Als wäre nichts geschehen - Liebesroman - Marie Louise Fischer - E-Book

Als wäre nichts geschehen - Liebesroman E-Book

Marie Louise Fischer

0,0

Beschreibung

Dramatische Liebesgeschichte: Ihr ganzes Leben lang schon steht Marty Holzer im Schatten ihrer Schwester Jessica. Marty ist klug, fleißig und eher der Kumpeltyp, während Jessica vor allem schön ist. Als Marty den attraktiven Maler Philipp kennenlerht, verliebt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben, aber auch ihre Schwester ist an Philipp interessiert. Der Maler ist jedoch ganz anders als die anderen Männer und hat durchaus ein Auge für Marty... -

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Louise Fischer

Als wäre nichts geschehen - Liebesroman

Saga

Als wäre nichts geschehen – LiebesromanCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1985, 2020 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444780

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

In diesem Jahr hatten sie zum erstenmal keinen Weihnachtsbaum. Einige große Tannenzweige steckten in einem bauchigen Tonkrug. Jessica, die kleine Schwester, hatte sie mit bunten Kugeln und silbernem Lametta behängt. Marty Holzner hätte lieber vergoldete Nüsse und kleine rotbackige Äpfel zwischen den blaugrünen Tannennadeln gesehen, aber im Grunde war es ihr gleichgültig. Wichtig für sie war nur, daß sie dieses Fest mit seiner unvermeidlichen Hektik, der unechten Heiterkeit, der vorgetäuschten Harmonie und dem konventionellen Austausch von Geschenken jetzt schon fast überstanden hatte.

Es war der zweite Feiertag, und draußen begann es zu dunkeln. Ein nadelscharfer Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. In dem großen Wohnraum brannten einige Wandleuchter und eine Stehlampe, neben der Marty saß. Es war eher schummerig, denn die Lampen reichten nicht aus, um auch die Ecken des Zimmers auszuleuchten. Im offenen Kamin aus unpolierten Marmorblöcken flackerte ein Feuer.

Es hätte gemütlich sein können, und Marty fragte sich, warum sie es nicht so empfand. Vielleicht, weil sie sich ausgeschlossen fühlte wie immer? Oder mindestens, seit Jessica auf der Welt war – Jessica, so blond, so rosig, so blauäugig und liebenswert! Die Schwester saß dem Vater gegenüber, das runde Kinn auf die kleine Faust gestützt, und spielte mit ihm Schach, wobei sie eine überaus nachdenkliche Miene aufgesetzt hatte. Sie boten einen hübschen Anblick: der hagere, sehr männlich wirkende Mann mit der hohen Stirn und dem an den Schläfen schon zurückweichenden braunen Haar, der großen Nase und dem eckigen Kinn und die hellhäutige kleine Jessica, fünfzehn Jahre jung, aus deren schimmernden blonden Locken Funken zu sprühen schienen.

Hartmut Holzner blickte immer wieder vom Schachbrett auf, um seine Tochter anzusehen, wobei sich sein schmaler strenger Mund zu einem Lächeln entspannte, das er nur für sie hatte, sein ein und alles.

Marty konnte sich nicht auf ihr Buch konzentrieren, ein Theaterstück von Botho Strauß. Dabei war es wichtig. Sie hatte sich fest vorgenommen, es über die Feiertage zu lesen. Aber sie kam nicht weiter damit. Die kleine Szene, die Vater und Tochter am Schachbrett ihr boten, fesselte sie mehr.

Nein, sie war nicht eifersüchtig, war es nie gewesen. Oder hatte sie sich doch nach Liebe und Zärtlichkeit gesehnt? Ganz unvernünftig, das hatte sie immer gewußt, und es tat auch längst schon nicht mehr weh. Was bedeutete er ihr denn noch, der »Bauwaren-Holzner«, wie ihre Freunde ihn nach seiner Firma nannten? Er teilte keine ihrer Interessen, hatte keinerlei Verständnis für ihr Studium, ihre Arbeit, ihren Ehrgeiz und ihre Ziele. Genauso erging es ihr mit seiner Tätigkeit, bei der es – wie sie dachte – hauptsächlich ums Geldverdienen ging. Es war angenehm, daß er sie monatlich mit einer gewissen Summe unterstützte, und sie war ihm dankbar dafür. Aber das war auch schon alles. Er war für sie ein Fremder.

Wenn sie ihm nur nicht so sehr geähnelt hätte, Wenigstens äußerlich! Sie hatte die gleiche kräftige Nase – den »Zinken«, wie sie es für sich selber nannte –, das eckige Kinn, den schmalen Mund, dle hohe Stirn und die grauen, zu eng beieinanderstehenden Augen. Merkmale, die bei ihm als Mann markant wirkten, bei ihr aber geradezu grotesk waren. Marty hatte immer gewußt, daß sie häßlich war. Ihre Eltern hatten sie niemals im unklaren darüber gelassen – das Mitleid in ihren Augen, wenn sie sich in einem neuen Kleid gezeigt hatte! –, aber es hatte eine Zeit gegeben, in der sie geträumt hatte, daß alles sich ändern würde, wenn sie groß wäre. Inzwischen war sie erwachsen, 22 Jahre alt, und der Traum vom schönen Schwan war ausgeträumt. Kein kosmetischer Kunstgriff – und sie hatte viele durchprobiert – konnte ihre allzu ausgeprägten Züge auch nur mildern. Sie mußte mit dem Bewußtsein leben, häßlich zu sein. Das war nicht einmal so schwer, denn es gab Menschen, die sie trotzdem schätzten. Frauen mochten sie, weil sie keine Konkurrenz und eine wirklich gute Freundin war, Männer schätzten sie ihrer Zuverlässigkeit, Sachlichkeit, ihres Könnens und Wissens wegen.

Ihre Eltern hatte sie von Geburt an enttäuscht. Schon bevor Jessica auf die Welt gekommen war, hatte sie das spüren müssen.

Wie oft hatte ihre Mutter gesagt: »Wärst du wenigstens ein Junge!«

Marty hatte es ihr nicht übelgenommen, denn sie wußte, daß sie es nicht böse gemeint hatte. Die Mutter, schön und elegant, anmutig und damenhaft, hatte tatsächlich nie begriffen, wie es passieren konnte, daß sie ein solches Mädchen zur Welt gebracht hatte, und wie sehr sie sie mit solchen Bemerkungen verletzte. Schon als Kind war es Marty aufgefallen, daß die Mutter manches nicht begriff, weil sie nicht nachdenken konnte oder wollte.

Marty wußte, daß man ihre Häßlichkeit akzeptiert hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre. Deshalb war auch der Name Martha, auf den sie nach ihrer Patentante getauft worden war, in das neutrale, eher männlich klingende Marty verwandelt worden, noch ehe sie sprechen konnte. Sie selber hatte es später dann gerne dabei belassen, weil sie sich wirklich nicht als eine Martha sehen konnte.

Es war gut gewesen, daß sie schon sehr früh um ihre Häßlichkeit gewußt hatte. So war der Schock, als ihre Mutter mit dem rosigen, blondgelockten Baby aus der Klinik gekommen war, nicht allzu groß gewesen. Marty hatte begriffen, daß man dieses kleine Zauberpüppchen liebhaben mußte, und sie hatte es den Eltern gar nicht übelgenommen, daß sie ganz aus dem Häuschen waren vor Begeisterung. Aber geschmerzt hatte es dennoch, wenn sie auch versucht hatte, es sich nicht anmerken zu lassen.

Marty lernte früh, sich selber und ihre Gefühle zu beherrschen. Es war ein qualvoller Prozeß, aber heute war sie dankbar, daß sie ihn durchgestanden hatte. Er hatte ihr Kraft gegeben.

Über den Rand ihres Buches hinweg beobachtete sie den Vater und die Schwester beim Schachspiel. Jessica brauchte jeweils lange, bis sie sich für einen Zug entschied, war unsicher und berührte häufig zuerst die falsche Figur, hob sie manchmal sogar vom Brett, um sie dann gleich darauf mit einem »Entschuldige, Väterchen!« zurückzusetzen.

Er ließ es ihr durchgehen.

Hartmut Holzner überlegte immer nur kurz und zog entschlossen. »Gardez la dame!« sagte er jetzt.

»Mir scheint, du hast was gegen mich!« Jessica blickte verwirrt.

Er lachte, nicht ohne Selbstgefälligkeit. »Du hast dich da in eine schöne Situation hineinmanövriert.«

»Ich? Du! Das ist eine böse Falle. Aber warte nur, noch bin ich nicht verloren!« Sie zog ihre Dame zurück. »Da! Was sagst du nun?«

»Schach!«

»Oh, verdammt, das habe ich übersehen!«

Marty war sicher, daß Jessica verlieren würde. Sie verlor meistens, und es war fast zu bewundern, daß sie es dennoch immer wieder versuchte.

Wahrscheinlich, dachte Marty, tut sie es überhaupt nur Vater zuliebe. Schach paßt eigentlich gar nicht zu ihr. Wie mühselig es gewesen war, ihr auch nur die Möglichkeiten der einzelnen Figuren einzutrichtern.

Das war viele Jahre her. Früher hatte auch Marty Schach gespielt. Beim Schach hatte sie sich dem Vater tiefer verbunden gefühlt als in jeder anderen Situation. Die Mutter spielte nur Bridge, höchstens noch Rommé oder Canasta, und Jessica war zu klein gewesen. Beim Schach hatte Marty den Vater ganz für sich gehabt. Sie hatte sich große Mühe gegeben, ihm eine gute Partnerin zu sein – wahrscheinlich zu viel Mühe, denn eines Tages war es dann soweit gekommen, daß sie ihn schlagen konnte. Ihr Fehler war, und das begriff sie erst jetzt, daß sie es auch getan hatte, wieder und wieder. Sie hatte gemerkt, daß sie den Vater dadurch verärgerte; es war nicht zu übersehen gewesen, aber sie hatte es nicht über sich gebracht, absichtlich schlechter zu spielen, scheinbar unüberlegt zu ziehen und Gefahren zu übersehen. Sie hatte diese Möglichkeit, den Vater bei Laune zu halten, durchaus erwogen. Aber es wäre ihr als unehrlich erschienen und als ein Zeichen mangelnder Achtung. Schließlich war es dann zum Eklat gekommen. Er hatte die Figuren umgeworfen und sie angeschrien. Marty erinnerte sich gut, wie erschüttert sie damals gewesen war. Nicht dadurch, daß er schlechter spielte, sondern weil er nicht verlieren konnte, war er in ihren Augen vom Olymp seiner väterlichen Überlegenheit ein für allemal herabgestürzt.

Es hatte sie Überwindung gekostet, ihn später noch einmal zu einem Spiel zu animieren. Aber er hatte abgelehnt, vorgegeben, daß er sich nach des Tages harter Arbeit nicht auch noch mit ihr abplagen könnte. Damals hatte sie begonnen, sich innerlich von ihm zu lösen.

»Schach und . . . matt«, sagte er jetzt.

»Wirklich?« fragte Jessica. »Kein Ausweg?«

»Du kriegst zehn Mark, wenn du einen findest.«

Jessica blickte angestrengt auf das Brett, rief dann: »Marty, hilf mir, bitte!«

»Sinnlos!« erwiderte Marty. »Wenn Vater dich matt gesetzt hat, bist du es auch.«

»So eine Gemeinheit!« rief Jessica, entrüstet und doch auch lachend zugleich. »Immer auf die Kleinen! Kannst du mich denn nicht einmal gewinnen lassen, Väterchen?«

»Das würde dir gar nichts nützen. Du mußt lernen, das Spiel zu beherrschen.«

Was für eine Heuchelei, dachte Marty, daß er sich nicht schämt, wenigstens vor mir!

Er warf einen Blick auf die Uhr über dem Kamin. »Wißt ihr, wo Mutter steckt?«

»Wo schon?« meinte Jessica. »Bei einer ihrer Kaffeetanten.«

»Sie müßte längst zurück sein. Es ist Abendbrotzeit.«

»Sie hat sich irgendwo festgequatscht. Du kennst sie doch.«

»Machst du dir etwa Sorgen?« fragte Marty.

»Wenn es noch kälter wird, werden die Straßen glatt.«

»Ach was«, sagte Jessica und begann damit, die Figuren wieder in ihre Ausgangsspielposition auf das Brett zu stellen, »sie paßt schon auf. Komm, gib mir Revanche.«

»Nicht heute.«

»Und warum nicht?«

»Ich fürchte, ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren, und ich habe Hunger.«

Marty klappte ihr Buch zu und stand auf. »Ich werde das Abendbrot richten. Dann können wir gleich essen, wenn Mutter zurückkommt.«

»Gute Idee!« Jessica sprang hoch wie ein Gummiball. »Aber laß mich das machen! Ich kann das besser.«

Marty lachte. »Was soll schon dabei sein, Butter und Aufschnitt aus dem Eisschrank zu holen und den Tisch zu dekken?«

»Ha! So hast du dir das vorgestellt! Aber ich werde uns einen Salat zaubern! Da hast du bestimmt Lust drauf, Väterchen, nach all dem Süßen.«

»Dann laß mich wenigstens die niederen Dienste machen«, sagte Marty.

»Kommt gar nicht in Frage! Denkst du, ich weiß nicht, was sich gehört? Ich bin hier zu Hause, und du bist der Gast!« Beinahe hätte Marty erwidert, daß sie sich hier immer noch in ihrem Elternhaus befände, aber da war Jessica schort hinausgewirbelt. Marty war nachträglich froh, daß sie ihr nichts entgegnet hatte, denn sie sah ein: Jessica hatte recht. Seit sie vor vier Jahren, gleich nach dem Abitur, die Familie und das gepflegte Eigenheim in Düsseldorf-Oberkassel verlassen hatte und zum Studium nach Köln gezogen war, tauchte sie nur noch sehr sporadisch hier auf, zu Weihnachten, wie jetzt, an Geburtstagen, und da auch nicht immer. In den langen Semesterferien war sie anfangs lieber durch die Welt getrampt, inzwischen mußte sie in Köln bleiben, um für ihr Studium aufzuholen, was sie durch ihre Arbeit am Theater im Winter versäumt hatte.

»Ist sie nicht wunderbar?« fragte der Vater in ihre Gedanken hinein.

Es war eine rhetorische Frage, und sie verstand sie nicht sogleich. »Wie? Wer? Ach so, ja . . . Jessica. Sie ist reizend.«

Anscheinend hatte Hartmut Holzner mehr Begeisterung von ihr erwartet, denn er erklärte ziemlich barsch, fast anklagend: »So warst du nie.«

»Du kannst mich nicht mit Jessica vergleichen.«

»Ich denke gar nicht an das Aussehen, sondern ihre Art . . . Sie ist so liebenswürdig, so fraulich! Du wärst nie auf die Idee gekommen, mir einen Salat zu machen.«

»Nein, sicher nicht«, gab Marty zu.

Damit gab sich der Vater aber noch nicht zufrieden. »Du hattest deine Nase immer in den Büchern.«

»War doch auch nicht schlecht.«

»Deine Mutter mußte dich dreimal bitten, bevor du dich bequemt hast, eine Hand im Haushalt zu rühren.«

»Sie hat sich selber ja auch nie zu Tode geschuftet. Seit ich denken kann, hatte sie immer eine Hilfe.«

»Die aber auch mal Ausgang hatte, an den Feiertagen etwa wie heute.«

»Sag mal, Vater, was soll das eigentlich? Willst du mir meine Jugendsünden vorwerfen? Immerhin habe ich es doch zu etwas gebracht. In zwei Jahren mache ich meinen Doktor . . . und ich bin jetzt schon Dramaturgin.«

»Etwas mehr Fraulichkeit stünde dir gut an. Bildest du dir ein, du kannst mir mit deinem Studium imponieren? Wo wärst du denn, wenn ich dich nicht finanziell unterstützt hätte?«

Marty war drauf und dran, ruppig zu reagieren, aber sie besann sich eines Besseren und sagte ruhig: »Ich bin dir ja auch sehr dankbar.«

»Dazu hast du allen Grund.«

»Ich sehe täglich, wie es anderen geht, die keinen großzügigen Vater haben.«

»Na ja«, sagte er besänftigt, »in gewisser Weise bin ich ja auch stolz auf dich. Jetzt könnte Mutter aber wirklich schon zurück sein.«

Marty setzte sich ihm gegenüber und begann, die Schachfiguren in den Kasten zu räumen; es waren schöne Figuren, aus Messing geschmiedet und sehr teuer. »Sie hatte doch noch nie ein gutes Zeitgefühl.«

»Sie ist mir ein bißchen viel unterwegs.«

»Dann sag ihr das.«

»Hat sie sich je von mir etwas sagen lassen?«

Marty versuchte sich zu erinnern. »Ich weiß nicht. Vielleicht hast du sie zu sehr verwöhnt. Aber das kann ich nicht beurteilen. Außerdem . . . ihr seid schon so lange verheiratet, da kann man nichts mehr ändern. Du mußt sie so nehmen, wie sie ist.«

»Ich habe nie etwas anderes getan, und allmählich glaube ich, daß das ein Fehler war.«

Marty hatte das unangenehme Gefühl, daß der Vater seine Eheprobleme vor ihr ausbreiten wollte, und sie atmete auf, als Jessica hereinkam. Die kleine Schwester balancierte ein Tablett mit zwei eisbeschlagenen Gläsern und stellte es zwischen sie auf den kleinen Tisch. »Ich habe euch Martinis gemixt«, verkündete sie stolz, »mit Oliven!«

»Fabelhaft!« rief Marty, ehrlich erfreut. »Du übertriffst dich selber!«

Hartmut Holzner legte Jessica den Arm um die Hüften und zog sie an sich. »Wenn ich dich nicht hätte, mein Liebling!«

Nun übertreib mal nicht, dachte Marty, lange wirst du sie nicht mehr haben.

»Zu knabbern habe ich euch nichts gebracht«, erklärte Jessica altklug und gab ihrem Vater einen Kuß auf die Stirn, »das verdirbt nur den Appetit. Wenn ihr das ausgetrunken habt, wird gegessen.«

»Und was ist mit Mutter?«

»Was soll schon sein? Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß sehn, was übrigbleibt, wie schon die alten Römer sagten. Wahrscheinlich hat sie bei einer ihrer Freundinnen genascht und gar keinen Hunger.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist«, sagte er zögernd.

»Mann Gottes, stehst du unter dem Pantoffel!« platzte Jessica heraus.

Marty hatte einen Schluck genommen. »Gut«, sagte sie anerkennend, »ganz ausgezeichnet. Wie machst du das, Jessica? Trinkst du etwa selber schon harte Sachen?«

»I wo! Ich mache das einfach nach Augenmaß und Handgewicht.«

Hartmut Holzner nippte. »Was meinst denn du, Marty?« Als sie ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu: »Findest du nicht auch, daß wir besser auf sie warten sollten?«

»Kann ich nicht beurteilen, trinken wir erst mal in aller Ruhe. Vielleicht ist sie bis dahin ja zurück.«

Tatsache war, daß Molly Holzner nicht so bald erschien. Ihr Mann, der zuerst sehr vorsichtig getrunken hatte, verlangte noch einen und dann noch einen Martini-Cocktail, die er sehr schnell hinunterkippte, bevor er sich von seinen Töchtern bewegen ließ, mit ihnen zu Tisch zu gehen. Auch Marty hatte endlich das lange Warten als albern empfunden und sich auf Jessicas Seite geschlagen. Sie beobachtete besorgt, daß der Vater immer nervöser wurde und nur sehr wenig aß. Selbst Jessicas liebevoll eigens für ihn zubereitetem Salat – Erbsen aus der Dose in einer selbstgerührten Mayonnaise – sprach er kaum zu, dafür aber um so stärker seinem Wein. Er war in schlechter Verfassung. Seine Unruhe steckte Marty an. Sie spürte sehr wohl, daß mehr dahinterstecken mußte, als er zugeben wollte. Nur Jessica blieb unbefangen und plauderte drauflos, und Marty stimmte, wenn es ihr auch schwerfiel, in ihren heiteren Tonein.

Im Geist zitierte sie Strindberg: Oh, Familie, du Brutstätte aller Laster, Hölle aller Kinder, Tretmühle aller Ehemänner . . .

Am liebsten hätte sie sich gleich nach dem Essen mit ihrem Buch auf ihr Zimmer verzogen, aber sie wollte weder den Vater brüskieren noch die kleine Schwester mit ihm in dieser Stimmung allein lassen.

Als die Kaminuhr zehn schlug, erhob sich Hartmut Holzner, jetzt schon etwas schwerfällig vom Alkohol, aus seinem Sessel. »So kann das doch nicht weitergehen! Wir müssen etwas unternehmen.«

»Aber was denn, Väterchen?«

»Ihre Freundinnen anrufen. Eine nach der anderen.«

»Aber das kannst du doch nicht tun! Sie würde es dir ganz schön übelnehmen.«

»Aber du kannst es. Niemand wird sich etwas dabei denken, wenn du deine Mutter sprechen willst.«

»Und wenn ich sie finde? Was soll ich ihr sagen? Etwa, daß sie schleunigst nach Hause kommen soll?«

»Dann wissen wir wenigstens, wo sie ist.«

»Du nimmst also an, daß sie bei einer Freundin ist?« fragte Marty nachdenklich.

»Wo denn sonst?«

»Dann weiß ich nicht, worüber du dich aufregst. Ob sie sich nun bei Lina soundso oder Olga oder Helene verplaudert hat, das macht doch keinen Unterschied.«

»Du verstehst mich nicht.«

»Nein, wirklich nicht, Vater. Daß du aus dieser Sache so viel Aufhebens machst!« Sie stand auf, trat ans Fenster und zog den Vorhang zurück. »Übrigens regnet es immer noch, und die Straßen sind keineswegs vereist. Wenn sie einen Unfall gehabt hätte, wären wir längst benachrichtigt worden.«

»Marty hat recht, Väterchen!« Jessica lief zu Hartmut Holzner hin und schmiegte sich in seine Arme. »Hör auf, dir Sorgen zu machen! Du kennst sie doch. Es ist ihr bestimmt nichts passiert.«

»Nun mach schon, um was ich dich gebeten habe. Das ist doch wirklich nicht zuviel verlangt!«

Jessica löste sich von ihm und ging zum Telefon, sehr widerwillig, was sie nicht nur durch ihre Miene, sondern auch noch durch ihren schleppenden Gang auszudrücken verstand.

»Da, hört mal!« rief Marty. »Hört ihr es denn nicht? Jemand macht das Garagentor auf! Das kann doch nur sie sein.« Alle lauschten, hörten das Einfahren des Autos, das Zudonnern des Tors.

»Na endlich!« rief Jessica, sehr erleichtert, daß es ihr erspart blieb, herumtelefonieren zu müssen. »Wurde aber auch Zeit!«

Marty beobachtete ihren Vater. Seine Miene hatte sich nicht aufgehellt, wie sie erhofft hatte, sondern eher noch verdüstert. Er war sehr rot im Gesicht.

Molly Holzner wirbelte ins Zimmer. Regentropfen perlten von der schicken kleinen Toque, die sie sich auf ihr blondes Haar gesteckt hatte, und auch von ihrem dunklen Nerz, den sie trotz des unpassenden Wetters trug. Ihre Lippen waren perfekt nachgezogen, aber das Make-up um die Augen hatte sich leicht verwischt, und die Augen selber, diese blauen Augen, die immer das Schönste an ihr gewesen waren, hatten einen Glanz, der geradezu verräterisch wirkte. Marty erkannte, daß sie bei einem Mann gewesen sein mußte, und war gleichzeitig schockiert und fasziniert. Auch Jessica und Hartmut Holzner schienen nicht imstande, ein Wort hervorzubringen.

Seltsamerweise war Molly sich des Eindrucks, den sie auf die anderen machte, gar nicht bewußt. »Entschuldigt die Verspätung«, sagte sie leichthin und hob den Arm, um sich die Hutnadel aus ihrer Toque zu ziehen, »aber was steht ihr da herum wie die Panoptikumsfiguren und starrt mich an?«

»Vater hat sich Sorgen um dich gemacht«, erklärte Jessica. Molly hatte ihr Hütchen abgenommen, stach die lange Nadel wieder hinein und warf es auf einen Stuhl, ihre Lackledertasche dazu. »Wie albern!« sagte sie. »Will mir denn niemand aus dem Mantel helfen?«

Marty tat es. »Wir haben versucht, Vater zu beruhigen.«

»Bravo!«

Marty sah die Mutter an. Jetzt, ohne Hut und Mantel, in ihrem fließenden blauen Seidenkleid, wirkte sie fast mädchenhaft.

»Glotz mich nicht so an!« sagte Molly. »Bring lieber den Pelz in die Garderobe!«

Jetzt erst wurde Marty bewußt, daß die Mutter, die sich gewöhnlich mit Schmuck zu behängen pflegte, weder eine Brosche noch eine Kette, ja, nicht einmal ihre Ohrringe trug. »Ich stelle nur fest«, sagte sie, »daß du ohne Schmuck jünger aussiehst.«

»Ach das!« Unwillkürlich fuhr sich Molly mit der Hand an ihre nackten Ohrläppchen. »Ich habe das Zeug abgenommen. Es wurde mir unbequem.«

»Daß du dich nicht schämst!« sagte Hartmut Holzner, und ein tiefer Groll schwang in seiner Stimme.

Molly lachte. »Müßte ich das? Weswegen?«

»Du weißt es.«

»Ich bitte dich, Hartmut, mach mir um Himmels willen jetzt keine Szene. Dazu bin ich wahrhaftig nicht in der Stimmung. Komm, gib!« Sie entriß Marty den Pelzmantel. Hartmut Holzner vertrat ihr den Weg zur Tür. »So kommst du mir nicht davon!«

»Was soll denn das? Nur weil ich mich ein paar Minuten verspätet habe?« Molly wollte an ihm vorbei, aber es gelang ihr nicht.

»Stunden!«

»Na, wennschon! Bin ich denn deine Sklavin?«

»Du weißt, daß du tun und lassen kannst, was du willst . . .«

»Leider merke ich nichts davon!« warf sie schnippisch ein.

». . . aber um der Kinder willen hättest du doch wenigstens heute zu Hause bleiben können!«

»Ich habe gestern und vorgestern in Familie gemacht, das sollte doch wohl reichen!«

»Sind wir dir so verhaßt?«

»Ihr langweilt mich, das ist viel schlimmer.«

Marty mochte es sich nicht länger anhören. »Ich finde, jetzt ist es genug. Nehmt Rücksicht auf meine Nerven. Morgen bin ich wieder fort, dann könnt ihr euch alles sagen, was ihr auf dem Herzen habt . . . falls Jessica es aushält.«

»Da hast du es!« sagte Hartmut Holzner. »Marty ist so selten da. Hättest du nicht wenigstens ihr zuliebe . . .«

»Martys wegen?« Mollys Lachen wurde schrill. »Sonst noch etwas? Als wenn du nicht wüßtest, daß Marty nicht den geringsten Wert auf meine Gegenwart legt!«

»Aber, Mutter«, sagte Marty, »das kannst du doch so nicht sagen.«

Molly fuhr zu ihr herum. »Das kann ich, und das tue ich! Aber sei unbesorgt, ich mache dir daraus keinen Vorwurf . . . es beruht durchaus auf Gegenseitigkeit.«

»Ich möchte jetzt schlafen gehen!« sagte Marty. »Kommst du mit nach oben, Jessica?«

Jessica schüttelte die blonden Locken.

»Wenn wir dir so zuwider sind«, herrschte Hartmut Holzner seine Frau an, »warum bist du dann überhaupt nach Hause gekommen?«

»Zuwider bist nur du mir!«

»Das ist keine Antwort!«

»Fragst du mich allen Ernstes? Dann kann ich dir nur sagen: Ich weiß es selber nicht. Nein, ich weiß es nicht!«

Marty merkte, daß die Mutter einem hysterischen Ausbruch nahe war, wußte aber nicht, wie sie sie hätte beruhigen können. Sie ahnte, daß jedes Wort von ihr wie Öl auf die Flamme wirken würde.

»Ich hätte dich längst verlassen sollen!« schrie Molly.

»Dann tue es doch! Tu es endlich!« brüllte er zurück.

»Das lasse ich mir nicht zweimal sagen! Jetzt ist Schluß!« Mit überraschender Kraft rammte sie ihm den Ellbogen in den Magen, so daß er zur Seite wich. »Ich gehe, und zwar für immer!« Schon war sie draußen.

Hartmut Holzner stand wie erstarrt, mit hochrotem Kopf, die Fäuste geballt. Dann wich alle Farbe aus seinem Gesicht, sein Ausdruck veränderte sich, es war, als zerfielen seine Züge. »Molly!« rief er. »Bitte, Molly!« Er stürzte hinter ihr her.

Marty und Jessica blieben allein zurück.

»Passiert das öfter?« fragte Marty.

Jessica zuckte die Achseln. »Manchmal schon. Aber nicht so schlimm wie heute, glaube ich.«

»Warum hast du mir das nie gesagt?«

»Hätte es dich interessiert?«

»Ja.«

»Du bist doch schon so lange weg.«

»Es bleiben trotzdem meine Eltern.«

»Und wenn du es gewußt hättest, was dann? Du hättest doch nichts tun können, als Vernunft zu predigen. Und was nutzt das schon?«

»Es tut mir leid, Jessica . . . für dich.«

»Halb so wild.«

»Hat sie einen Freund?«

Jessica nickte. Von oben her drangen die streitenden Stimmen ihrer Eltern.

Molly hatte schon angefangen einen Koffer zu packen, als Hartmut Holzner in ihr Zimmer trat. Sie hatte nicht einmal aufgesehen, während er sie um Verzeihung bat.

Er gab dennoch nicht auf.

»Spiel nicht verrückt, Molly«, rief er, »du weißt doch genau, daß ich es nicht so gemeint habe! Wenn du mich nicht bis zur Weißglut gereizt hättest . . .«

»Natürlich soll wieder ich schuld sein, ich ganz allein! Wenn du wüßtest, wie satt ich es habe!«

»Molly, ich bitte dich . . .«

»Es ist zu spät, Hartmut, begreifst du das denn nicht? Zu spät für alles!«

»Ich liebe dich doch«, sagte er hilflos.

»Eine feine Liebe ist das! Was habe ich schon davon?«

»Immerhin lange Jahre ein recht angenehmes Leben!«

»Angenehm? Mit dir? Das glaubst aber auch nur du!«

»Ich weiß, daß ich mich nicht genug um dich kümmern kann, aber die Zeiten sind schwer. Alles wird immer schwieriger. Ich muß mich in das Geschäft hineinknien, wenn ich nicht baden gehen will.«

»Hineinknien . . . ja, das paßt zu dir!«

Er legte ihr den Arm um die Hüfte. »Molly . . .«

Sie fuhr zu ihm herum. »Rühr mich nicht an! Ich ertrage es nicht!«

»Was habe ich dir denn getan?«

»Du widerst mich an! Muß ich noch deutlicher werden?«

»Aber, Molly, wir haben doch all die Jahre . . .«

»Ich habe all die Jahre! Ich habe hingehalten, wenn du mal ausnahmsweise Zeit und Lust hattest und ihn hochgekriegt hast! Meinst du, das wäre ein Vergnügen für mich gewesen? Nie mehr, sage ich dir, nie mehr!«

»Ich will dich zu nichts zwingen, Molly, aber überleg doch mal . . .« Er war einen Schritt zurückgetreten. »Wir werden uns doch irgendwie einigen können. Das haben wir doch immer getan.«

»Leider! Ich habe immer wieder nachgegeben, das war mein Fehler. Aber jetzt ist Schluß. Ich lasse mich scheiden.« Sie klappte den Koffer zu und ließ die Schlösser einschnappen.

»Das genügt fürs erste. Die anderen Sachen laß mir, bitte, von Frau Baumann einpacken.«

»Aber, Molly, wie stellst du dir das denn vor? Ich habe dir doch nichts getan!Was willst du gegen mich vorbringen?«

»Daß ich die Nase voll von dir habe.«

»Molly, das kannst du mir nicht antun!«

»Jetzt komm mir bloß nicht auf die Tour! Die zieht nicht mehr bei mir. Wenn jemand zu bemitleiden ist, dann ich. Die besten Jahre meines Lebens habe ich dir geopfert . . .« »Geopfert?«

»Jawohl!« Sie drehte sich zu ihm um und funkelte ihn an, schöner denn je in ihrer Erregung.

»Ich habe dir ein Heim gegeben, Schutz, Sicherheit, eine gesellschaftliche Stellung . . . Ja, ich weiß, was du mir jetzt sagen willst: Du pfeifst auf das alles. Aber bildest du dir wirklich ein, daß du als geschiedene Frau besser dastehst?«

»Ich werde nicht allein sein!«

»Bist du dir da sicher? Diese Affäre, in die du dich da gestürzt hast, ist bestimmt nicht von Dauer!«

»Als ob du das beurteilen könntest!«

»Der Kerl ist doch so viel jünger als du . . .«

»Zwölf Jahre, wenn du es genau wissen willst. Aber das spielt überhaupt keine Rolle, im Gegenteil, es ist wundervoll, daß er jung ist.«

»Er ist doch ein Nichts und ein Niemand. Was kann er dir schon bieten? Seine Leidenschaft? Die ist kein Wert, auf den man ein Leben aufbauen kann.«

»Und was warst du, als ich dich kennenlernte? Kaum mehr als ein kleiner Ladenbesitzer. Und was bist du heute? Auch nichts als ein Koofmich. Jupp Schmitz hat mehr gelernt als du. Er wird seinen Meister machen, ein eigenes Geschäft eröffnen . . .«

»Ach, Molly, das sind doch alles Träume.«

»Die sich erfüllen werden, wart’s nur ab!«

»Mit einer Frau wie dir?«

»Ja, mit mir. Es hat keinen Sinn mehr, Hartmut, laß mich jetzt endlich gehen.«

»Wohin?«

In ihrem Lachen schwang Bosheit. »Ist das eine Frage?«

»Und was soll aus Jessica werden?«

Ihr Lächeln erlosch, ihr Ausdruck wurde plötzlich ernst, fast erstaunt; tatsächlich hatte sie ihre Tochter über den Streit völlig vergessen.

Hartmut Holzner witterte eine Chance. »Sie ist in einem Alter, wo sie die Mutter noch braucht!«

»Jessica«, erklärte Molly entschlossen, »nehme ich natürlich mit.«

»Zu deinem Liebhaber?« fragte er, als wäre er nicht sicher, richtig gehört zu haben.

»Und warum nicht?« konterte sie. »Wir werden ihr ein Zimmer freimachen.«

»Du mußt verrückt sein, an so etwas überhaupt zu denken!«

»Sie braucht ihre Mutter, das hast du doch eben noch selber gesagt!«

»Eine Mutter, die ihre Pflichten erfüllt, ja! Keine Schlampe, die sich einem hergelaufenen Kerl an den Hals wirft.«

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Du Dreckskerl!« schrie sie. »Ja, das bist du . . . nichts als ein jämmerlicher Dreckskerl . . . Alles mußt du in den Dreck ziehen! Und bei so einem wie dir soll ich meine Tochter lassen? Niemals, und wenn du mich auf den Knien bittest!«

»Sie ist auch meine Tochter.«

»Das kannst du auch nur glauben, weil du mit Blindheit geschlagen bist!« Molly lachte wütend. »Du Jessicas Erzeuger? Ein eingebildeter Esel, das ist alles, was du bist!«

Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Das ist nicht wahr!« Er schrie es heraus wie ein verwundetes Tier. »Du lügst! Gib zu, daß sie mein Kind ist!«

Molly ließ sich nicht einschüchtern. »Das hättest du wohl gern!« schrie sie zurück. »Aber sie ist nicht dein Kind . . . und sie weiß es!«

Er ließ sie so jäh los, daß sie das Gleichgewicht verlor und sich am Bettpfosten festhalten mußte. Nicht nur sein Gesicht verfiel, auch sein Körper sackte zusammen.

»Dann weißt du wohl auch, wer ihr wirklicher Vater ist.«

»Aber sicher! Ich bin ja keine Hure, die wahllos herumschläft, wie du es mir mehr als einmal vorgeworfen hast!«

»Wer?«

»Manfred Probst!«

Der Name sagte ihm auf Anhieb nichts, obwohl er wußte, daß er ihn schon einmal gehört haben mußte. Schwäche überfiel ihn, seine Beine drohten unter ihm nachzugeben. Er ließ sich auf die Bettkante sinken.

Sechzehn Jahre mußte es jetzt her sein . . . Manfred Probst! Die Erinnerung kehrte zurück, eine völlig verdrängte Erinnerung.

Es war auf einem Kongreß junger Unternehmer in Hamburg gewesen. Manfred Probst war der jüngste von ihnen gewesen, sehr schlank, sehr gepflegt, eine Spur zu elegant, verdammt gutaussehend und arrogant. Auf dem Abschlußbankett mit Damen hatte Molly unverschämt mit ihm geflirtet. Und danach, beim zwanglosen geselligen Beisammensein, war sie plötzlich verschwunden gewesen. Für wie lange, hatte er niemals erfahren, denn er hatte es erst gar nicht bemerkt, weil er in ein Fachgespräch mit einem Bauunternehmer vertieft gewesen war. Er konnte diesen für ihn sehr wichtigen Mann nicht einfach stehenlassen, und so hatte er darauf verzichten müssen, nach ihr zu suchen. Aber er hatte kaum noch auf das hören können, was der andere ihm sagte, hatte immer wieder zur Tür schauen müssen. Dennoch hatte er den Augenblick verpaßt, als sie wieder erschienen war. Sie hätte rasende Kopfschmerzen gehabt, eine Tablette nehmen und sich ein wenig hinlegen müssen, hatte sie später erklärt, als er sie zur Rede stellte. Aber ihre blühenden Wangen und strahlenden Augen straften ihre Worte Lügen. In der Nacht war sie besonders zärtlich zu ihm gewesen . . .

Molly hatte sich inzwischen wieder gefaßt. Sie war immerhin klug genug zu begreifen, was sie angerichtet hatte, und hätte ihren Ausbruch am liebsten ungeschehen gemacht. Sie blickte auf ihren Mann herab, der da gebrochen auf der Bettkante kauerte, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, die Hände zwischen den Knien baumelnd.

»Nimm’s nicht so tragisch, Hartmut!« sagte sie.

»Er sah zu ihr auf wie ein geprügelter Hund. »Ich kann es nicht fassen.«

»Es ist auch gar nicht wahr«, sagte sie rasch, »ich wollte dich nur verletzen.«

»Soll ich Jessica fragen?«

»Wozu?«

»Du sagtest doch, sie weiß es.«

»Ach, Hartmut, zieh doch das Kind nicht auch noch hinein!«

»Also stimmt es doch?«

Molly überlegte. Sie kannte ihren Mann, er ließ sich nur zu gern belügen. Es bestand durchaus die Chance, ihn glauben zu machen, daß sie ihn nur habe ärgern wollen. Aber dann wären sie wieder so weit gewesen wie vor ihrem Streit. Möglicherweise hätte es sogar zu einer scheinbaren Versöhnung geführt, die sie innerlieh ablehnte. »Ja«, sagte sie.

Hartmut Holzner straffte die Schultern. »Dann werde ich meine Konsequenzen ziehen.«

»Du bist also einverstanden?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Womit?«

»Mit der Scheidung?«

»Nein.«

»Aber nach alledem kann unsere Ehe doch nie wieder eine Ehe werden!«

»Sie ist es ja gewesen, obwohl ihr beide es wußtet.«

»Das war doch etwas ganz anderes!«

»Nicht, was dich und mich betrifft.«

»Also . . . was willst du tun?«

»Ich verlange von dir eine schriftliche Erklärung, daß Manfred Probst Jessicas Vater ist.«

Molly konnte die Tragweite dessen, was er von ihr forderte, nicht so schnell überdenken, und zögerte deshalb.

»Weiß er es auch?« fragte Hartmut Holzner.

»Ja.«

»Und er hat es nie für nötig gehalten, sich um Jessica zu kümmern? Sie auch nur mal anzusehen?«

Molly dachte daran, wie sie damals inständig gehofft hatte, er würde sich zu Jessica bekennen und auf Scheidung drängen; sie war, wenn sie es sich heute auch kaum mehr vorstellen konnte, sehr verliebt in ihn gewesen und später dann sehr enttäuscht. »Ich gebe zu«, sagte sie, »er hat sich ziemlich mies verhalten.«

»Warum weigerst du dich dann, mir deine Unterschrift zu geben?«

»Tue ich ja gar nicht. Nur . . . wie soll es dann weitergehen?«

»Ich werde ihn verklagen. Er . . . er muß mir alles zurückzahlen, was ich für Jessicas Erziehung aufgewandt habe. Jawohl! Und zwar auf Heller und Pfennig . . . angefangen mit den Kosten der Entbindung.«

»Das ist nicht dein Ernst!« sagte Molly fassungslos.

»Tut er dir etwa leid?«

»Ganz und gar nicht. Bloß hilft uns das ja nicht weiter.«

»Selbstverständlich kann Jessica bei mir bleiben, wenn sie will. Ich werde ihr allerdings meinen Namen aberkennen . . .«

»Was willst du?«

»Starr mich nicht so an! Wenn sie nicht meine Tochter ist . . . das ist nicht meine Schuld, wie du zugeben wirst . . . kann sie auch nicht länger meinen Namen tragen.«

»Du bist . . . also wirklich, mir fehlen die Worte!«

»Die Dinge müssen ihre Ordnung haben!« beharrte er starrköpfig. »Vielleicht wird es nicht ganz angenehm für Jessica sein, aber da sie ja schon immer gewußt hat, daß sie nicht meine Tochter ist . . .«

»Nicht schon immer! Glaubst du, ich hätte sie schon als Baby aufgeklärt? Erst vor ein paar Jahren . . . irgendwann . . . habe ich ihr die Geschichte erzählt!«

»Das macht es um nichts besser.«

»Du kannst doch jetzt deine Wut nicht an ihr auslassen!«

»Sieh mich an!« Er stand auf. »Bin ich wütend? Nein, ich bin nur enttäuscht, maßlos enttäuscht! Ich verspreche dir, ich werde Jessica nicht unnötig verletzen. Wenn du aber so besorgt um sie bist, dann würde ich vorschlagen, du bleibst hier . . . zumindest, bis die Dinge geklärt sind.«

»Darauf willst du also hinaus? Sehr schlau von dir, aber nicht schlau genug. Ich habe dich nie geliebt, das hättest du eigentlich merken müssen. Aber jetzt habe ich auch noch das letzte Fünkchen Achtung vor dir verloren! Ich kann nicht mehr mit dir leben. Selbst wenn ich es wollte, ich brächte es nicht über mich!«

»Ich würde dich nicht anrühren, Molly, ich verspreche es dir! Bleib um Jessicas willen. Alles, was wir brauchen, um aus diesem Wirrwarr herauszukommen, ist doch nur Zeit . . . ein bißchen Zeit!«

»Ich habe keine Zeit mehr, Hartmut . . . nicht für dich! Ich habe genug von dir, deiner Pedanterie, deiner Selbstgerechtigkeit, deiner . . . Ach was, warum bemühe ich mich, dir das zu erklären. Du kannst mich ja doch nicht verstehen.« Molly vollzog mit der flachen Rechten eine schneidende Bewegung unter der Kehle. »Du stehst mir bis hier! Ich will Jeben . . . endlich leben!«

»Du wirst dieses Haus nicht verlassen, bevor du mir nicht die Erklärung über Manfred Probsts Vaterschaft unterschrieben hast!«

»Dann würde ich dir raten, dich zu beeilen. Ich ersticke sonst noch.«

Marty und Jessica standen immer noch wie gebannt. Sie hatten gegen Ende des Streits nicht anders gekonnt, als mitzuhören. Auf eigentümliche Weise war jede Gemütlichkeit aus dem schönen Wohnraum gewichen. Das Feuer im Kamin war erloschen, und der Geruch der erkaltenden Asche verbreitete sich. Als sie Hartmut Holzner die Treppe herunterkommen hörten, schob Marty den schweren Vorhang zurück und öffnete ein Fenster. Die naßkalte Luft, die von außen hereindrang, ließ Jessica frösteln.

»Ob sie sich wieder beruhigt haben?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht.«

»Jetzt tippt er etwas. Mitten in der Nacht! Was soll das?«

»Frag mich was Leichteres.«

»Und was ist mit Mutter?»

Marty wandte sich zur Tür. »Wir sollten nach ihr sehen.« Jessica hielt sie zurück. »Ich weiß nicht . . .«

»Was weißt du nicht?«

»Ob es richtig ist, daß wir uns da einmischen!«

»Dann geh du zu Bett!«

In diesem Augenblick kam Hartmut Holzner herein, ein Blatt Papier in der Hand. »Ist eure Mutter nicht hier?« Er wandte sich wieder der Diele zu. »Sie ist doch nicht etwa schon . . .«

Marty packte ihn am Arm. »Vater!« sagte sie. »Was soll das?«

Er sah sie an, aber sein Blick war abwesend. »Ist sie noch oben?«

»Ja. Wir hätten sie hören müssen. Willst du uns nicht sagen . . .«

»Sie verläßt mich.«

Marty begriff.

»Du kannst sie übrigens begleiten, wenn du willst, Jessica«, sagte er.

»Wohin?« fragte das Mädchen erstaunt.

»Zu ihrem Freund.«

»Zu Jupp Schmitz? Ich denke ja nicht daran!«

»Das weißt du also auch?«

Jessica errötete.

»Ihr alle scheint Bescheid zu wissen«, sagte Marty, »nur ich nicht. Wer ist dieser Jupp Schmitz?«

»Ein Installateur!« erklärte Jessica. »Er hatte öfters was hier im Haus zu reparieren. Daher kenne ich ihn. Er ist ein Primitivling erster Güte.«

»Du willst also nicht zu ihm?« vergewisserte sich Hartmut Holzner.

»Ich bin doch nicht verrückt! Was soll ich denn da? Zuschauen, wie die beiden turteln?«

»Niemand zwingt dich. Es war ein Vorschlag deiner Mutter.«

»Die hatte auch schon mal bessere Ideen.«

»Natürlich kannst du auch hierbleiben. Es scheint dich ja nicht zu stören, daß ich nicht dein Vater bin.«

Diesmal errötete Jessica noch tiefer; eine scharlachrote Welle überflutete ihr kleines Gesicht.

»Wirklich?« fragte Marty, erstaunt und bestürzt, und blickte von der Schwester auf den Vater.

»Du hast es also nicht gewußt?«

»Woher sollte ich?«

»Sie könnte es dir erzählt haben, Jessica weiß es jedenfalls seit langem.«

»Mich hat niemand eingeweiht . . . und überhaupt, ich kann’s nicht glauben!«

Jessica warf sich an Hartmut Holzners Brust. »Aber du hast mich doch trotzdem noch lieb, Väterchen? Bitte, sag, daß du mich liebhast!«

Er nahm sie nicht in die Arme, sondern blieb steif wie ein Stock. »Wir müssen unsere Beziehungen neu überdenken.«

Jessica blickte zu ihm auf, Tränen in den schönen Augen. »Was gibt es da zu bedenken?«

»Wenn du es mir wenigstens gesagt hättest! Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Das konnte ich doch nicht, Väterchen!«

Er schob sie von sich.

»Nenn mich nie wieder so!«

Jessica war verwirrt. »Was soll ich nicht?«

»Väterchen zu mir sagen.«

»Aber das bist und bleibst du doch für mich! Du bist mein liebstes, allerliebstes Väterchen!«

»Du hast mich belogen und betrogen! Genau wie deine Mutter!«

»Nun aber mal halblang, Vater!« sagte Marty. »Sie war doch in einer Zwickmühle. Soll sie dich etwa Onkel nennen? Oder Hartmut?«

Der Blick seiner kühlen grauen Augen war abweisend.

»Misch du dich da nicht ein!«

Marty hielt es für das beste, die beiden allein zu lassen.

Molly war nicht in ihrem Schlafzimmer. Der gepackte Koffer stand noch neben dem Bett. Auch das Bad war leer. Endlich entdeckte Marty sie vor dem geöffneten Safe im Schlafzimmer des Vaters. Molly schrak zusammen, als ihre Tochter sie ansprach.

»Gott, hast du mich jetzt erschreckt!«

»Mutter, sag, das mit Jessica kann doch nicht wahr sein! Gib zu, daß du ihn nur ärgern wolltest!«

»Nein, Marty, es stimmt schon.« Wütend und enttäuscht starrte sie in den Safe. »So ein Pech! Ich bin doch wirklich vom Pech verfolgt! Sonst stapelt er die Scheine hier bündelweise, und ausgerechnet heute ist das Ding leer!«

»Aber das hättest du ihm doch niemals sagen dürfen! Vielleicht damals, ja ... aber doch jetzt nicht mehr!«

»Ich war so außer mir! Er hat mich bis zur Weißglut gereizt!«

»Und warum hast du Jessica eingeweiht? Du mußtest doch wissen, wie sehr du sie damit belastest!«

Molly gab der Safetür einen verächtlichen Stoß, nicht stark genug, daß sie zufiel, und wandte sich zu Marty um. »Soll das ein Verhör sein?«

»Nein, ich versuche nur zu verstehen! Mir kommt es vor, als wärt ihr alle verrückt geworden.«

»Das glaube ich dir sogar. Du warst ja immer das Fräulein Siebengescheit! So überlegen! Du mit deinen fabelhaften Noten und nie mit einer Spur von natürlichem Gefühl!«

Marty überhörte die Anschuldigungen, die ihr nur zu gut bekannt waren. »Ich will wissen, warum du es Jessica gesagt hast! Sie hat dich doch bestimmt nicht in Wut versetzt.«

»Was weiß ich! Das ist ja schon so lange her!«

»Mutter, warum?«

»Vielleicht ist sie mir mit ihrem ewigen Väterchengetue auf die Nerven gegangen. Schon möglich. Aber ich erinnere mich nicht mehr.«

»Du hast ihr also damit eins auswischen wollen? Oh, Mutter!«

»Laß mich in Frieden! Merkst du denn nicht, wie entsetzlich du bist! Immer mußt du bohren und den Dingen auf den Grund gehen. Was für einen Sinn soll das denn haben? Was geschehen ist, ist geschehen. Glaubst du, du kannst was daran ändern, indem du mir Vorwürfe machst? Oder verlangst du, daß ich mich jetzt zerfleische? Außer dir kenneich keinen Menschen, dem nicht schon mal ein unbedachtes Wort entschlüpft wäre.«

Sie ging an Marty vorbei in ihr Schlafzimmer und wollte den Koffer heben.

»Laß mich das machen«, erbot sich Marty, »ich bringe ihn dir in die Garage.«

»Danke.« In der Diele schlüpfte Molly in ihren Nerz und legte sich ihren zweiten Pelzmantel, einen Ozelot, über den Arm.

»Willst du dich nicht von Jessica verabschieden?« fragte Marty.

»Wenn sie Wert darauf legte, käme sie ja zu uns heraus, nicht wahr? Außerdem ist Oberlörick ja nicht aus der Welt. Sie kann mich besuchen, wann immer sie will!« Bei den letzten Sätzen hatte Molly ihre Stimme merklich erhoben.

Marty verstand, daß sie ihrem Mann nicht noch einmal gegenübertreten wollte, und ließ es dabei bewenden. Auf jeden Fall war es richtig, wenn sie nichts unterschrieb.

»Weißt du, wie ich mich fühle?« fragte Molly, als sie den Kofferraum ihres Sportwagens aufschloß.

Marty blickte sie prüfend an. »Nein.«

»Erleichtert! Ich bin froh, daß alles so gekommen ist.«

»Wie schön für dich!« Marty wuchtete den Koffer in das Auto.

»Ich wollte schon lange fort, oh, schon so lange! Aber ohne diesen Krach hätte ich die Kraft dazu nicht aufgebracht. Jetzt bin ich endlich frei. Ich habe alle Brücken hinter mir abgebrochen . . . So sagt man doch?«

»Bist du sicher, daß du nicht in Ruhe mit Vater hättest sprechen können? Er ist doch im großen und ganzen ein vernünftiger Mann.«

»Nicht, was mich betrifft. Er liebt mich zu sehr, weißt du. Du ahnst nicht, was er alles eingesteckt hat, nur um mich nicht zu verlieren.«

»Daß er dich wahnsinnig verwöhnt hat, war nicht zu übersehen.«

»Ich konnte anstellen, was ich wollte, immer hat er beide Augen zugedrückt! Seine entsetzliche Großzügigkeit, seine widerliche Nachsicht! Daraus hat er die Ketten geschmiedet, mit denen er mich an sich gefesselt hat. In deinen Ohren klingt das wahrscheinlich übertrieben, aber genauso empfinde ich es. Du weißt nicht, wie quälend es ist, von einem Mann geliebt zu werden, für den man nichts empfindet.« Sie betrachtete ihre Tochter mit jenem halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick, den Marty so gut kannte. »In dem Punkt jedenfalls hast du Glück gehabt! So was kann dir bestimmt nicht passieren.«

»Danke!«

»Oh, ich wollte dich nicht kränken, Liebes! Es ist nun mal so meine Art, alles auszusprechen, was mir durch den Kopf geht. Du kennst mich ja.«

»Nein«, sagte Marty, »ich glaube, ich fange erst jetzt langsam an, dich kennenzulernen!« Sie öffnete das Garagentor. Molly setzte sich hinter das Steuer, steckte den Zündschlüssel ein, drehte ihn und gab Gas, bis der Motor ansprang. Marty klopfte gegen die Scheibe, und die Mutter kurbelte sie herunter.

»Solltest du nicht lieber telefonieren?« fragte Marty. »Ich meine, er kann doch nicht wissen, daß du kommst?« »Natürlich nicht! Das wird eine tolle Überraschung werden!« Molly kurbelte das Fenster wieder hinauf, und das Auto schoß in die Dunkelheit.

Marty stand da und blickte hinterher bis die Rücklichter verschwanden; sie fühlte sich sehr alt.

Vom Kaiser-Wilhelm-Ring waren es mit dem Auto nicht mehr als gute zehn Minuten bis nach Oberlörick, wenn man, wie Molly Holzner, die Strecke gut kannte und die Fallen der Einbahnstraßen zügig umfuhr. Als sie vor dem Grundstück auf der Kreutzerstraße hielt, auf dem Jupp Schmitz sich seinen Flachbau errichtet hatte, war sie immer noch aufgekratzt. Sie ließ das Auto stehen ohne abzuschließen, nahm nur ihren Ozelot und ihre Handtasche und stökkelte über die Platten des Gartenweges auf die Haustür zu. Durch die nicht ganz dicht zugezogenen Vorhänge des Wohnzimmers fiel ein Streifen Licht auf das vor Nässe glänzende struppige Wintergras. Jupp Schmitz war noch auf. Das schien ihr ganz selbstverständlich. Es war ihr gar nicht zu Bewußtsein gekommen, daß es inzwischen auf Mitternacht zuging.

Sie mußte zweimal läuten, bevor er öffnete. Er war im Schlafanzug, über dem er einen eng gegürteten weinroten Bademantel trug, und hatte graue Wollstrümpfe an den Füßen und lederne Schlappen. Sie konnte ihrem Impuls, ihm um den Hals zu fallen, nicht nachgeben, denn unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.

»Du?« fragte er, nicht gerade erschrocken, aber auch nicht erfreut, sondern nur maßlos erstaunt.

»Ich habe meinen Mann verlassen!«

»Warum?«

»Ich habe es nicht länger ausgehalten.«

»Wat du nich sagst!«

»Freust du dich denn gar nicht? Ich habe es doch für dich getan!«

»Is dat nich ein bisken voreilig gewesen?«

»Ach, Jupp, Jupp, sei doch nicht immer so schwerfällig!« Sie gab ihm ihre Autoschlüssel. »Da, hol mir meinen Koffer!«

Er nahm den Schlüssel, betrachtete ihn aufmerksam, als hätte er dergleichen noch nie gesehen, und richtete dann den Blick seiner schwarzen Augen mit dem gleichen Ausdruck auf sie. »Das ist aber mal ’ne Überraschung«, sagte er.

Ganz unvermittelt überfiel sie die wilde, fast panische Angst, daß er sie zurückweisen könnte. »Jupp, bitte!« flehte sie und merkte mit Scham und Schrecken, daß ihre Stimme ihr nicht gehorchte. »Du willst mich doch nicht hier stehenlassen?«

Seine Züge glätteten sich und nahmen ihren üblichen Ausdruck von Gelassenheit an. »Nur keine Bange, Molly, komm rein!« Er lächelte sie liebevoll an, jetzt zum ersten Mal.

Sie ließ den Ozelot fallen und warf sich in seine Arme.

»Na, na, na!« Er klopfte ihr auf den Rücken. »War es denn so schlimm?«

»Noch schlimmer, Jupp, du kannst es dir nicht vorstellen!«

»Eifersüchtig, dein Alter?«

»Schrecklich!«

»Und du hast mir immer gesagt, er macht sich gar nichts draus.«

»Das hatte ich ja auch gedacht . . . bis heute abend.«

Er schob sie etwas von sich und legte die Hand unter ihr Kinn, um ihr in die Augen sehen zu können. »So ’n Ehekrach, weißt du, der kommt alle Tage vor. Ich würde sagen, jetzt trinken wir erst mal nen Schlückchen, und dann fährst du wieder zurück, haust dich in die Heia, und morgen sieht alles anders aus.«

»Nein«, stammelte sie, »nein.«

»Aber bei mir kannst du doch nicht bleiben.«

»Warum nicht, Jupp, du hast doch Platz genug.«

»Aber das gehört sich doch nun mal nicht . . .«

»Erst verführst du mich . . .«

»Stopp, Molly! Denk mal nach: war es nicht grad umgekehrt?«

»Jedenfalls hat es dich keine Überwindung gekostet, mit mir zu schlafen, und jetzt, wo ich dich brauche . . .«

»Ich hab’ keine Zeit für so was.« Er ging vor ihr her in das unaufgeräumte Wohnzimmer; auf dem großen Tisch lagen aufgeschlagene Bücher und Hefte. »Sieh mal, was ich gemacht hab’, seit du weg bist . . . nämlich gearbeitet. Da!« Er schlug mit der Hand auf ein Heft. »Verrechnung der Gemeinkosten auf der Basis der produktiven Löhne . . . meinst du vielleicht, daß das einfach ist! Addition aller Gemeinkosten, auch der kalkulatorischen. Gemeinkostenzuschlagsrate in Prozenten . . . wenn ich das nicht in meinen Kopf reinkriege, mache ich den Meister nie! Dann brauche ich mich nicht mal erst zur Aufnahmeprüfung zu melden. Die stellen Ansprüche heutzutage, das kannst du dir nicht vorstellen.«

Molly hatte ihren Ozelot aufgehoben, war ihm gefolgt und warf den Pelz jetzt auf das Sofa. Obwohl es nicht gerade warm im Zimmer war – Jupp Schmitz hielt viel von Heizkostenersparnis –, zog Molly ihren Nerz aus und legte ihn zu dem Ozelot, um ihm und sich selber zu beweisen, wie sehr sie sich bei ihm zu Hause fühlte. »Aber, Jupp, ich werde dich doch nicht stören!«

»Ich muß allein sein, wenn ich arbeite. Das war schon als Kind so! Wenn ich arbeite, kann ich kein Volk um mich haben.«

»Dann gehe ich eben so lange in die Küche.«

»Du? Den ganzen Abend in der Küche hocken? Ausgerechnet du?«

»Du hast ja auch noch die Kammer. Die werde ich für mich herrichten. Die ist groß genug, und ein Fenster hat sie auch.«

»Ich weiß nicht, warum du dir das in dein hübsches Köpfchen gesetzt hast. Es war doch so schön mit uns zwei beiden, alles hat prima geklappt, und nun auf einmal . . .«

»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich aufgegeben?«

»Aber das verlangt doch niemand!«

»Doch, mein Mann! Er hat mich vor die Wahl gestellt. Entweder Schluß mit dir . . . oder mit unserer Ehe.«

Jupp Schmitz kratzte sich am Hals. »Wir hätten vorsichtiger sein müssen, das hab’ ich dir immer gesagt.«

»Wir sind’s aber nicht gewesen. Bitte, begreif doch endlich, Jupp: Ich kann nicht mehr zurück! Nie mehr. Und ich will auch nicht zurück!«

»Aber du hast es doch gut gehabt bei deinem Mann. Der Bauwaren-Holzner, der hat doch Millionen. Die kannst du doch nicht so einfach schwimmen lassen.«

»Das will ich ja auch gar nicht, Jupp! Ich will mich scheiden lassen. Dann muß er sein verdammtes Geld mit mir teilen!«

»Bist du sicher, daß das klappt?«

»Aber ja doch! Du hältst mich für ein Dummchen, ich weiß, alle halten mich dafür. Vielleicht bin ich auch wirklich nicht besonders schlau. Vom Nachdenken kriegt man sowieso nur Falten im Gesicht. Aber was wichtig ist, weiß ich eben doch: Mein Mann und ich leben in einer Zugewinngemeinschaft. Einen Ehevertrag haben wir bestimmt nie geschlossen. Also muß er mir bei der Scheidung die Hälfte von allem abgeben.«

»Ja, dann bist du fein raus.«

»Wir beide, Jupp! Ich will ja das Geld gar nicht für mich haben, sondern für dich . . .damit du dir eine Existenz aufbauen kannst!«

Weniger als von ihren Worten, an die er nicht recht glauben konnte, wurde er von ihrem Auftreten hingerissen, flammend, begeistert und schön stand sie vor ihm, eine begehrenswerte Frau, und er begehrte sie.

Aber er konnte das, was er empfand, nicht in Worte kleiden. »Du bist mir schon eine«, sagte er nur.

Aber sie verstand, was er meinte. »Und du brauchst keine Angst zu haben, Jupp!« rief sie. »Du mußt mich nicht heiraten, an so was brauchst du gar nicht zu denken. Jetzt bin ich noch jung genug für dich . . .«

Plötzlich, als würde sie unsicher, fragte sie kokett: »Das bin ich doch . . . oder?«

Er grinste anerkennend. »Kann man wohl sagen!«

»Vielleicht ändert sich das ja auch nicht so bald. Aber bestimmt will ich dir nie als Klotz am Bein hängen. Entweder kriegst du das Geld von mir zu einem günstigen Zinssatz, oder du nimmst mich als stillen Teilhaber in deine Firma!«

»Wenn du es erst hast«, bemerkte er skeptisch.

»Aber ich kriege es, ganz bestimmt! Was soll denn da schiefgehen?«

»Dein Bauwaren-Holzner könnte zum Beispiel Pleite machen . . .«

»Ausgeschlossen!«

»Mein lieber Schwan, ich hab’ schon Pferde kotzen sehen, und zwar vor der Apotheke!« Er wandte sich zur Tür.

»Wo willst du hin?«

Er hob die Hand und ließ ihre Autoschlüssel gegeneinander klirren. »Deinen Krempel holen! Oder hast du es dir anders überlegt?«

»Nein!« rief sie leidenschaftlich.

»Zu was stehen wir dann noch hier herum und reden?« Sie lief zu ihm hin. »Ich weiß, ich habe dich überrumpelt. Tut mir leid, daß das so plötzlich kam! Aber du freust dich doch auch, nicht wahr? Gib es zu!«

»Und ob! Du weißt doch selbst, daß du ’ne janz leckere Schatz bist!«

Er packte sie mit jener Härte, nach der sie so verlangte, und als er sie küßte, erschauerte sie vor Lust. Ihr Mann, ihre Töchter, ja, sogar ihr Auto und ihr Koffer, alles war vergessen. Es gab nur ihn für sie, diesen starken, unkomplizierten Mann, in dessen Armen sie sich so jung fühlte, als wäre ihr mit ihm die Liebe zum erstenmal begegnet.

Als er sich von ihr löste, war es für sie wie ein kleiner Schock, und nur mit Anstrengung fand sie in die Wirklichkeit zurück. »Was ist?« fragte sie verwirrt.

Zärtlich strich er ihr eine Locke aus der glühenden Stirn. »Ich kümmere mich jetzt erst mal um dein Auto.«

»Ist das denn wichtig?«

»Alles muß seine Ordnung haben. Mach’s dir gemütlich.« Er lächelte ihr aus seinen dunklen Augen zu. »Von nun an haben wir ja jede Menge Zeit für das andere.«

»Ja«, sagte sie glücklich, »das haben wir.« Erschöpft sank sie auf das Sofa, zwischen ihre Pelze, aber eine Sekunde später sprang sie wieder auf und lief ins Schlafzimmer, um sein breites Junggesellenbett, das noch zerwühlt vom Nachmittag war, für die Nacht zu richten.

Am nächsten Morgen saßen sich Marty und Hartmut Holzner beim Frühstück gegenüber.

Frau Baumann, die Hausangestellte, die in der Frühe kam, zu Mittag kochte und erst am Nachmittag ging, wenn alles für das Abendbrot gerichtet war, hatte den Tisch sorgfältig gedeckt. Die Brötchen waren knusprig, der Kaffee stark und der Orangensaft frisch ausgepreßt.

Da der Tag dunkel und regnerisch war, brannten in dem kleinen Eßzimmer alle Lampen, aber die Vorhänge waren nicht zugezogen, so daß Vater und Tochter sich auf einer Insel des Lichtes inmitten in der Dunkelheit fühlen konnten. Eine Weile aßen sie schweigend; sie waren es nicht gewohnt, miteinander zu reden.

Endlich zwang sich Marty, einen Anfang zu machen. »Ich habe, bevor ich runterkam, bei Jessica hereingesehen. Sie schläft wie ein Murmeltier.«

Er ging nicht darauf ein.

»Was soll aus ihr werden, Vater?«

»Sie wird natürlich weiter zur Schule gehen.«

»Das meine ich nicht.«

Er schwieg.

Marty versuchte einen neuen Vorstoß. »Du willst ihr doch nicht im Ernst deinen Namen aberkennen, Vater? Das hast du gestern doch nur so gesagt, nicht wahr?«

»Sie ist nicht meine Tochter.«

»Mein Gott, du hast sie doch immer so liebgehabt! Denk doch nur daran, wie stolz du auf sie warst und wieviel Freude sie dir gemacht hat!«

»Als ich glaubte, daß sie mein Kind wäre.«