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Diese Bergroman-Serie stillt die Sehnsucht des modernen Stadtbewohners nach einer Welt voller Liebe und Gefühle, nach Heimat und natürlichem Leben in einer verzaubernden Gebirgswelt. "Toni, der Hüttenwirt" aus den Bergen verliebt sich in Anna, die Bankerin aus Hamburg. Anna zieht hoch hinauf in seine wunderschöne Hütte – und eine der zärtlichsten Romanzen nimmt ihren Anfang. Hemdsärmeligkeit, sprachliche Virtuosität, großartig geschilderter Gebirgszauber – Friederike von Buchner trifft in ihren bereits über 400 Romanen den Puls ihrer faszinierten Leser. »Hier muss es sein«, sagte Anna und zeigte auf das Schild über der Toreinfahrt. Anna Baumberger und Ella Waldner standen vor einem Haus in einer ruhigen Seitenstraße Münchens. Eine Einfahrt durchbrach das Haupthaus als Unterführung in einen Hinterhof. Das große Tor stand offen. »Anna, ich gestehe dir, ich hab ein bissel Herzpumperln«, sagte die alte Ella. »Ich auch! Doch wir müssen da jetzt durch.« Anna und Ella gingen in den Hinterhof und sahen sich um. Neben Lagerräumen, hoch gefüllt mit Gips- und Zement-Säcken, entdeckten sie das Büro im Hinterhaus, sie traten ein. »Grüß Gott«, sagte Anna freundlich. Eine ältere Frau sah von ihrem Schreibtisch auf. Sie stand auf, trat an den Holztresen, der den Raum quer abteilte, und grüßte freundlich zurück. »Wir haben eine Anfrage, es geht um zwei kleine Gipsfiguren«, sagte Anna. »Man sagte uns, dass dieser Meisterbetrieb so etwas anfertigen könne.« »Ja, wir fertigen und reparieren Stuckdecken und gelegentlich auch Statuen. Um was handelt es sich genau?«
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Seitenzahl: 128
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»Hier muss es sein«, sagte Anna und zeigte auf das Schild über der Toreinfahrt.
›Maurer und Stuckateurbetrieb Wilhelm Wetter & Charlotte Holzer‹
Anna Baumberger und Ella Waldner standen vor einem Haus in einer ruhigen Seitenstraße Münchens. Eine Einfahrt durchbrach das Haupthaus als Unterführung in einen Hinterhof. Das große Tor stand offen.
»Anna, ich gestehe dir, ich hab ein bissel Herzpumperln«, sagte die alte Ella.
»Ich auch! Doch wir müssen da jetzt durch.«
Anna und Ella gingen in den Hinterhof und sahen sich um.
Neben Lagerräumen, hoch gefüllt mit Gips- und Zement-Säcken, entdeckten sie das Büro im Hinterhaus, sie traten ein.
»Grüß Gott«, sagte Anna freundlich.
Eine ältere Frau sah von ihrem Schreibtisch auf. Sie stand auf, trat an den Holztresen, der den Raum quer abteilte, und grüßte freundlich zurück.
»Wir haben eine Anfrage, es geht um zwei kleine Gipsfiguren«, sagte Anna. »Man sagte uns, dass dieser Meisterbetrieb so etwas anfertigen könne.«
»Ja, wir fertigen und reparieren Stuckdecken und gelegentlich auch Statuen. Um was handelt es sich genau?«
»Wir wollen zwei kleine Engel in Auftrag geben, als Modell oder Vorform für den späteren Guss in Metall. Sie sollen etwa so hoch sein.« Anna hielt die Hand über die Arbeitsfläche des Tresens. »So zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter, dachten wir. Die Engel sollen große Flügel haben und dazwischen muss ein Rucksack hängen. So ein großer Rucksack, so wie man ihn früher hatte, aus Tuch mit Lederbesatz. Er muss prall sein, sodass klar ist, dass die Engel mit dem schweren Rucksack nicht mehr fliegen können. Die Figuren sollen ein Geschenk für meine beiden Kinder sein. Können Sie uns dabei weiterhelfen?«
»Einen Augenblick bitte«, sagte die ältere Dame. »Ich bin eher fürs Büro zuständig, für Ihr Anliegen rufe ich lieber Charlotte herbei. Das ist meine Enkelin. Sie ist gelernte Stuckateurin und wird Sie fachlich beraten.«
»Gern«, erwiderte Anna.
Die Dame ging zu der offenen Tür am Hintergrund und rief: »Lotte, kannst du mal kommen? Kundschaft für dich!«
Es dauerte nicht lange, dann kam eine junge Frau in einem weißen Overall zu ihnen nach vorne.
»Die Herrschaften fragen, ob wir zwei Engel anfertigen können aus Gips. Ein Modell für den späteren Metallguss.«
»Oh, das klingt interessant!« Die junge Frau ging auf Anna und Ella zu.
»Grüß Gott, ich bin Charlotte Holzer, gelernte Stuckateurin, aber Sie können einfach Lotte zu mir sagen.«
»Gern«, lächelte Anna die junge Frau an, »dann nenne mich gerne Anna, und das ist meine Freundin Ella. Wir suchen jemanden, der uns ein Modell für zwei Engelstatuen aus Metall macht. Man hat uns gesagt, ein Gipsmodell sei am einfachsten anzufertigen.«
»Das stimmt. Von einer Gipsfigur kann man die Vorlage für die Gussformen sehr gut abnehmen.«
»So wurde uns das auch erklärt«, sagte Ella. »Die Engel sollen sehr lebendig aussehen.«
»Gibt es eine Skizze oder ein Foto?«
Anna und Ella schüttelten die Köpfe.
»Wir können die Engel nur beschreiben.«
Anna erklärte noch einmal ganz genau, wie sie aussehen sollten.
Charlotte holte einen Zeichenblock und einen weichen Bleistift. Sehr geschickt skizzierte sie einen Engel.
Während die junge Frau zeichnete, sagte ihre Großmutter: »Lotte, wenn du hier bist, dann kann ich einkaufen gehen. Schließt du nachher ab? Dein Großvater wird erst spät von der Baustelle kommen. Das schöne trockene Wetter nutzt er aus. Wir essen dann auch später. Nimm dir ein Brot, wenn du Hunger hast!«
»Omi, ich werde schon nicht verhungern«, lachte Charlotte, ohne aufzusehen.
Frau Wetter wandte sich an Anna und Ella. »Meine Enkelin wird Sie gut beraten«, bemerkte sie und ging fort.
Anna und Ella schauten fasziniert zu, wie Charlotte zeichnete. Die junge Frau war sehr geschickt.
»So, das ist nur eine erste Skizze«, sagte sie. Charlotte drehte den Block um, damit Anna und Ella die Zeichnung besser sehen konnten.
»Wunderschön!«, sagte Anna.
»Genauso haben wir es uns vorgestellt«, sagte Ella. »Später werden die Engel auf einem Holzsockel festgemacht oder auf einer Metallplatte. Sie wird so groß sein, dass man auch eine Kerze draufstellen kann …«
»… und die Metallschilder, die wir haben anfertigen lassen«, sagte Anna.
Ella Waldner holte aus ihrer Handtasche zwei glänzende Messingschilder. »Hier, da steht drauf: ›Vertraue den Engeln vom Engelssteig!‹ und auf dem anderen Schild, das auf der Rückseite, soll stehen: ›Für Basti von Alois Holzer‹ und ›Für Franzi von Alois Holzer‹.«
Charlotte ergänzte die Zeichnung, dabei sagte sie: »Das ist wohl ein Patengeschenk? Schöne Idee! Sehr originell, die Sache mit dem Rucksack. Herr Holzer scheint ein großer Bergliebhaber zu sein.«
Anna und Ella warfen sich Blicke zu.
»Das ist er bestimmt. Aber er hat sich das nicht ausgedacht. Du hast noch nie vom ›Engelssteig‹ gehört?«, fragte Anna mit Unschuldsmiene.
»Nein! ›Engelssteig‹, das hört sich nach einem Wallfahrtsort in den Bergen an«, sagte Charlotte.
Anna und Ella sahen sich kurz an.
»Das ist der Hausberg von Waldkogel, das liegt südlich von München.«
»Waldkogel?«, wiederholte Charlotte. Sie schaute Anna und Ella erstaunt an. »Ich heiße mit Familiennamen ›Holzer‹ und mein Vater kommt aus Waldkogel. Da muss ich ihn mal fragen. Allerdings denke ich, dass er kaum etwas darüber weiß. Seine Familie ist früh weggezogen, da war er noch sehr klein. Er sagt, er habe gar keine Erinnerungen an diese Zeit.«
»Es gibt einige Familien in Waldkogel, die Holzer heißen. Vielleicht sind das entfernte Verwandte?«, fragte Anna.
»Soviel ich weiß, hat er dort keine Verwandtschaft.« Charlotte zeichnete weiter. »So gefällt mir der Entwurf gut. Ich mache davon eine exakte Zeichnung, die dann Grundlage für die beiden Figuren ist. Sie ist nächste Woche fertig. Ich werde auch etwas über den ›Engelssteig‹ recherchieren. Die Geschichte interessiert mich«, sagte Charlotte, während sie die Details der Engelsflügel zeichnete.
Ella Waldner ergriff das Wort: »Anna und ich wollten in das Wirtshaus an der nächsten Ecke gehen und eine Brotzeit einnehmen. Hast du Zeit, Madl? Du kannst gern mit uns kommen. Du hast dir solche Mühe gegeben, und ich möchte dich auf eine Brotzeit einladen. Dabei erzählen wir dir von Waldkogel und den Engeln vom ›Engelssteig‹.«
»Das ist eine gute Idee, Ella«, stimmte Anna zu. »Wenn Charlotte mehr über den Berg und die Engel weiß, kann sie sich ein genaueres Bild machen.«
Charlotte sah auf und lächelte. »Gern, vielen Dank für die Einladung! Ich muss noch abschließen und mich umziehen. Ich war hinten in der Werkstatt und habe gearbeitet. Ich brauche eine Viertelstunde, bis ich fertig bin. Ich komme nach.«
»Wunderbar, dann warten wir dort. Wir setzen uns nach draußen«, sagte Anna.
Anna und Ella verabschiedeten sich, Charlotte schloss hinter ihnen ab.
Erst als sie auf der Straße waren, wagten sie zu sprechen.
»Anna, hast du die Augen von dem Madl gesehen? Sie hat die gleichen Augen wie der Alois«, sagte Ella.
»Sie hat auch sonst viel Ähnlichkeit. Die Art und Weise, wie sie den Bleistift gehalten hat. Alois hält jeden Stift so.«
»Mei, Anna, was habe ich Herzklopfen!«, seufzte Ella.
»Mir geht es auch so. Es ist schon sonderbar, dass Emil seiner Familie gegenüber verschweigt, dass er Verwandte hat.«
»Sehr traurig ist das, Anna. Wie kann er so etwas tun?«
»Er will allen Fragen aus dem Weg gehen, Ella.«
»Das macht die Sache für uns nicht einfacher, Anna. Wir könnten in ein Wespennest stoßen.«
»Da hast recht. Doch wer A sagt, der muss auch B sagen, Ella. Charlotte oder Lotte, wie sie gerufen wird, scheint ein liebes Madl zu sein. Vielleicht freut sie sich, zu erfahren, dass sie einen Großvater hat.«
»Stimmt, aber wir müssen behutsam vorgehen«, gab Ella zu bedenken.
»Damit hast du zweifellos recht, Ella. Doch ist es nicht besser, wenn wir gleich mit der Wahrheit herausrücken? Lass uns das im Biergarten bereden, bevor Charlotte kommt.«
Der nette Biergarten der kleinen Wirtschaft war noch nicht sehr besucht. Später am Abend würde es sicher voller werden. Ella und Anna wählten einen Tisch ganz hinten, unter einem Baum. Die Bedienung kam sofort. Anna bestellte eine herzhafte Brotzeit für drei Personen und zwei Limonaden.
»Es kommt noch jemand. Was sie trinken will, wissen wir nicht«, erklärte Anna.
Die nette Bedienung hatte Verständnis.
Als sie gegangen war, kam Anna sofort zum Thema.
»Ella, ich habe mir überlegt, wir schenken dem Madl reinen Wein ein. Was sollen wir lange um den heißen Brei herumschleichen? Es macht die Sache nicht besser, wenn wir unsere Absicht verschweigen. Im Gegenteil, unsere Feigheit könnte sich nachteilig auswirken.«
»Du hast recht, Anna. Aber ich habe ein bissel Angst davor, das Madl damit zu überfallen. Eine Überraschung wird es auf jeden Fall, daran besteht kein Zweifel. Dass Emil überhaupt nichts über seinen Vater erzählt hat – damit hätte ich nie gerechnet. Er hat Alois total verschwiegen!«
»Ella, ich bin genauso erschüttert wie du. Wenn es stimmt, und Charlotte wirklich die Tochter von Emil ist und Harald ihr Onkel, dann wird es mehr als eine Überraschung für sie. Das wird ein echter Schock für sie sein, dass ihr Vater sie so belogen hat. Aber das haben wir nicht zu verantworten. Es war seine Lebenslüge. Und Lügen haben bekanntlich kurze Beine.«
Die Bedienung kam und brachte die Limonade und ein Körbchen mit Brot und Brötchen.
»Die Wurst- und Käseplatte kommt sofort.«
Anna bat sie, damit zu warten, bis sie zu dritt waren.
»Ella, die andere Erklärung wäre: Martin hat sich bei seinen Recherchen doch geirrt. Es gibt viele mit dem Namen Holzer.«
»Schmarrn, Anna! Das wären zu viele Zufälle. Das gibt es nicht. Zwei Burschen, die Harald und Emil heißen und aus Waldkogel sind.«
»Stimmt, Ella! Ich denke, wir könnten es so machen, dass wir Charlotte erst von Waldkogel und dem ›Engelsteig‹ und dem ›Höllentor‹ erzählen. Danach sage ich ihr, dass wir auf der Suche nach den Nachkommen von Alois Holzer sind. Das hätte sich so ergeben, als wir nach einer Stuckateurin suchten. Ich gebe ihr eine Kopie der Notizen, die Martin gemacht hat. Mal sehen, wie sie reagiert!«
»Gut, machen wir es so, Anna. Und ich flehe darum, dass die Engel vom ›Engelssteig‹ uns beistehen.«
»Das werden sie, Ella«, sagte Anna.
Charlotte kam.
»Schön, dass du gekommen bist, Lotte! Wir haben schon bestellt. Nur wussten wir leider nicht, was du trinken willst«, sagte Anna freundlich.
Die Bedienung brachte die Brotzeiten. Charlotte bestellte sich eine Schorle und bediente sich an der Brotzeitplatte.
»So, und jetzt will ich alles über den ›Engelssteig‹ wissen«, sagte Charlotte.
Ella erzählte, was es mit dem Berg auf sich hatte und berichtete auch von dem andern Berg, dem ›Höllentor‹.
Charlotte hörte interessiert zu. »Ich denke, ich werde nach Waldkogel fahren und mich dort mal umsehen.«
Anna und Ella warfen sich einen Blick zu.
»Haben wir dich also neugierig gemacht? Wie schön! Dann komm doch bei uns vorbei! Du bist herzlich eingeladen! Vielleicht hätten wir sogar noch eine Überraschung für dich, Lotte. Ella und ich sind sehr aktiv im Heimatverein tätig und verfolgen insbesondere die Familiengeschichten. Wer ist zugewandert und wann? Wer ist fortgezogen und was wurde aus den Leuten? Als wir, auf der Suche nach Stuckateuren, auf den Familiennamen Holzer stießen, erweckte das unsere Neugierde.«
»Aha?«
»Ja, und wir haben ein bissel recherchieren lassen. Hier haben wir alles notiert. Vielleicht findest du darauf Verwandte?«
»Das wäre toll!«, rief Charlotte aus.
Anna gab ihr die Kopie.
Ella und Anna beobachteten Charlotte, wie sie das Blatt studierte. Es dauerte lange, bis sie etwas sagte. Dabei deutete sie auf die einzelnen Namen.
»Mit diesen Holzers hier bin ich verwandt, mit Onkel Harald und Tante Karola. Onkel Harald nenne ich Onkel Harry. Kuno ist mein Cousin und Sophie meine Cousine. Emil ist mein Vater und Monika meine Mutter. Was ich nicht verstehe, ist … Hinter dem Namen Hedwig Holzer steht neben dem Geburtsdatum noch ein Datum. Das ist das Sterbedatum?«
Anna und Ella nickten.
»Und dieser Alois war ihr Mann und ist wohl …, wenn diese Notizen stimmen …, ist er der Vater von meinem Vater und der Vater von Onkel Harry …, und …, und er lebt noch …«, stotterte Charlotte. Sie rieb sich die Stirn. »Das würde bedeuten, dass ich einen Großvater väterlicherseits habe, von dem ich nichts gewusst habe«, seufzte sie. Sie sah Anna und Ella mit großen fragenden Augen an.
»Ja«, sagte Anna sanft. »Alois Holzer ist dein Großvater. Er ist sehr alt, aber noch rüstig. Und er hat keine Ahnung, dass er eine liebe Enkelin hat, Lotte.«
»Er hat noch Kuno und Sophie. Aber warum weiß ich nichts von ihm und er nicht von uns? Ich verstehe das nicht! Weiß er, dass ihr nach Verwandten sucht?«
»Nein, das weiß er nicht«, sagte Ella. »Wir wollten ihn nicht aufregen und ihm eine Enttäuschung ersparen, falls du oder Kuno oder Sophie ihn nicht kennenlernen wollt.«
»Aber wieso …?« Weiter kam Charlotte nicht, da ihr die Stimme versagte. Schnell trank sie einen Schluck.
»Charlotte, Ella und ich bitten dich, mit der Information behutsam umzugehen. Ich kann mir denken, welche Gedanken dir jetzt durch den Kopf gehen. Du willst sicher mehr darüber erfahren. Am besten erzählt es dir Ella. Sie war damals dabei«, sagte Anna.
»Gut«, sagte Ella, »also das war so: Dein Onkel Harry hat sich mit seinem Vater und seiner Mutter gestritten. Dabei sind unschöne Worte gefallen, vonseiten deiner Tante Karola. Dein Onkel Harry hat sich auf Karolas Seite geschlagen. Er ging fort und kam nie wieder nach Waldkogel zurück. Kurze Zeit später zog Emil zu seinem großen Bruder. Alle Versuche, die Familie wieder zu versöhnen, scheiterten. Deine Großmutter schrieb viele Briefe, die alle ungeöffnet zurückkamen. Wenn du mich in Waldkogel besuchst, dann gebe ich sie dir zu lesen.«
Charlotte trank noch einen Schluck Saftschorle. Sie sah blass aus.
»So eine Gemeinheit!«, schimpfte sie. »Das ist ungeheuerlich! Ich dachte immer, Vater hat keine Verwandten mehr. Er wollte nie darüber sprechen. Mama sagte mir, ich solle ihn nicht bedrängen, weil ihn das schmerzen würde. Das ist doch ein riesiges Lügengebäude. Ich bin so wütend!«
Anna legte Charlotte die Hand auf die Schulter.
»Beruhige dich, Charlotte! Wir verstehen dich. Glaube uns, der Weg hierher ist uns nicht leichtgefallen. Ich bitte dich, überlege dir gut, was du jetzt machst und was du deinen Eltern sagst.«
»Meine Eltern sind mit Tante Karola und Onkel Harry in Urlaub gefahren. Sie kommen erst in vier Wochen zurück. Ich kann darüber nur mit Kuno und Sophie sprechen. Das ist auch keine Sache, die man am Telefon bereden kann.«
»Verstehst du dich mit den beiden gut?«
»Mit Sophie verstehe ich mich sehr gut. Mit Kuno ist das Verhältnis nicht so herzlich. Aber bevor ich mit ihnen spreche, möchte ich nach Waldkogel kommen und die Briefe lesen und vielleicht meinen Großvater kennenlernen. Denkt ihr, er freut sich?«
»Mei, Madl, seine Freude wird unbeschreiblich sein«, sagte Ella.
»Wann kann ich kommen?«
»Du kannst mich besuchen, wann immer du willst, Lotte«, sagte Ella.
Charlotte überlegte einen Augenblick.
»Okay, dann gebt mir die Adresse. Ich werde bestimmt kommen. Vorher muss ich hier noch einige Aufträge bearbeiten und zu Ende führen.«
»Gut, wir geben dir alles, bevor wir aufbrechen«, sagte Anna. Sie lächelte Charlotte an. »Darf ich dir einen Rat geben, Lotte?«
Charlotte nickte.
»Mach einen Schritt nach dem andern! Lies erst die Briefe und schau dir die alten Fotos an. Das wird dich sicherlich sehr aufwühlen. Da wird es gut sein, wenn du einige Tage verstreichen lässt, bevor du den nächsten Schritt machst. Außerdem will ich deinen Großvater behutsam auf deinen Besuch vorbereiten.«
Das sah Charlotte ein. »Nicht, dass er am Ende vor lauter Freude umkippt. Ich will noch lange etwas von ihm haben, da er mir mein ganzes Leben vorenthalten wurde.«