kinder im Haus immer, wir würden summen und brummen wie die Bienen. Das ist nicht ganz verkehrt. Irgendwie sind wir eher ein Bienenstock als ein Kaninchenbau. Aber Bienen eignen sich wohl nicht so gut für ein Schimpfwort, weil doch jeder weiß, dass Bienen wichtig sind.
Jedenfalls habt ihr jetzt eine Ahnung davon, wie viel bei uns los ist. Jeder kennt jeden, und einmal im Jahr haben wir sogar ein Fest, bei dem dann das ganze Treppenhaus ein einziges riesiges Buffet ist. Alle machen mit, bis auf Herrn Friedrich. Der kann niemanden im Kaninchenbau leiden. Aber das macht nichts. Wir mögen ihn auch nicht besonders.
Eines steht fest: Wer findet dass »Kaninchenbau« wirklich ein Schimpfwort ist, der hat sicher nie einen Fuß hier reingesetzt.
Oh, oh! Das war jetzt ganz schön viel, was? Ihr seid verwirrt wegen der ganzen Namen? Keine Sorge, da gewöhnt ihr euch schon dran. Hab ich ja auch.
Es war ein stinknormaler Tag, an dem es damit losging. Womit es losging?
Immer langsam, ich komme ja gleich dazu.
Also. Es war ein ganz normaler Tag. Und das an sich ist schon seltsam. Man denkt doch immer, wenn sich alles verändert, müsste man das merken. Vielleicht weil die Luft anders riecht oder so. Aber das stimmt nicht. Jedenfalls bei uns nicht. Die Luft im Kaninchenbau roch wie immer: nach Essen, dem Parfüm von Opa Stein, verschwitzten Turnschuhen und auch ein bisschen nach nassem Hund und Kuchen.
»Nini, deine Sporttasche!«, rief Mama uns hinterher. Wir hatten uns gerade auf den Weg zur Schule gemacht. Papa war schon kurz vorher losgegangen. Wie immer hatte er einen letzten Blick in den Spiegel geworfen und gesagt: »Man weiß nie, was der Tag so bringt.« Damit meinte er, dass er mal wieder sehr gut angezogen war. Papa findet, man muss jeden Tag so angezogen sein, dass man für alles bereit ist. Ich denke das auch, darum trage ich fast jeden Tag ein cooles Comic-Shirt. Papa findet das genau richtig. Mama eher nicht so. Aber ich habe so viele davon, was soll sie sagen?
»Wirf!« Nini blieb stehen und streckte die Arme aus. Mama verdrehte die Augen, aber sie warf die Tasche über das Treppengeländer zu uns herunter. Wir waren schon auf halbem Weg in den vierten Stock. Nini fing die Tasche mit einer Hand, und weiter ging es.
Weil wir ganz oben im Kaninchenbau wohnen, müssen wir 97 Stufen hinter uns bringen, bis wir aus dem Haus raus sind. 19 Stufen pro Stockwerk. Nur zwischen dem vierten und dem fünften Stock sind es zwei mehr. Warum das so ist? Keine Ahnung, ehrlich! Es sind 21 Wohnungen, an denen wir auf dem Weg nach unten vorbeikommen. Paulas gleich neben unserer ist die erste. Die, in der Ajas und seine Familie wohnen, die letzte ganz unten im Erdgeschoss.
»He! Wartet auf mich!«, rief Paula. Sie schlüpfte oben vor ihrer Wohnung in die Schuhe und rannte uns nach.
»Guten Morgen, Paula«, hörten wir Mama sagen.
»Hallo, Katinka!«, rief Paula und polterte die Treppe hinunter.
Nini und ich waren schon im dritten Stock, als Paula uns einholte.
Ich klopfte an die Türen von Alex, Leo und Sevi.
»Wir können«, sagte ich dann zu Nini. Sie schwang sich aufs Treppengeländer. Paula und ich machten es ihr nach, und wir rutschten die nächsten 19 Stufen runter in den zweiten Stock, was Mama niemals sehen darf, und ihr auch nicht nachmachen solltet, wenn ihr nicht wirklich gut darin seid! Paula klingelte bei den Abioyes und Nini bei den Çilgins.
»Na endlich!«, rief Ebo, als er die Tür aufriss. Hinter ihm in der Wohnung stritten sich seine kleinen Brüder. Filiz und Mehtap waren auch schon fertig. Wir waren echt spät dran heute. Unten hörten wir Jan und Lena zur Tür rauskommen. Auch Sevi, Alex und Leo holten gerade zu uns auf. Laut wie eine Gerölllawine rollten alle nach unten. Nur ich nicht. Wegen Frau Kirchner. Die wohnt auch im zweiten Stock und immer, wenn morgens die Schullawine losbricht, guckt Frau Kirchner zur Tür raus, um uns einen schönen Tag zu wünschen und danach Herrn Friedrich zu beruhigen, der neben den Çilgins wohnt und sich jeden Morgen über den Lärm aufregt. Meistens drückt sie einem von uns dann eine zugeknotete Supermarkttüte in die Hand, damit wir sie mit runternehmen. In Supermarkttüten verpackt Frau Kirchner ihren Müll. Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß und geht nur noch raus, wenn irgendein Kaninchen Zeit hat, mit ihr spazieren zu gehen. Eigentlich ist alles nicht mehr so gut bei ihr. Nur ihre Gedanken, die rasen noch immer durch ihren Kopf, als wären sie auf der Flucht, sagt sie immer. Den Müll nehmen sie aber natürlich nicht mit.
Wegen Frau Kirchner also machte ich auch an diesem Morgen langsamer, obwohl ich eigentlich keine Zeit hatte. Aber sie steckte nicht den Kopf raus. Dafür ging, wie jeden Morgen, die Tür von Herrn Friedrich auf. Schnell machte ich, dass ich wegkam.
»Frau Kirchner war nicht da«, bemerkte ich, als ich die anderen eingeholt hatte. Ich musste es ihnen sagen, einfach weil es anders als sonst war.
»Dann hat bestimmt schon jemand vor uns den Müll mitgenommen.« Paula zuckte die Schultern.
»Kann sein«, sagte ich. Trotzdem kam es mir seltsam vor, dass sie uns nicht guten Morgen gesagt hatte. »Ob sie krank ist?«
»Sie hat bestimmt bloß verschlafen«, sagte Nini. »Und jetzt hör auf zu trödeln. Oder hast du Lust auf eine Standpauke vom Tanzer?«
Hatte ich nicht. Der Tanzer ist unser Klassenlehrer und zu allem Überfluss auch noch für Mathe zuständig. Und er hat mich auf dem Kieker. Weil er niemanden mag, der Mathe nicht kapiert. Und ich bin wohl der allergrößte Mathe-Nicht-Kapierer von allen. Ja, darin bin ich echt gut. Ansonsten fällt mir nicht so viel ein, worin ich gut bin. Jedenfalls nichts, was wir in der Schule lernen. Ich war also auch ohne den Tanzer nicht scharf darauf, zu spät zu kommen. Ihr kennt das vielleicht. Falls nicht, kläre ich euch gerne auf. Zuspätkommen zieht bei einem wie mir immer ein großes Drama nach sich. Erst in der Schule und dann zu Hause, wenn Mama und Papa wieder mal einen Anruf kriegen.
Ich legte einen Zahn zu, um nicht zurückzufallen.
»Hallo«, murmelte Ajas müde, als wir ihn im Erdgeschoss überholten. Ajas kommt wirklich jeden Morgen zu spät. Er geht in unsere Parallelklasse, zusammen mit Ebo und Jan, aber dass er immer zu spät kommt, wissen Nini, Paula und ich trotzdem. Im Kaninchenbau bleibt nichts geheim. Schon gar nicht eine Klassenlehrerin, die persönlich vorbeikommt, weil nie jemand ans Telefon geht. Kann ja auch keiner rangehen. Die Shirvanis haben gar kein Telefon.
»Los, Ajas. Beeil dich!«, rief Paula ihm zu. Ajas nickte. Sonst passierte nichts. Jedenfalls nichts in der Art, dass er schneller wurde oder so.
»Na gut«, sagte Nini ungeduldig. »Bis später.«
Wir verließen das Haus und rannten die Straße runter. Unsere Gruppe wurde immer größer, weil auch alle Kinder aus den Nachbarhäusern sich auf den Weg machten.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite stand ein Lastwagen mit lauter Kartons davor.
»Sieh an, ein neuer Nachbar«, rief Nini.
»Ach, den verschluckt das Weiße Loch doch sowieso gleich wieder«, meinte Paula.
Die Weißen Löcher. Diesen Namen haben wir den Häusern auf der anderen Straßenseite gegeben. Sie sind nagelneu und schneeweiß, sehen aus wie einzelne Klötzchen, und allesamt haben sie dunkle Fenster in den weißen Wänden, hinter denen man nie jemanden sieht. Dass zumindest in zweien davon schon Leute wohnten, war bis zu diesem Tag nur an den beiden teuren Autos zu erkennen, die davor parkten. Einen größeren Gegensatz als die Weißen Löcher kann es zu den Häusern auf unserer Straßenseite gar nicht geben. Früher war dort eine Wiese, die nie gemäht wurde und auf der es viel Gehölz und Gestrüpp gab, in dem man sich verstecken konnte. Unser Spielplatz. Hier haben wir mit allen Kindern aus der Nachbarschaft gespielt. Und jetzt bauen sie mehr und mehr von diesen Klötzen, in die wohl immer nur eine einzige Person einzieht. Dabei hätten da locker zwei Familien drin Platz. Und selbst die würden sich wahrscheinlich aus den Augen verlieren.
Wie lange man da wohl bräuchte, um vom Bett zum Frühstückstisch zu kommen?
»Guckt genau hin«, rief ich Nini und Paula zu. »Die Kisten sind das Einzige, das wir jemals von unserem Nachbarn zu Gesicht kriegen werden.«
Lachend rannten wir weiter. Als wir in der Schule ankamen, schwärmten wir Kaninchen in unterschiedliche Richtungen auseinander. In letzter Sekunde vor dem Klingeln schlitterten Paula, Nini und ich in unser Klassenzimmer. Vom Tanzer war noch weit und breit nichts zu sehen.
Wieder was, was heute nicht stimmt, dachte ich, weil der Tanzer sonst immer überpünktlich ist. Aber dann vergaß ich diesen Gedanken sofort wieder, weil stattdessen Frau Niemann, unsere Englischlehrerin, hereinkam. Sie schloss die Tür, stellte sich vors Lehrerpult und guckte uns nachdenklich an. Überlegte sie, wann sie uns schon mal gesehen hatte? Falls ja, erinnerte sie sich wohl plötzlich daran, dass das erst gestern gewesen war, als sie uns diesen fiesen Überraschungstest reingedrückt hatte.
»Guten Morgen«, sagte sie ernst. Alles klar, der Test war in die Hose gegangen.
»Guten Mooorgen«, murmelten ein paar von uns zurück. Frau Niemann, die sonst immer darauf besteht, dass wir sie ordentlich begrüßen, nickte.
Auch seltsam, schoss es mir durch den Kopf. Schon die dritte Sache. Dabei war der Tag noch gar nicht so alt.
»Also, ihr Lieben, Herr Tanzer ist leider krank«, erklärte Frau Niemann endlich, warum sie hier war. »Ich werde ihn vorerst vertreten.«
Nini vor mir schnappte nach Luft, und Paula neben ihr verschluckte sich, weil sie gerade etwas getrunken hatte. Sie fing schrecklich an zu husten, was ihr einen sehr merkwürdigen Blick von Frau Niemann einbrachte.
»Paula, fühlst du dich nicht gut?«, fragte sie und ging sofort zum Fenster, um frische Luft reinzulassen.
»Ich … doch, alles bestens«, röchelte Paula. Frau Niemann hatte anscheinend Mühe, ihr das zu glauben. Sie blieb am Fenster stehen und fächelte frische Luft in Paulas Richtung. Dabei machte sie den Mund auf und zu wie ein Fisch. Um zu kapieren, wie seltsam das war, müsst ihr wissen, dass Paula, Nini und ich gleich bei der Tür sitzen und die Fenster auf der anderen Seite des Raums sind. Glaubte Frau Niemann wirklich, dass irgendwas von ihrem Gefächele bei Paula ankam? Und warum schnappte sie selbst so seltsam nach Luft? Es dauerte ein bisschen, aber irgendwann beruhigte sie sich. Dann gab sie uns erst mal den Test zurück. Ich fand meine Vier ganz gut. Vier heißt doch »ausreichend«. Also ist alles in Ordnung, oder? Aber Frau Niemann sah das natürlich nicht so. Ninis Eins minus war ihr allerdings auch nicht gut genug.
»Nina, du bist so ein kluges Mädchen. Wenn du dich nur mal etwas mehr anstrengen würdest …«, sagte sie und hielt Ninis Heft fest, obwohl Nini schon längst danach gegriffen hatte. So zerrten sie beide an dem armen Heft, bis Nini endlich »Ja« sagte, damit Frau Niemann losließ. Da fällt einem doch echt nichts mehr ein. Eine Eins minus! Mal ehrlich!
Wir hatten dann noch Sport und Deutsch und Musik. Weil es ein Mittwoch war, hatten wir wenigstens nachmittags frei. Nini, Paula und ich machten uns auf den Heimweg. Ajas und alle anderen Kinder aus dem Kaninchenbau essen in der Schule. Auch die meisten aus den Nachbarhäusern bleiben zum Mittagessen dort. Ein Glück, dass ich das nicht muss, weil Oma und Opa für uns kochen. Auch noch in der Schule essen. Wie hält man das denn aus?
Wir marschierten also nach Hause. Der Lastwagen war weg.
»Wollen wir noch mal bei Frau Kirchner vorbeigucken?«, fragte ich die Mädchen, als wir im Treppenhaus waren. Nini und Paula waren sofort einverstanden.
»Hallo, Frau Çilgin!«, riefen wir im Chor, als wir in den ersten Stock kamen. Frau Çilgin putzte gerade die Treppe. Sie ist so was wie unsere Hausmeisterin. Wenn irgendwo im Kaninchenbau was kaputt ist, muss man nur bei ihr klingeln, und sie zückt den Schraubenzieher. In null Komma nichts funktioniert alles wieder.
»Selam, Kinder«, flötete Frau Çilgin. Sie hat immer gute Laune, und das, obwohl sie fünf Stockwerke putzen muss. »Später gibt’s Lokum, kommt vorbei.«
»Machen wir, Frau Çilgin!«, rief Paula. Frau Çilgins Lokum mögen alle im Haus. Lokum kennt ihr nicht? Klar, das habt ihr bestimmt schon mal gesehen. Das sind diese bunten Geleewürfel. Meistens sind da Kokosraspeln drum rum. Lecker, kann ich euch sagen!
Im zweiten Stock klingelte Nini bei Frau Kirchner. Wir warteten.
»Sie sitzt sicher auf ihrem Sofa«, sagte Paula. Das konnte sein. Bis sie aus dem riesigen Ding mit den superweichen Polstern aufgestanden war, dauerte es immer seine Zeit.
Aber nicht so lange, dachte ich.
»Versuch es noch mal«, sagte ich zu Nini. »Vielleicht hat sie es nicht gehört.«
»Oder sie ist auf dem Klo«, kicherte Paula.
Nini drückte noch einmal die Klingel. Endlich hörten wir sie kommen. Knarz, knarz, tock. Knarz, knarz, tock. So klingt es, wenn Frau Kirchner läuft. Zwei Schritte und dann ihr Gehstock. Zwei Schritte und dann ihr Gehstock. Sie hatte die Tür erreicht. Aber sie machte uns nicht auf. Stattdessen bewegte sich die Briefklappe. Das ist ein Schlitz in der Tür, durch den früher die Post geschoben wurde. Jetzt haben wir richtige Briefkästen unten im Haus, aber die meisten davon sind kaputt, weil mal wer den Schlüssel verloren und seinen Kasten aufgebrochen hat, oder einfach so, weil sie eben auch nicht mehr ganz neu sind.
Ich bückte mich, bis mein Mund auf Höhe der Briefklappe war. »Frau Kirchner, wir sind’s bloß!«, rief ich hindurch. »Nina und Nikolai von ganz oben. Und Paula.«
Die Klappe machte, was Klappen eben so machen. Sie ging zu.
»Frau Kirchner?«, fragte ich.
»Ich darf euch nicht aufmachen«, kam Frau Kirchners Zitterstimme durch die Tür.
»Warum nicht?«, fragte ich.
Die Klappe klappte wieder auf.
»Es geht nicht«, sagte Frau Kirchner. Dann klappte die Klappe wieder zu, und wir hörten Frau Kirchner weggehen. Knarz, knarz, tock.