Alt mit Schuss - Michael Naseband - E-Book

Alt mit Schuss E-Book

Michael Naseband

4,6

Beschreibung

Michael Naseband war echter Mordermittler, Polizeichef am Flughafen in Pristina und zuletzt TV-Cop auf Sat1. Kein Wunder, dass ihn dauernd jemand erkennt, obwohl er inzwischen in Düsseldorf ein gemütliches Kneipenwirt-Dasein genießt. Das ändert sich, als ihn eine junge Frau bittet, nach ihrer vermissten Freundin zu suchen, die tags zuvor bei einem ausufernden Junggesellinnenabschied an der »längsten Theke der Welt« verschütt ging. Naseband übernimmt den Auftrag. Doch dabei lernt er eine neue, dunkle Seite seiner Stadt kennen - und legt sich mit den falschen Leuten an.

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Michael Naseband, geboren 1965 in Düsseldorf, arbeitete als Polizist bei der Mordkommission und im Kosovo, bevor er einem breiten Publikum durch die SAT1-Serie »K11 – Kommissare im Einsatz« bekannt geworden ist. »Alt mit Schuss« ist sein erster Kriminalroman.  

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind zum Teil frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht immer gewollt und manchmal zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/ThomasVogel Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-778-9 Naseband ermittelt Originalausgabe

1

»Endlich! Bitte, Sie müssen mir helfen, Linda ist verschwunden!«

Mit diesen Worten ging etwas von vorne los, von dem ich mir eingebildet hatte, es läge ein für alle Mal hinter mir.

Es war ein brütend heißer Sonntag im August, der bislang heißeste Tag des Jahres. Wir Düsseldorfer litten seit zwei Wochen unter einem Azorenhoch namens Sonia, das für Insomnia sorgte. Ich hatte mich den ganzen Morgen schlaflos und schwitzend im Bett gewälzt, war verkatert aufgestanden und alles andere als sonnigen Gemüts, als ich mich auf den Weg zu meiner Kneipe machte.

Ich sah auf die Fliegeruhr mit Edelstahlband, die ich von meinem Vater geerbt hatte, und beschleunigte meine Schritte. Viertel nach eins. Verdammt! Normalerweise ging ich um elf ins NASEBAND’S, bereitete alles vor und öffnete dann um zwölf. Doch was war schon normal in den Wochen seit der Eröffnung? Seitdem hätte ich mir den Weg zu meiner Wohnung und zurück eigentlich sparen und ebenso gut auf dem ungemütlichen Sofa im Büro der Kneipe schlafen können. Obwohl gemäß dem Schild an der Tür als Öffnungszeit zwölf bis zwei Uhr angegeben ist, hatte ich es bis zu jenem Tag noch nicht geschafft, vor vier Uhr in der Früh abzuschließen. Im besten Fall. Am Wochenende wurde es gern auch mal sechs. So wie gestern, als sich Menschenmassen, bestehend aus Mitgliedern zahlloser Junggesellenabschiede und Altstadt-Rummel-Touristen, die von uns Düsseldorfern zugleich verachtet und gebraucht werden, die Klinke in die Hand gaben. Die längste Theke der Welt will eben besucht werden.

Ich hatte mich von der ausgelassenen Samstagabendstimmung mitreißen lassen und fast so viel getrunken wie früher auf der anderen Seite des Tresens. Meinem gestrigen Alkoholpegel entsprechend marterten mich jetzt Kopfschmerzen, die von der knallenden Sonne noch verstärkt wurden. Deshalb nahm ich mir vor, den Tag so ruhig und stressfrei wie möglich zu überstehen und früher als üblich abzuschließen. Um Mitternacht vielleicht. Oder zweiundzwanzig Uhr. Vielleicht sogar zwanzig Uhr? Der Mensch braucht Perspektiven, und das war doch mal eine. Ich fing an, den Abend herbeizusehnen und mir auszumalen, wie ich ihn verbringen würde.

»Endlich!«, riss mich die ungeduldige Stimme aus meinen Gedanken, in die ich so vertieft war, dass ich die Frau nicht bemerkte, die vor der Tür des NASEBAND’S auf mich wartete. »Bitte, Sie müssen mir helfen«, drängte sie hastig und schob dabei ihre Sonnenbrille hoch, »Linda ist verschwunden! Sie wissen schon, der Junggesellinnenabschied, wir waren gestern hier. Ich bin Nele, erinnern Sie sich?«

Und ob ich mich erinnerte. Sie war mir sofort aufgefallen, als sie am Tag zuvor am späten Nachmittag mit ihren Freundinnen meiner Kneipe einen Besuch abgestattet hatte. Wie hätte ich sie auch übersehen können, sie war genau mein Typ: ein Kopf kleiner als ich, Haare bis zum Hintern, farblich dem Eichenparkett meiner Bar ähnelnd, nicht übertrieben schlank, sympathisches Gesicht mit großen braunen Augen, aus denen es bei der Party fröhlich gestrahlt hatte. Heute lagen Sorge und Angst in dem Blick.

»Wir sind aus Vechta«, fuhr Nele aufgeregt fort, weil ich noch nicht geantwortet hatte, »ich bin die Trauzeugin. Wir haben mit drei Freundinnen Lindas Junggesellinnenabschied gefeiert. Wir waren auch bei Ihnen.« Hektisch holte sie ein Streichholzheftchen mit NASEBAND’S-Aufdruck aus ihrer kleinen Umhängetasche. Ich mochte ihren Stil, die kleine Tasche, das marineblaue Minikleid, das eng an ihrem Körper lag und dunkle Schweißflecken unter den Achseln ebenso sichtbar werden ließ wie die BH-freien Brustwarzen, die sich unter dem Stoff abzeichneten. Ich musste mir mit den kurzen Ärmeln meines blau-weiß gestreiften Hemdes den Schweiß von der Stirn wischen, damit er mir nicht in die Augen lief.

»Das ist unser einziger Anhaltspunkt«, sprach Nele schnell weiter, »mir fiel dann ein, dass Sie ja Polizist waren und uns vielleicht helfen können.«

Ich atmete tief durch. Bei dieser Hitze und meiner Laune konnte ich so einen sonntäglichen Überfall gerade noch gebrauchen.

»Wir trinken jetzt erst mal ’n Kaffee«, sagte ich beschwichtigend und schloss die Tür auf, »und dann erzählst du mir langsam und in Ruhe, was passiert ist.«

2

»Das ist ja das Problem«, sagte Nele unglücklich und setzte sich an die Bar, hinter der ich hantierte, »dass wir nicht wissen, was geschehen ist. Wir kriegen nur noch Bruchstücke zusammen.«

Während die Kaffeemaschine aufheizte, wischte ich mir mit einem Handtuch Schweiß vom Kopf, stellte zwei große Gläser auf den Tresen, füllte sie mit Sprudelwasser und schob eines zu Nele. Mein Glas leerte ich auf ex. »Mann, die Hitze macht mich fertig.« Ich schenkte mir sofort nach. »Was möchtest du? Normalen Kaffee, Cappuccino, Milchkaffee, Espresso?«

»Cappuccino, bitte. Ich bin so froh, dass Sie mir helfen.« Sie griff nach ihrem Wasserglas und trank in großen Schlucken.

»Erstens duzen wir uns hier, das haben wir übrigens auch gestern schon getan. Und zweitens weiß ich noch nicht, ob ich helfe.« Hastig schob ich hinterher: »Helfen kann, meine ich. Liefere mir doch erst mal ein paar Fakten.« Ich schenkte ihr Wasser nach.

»Ich versuch’s, aber das wird nicht ganz einfach. Als wir heute Vormittag aufgewacht sind, kamen wir uns wie im falschen Film vor. Wie in ›Hangover‹, nur ohne Tiger im Bad. Wir haben alle den totalen Blackout, unsere Handys sind weg, der Geldgewinn und vor allem Linda, die Braut.«

»Die mit der Prinzessinnenkrone? Schulterlange schwarze Haare, rundliches Gesicht mit Sommersprossen?«

Nele nickte. »Nächsten Samstag ist ihre Hochzeit. Wenn sie bis dahin wieder auftaucht. Scheiße aber auch!« Sie seufzte aufgewühlt und kramte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche. »Ich muss eine rauchen. Kommen Sie … kommst du mit?«

»Du kannst hier rauchen. Scheiß Rauchverbot.«

Ich zündete ihre Gauloise, dann meine Lucky Strike an und bereitete einen Cappuccino zu, während Nele weitersprach. Meine Laune verbesserte sich schlagartig, als ich den Duft der gemahlenen Kaffeebohnen in meine Nase sog, der sich mit dem Zigarettenrauch, dem Geruch des Holzes von Boden und Tresen und Neles dezentem Parfüm auf wunderbare Weise vermischte.

»Es müssen letzte Nacht seltsame Sachen passiert sein, nur hat keine von uns eine Ahnung, wo wie was warum passiert ist. Ich bin vorhin schon mit Jennifer bei der Polizei gewesen, nicht nur wegen der Vermisstenmeldung.«

»Wieso nicht nur?«

»Wir vermuten, dass uns jemand K.-o.-Tropfen verpasst hat. Deswegen auch der komplette Filmriss, die Übelkeit und die Kopfschmerzen. Und Jennifer …« Nele schluckte. »Sie hatte Sperma im Höschen. Wir befürchten, dass sie vergewaltigt wurde.«

»War sie schon im Krankenhaus?«

»Die Polizei ist mit ihr in die Rechtsmedizin gefahren. Dort wird sie gerade untersucht. Aber dass Linda verschwunden ist, haben die Polizisten zwar registriert, meinten aber, wir sollen erst mal abwarten, die können da noch nichts unternehmen.«

»Das ist halt so, ohne konkreten Hinweis auf ein Verbrechen oder eine Gefahrensituation ermittelt die Polizei in der Regel erst, wenn jemand länger als achtundvierzig Stunden vermisst wird.«

»Das haben die auch gesagt. Und meinten, die taucht schon wieder auf. Die haben Nerven, echt!« Nele schüttelte den Kopf und saugte an ihrer Zigarette.

Ich stellte ihr den Cappuccino hin und für mich einen normalen Kaffee mit kalter Milch. »Die haben halt ihre Erfahrungen. In der Regel tauchen die meisten Leute innerhalb von zwei Tagen wieder auf. Hat Linda hier Bekannte oder Verwandte?«

»Nein, auf der Zugfahrt hat sie noch erzählt, dass sie noch nie in Düsseldorf gewesen ist.«

Ich nippte an meinem Kaffee und dachte nach. »Kann es sein, dass sie kalte Füße gekriegt hat?«

»Wie, kalte Füße?«

»Viele Heiratswillige befallen auf den letzten Drücker doch noch Zweifel oder Panik. Also nehmen sie sich eine spontane Auszeit, um ihre Entscheidung noch mal zu überdenken. Und wenn sie sich gegen die Hochzeit entscheiden, trauen sie sich oft nicht, es dem Partner und Angehörigen zu sagen. Sie ziehen es dann vor, sich ins Ausland abzusetzen, wollen eine neue Existenz anfangen oder brennen mit irgendwem durch oder oder oder.«

»Nein, das glaub ich nicht, Linda ist nicht so eine. Wenn die sich für was entscheidet, bleibt sie auch dabei.«

»Vielleicht hat sie sich auch spontan in einen anderen Mann verliebt und ist bei dem. Die Düsseldorfer Altstadt ist das Mekka für Singles und Flirtwillige.«

»Linda ist aber nicht flirtwillig! Sie will nächsten Samstag heiraten.«

Ich zog an meiner Zigarette und sah, wie der Rauch durch die Strahlen der Mittagssonne wirbelte. »In ›Hangover‹ wird der Bräutigam zuletzt auf dem Hoteldach gefunden. Vielleicht schläft Linda irgendwo ihren Rausch aus.«

»Oder sie wurde mit K.-o.-Tropfen betäubt«, erwiderte Nele düster und drückte ihre Kippe aus, »und ist in der Gewalt eines Psychos.«

»Jetzt geh nicht gleich vom Schlimmsten aus«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Erzähl mal von Anfang an. Ihr seid gestern aus Vechta hergekommen?«

»Nein, Freitag schon. Wir sind zu fünft am frühen Abend angereist, also Linda und ich und Tamara, Anna und Jennifer. Als Erstes haben wir in die Ferienwohnung eingecheckt. Danach eine kleine Stadttour gemacht. Abends wollten wir dann typisch rheinländisch essen und sind mit dem Taxi ins Meuser gefahren, weil es dort laut Reiseführer-App den besten Speckpfannekuchen der Stadt geben soll.«

»Das stimmt«, bestätigte ich. Das Gasthaus Meuser lag auf der linken Rheinseite im Stadtteil Niederkassel, wo alte Fachwerkhäuschen und enge Gassen Dorfcharme verbreiten. Die Einrichtung des Meuser ist so altmodisch und traditionell wie die Speisekarte. Wenn ich Rheinischen Sauerbraten oder andere heimatliche Spezialitäten essen will, fahre ich öfters dorthin.

»Nach dem Essen«, fuhr Nele fort, »sind wir zurück zur Ferienwohnung und zeitig schlafen gegangen. Gestern sind wir dann nach dem Frühstück über die Kö gebummelt und haben die Auslagen bestaunt. Mittags sind wir zurück in die Wohnung und haben Linda bei einer Flasche Prosecco das Buch überreicht.«

»Was für ein Buch?«

»Mit den Aufgaben für die Braut. Was die alles machen muss an dem Abend. Da klebt man dann später die Fotos ein.«

»Stimmt, habt ihr mir ja gezeigt«, nickte ich und zog an meiner zweiten Zigarette.

Diese Junggesellenabschiede sind wie die Pest und gehen mir gehörig auf die Nüsse. Die Altstadt wimmelt samstags nur so von albern kostümierten Grüppchen besoffener Heiratswilliger und ihrer Freunde. Der oder die Heiratswillige in spe muss die beklopptesten Rituale und dämlichsten Spielchen mit Passanten veranstalten. Wenn ich so eine Gruppe erspähe, beschleunige ich meine Schritte und laufe einen großen Bogen, um einer Ansprache zu entkommen. Denn was diese Ex-Singles ab drei Promille besonders gut draufhaben, ist eines: Penetranz. Sie laufen einem nach, zuppeln respektlos am Shirt oder versperren gleich dreist den Weg und versuchen, einen zu Trinkspielchen, Fotos oder zur Herausgabe der Unterwäsche zu bewegen. Sie finden das lustig und haben ihren Spaß. Niemand sonst.

Nele trank einen großen Schluck von ihrem Wasser und erzählte weiter: »Als erstes Spiel vor der Altstadt-Tour stand Pech und Glück auf dem Programm. Wir sind am frühen Nachmittag in die Spielbank nach Duisburg gefahren und haben Linda Jetons geschenkt, die sie nach dem Motto ›Pech im Spiel, Glück in der Liebe‹ verzocken sollte.«

Ich nickte verstehend. Typischer Auftakt für einen Junggesellenabschied. Mit dem Zug braucht man von Düsseldorf nur elf Minuten nach Duisburg. Die Spielbank liegt direkt am Duisburger Hauptbahnhof. Ein, zwei Stunden zocken, danach zurück nach Düsseldorf und das Geld, das übrig ist, an der längsten Theke der Welt versaufen. Die Teilnehmer dieser Single-Verabschiedungs-Orgien halten das für originell. Wir Düsseldorfer nicht.

»Dummerweise hat Linda aus den geschenkten hundert Euro innerhalb von einer Stunde zweitausend gemacht, immer nur auf Rot gesetzt. Die Glückssträhne wurde uns richtig unheimlich, und ich meinte dann, Schluss jetzt, Linda, sonst wird deine Ehe am Ende noch die Hölle, wenn du alles Glück auf einmal verbrätst. Also sind wir zurück nach Düsseldorf und haben uns am Hauptbahnhof vor den Schließfächern umgezogen. Wir hatten dort unsere Party-Ausstattung für den Abend und den Bauchladen deponiert.«

»Du sagtest vorhin, dass außer Handys auch der Geldgewinn weg ist. Habt ihr die zweitausend vielleicht im Bahnhofsschließfach weggeschlossen, bevor ihr in die Altstadt seid?«

Nele schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich hatte mir extra vorher so eine Bauchtasche gekauft, damit nichts wegkommt. So ein fieses hässliches Nylonding, wie es Touristen oft vorm Bauch gespannt haben. Hab mir schon gedacht, dass ich vielleicht nicht mehr Herrin der Lage sein werde nach stundenlanger Trinkerei. Jedenfalls hab ich das Geld da reingepackt, ganz sicher.«

»Und die Bauchtasche ist auch weg?«

Sie nickte bedrückt. »Samt Lindas zweitausend, meinem eigenen Portemonnaie, Smartphone … Einfach alles weg, der totale Horror.«

»Vom Hauptbahnhof seid ihr dann in die Altstadt marschiert«, spekulierte ich.

»Ja. Auf dem Weg sind wir wohl zuerst hier gewesen.«

»Ihr wart ziemlich früh hier, schätze mal, sechzehn Uhr rum. Seid aber nicht lange geblieben, höchstens eine Stunde.«

»Kann sein. Das Letzte, an das ich mich noch erinnere, ist so eine Brauhaus-Kneipe, vor der ganz viele Leute standen. Da haben wir was gegessen. Dann sind wir weitergezogen und haben ganz in der Nähe zwei Typen getroffen und mit denen was getrunken.«

»Was heißt das, was getrunken?«

»Die hatten Flachmänner mit Wodka dabei und haben uns davon trinken lassen. Das war gleich am Anfang, da sind wir auch dieser Fotografin begegnet, die für fünf Euro Polaroidfotos von Touristengruppen macht.«

Diese Fotografen gehörten früher zur Altstadt wie die Rosenverkäufer. Horden von Junggesellenabschieden und marodierende Vereine bildeten ihre Kernzielgruppe. Es schien ein zukunftssicheres Geschäft, denn diese Gruppen sterben niemals aus. Doch mit dem Aufkommen von Fotohandys und Smartphones begann ein stetiger Niedergang dieses Gewerbes.

Nele holte den Abzug einer Sofortbildkamera aus ihrer Tasche und schob ihn mir über den Tresen zu. »Das ist das einzige Bild, das wir von gestern haben.«

Auf dem Foto sah ich die fünf Frauen, die mich erst kurz zuvor besucht hatten, in rosafarbenen T-Shirts in die Kamera feixen. Linda, die designierte Braut mit langen schwarzen Haaren, trug eine goldene Prinzessinnenkrone aus Pappe. Um ihre Schultern hing eine Schärpe: Miss JGA. An ihrem T-Shirt waren rote Stoffherzchen befestigt. Außerdem hatte sie einen Bauchladen umgehängt, der das übliche Zeug enthielt, mit denen diese albernen Kästen bestückt sind: Kondome, Feuerzeuge, gebrauchte Zahnbürsten, rote Rosen, Weingummi, Schokolade, Tütchen mit Konfettiherzen …

Ich hatte Linda ein Feuerzeug und ein Kondom abgekauft, indem ich die Frauen auf eine Runde Bier einlud. Das Kondom hatte ich in der Hoffnung genommen, es irgendwann einmal benutzen zu können. Seit mehr als einem halben Jahr war ich mittlerweile Single, und abgesehen von ein paar belanglosen Bettgeschichten hatte sich meine Erwartung, im NASEBAND’S die Frau fürs Leben oder zumindest eine längere Beziehung zu finden, noch nicht erfüllt.

Nele beugte sich über den Tresen und zeigte mit dem Finger auf das Foto. »Linda und ich, Anna, Tamara und Jennifer.«

»Und die beiden Typen da?« Ich deutete auf zwei junge Männer Mitte zwanzig, die halb verdeckt hinter den Frauen zu sehen waren. Der eine war schlank und blond und trug eine silberne Krawatte auf schwarzem Hemd, der andere war etwas kräftiger gebaut, hatte braune Haare und ein Fantrikot von Borussia Mönchengladbach an. Beide sahen blass und verschwitzt aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, der Blonde hatte weit aufgerissene Augen und pickelige Haut. »Sind das die Typen mit den Flachmännern?«

»Ja. Kennst du sie?«

»Nein. Habt ihr aus demselben Flachmann getrunken?«

Nele dachte angestrengt nach und verengte dabei die Augen. »Jetzt, wo du fragst … Die haben uns den einen Flachmann gegeben und immerzu animiert, mit ihnen anzustoßen. Die selber haben aber ausschließlich aus dem zweiten Flachmann getrunken.«

Ich nickte verstehend. »Wenn ihr tatsächlich K.-o.-Tropfen abbekommen habt, könnten die das getan haben.«

»Schon möglich. Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht mehr, wo das gewesen ist, das muss kurz nach unserer ersten Station am Brauhaus gewesen sein. Aber wo genau … wir waren in so vielen Läden. Ich hab nur so einzelne Bilder und Fragmente im Kopf.«

»Das Foto ist auf der Bergerstraße entstanden«, konstatierte ich. »Das Brauhaus da im Hintergrund ist das Uerige.«

»Das ist ja schon mal ein Anhaltspunkt«, erklärte Nele mit einem Anflug von Hoffnung. Erwartungsvoll sah sie mich an. »Ich fühl mich so aufgeschmissen. Ohne Erinnerung, ohne Plan, in einer fremden Stadt … Wie soll ich Linda bloß finden?«

»Schon gut, hab verstanden.«

Ich schwieg demonstrativ mit demonstrativ gerunzelter Stirn. Beides sollte signalisieren: Ich muss nachdenken. Und das, obwohl mir so heiß ist! Also lenk mich jetzt nicht ab.

Zwanzig Jahre hatte ich als Polizist und zuletzt als Polizeichef im Kosovo ermittelt, anschließend zehn Jahre lang in fast eintausendneunhundert Fällen für »K11 – Kommissare im Einsatz«. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich nach diesen dreißig Jahren noch einmal etwas anderes ermitteln würde außer Warenbeständen und den Durst meiner Kneipengäste. Doch dann fiel mein Blick wieder auf diese Frau vor mir, und ich dachte prompt mit all den Körperteilen, mit denen Männer angeblich immer denken.

»Okay, ich helfe dir. Oder versuch’s zumindest.«

»Danke!« Sie lächelte erleichtert.

Drei Männer um die dreißig torkelten herein. »Geil, hier is ja noch offen«, lallte der Erste. Offenbar hatte die Nacht ihren Durst noch nicht gestillt.

»Nein«, rief ich und eilte um die Theke auf sie zu, »hier ist noch zu. Geschlossene Gesellschaft.« Ich schob die Typen zurück zur Tür. »Genug gefeiert, geht nach Hause, ab in die Heia mit euch!« Ich schloss die Tür hinter ihnen ab, ging zurück hinter meinen Tresen und nahm mein Handy aus der Hose.

Ich tat heimlich einen langen Seufzer, gab mir dann einen Ruck und sagte: »Bevor’s losgeht, muss ich mir eine Vertretung organisieren.«

3

Ich rief Leonie an, meine studentische Aushilfe. Es dauerte eine Weile, bis sie den Anruf entgegennahm. Die Geräuschkulisse im Hintergrund bestand aus Elektrosound, Wasserplanschen, Lachen, Gläserklirren und Gesprächen.

»Na, Leonie, wo erwisch ich dich? Freibad?«

»Besser, viel besser«, kicherte Leonie vergnügt. Sie klang beschwipst. »Kiesgrube!«

Hätte ich mir auch denken können, dass Leonie in der angesagtesten Beachbar NRWs den Sonntag genoss. Die Kiesgrube in Neuss liegt an einem Baggersee und ist ein Eldorado für feierwütige Freunde elektronischer Musik. Das Who’s who der Düsseldorfer Partyszene ist dort bei schönem Wetter immer vertreten. Viele junge attraktive Menschen, die zur musikalischen Beschallung von Top-DJs Cocktails schlürfen und in der Sonne hopsen. The place to be for Leonie.

»Bist du da mit einem Date?«, fragte ich und hoffte auf Verneinung. Wenn sie mit einem Mann dort war, konnte ich mir abschminken, sie loszueisen. Leonie hat ihre Prioritäten.

»Nö, alleine. Ich lerne.«

»Du lernst?« Ich war ehrlich überrascht. Seit wann lernte Leonie für ihr Studium? Musste man überhaupt was lernen für ein Modestudium? »Hast du ’ne Prüfung?«

»Ich lerne, wie man einen Hemingway Daiquiri macht«, antwortete sie stolz. »Der Barmixer ist toootal intelligent und sooo sexy!«

Ich verdrehte die Augen. Leonie hatte sich wieder verliebt. Wie jede Woche. Das war fast gefährlicher als ein Date. Liebes- und cocktailberauscht laberte sie drauflos: »Wusstest du eigentlich, dass Hemingway, du weißt schon, der alte Mann und das Meer, Nobelpreis und so, dass der während seiner Zeit auf Kuba, das war ja seine Wahlheimat, da hat er zwanzig Jahre lang gelebt, jedenfalls war der immer nur in zwei Bars, in der einen hat er Mojito getrunken und in der anderen, La Floridita, seine Daiquiris.«

»Em, Leonie«, versuchte ich einzuhaken, »das ist ja wunderbar, aber …«

»Der Barkeeper vom Floridita«, fuhr Leonie unbeirrt fort, »hat ganz viel mit Daiquiri-Rezepten rumexperimentiert. Der wollte den perfekten Daiquiri mixen. Die Rezepturen hat er einfach durchnummeriert, also stand auf der Karte Daiquiri Nummer eins, Daiquiri Nummer zwei und so weiter.«

»Ehrlich gesagt …«, nahm ich Anlauf Nummer zwei. Vergeblich.

»Aber es gab auch einen Daiquiri des Hauses, den hat er Floridita Daiquiri genannt. Genau den soll Hemingway probiert haben. Und weißt du, was er dann gesagt hat?« Sie imitierte eine tiefe Männerstimme: »Der ist gut. Aber ich mag ihn lieber ohne Zucker und mit doppelt so viel Rum.« In ihrer normalen Stimme fuhr sie redselig fort: »Also mixt ihm der Barkeeper seinen Daiquiri genau so. Hemingway war zufrieden.«

»Du, Leonie …«, versuchte ich es lauter. Keine Chance.

»Diese Daiquiri-Variante bezeichnet man seitdem Papa Doble. Später gab es dann eine Variante mit Maraschino und Grapefruitsaft, die nennt man Hemingway Special. Ob Hemingway Special Daiquiri und Papa Doble wirklich ein und derselbe Drink sind, weiß man aber nicht.«

»War’s das?«, seufzte ich resigniert.

»Und das Allergeilste ist«, fuhr Leonie fort, als hätte es nie Interventionsversuche meinerseits gegeben, »während klassische Daiquiris normalerweise geschüttelt werden, wollte Hemingway seinen Drink mit dem Blender gemixt haben, sprich einen Frozen Daiquiri. Auch lecker, besonders bei den kubanischen Temperaturen. Ich bin mir nur nicht sicher …«

Meine Geduld war am Ende. »Ist gut, Leonie«, rief ich genervt durch den Hörer, »wir nehmen ihn auf die Karte!«

»Das wollte ich hören.«

»Wie viele von diesen Dingern hast du denn getrunken?«

»Erst einen, aber der Barkeeper zaubert mir gerade den nächsten.«

»Dann lass den mal schön den Barkeeper trinken. Du kommst jetzt sofort zur Arbeit, Notfall!«

»Och nee«, versuchte sie halbherzig zu rebellieren, »nicht heute, nicht bei dem Wetter, nicht jetzt …«

»Doch, Leonie, genau jetzt! Du schnappst dir ein Taxi auf meine Kosten und bekommst hundert Prozent Sonntagszuschlag.«

»Wie viel ist das bei elf Euro?«

»Nicht dein Ernst, oder?«

»Zweiundzwanzig, richtig?«

»Freut mich, dass meine Mitarbeiter so gut rechnen können.«

»Und verhandeln auch. Sagen wir hundertfünfzig Prozent, dann bin ich in zwanzig Minuten da.«

»Erpresserin!«

»Meine Opferbereitschaft hat ihren Preis. Kann auch hierbleiben.«

»In zwanzig Minuten im NASEBAND’S«, sagte ich und beendete das Telefonat. Zu Nele: »Erzähl doch mal von Linda. Woher kennst du sie?«

»Von der Realschule. Wir sind im selben Jahrgang gewesen. Danach haben wir zwar unterschiedliche Sachen gemacht, sind aber immer befreundet geblieben.«

»Was für unterschiedliche Sachen?«

»Ich hab Optikerin gelernt, Linda Hotelfachfrau. Aus dem Hotel kennt sie Anna, die auch mitgekommen ist. Linda ist supernett, freundlich. Spontan, tough. Voll positiver Energie. Meine beste Freundin, sonst wär ich ja nicht ihre Trauzeugin.«

»Und nächsten Samstag soll die Hochzeit stattfinden?«, fragte ich, stellte noch mal zwei volle Tassen auf den Tresen und zündete mir eine Lucky Strike an.

»Mit Ben«, nickte Nele. »Der ist erst vor ein paar Jahren nach Vechta gezogen, wegen seinem Job, er ist Ingenieur für Messtechnik. Hat ’nen sicheren Job und gutes Einkommen, aber … Weiß nicht so recht, ob Linda die richtige Wahl getroffen hat und mit dem glücklich wird.«

»Wieso?«

»Ben ist dermaßen eifersüchtig. Beim Tanz in den Mai hätte er fast ’ne Schlägerei angezettelt, als irgendein Kerl mit Linda tanzen wollte.«

Nele verengte wieder konzentriert die Augen zu Schlitzen, wie sie es vorhin schon einmal getan hatte. Mir gefiel dieser Gesichtsausdruck, der ihr etwas Verruchtes verlieh. »Es kommt mir so vor, als hätten wir Ben gestern getroffen. Eigenartig … Ich hab da so Bilder im Kopf, seh ihn richtig vor mir, wie er unbeherrscht ausrastet, genau wie beim Maitanz.«

»Vielleicht hat er gestern auch seinen Junggesellenabschied hier gefeiert.«

Nele schüttelte den Kopf. »Nein, die Jungs haben schon am Freitag gefeiert, in Hamburg.«

»Klar. Wo sonst außer Düsseldorf?«

Hamburg liegt auf dem zweiten Rang der Beliebtheitsskala bei Verabschiedungen vom Unverheirateten-Dasein. Logisch, Reeperbahn und Herbertstraße bieten ein Vollgasprogramm für die letzte Tour in Freiheit. Aber die unangefochtene Nummer eins und Hochburg für Junggesellenabschiede in Deutschland war und ist und bleibt natürlich die Düsseldorfer Altstadt.

Die knappe halbe Stunde, die es letztlich dauerte, bis Leonie auf der Bildfläche erschien, erzählte Nele zunächst von Ben und ihrer Aversion gegen den künftigen Ehemann ihrer besten Freundin, dann gab sie Anekdoten ihrer Freundschaft mit Linda zum Besten. Die letzten Minuten wurde sie zunehmend unruhig und zappelig.

»Ich kann hier nicht sitzen und gemütlich Kaffee trinken«, platzte sie schließlich ungeduldig heraus, »ich muss Linda suchen! Womöglich ist sie in Gefahr und braucht Hilfe. Vielleicht geh ich einfach mal in die Altstadt und frage herum.«

»Eine Minute noch, ich ruf Leonie an und frag, wo sie bleibt«, sagte ich beschwichtigend und griff nach meinem Handy. Kaum hatte ich ihre Nummer gewählt, klopfte Leonie an die Tür und hielt demonstrativ ihr klingelndes Smartphone in die Höhe. Ich schloss auf und ließ sie rein. »Hast wohl doch noch den Hemingway getrunken«, unterstellte ich.

»Den halben«, gab Leonie zu, »hatte ihn ja schon bezahlt.«

Ich stellte die beiden Frauen einander vor. Nele lächelte zwar freundlich, als sie Leonie die Hand schüttelte, musterte sie aber zugleich mit kritischer Distanz. Aus ihrem Blick sprachen Respekt, Neid und Verachtung. Ich schätze, dass ich Leonie ganz ähnlich betrachtet hatte, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie ist Ende zwanzig und ein wahrer Eyecatcher, sehr attraktiv mit langen blonden Haaren, sportlicher Figur und einem Gesicht, das mit den hohen Wangenknochen, der Stupsnase und den mandelförmigen grünen Augen dem Kindchenschema entspricht, das laut Schönheitsforschung die meisten Männer unwiderstehlich finden. So stand es zumindest in der Wochenendausgabe des Express.

»Was für einen Notfall gibt es denn?«, wollte sie wissen.

4

Ich ließ Nele in meinen vor der Tür geparkten, siebzehn Jahre alten Mercedes Kombi einsteigen und fuhr mit ihr bei geschlossenen Fenstern und aufgedrehter Klimaanlage zur Ferienwohnung in der Undinenstraße. Während der knapp sechs Kilometer langen Fahrt in südöstlicher Richtung über Hüttenstraße und Oberbilker Allee parallel zur Düssel und zum großen Volksgarten erzählte Nele, wie lange sie schon Lindas Junggesellinnenabschied vorbereitet hatte und wie froh sie gewesen war, die Ferienwohnung zu ergattern.

»Die Lage ist ideal. Sehr ruhig und doch relativ zentral. Die Haltestelle Werstener Dorfstraße ist keinen Kilometer von der Wohnung entfernt, zu Fuß keine zehn Minuten.«

»Gibt doch auch in der Altstadt Fewos. Wolltet ihr nicht näher am Trubel sein?«

»Klar, aber fast alle schönen und großen Wohnungen waren schon weg, weil ja in manchen Bundesländern noch Schulferien sind. Und viele Vermieter schreiben ausdrücklich, keine Junggesellenabschiede. Haben wohl schlechte Erfahrungen gemacht.«

Kein Wunder, dachte ich. Der Film »Hangover« hatte das Phänomen Junggesellenabschiede verschlimmert und die Erwartungen der Teilnehmer ins Unermessliche getrieben. Wenn die Feier dann enttäuschend verlief und zum Reinfall geriet, war der Frust groß und äußerte sich in sinnlosen Schlägereien und exzessiven Besäufnissen mit entsprechend vollgekotzten und verwüsteten Ferienwohnungen.

Ich zündete mir eine Zigarette an. Nele tat es mir nach und blickte eine Weile schweigend aus dem Fenster. Dann schüttelte sie unglücklich den Kopf. »Was ist letzte Nacht bloß geschehen? Wie konnte ich Linda verlieren?«

»Wenn euch wirklich jemand K.-o.-Tropfen verabreicht hat …«

Nele ließ mich nicht zu Ende sprechen. »Ich bin die Trauzeugin, ich hab alles organisiert, ich hatte die Verantwortung!«

Ich bog in die Nixenstraße und nahm dann den ersten Abzweig in die Undinenstraße. Nele zeigte zu einem von dichtem Wein umrankten Häuschen.

»Da vorn.«

Ich parkte vorm Haus und stieg aus. Die Hitze traf mich wie ein Schlag, es musste an die vierzig Grad sein. Da hatte ich mir was eingebrockt, am heißesten Tag des Jahres.

Nur wenige Sekunden nachdem Nele auf die Klingel der Ferienwohnung gedrückt hatte, wurde die Tür aufgerissen von einer hageren Frau mit brünettem Pagenschnitt und erwartungsvollem Blick. »Ich dachte, es wär Linda …«, sagte sie enttäuscht.

»Habt ihr noch nichts von ihr gehört?«, wollte Nele wissen.

Die Frau schüttelte den Kopf und blickte hoffnungsvoll zu mir. »Helfen Sie uns, Herr Naseband?«

»Ich heiße Michael«, nickte ich, »deinen Namen hab ich mir gestern nicht gemerkt.«

»Tamara«, sagte sie und winkte mich herein. Sie humpelte voran in ein großes Wohnzimmer. Auf dem Sofa lag eine stämmige Frau mit kinnlangen braunen Haaren und griesgrämigem Gesichtsausdruck. Blass und sichtlich leidend hielt sie sich eine Hand an die Stirn, in der anderen hielt sie eine Wasserflasche. Als sie mich erblickte, schreckte sie hoch. »Herr Naseband?«

Nele stellte sie als Anna vor und ließ sich dann erschöpft in einen Sessel fallen. Ich gab Anna die Hand und bot ihr das Du an.

»Gott, wie peinlich«, meinte Anna beschämt, »so prominenter Besuch, und wir haben noch gar nicht geduscht und uns umgezogen.« Sie blickte an sich hinab.

Genau wie Tamara trug sie ein rosafarbenes T-Shirt mit dem weißen Aufdruck »Lindas JGA«. Und genau wie bei der langen Brünetten waren auch Annas Arme mit Herzchen, Namen und Handynummern übersät, auf den Handrücken verschmierte Einlassstempel.

»Ging einfach noch nicht, ich hab so einen Schädel … kann mich nicht rühren.«

Sie nahm eine Kopfschmerztablette aus einer Packung vom Tisch, steckte sie in den Mund und schluckte sie mit dem restlichen Wasser ihrer Flasche.

»Kann ich auch eine haben?«, fragte ich.

»Natürlich«, nickte Anna, »bedien dich.« Sie sank zurück aufs Sofa und hielt sich wieder den Handrücken an die Stirn.

»Ich hol dir Wasser«, sagte Tamara, »zum Glück gibt es hier ’ne ganze Kiste voll.«

Tamara brachte humpelnd eine Flasche Wasser, drückte mir ein Glas in die Hand und goss es voll. Ich nahm mir eine Tablette und spülte sie mit einem großen Schluck hinunter.

»Das ist alles so gruselig«, meinte Tamara, »wir sind total verkatert und haben praktisch null Erinnerung, was wir gemacht haben, wo wir gewesen sind, von wem all das Zeug stammt … Nichts, null, nada!«

»Was für Zeug?«, fragte ich und nahm einen weiteren Schluck.

Tamara stellte die Flasche ab, nahm eine weiße Boxershorts vom Tisch und hielt sie in die Höhe. Im Bereich des Schritts sah ich gelbe Flecken.

»Vollgepisste Männer-Shorts«, sagte sie angewidert und legte die Shorts zurück. »Münzen verschiedener Währungen«, fuhr sie fort und zeigte auf Kleingeld und weitere Gegenstände auf dem Tisch, »Waschanleitungen, Haarbüschel, eine Taschenbibel, Porträtfotos von Frauen und Kindern, die wir nicht kennen, zwei Sonnenbrillen, fremde Schlüsselanhänger, ein Taschenmesser … Und hier, ein Foto mit Polizist.«

Sie reichte mir ein Polaroid, auf dem Linda Arm in Arm mit einem Uniformierten zu sehen war, die Braut mit Polizistenmütze, der Cop mit ihrer Prinzessinnenkrone auf dem Kopf. Das Bild war offensichtlich in der Altstadt auf der Feiermeile Bolkerstraße aufgenommen worden. Wie üblich.

»Gehört das nicht zu den Aufgaben?«, fragte ich. »Passanten Gegenstände entlocken für einen Kuss oder Tanz mit der Braut? Und mit Polizisten Kopfbedeckung tauschen?«

Jeden Samstag sehe ich die armen Kollegen und Kolleginnen auf der Bolker für diese Fotos posieren. Jedes Mal muss ich daran denken, dass mir das auch hätte passieren können, wenn ich mir mein Leben bequem gemacht hätte und bei meinem ersten Beruf als Streifenpolizist geblieben wäre.

»Ja klar«, bestätigte Tamara, »aber dass wir null Komma nix mehr davon wissen, also wann wir wen wo getroffen haben. Da ist bei uns allen nur ein großes schwarzes Loch.«

»Seit wir aus dem Flachmann von den beiden Typen getrunken haben«, warf Nele ein und holte das Polaroid aus ihrer Handtasche. »Michael vermutet, dass wir da schon K.-o.-Tropfen oder was auch immer bekommen haben. Weil wir ja alle ab da nichts mehr wissen. Sind euch die Namen der Typen eingefallen?«

Tamara und Anna schüttelten unisono den Kopf.

»Aber es muss was Schreckliches passiert sein«, sagte Tamara düster. Sie löste mit spitzen Fingern ein Heftpflaster von ihrem Ohrläppchen und offenbarte einen Riss, an dem eine Blutkruste klebte. »Meine Kreole ist rausgerissen. Und mein Knöchel ist geschwollen.« Besorgt sah sie mich an. »Ich weiß nicht, aber … vielleicht hab ich mich gewehrt, vielleicht sollte ich auch vergewaltigt werden, wie Jennifer.«

»Ist das denn sicher, dass eure Freundin missbraucht wurde?«

»Sie hat bestimmt nicht freiwillig Sperma im Höschen …«

»Und bei dir?«

»Nein, das nicht.«

»Verletzungen im Intimbereich oder blaue Flecken an den Innenschenkeln?«

Tamara verneinte.

»Fehlen Klamotten, zum Beispiel dein BH?«

»Nein, nur die Kreole, die war aus echtem Gold.«

»Na, dafür hast du diesen Ohrring«, warf Nele ein.

»Stimmt«, nickte Tamara, kramte aus ihrer Handtasche einen massiven Ohrring aus Weißgold hervor und reichte ihn mir. »Keine Ahnung, wo der herkommt. Schräg, oder?«

Ich betrachtete das Schmuckstück und gab es wieder zurück.

»Mir fehlt auch Schmuck«, mischte sich Anna mit gequälter Stimme vom Sofa ein. »Die Goldkette mit dem Brillantanhänger. Erbstück meiner Großmutter, irre kostbar. Das werd ich mir nie verzeihen, dass ich die gestern getragen hab! Ich Idiot!«

»Sicher, dass du die gestern getragen hast?«, vergewisserte ich mich.

»Hundertpro!«, antwortete Anna.

»Hier hat sie die Kette ja noch um«, erklärte Nele. Sie beugte sich vor und gab mir den Schnappschuss aus der Bergerstraße, auf dem alle fünf Frauen in die Kamera feixen. Annas Goldkette war ebenso gut zu erkennen wie Tamaras großer Ohrring.

»Gibst du mal meine Tasche?«, bat Anna Nele und zeigte zu einer Handtasche auf dem Boden neben dem Sessel. Daraus zog sie dann eine Herrenarmbanduhr hervor. »Weiß der Himmel, wo die herkommt.«

Sie reichte mir die Uhr und wühlte ein doppelt gefaltetes Blatt Papier hervor. Während ich mir die Uhr ansah, entfaltete sie den Zettel.

»Eine Omega Seamaster!«, stellte ich fest. »Die ist nicht ganz billig.«

»Vielleicht hab ich mich für den Diebstahl der Kette gerächt und jemand anders bestohlen. Aber der Oberhammer ist das hier, Projekt Familie.«

»Was soll das sein?«

Sie wedelte mit dem Papier. »Die Kopie eines Vertrages über das Projekt Familie.«

Neugierig nahm ich ihr das Blatt ab und las den handschriftlich verfassten, krakeligen Text laut vor: »Also ›Vertrag Projekt Familie. Die Vertragsparteien wünschen sich schon lange ein Kind. Aus ihren gescheiterten Beziehungen resultierten bislang keine Babys, sondern ausschließlich Enttäuschungen und Frust. Deshalb haben sie sich heute entschieden, auf eine der Familiengründung vorgelagerte Liebesbeziehung zu verzichten, und beschließen die zeitnahe Gründung einer Familie. Zu diesem Zweck werden sie sich ab heute monatlich entsprechend dem Eisprungkalender zu Zeugungsversuchen treffen.‹ Darunter steht: Düsseldorf, 3. August, Anna Schlüter und Tobias Ma… Maller, Mahler, Malten … kann man nicht lesen.«

»Besser so, ich will’s gar nicht so genau wissen. Gott, wie peinlich!«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Ist doch süß. Anscheinend hast du dich mit diesem Tobias amüsiert. Womöglich hat der deine Kette.«

»Unsinn!«, stieß Anna genervt hervor. »Das ist doch total lächerlich, Projekt Familie! Das hat doch wohl nicht Bestand vor Gericht, oder?«

»Natürlich nicht. Es ist offenkundig, dass das eine Schnapsidee gewesen ist.«

Anna atmete erleichtert aus. »Ich dachte schon … weil das in so verschwurbeltem Juristendeutsch geschrieben ist.«

»Dieser Tobias könnte Anwalt sein. Oder Jurastudent.«

»Wir werden es nie herausfinden.«

»Abwarten«, widersprach ich. »Ich fasse mal zusammen: Euch fehlen ein paar Schmuckstücke, die zweitausend Euro Spielbankgewinn, alle Portemonnaies und Handys, aber die Handtaschen sind noch da. Tamaras Ohrläppchen ist gerissen und ein Fuß verstaucht, eure Freundin Jennifer hat Sperma im Slip. Ihr könnt euch alle an nichts mehr erinnern und wisst nicht mal, wann und wie ihr nach Hause gekommen seid.«

»Vielleicht mit dem Taxi.« Tamara nahm eine Taxiquittung vom Tisch. »Das Datum ist von heute, aber keine Uhrzeit.«

Ich schaute auf den Preis. »Vierzehn Euro. So viel dürfte eine Fahrt aus der City hierher in etwa kosten. Ein Anhaltspunkt. Kann ich die Quittung mitnehmen?«

»Natürlich. Wenn es was nützt.«

»Da euer Gedächtnis keine Hinweise liefern kann, was passiert ist und wo Linda stecken könnte, müssen wir uns von Indiz zu Indiz hangeln. Dazu zählt, dass ich eure Handys orten lasse. Schreibt mir bitte die Nummern auf, auch von Lindas Handy.«

Tamara schnappte sich den Vertrag Projekt Familie und schrieb mit einem Kugelschreiber ihre Handynummer und ihren vollständigen Namen auf die Rückseite. Anschließend reichte sie Zettel und Stift an Nele und humpelte aufgeregt zur Tür, an der es geklingelt hatte. »Bitte lass es Linda sein!«

Sie kehrte mit einem kleinen Pummelchen zurück, das ich auf Mitte dreißig schätzte und das einen zerstörten Eindruck machte. »Man hat uns unter Drogen gesetzt«, platzte Pummel mit den schulterlangen mahagonifarbenen Locken und der großen roten Brille heraus, ohne mich zu beachten, »genau wie ich’s mir gedacht hab!« Das silberne Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing, wackelte vor Empörung. Tamara, Anna und Nele wechselten betroffene Blicke.

»Du bist Jennifer«, konstatierte ich und gab ihr die Hand, »wir haben uns gestern kennengelernt.«

»Gut, dass du da bist«, entgegnete Jennifer, »du musst uns helfen! Die Polizei hat zwar ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt eingeleitet, aber ich hab das Gefühl, die machen da nicht viel.«

»Eins nach dem anderen«, bat ich. »Was genau hat die rechtsmedizinische Untersuchung ergeben?«

»Die haben gleich zwei Sachen in meinem Blut gefunden«, antwortete sie, fummelte einen Zettel aus ihrer mintfarbenen Sommerhose, faltete ihn auseinander und schaute auf ihre Notizen. »Rohypnol und etwas, das GHB heißt, das soll Liquid Ecstasy sein.«

Ich nickte verstehend. »GHB ist die Abkürzung für Gamma-Hydroxy-Buttersäure.«

»Wir sind regelrecht vergiftet worden!« Jennifer konnte sich gar nicht beruhigen.

»Es erklärt, wieso ihr euch an nichts mehr erinnern könnt. Die Täter haben das bestimmt nicht zum ersten Mal gemacht«, spekulierte ich. »Die müssen sich gut auskennen mit dem Zeug, wenn die das so genau dosiert haben, dass ihr noch wach und aktiv geblieben seid. Eine Überdosis dieser Stoffe kann in Verbindung mit Alkohol zu Atemstillstand und Koma führen.«

»Oh Gott«, rief Anna vom Sofa, »heißt das, Linda ist … hat sie vielleicht … ist sie …?«

»Ich würde jetzt mal nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen«, schnitt ich ihr Fragengestammel ab, »ihr seid doch auch alle noch putzmunter, also mehr oder weniger.« Ich wandte mich an Jennifer. »Was ist mit dem Verdacht auf Missbrauch? Hat sich der bestätigt?«

»Nicht wirklich, die konnten keine Spuren von Gewalt feststellen. Aber ich habe bestimmt nicht freiwillig Sex gehabt!«

»Kannst du das ganz sicher ausschließen?«

»Entschuldigung!« Empörung sprudelte aus ihrem Blick. »Kein Sex vor der Ehe! Ich bin streng katholisch, und zwar nicht nur per Lippenbekenntnis.«

Ich brauchte ein paar Sekunden, ehe ich die nächste Frage stellte: »Wie alt bist du, wenn ich fragen darf.«

»Vierunddreißig. Wieso?«

»Und … warst du schon mal verheiratet?«

»Nein. Wieso?«

»Heißt das, du bist noch Jungfrau?«

»Ich WAR es!«

Meine Verblüffung ließ sich nicht verbergen. Ein halbes Leben ohne Sex erschien mir unvorstellbar.

Ich bat Jennifer, ihre Handynummer mit auf den Zettel zu schreiben, und schlug vor, die gestrige Tour der Frauen durch die Altstadt zu wiederholen. »Vielleicht fällt euch dabei alles wieder ein, oder jemand hat einen Hinweis auf Linda für uns.«

Tamara schüttelte den Kopf. »Nee, sorry, aber mit dem dicken Knöchel latsche ich nicht stundenlang durch die Stadt.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Anna bei, »mir ist kotzübel, und mein Kopf platzt vor Schmerzen. Außerdem müsste ich nachher den Zug zurück nehmen, morgen hab ich Frühschicht im Hotel.«

»Eigentlich müsste ich auch heute zurück«, warf Tamara unschlüssig ein, »sonst stehen morgen zwanzig Lehrlinge vor der Tür der Berufsschule und kommen nicht rein.«

»Schon okay, fahrt ruhig zurück«, sagte Nele, »ihr könnt hier eh nichts groß unternehmen und helfen. Ich bleibe alleine hier und suche weiter.«

»Ich bleibe auch«, warf Jennifer ein. »Ich kann nicht einfach nach Hause zurück und meinen Urlaub da genießen, solange ich nicht weiß, was passiert ist.«

Ich schlug vor, mich mit Nele auf die Suche zu machen. Jennifer bat ich, hierzubleiben, falls Linda auftauchte, und mit dem Vermieter der Ferienwohnung zu sprechen, um eine Nacht zu verlängern und um Telefonbenutzung zu bitten. Ich wollte, dass sie die Handynummern anrief, die auf die Arme der Frauen geschmiert waren, und nach Linda fragte. Jennifer versprach, sich darum zu kümmern. Ich schrieb ihr meine eigene Nummer auf, damit sie mich anrufen konnte, wenn sie etwas herausfand.

Ich wünschte Anna und Tamara eine gute Rückreise. »Macht euch nicht verrückt wegen Linda. Für ihr Verschwinden wird es ganz sicher eine plausible Erklärung geben.«

»Ihr müsst sie finden!« Tamara sah mich flehend an. »Lebend!«

»Werden wir«, versprach ich.

Beim Verlassen der Ferienwohnung ärgerte ich mich über meine Leichtfertigkeit. Versprechen sollte man nur geben, wenn man sie auch halten kann.

5

Auf der Fahrt Richtung Altstadt blickte Nele nachdenklich aus dem Fenster und ich auf die Uhr. Schon halb fünf. In dreieinhalb Stunden würde mein frühzeitiger Feierabend beginnen, auf den ich mich schon so gefreut hatte. Ich musste Linda finden, damit es bei meinem Plan blieb. Nur, wie sollte ich das so schnell schaffen? Wir waren nicht in Vechta, sondern in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt, der quirligen Rheinmetropole mit Megatheke, an der sich Touristenströme und Sonntagsausflügler tummelten. Ich benötigte Unterstützung.

Mein ehemaliger Kollege vom Düsseldorfer Polizeipräsidium und langjähriger guter Freund Mark hatte dem NASEBAND’S gestern einen Kurzbesuch abgestattet und dabei erwähnt, dass er das Wochenende über Bereitschaftsdienst hatte.

Ich rief ihn via Freisprecheinrichtung an. Nach dem dritten Freizeichen ging er ans Handy.

»Köhler.«

»Wie Köhler? Was’n das für ’ne Begrüßung? Siehst du meine Nummer nicht im Display?«

»Wenn ich nicht draufgucke, nicht. Was gibt’s? Langeweile? Nix los in deinem Laden?«

»Keine Ahnung, ich sitz im Auto. Kann ich kurz stören?«

»Wobei stören? Ich hab grad meinen Jura-Prakti zum Eisholen geschickt. Du störst erst, wenn er wieder da ist.«

Bestens, dachte ich, Mark ist in seiner guten Phase, in der er gerne das ein oder andere Bierchen zischt und gutes Essen zu schätzen weiß. Dann legt er zwar ein paar Kilos zu, ist aber fast immer gut drauf, humorvoll und umgänglich. Das kann man von der anderen Phase nicht behaupten – dem Heilfasten. In dieser Zeit trinkt er nur Tee und isst Kohlsuppe, die erst für Blähungen, dann für schlechte Laune sorgt. Obwohl ihn in dieser Phase niemand gut riechen kann, zieht er sein Abspeckprogramm gnadenlos durch, damit er bei Frauen besser ankommt.

»Wenn du vorbeikommen willst, bring dir selber Eis mit.«

»Hab jetzt keine Zeit. Ich ruf an wegen einer Frau, die gestern im NASEBAND’S war und jetzt vermisst wird.«

Ich nahm den Vertrag Projekt Familie, den ich mit der Taxiquittung in der Mittelkonsole abgelegt hatte, und sah auf die Namen neben den Handynummern. »Linda Brandt heißt sie, Brandt mit Dora Toni. Sie hat gestern ihren Junggesellinnenabschied hier gefeiert und ist seitdem verschwunden. Kannst du mal nachsehen, ob es irgendeine Meldung gibt, in der der Name auftaucht? Vielleicht wurde sie festgesetzt oder ist in irgendeinem Zusammenhang aufgefallen.«

»Moment, ich schau mal nach.«

Ich hörte Tastaturgeklapper und Marks stakkatoartiges Summen, während er konzentriert die Meldungen überflog.

Nele blickte angespannt und mit leicht geöffnetem Mund zu meinem Handy in der Halterung, als würde jeden Augenblick Lindas Aufenthaltsort angezeigt werden.

»Nee, nada. Keine Linda Brandt, nirgends.«

»Okay. Könntest du mir ’nen Gefallen tun und die Handys der Braut und ihrer vier Freundinnen orten lassen?«

»Was?« Mark klang aufrichtig entsetzt. »Geht’s noch? Du spinnst ja wohl, ich bin doch nicht dein Hiwi-Kommissar!«

»Schon klar, beruhig dich.« Vielleicht hätte ich doch besser warten sollen, bis er das Eis vertilgt hatte.

»Nee, ich beruhig mich nicht«, blaffte Mark ungehalten, »was soll denn der Scheiß, wieso lässt du hier den Cop raushängen, was geht dich das denn an, wenn sich irgendwelche dämlichen Hühner abfüllen und die Handys klauen lassen. Was nehmen diese Idiotinnen auch ihre Handys mit!«

Ich schielte zu Nele, die erbost aufs Handy starrte.

»Diese unerträglichen Jungfrauenabende«, redete sich Mark in Rage, »ich kann’s nicht mehr sehen und nicht mehr hören! Was müssen die ausgerechnet Düsseldorf überfallen? Warum können die nicht bei sich in Löhne oder Buxtehude, oder aus welchem Kaff die sonst kommen, bleiben und da die Gassen vollkotzen?«

»Du, Mark, ich bin hier im Auto …«, versuchte ich, seine engagierte Rede zu stoppen. Doch gegen einen wütenden Mark war ich ebenso machtlos wie gegen eine euphorisierte Leonie.

»Was für eine bescheuerte Idee! Sich albern kostümieren und kreischend und singend über die Bolker marschieren. Sollen die doch durch ihr bumslangweiliges Dorf latschen. Ich versteh auch nicht, was du mit dieser Plage zu schaffen hast. Bloß weil die in deiner Kneipe war? Die sind in allen Kneipen, und am Ende kennen sie nicht mal mehr ihren eigenen Namen, weil die so ungeniert die Sau rauslassen …«

»Mark!«, rief ich rabiat dazwischen, um weiteren Schaden von der Beifahrerseite abzuhalten, »ich sitze hier mit Nele im Auto, der Trauzeugin, und telefoniere über Lautsprecher.«

Schweigen am anderen Ende.

Nele ergriff das Wort. »Diese bescheuerte Idee«, sagte sie spitz, »die man als normale Frau nur einmal im Leben umsetzt, wird in eurem ach so feinen Düsseldorf Jahr für Jahr viele Tage lang zelebriert. Und ihr seid auch noch stolz darauf, euch bei eurem lächerlichen Karnevalsrummel zum Narren zu machen!«

Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ich musste über ihren Gesichtsausdruck grinsen, der von Empörung in Genugtuung über ihren Konter wechselte.

Das Schweigen am anderen Ende nahm kein Ende. Ich beendete Marks Pein und fragte, ob er mir den Gefallen der Handyortung täte. Ich versprach ihm im Gegenzug einen freien Abend im NASEBAND’S.

»Frei heißt all-inclusive?«

»Jau.«

»Abgemacht, Mittwoch um acht bin ich da. Wie lauten die Handynummern?«

Ich reichte Nele den Zettel mit den Telefonnummern. Sie las die fünf Namen und zugehörigen Nummern vor. Mark wiederholte alles und versprach, sich darum zu kümmern.

Zuletzt entschuldigte sich Mark bei Nele. »Nichts für ungut, aber diese Abschiede vom Singledasein sind zu einer echten Seuche geworden. Kann ich nur schwer ertragen.«

»Hab ich mittlerweile begriffen«, erwiderte Nele knapp, »Karneval ist top, alles andere flop.«

»Nein, natürlich nicht«, widersprach Mark, »wir freuen uns natürlich über alle Gäste, die bei uns feiern wollen. Nur ist das mit den Junggesellenabschieden seit diesem Film mit Bradley Cooper ein bisschen ausgeufert.«

»Schon gut, Mark«, mischte ich mich ein, »wenn du Miss Right gefunden hast und die dann heiraten willst, schließen wir uns für deinen letzten Abend in Freiheit brav im NASEBAND’S ein.«

»Sehr witzig«, befand Mark. »So, jetzt kommt mein Eis. Ich meld mich.«

»Man könnte fast glauben«, meinte Nele nach Telefonatende, »dass ihr Düsseldorfer heiratswillige Singles hasst.«