Alte Meister - Thomas Bernhard - E-Book

Alte Meister E-Book

Thomas Bernhard

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Durchbrechen einer jahrzehntealten Gewohnheit führt in dem 1985 zuerst erschienenen Prosaband mit dem Untertitel »Komödie« von Thomas Bernhard dazu, daß der Privatgelehrte Atzbacher und der Musikphilosoph Reger sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Wiener Kunsthistorischen Museum treffen. Atzbacher nimmt diese außergewöhnliche Verabredung zum Anlaß, den in seine Betrachtung versunkenen Reger zu beobachten. Der Zweiundachtzigjährige, der seit dreißig Jahren aus Wien für die Times Musikkritiken schreibt, hat im Kunsthistorischcn Museum seine Kunstbetrachtung zur Perfektion entwickelt: Sie besteht darin, jedes Kunstwerk, das für vollendet gehalten wird, so lange zu studieren, bis dessen Fehler aufgedeckt sind. Alle Alten Meister und Großen Geister sind unvollkommen. Daß Kunst, Musik, Philosophie und Literatur jedoch nicht das »Höchste, Allerhöchste« sind, wird Reger bewußt, als seine Frau stirbt, mit der er mehr als drei Jahrzehnte verheiratet war.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Bernhard

Alte Meister

Komödie

Suhrkamp Verlag

Die Strafe entspricht der Schuld: aller Lust zum Leben beraubt zu werden, zum höchsten Grad von Lebensüberdruß gebracht zu werden.

Kierkegaard

Erst für halb zwölf Uhr mit Reger im Kunsthistorischen Museum verabredet, war ich schon um halb elf Uhr dort, um ihn, wie ich mir schon längere Zeit vorgenommen gehabt hatte, einmal von einem möglichst idealen Winkel aus ungestört beobachten zu können, schreibt Atzbacher. Da er im sogenannten Bordone-Saal gegenüber Tintorettos Weißbärtigem Mann seinen Vormittagsplatz hat, auf der samtbezogenen Sitzbank, auf welcher er mir gestern nach dem Erläutern der sogenannten Sturmsonate seinen Vortrag über die Kunst der Fuge fortgesetzt hat, von vor Bach bis nach Schumann, wie er es bezeichnet und dabei doch nur immer mehr von Mozart und nicht von Bach zu sprechen in Laune gewesen war, mußte ich im sogenannten Sebastiano-Saal Aufstellung nehmen; ich mußte also, ganz gegen meinen Geschmack, Tizian in Kauf nehmen, um Reger vor dem Weißbärtigen Mann von Tintoretto beobachten zu können und zwar stehend, was kein Nachteil war, denn ich stehe lieber, als daß ich sitze, vor allem in der Menschenbeobachtung und ich beobachte zeitlebens immer stehend besser, als sitzend, und da ich ja aus dem Sebastiano-Saal hinaus- in den Bordone-Saal hineinschauend schließlich unter Anwendung der äußersten Sehschärfe tatsächlich die ganze, nicht einmal durch die Sitzbankrückenlehne beeinträchtigte Seitenansicht Regers, der gestern ohne Zweifel durch den in der vorausgegangenen Nacht eingetretenen Wettersturz arg in Mitleidenschaft gezogen, die ganze Zeit seinen schwarzen Hut auf dem Kopf behalten hat, sehen konnte, also die ganze mir zugewandte linke Seite Regers, war mein Vorhaben, Reger einmal ungestört in Augenschein zu nehmen, geglückt. Da Reger (im Wintermantel) auf den zwischen seine Knie geklemmten Stock gestützt, wie mir schien, vollkommen auf den Anblick des Weißbärtigen Mannes konzentriert gewesen war, hatte ich keinerlei Angst zu haben, in meiner Betrachtung Regers, von diesem entdeckt zu werden. Der Saaldiener Irrsigler (Jenö!), mit welchem Reger schon eine über dreißigjährige Bekanntschaft verbindet und mit welchem ich selbst (auch schon über zwanzig Jahre lang) immer einen guten Kontakt gehabt habe bis heute, war durch ein Handzeichen meinerseits darauf aufmerksam gemacht gewesen, daß ich einmal ungestört Reger beobachten wollte, und jedesmal, wenn Irrsigler auftauchte, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks, tat er so, als wäre ich gar nicht da, wie er auch so tat, als wäre Reger gar nicht da, während er, Irrsigler, seinen Auftrag erfüllend, die Galeriebesucher, die ja, unverständlich an diesem kostenlosen Samstag, nicht zahlreich gewesen waren, in seinen gewohnten, für jeden, der ihn nicht kannte, unangenehmen Augenschein nahm. Irrsigler hat den lästigen Blick, den Aufseher in den Museen anwenden, um die ja, wie man weiß, mit allen Ungezogenheiten ausgestatteten Museumsbesucher einzuschüchtern; seine Art, unvermittelt und völlig lautlos um die Ecke gleich welchen Saales einzutreten, um Nachschau zu halten, ist tatsächlich widerwärtig für jeden, der ihn nicht kennt; in seiner grauen, schlecht geschneiderten, aber doch für die Ewigkeit bestimmten Uniform, die, von großen schwarzen Knöpfen zusammengehalten, an seinem mageren Körper herunterhängt wie von einem Kleiderständer, und mit seiner aus eben demselben grauen Stoff geschneiderten Schildkappe auf dem Kopf, erinnert er an die Aufseher in unseren Strafanstalten mehr, als an einen vom Staat eingestellten Hüter von Kunstwerken. Irrsigler ist, seit ich ihn kenne, immer gleich bleich, obwohl er nicht krank ist, und Reger bezeichnet ihn seit Jahrzehnten als einen Staatstoten, der seit fünfunddreißig Jahren im Kunsthistorischen Museum Dienst macht. Reger, der seit über sechsunddreißig Jahren das Kunsthistorische Museum aufsucht, kennt Irrsigler vom ersten Tag seines Dienstantritts an und steht zu ihm in einem durchaus freundschaftlichen Verhältnis. Es bedurfte nur einer ganz kleinen

Bestechungssumme, um mir die Sitzbank im Bordone-Saal für immer zu sichern, so Reger einmal vor Jahren. Reger ist mit Irrsigler ein Verhältnis eingegangen, das den beiden schon seit über dreißig Jahren zur Gewohnheit geworden ist. Will Reger, was nicht selten der Fall ist, in der Betrachtung des Weißbärtigen Mannes von Tintoretto allein sein, so sperrt Irrsigler ganz einfach den Bordone-Saal für Besucher, er stellt sich dann ganz einfach in den Eingang und läßt keinen passieren. Reger braucht nur sein Handzeichen zu geben und Irrsigler sperrt den Bordone-Saal, ja er scheut sich nicht, im Bordone-Saal stehende Besucher aus dem Bordone-Saal hinauszudrängen, weil Reger das wünscht. Irrsigler hat eine Tischlerlehre in Bruck an der Leitha absolviert, die Tischlerei aber schon vor der Freisprechung als Tischlergehilfe aufgegeben, um Polizist zu werden. Die Polizei hat Irrsigler aber abgewiesen wegen physischer Schwäche. Ein Onkel von ihm, Bruder seiner Mutter, der im Kunsthistorischen Museum Aufseher war schon seit dem Jahr vierundzwanzig, verschaffte ihm den Posten im Kunsthistorischen Museum, den unterbezahltesten, aber sichersten, wie Irrsigler sagt. Auch zur Polizei hatte Irrsigler ja nur gehen wollen, weil ihm mit dem Beruf als Polizist das Kleiderproblem als gelöst erschien. Lebenslänglich in dasselbe Gewand zu schlüpfen und dieses lebenslängliche Gewand nicht einmal selber bezahlen zu müssen, weil es der Staat zur Verfügung stellt, sei ihm als ein Ideal erschienen, so habe auch der Onkel, der ihn ins Kunsthistorische Museum gebracht habe, gedacht und es sei, dieses Ideal betreffend, ja auch kein Unterschied, ob er bei der Polizei oder im Kunsthistorischen Museum angestellt sei, die Polizei bezahle allerdings mehr, das Kunsthistorische Museum weniger, aber der Dienst im Kunsthistorischen Museum sei dafür auch nicht mit dem Polizeidienst zu vergleichen, einen verantwortungsvolleren, gleichzeitig aber auch leichteren Dienst als im Kunsthistorischen Museum könne er, Irrsigler, sich nicht vorstellen. Der Polizeidienst sei ja tagtäglich lebensgefährlich, so Irrsigler, der Dienst im Kunsthistorischen Museum nicht. Wegen der Eintönigkeit in seinem Beruf solle man sich keine Gedanken machen, er liebe diese Eintönigkeit. Im Tag gehe er an die vierzig bis fünfzig Kilometer, das sei seiner Gesundheit zuträglicher, als beispielsweise der Polizeidienst, wo die Hauptbeschäftigung darin bestehe, auf einem harten Kanzleisessel zu sitzen, lebenslänglich. Er beschatte lieber Museumsbesucher als normale Menschen, denn Museumsbesucher seien immerhin höhergestellte Menschen, die einen Kunstsinn haben. Er selbst habe sich mit der Zeit einen solchen Kunstsinn angeeignet, er wäre jederzeit imstande, eine Führung durch das Kunsthistorische Museum zu machen, jedenfalls durch die Gemäldegalerie, sagt er, aber das habe er nicht notwendig. Die Leute nehmen ja gar nicht auf, was ihnen gesagt wird, sagt er. Seit Jahrzehnten wird von den Museumsführern immer dasselbe gesagt und natürlich sehr viel Unsinn, wie Herr Reger sagt, sagt Irrsigler zu mir. Die Kunsthistoriker überschütten die Besucher nur mit ihrem Geschwätz, sagt Irrsigler, der mit der Zeit viele, wenn nicht gar alle Sätze Regers wortwörtlich übernommen hat. Irrsigler ist das Sprachrohr Regers, fast alles, das Irrsigler sagt, hat Reger gesagt, seit über dreißig Jahren redet Irrsigler das, was Reger gesagt hat. Wenn ich genau hinhöre, höre ich Reger durch Irrsigler sprechen. Wenn wir den Führern zuhören, hören wir doch nur immer das Kunstgeschwätz, das uns auf die Nerven geht, das unerträgliche Kunstgeschwätz der Kunsthistoriker, sagt Irrsigler, weil es Reger so oft sagt. Alle diese Gemälde sind großartig, aber kein einziges ist vollkommen, so Irrsigler nach Reger. Die Leute gehen ja nur in das Museum, weil ihnen gesagt worden ist, daß es ein Kulturmensch

aufzusuchen hat, nicht aus Interesse, die Leute haben kein Interesse an der Kunst, jedenfalls neunundneunzig Prozent der Menschheit hat keinerlei Interesse an Kunst, so Irrsigler wortwörtlich nach Reger. Er, Irrsigler, habe eine schwere Kindheit gehabt, eine krebskranke, schon mit sechsundvierzig Jahren verstorbene Mutter, einen untreuen, lebenslänglich betrunkenen Vater. Und Bruck an der Leitha ist auch so ein häßlicher Ort wie die meisten burgenländischen Orte. Wer kann, geht aus dem Burgenland weg, sagt Irrsigler, aber die meisten können nicht, sie sind zu lebenslänglichem Burgenland verurteilt, was wenigstens so fürchterlich ist, wie zu lebenslänglicher Kerkerhaft in Stein an der Donau. Die Burgenländer sind Sträflinge, sagt Irrsigler, ihr Heimatland ist eine Strafanstalt. Sie selbst reden sich ein, sie hätten eine recht schöne Heimat, aber in Wirklichkeit ist das Burgenland fad und häßlich. Im Winter ersticken die Burgenländer im Schnee und im Sommer werden sie von den Gelsen aufgefressen. Und im Frühling und im Herbst waten die Burgenländer nur in ihrem eigenen Schmutz. In ganz Europa gibt es kein ärmeres und kein schmutzigeres Land, so Irrsigler. Die Wiener reden den Burgenländern immer ein, daß das Burgenland ein schönes Land sei, denn die Wiener sind in den burgenländischen Schmutz und in den burgenländischen Stumpfsinn, weil sie diesen burgenländischen Schmutz und diesen burgenländischen Stumpfsinn als romantisch empfinden, weil sie auf ihre wienerische Weise pervers sind, verliebt. Das Burgenland hat ja auch außer dem Herrn Haydn, wie Herr Reger sagt, nichts hervorgebracht, so Irrsigler. Ich komme aus dem Burgenland, heißt ja doch nichts anderes, als ich komme aus der Strafanstalt Österreichs. Oder aus dem Irrenhaus Österreichs, so Irrsigler. Die Burgenländer gehen nach Wien wie in die Kirche, sagte er. Der größte Wunsch des Burgenländers ist, in die Wiener Polizei einzutreten, sagte er vor ein paar Tagen, mir ist es nicht geglückt, weil ich zu schwach gewesen war, wegen physischer Schwäche. Aber ich bin immerhin Aufseher im Kunsthistorischen Museum und ebenso Staatsbeamter. Am Abend, nach sechs Uhr, sagte er, sperre ich keine Verbrecher ein, sondern Kunstwerke, ich sperre den Rubens ein und den Bellotto. Seinen Onkel, der schon gleich nach dem Ersten Weltkrieg in die Dienste des Kunsthistorischen Museums eingetreten sei, hätten alle in seiner Familie beneidet. Wenn sie ihn alle paar Jahre einmal im Kunsthistorischen Museum besuchten, an den kostenlosen Samstagen oder Sonntagen, wären sie ihm immer vollkommen eingeschüchtert durch die Säle mit den großen Meistern gefolgt und hätten fortwährend seine Uniform bewundert. Natürlich sei sein Onkel auch schon bald Oberaufseher gewesen und habe den kleinen Messingstern auf dem Revers seiner Uniform getragen, so Irrsigler. Vor Hochachtung und Bewunderung hätten sie, wenn er sie durch die Säle geführt habe, nichts von dem, das er zu ihnen gesagt habe, verstanden. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, ihnen den Veronese zu erklären, so Irrsigler vor ein paar Tagen. Die Kinder meiner Schwester haben meine weichen Schuhe bestaunt, so Irrsigler, meine Schwester ist vor dem Reni stehen geblieben, ausgerechnet vor diesem geschmacklosesten aller hier ausgestellten Maler. Reger haßt Reni, also haßt auch Irrsigler Reni. Irrsigler hat schon eine sehr hohe Meisterschaft im Aneignen der Regerschen Sätze erreicht, er spricht sie auch schon beinahe perfekt in dem charakteristischen Regerton, denke ich. Meine Schwester besucht mich und nicht das Museum, sagte Irrsigler. Meine Schwester hat für Kunst überhaupt nichts übrig. Ihre Kinder aber staunen über alles, das sie sehen, wenn ich sie durch die Säle führe. Vor dem Velázquez bleiben sie stehen und wollen nicht mehr weggehen, sagte Irrsigler. Herr Reger hat mich und meine Familie einmal in den Prater eingeladen, sagte Irrsigler, der

großzügige Herr Reger, an einem Sonntagabend. Wie seine Frau noch gelebt hat, sagte Irrsigler. Ich stand da und beobachtete Reger, der noch immer in den Anblick des Weißbärtigen Mannes von Tintoretto vertieft war, wie gesagt wird, und sah gleichzeitig Irrsigler, der ja gar nicht im Bordone-Saal war, wie er mir aus seiner Lebensgeschichte berichtet, also die Bilder mit Irrsigler aus der vergangenen Woche gleichzeitig mit Reger, der auf der Samtsitzbank saß und mich naturgemäß noch nicht bemerkt hatte. Irrsigler hat gesagt, schon als kleines Kind sei sein höchster Wunsch gewesen, der Wiener Polizei beizutreten, Wachmann zu sein. Er habe nie einen anderen Berufswunsch gehabt. Als man ihm, er war damals dreiundzwanzig, in der Rossauerkaserne physische Schwäche bescheinigte, sei ihm tatsächlich eine Welt zusammengebrochen. In dem Zustand der äußersten Ausweglosigkeit habe ihm aber dann sein Onkel die Aufseherstelle im Kunsthistorischen Museum verschafft. Er sei nur mit einer kleinen abgewetzten Handtasche nach Wien gekommen in die Wohnung seines Onkels, der ihn vier Wochen bei sich hatte wohnen lassen, dann sei er, Irrsigler, in ein Untermietzimmer auf der Mölkerbastei gezogen. In diesem Untermietzimmer habe er zwölf Jahre gewohnt. Er habe die ersten Jahre von Wien gar nichts gesehen, er sei schon am frühen Morgen gegen sieben ins Kunsthistorische Museum und am Abend, nach sechs, wieder nach Hause, seine Mittagsmahlzeit habe in allen diesen Jahren immer nur aus einem Wurst- oder Käsebrot bestanden, das er mit einem Glas Wasser aus der Wasserleitung in einem kleinen Ankleideraum hinter der öffentlichen Garderobe gegessen habe. Die Burgenländer sind die Anspruchslosesten, ich selbst habe ja in meiner Jugend mit Burgenländern auf verschiedenen Baustellen gearbeitet und mit Burgenländern in verschiedenen Baubaracken gehaust und weiß, wie anspruchslos die Burgenländer sind, sie brauchen nur das Allernotwendigste und sie sparen sich bis zum Monatsende tatsächlich achtzig Prozent ihres Lohnes und noch mehr. Während ich Reger in Augenschein nahm und auch tatsächlich eingehend beobachtete, so, wie ich ihn noch nie vorher beobachtet habe, sah ich Irrsigler vor einer Woche mit mir im Battoni-Saal stehen, ihm zuhörend. Der Mann einer seiner Urgroßmütter stamme aus Tirol, daher der Name Irrsigler. Er habe zwei Schwestern gehabt, die jüngere sei erst in den Sechzigerjahren mit einem Friseurgehilfen aus Mattersburg nach Amerika ausgewandert und dort an Heimweh gestorben, mit fünfunddreißig Jahren. Drei Brüder habe er, alle lebten heute im Burgenland als Hilfsarbeiter. Zwei von ihnen seien, wie er, nach Wien, um in den Polizeidienst einzutreten, waren aber nicht angenommen worden. Und für den Museumsdienst sei ja eine gewisse Intelligenz unbedingt erforderlich. Von Reger habe er viel gelernt. Es gebe Leute, die sagten, Reger sei verrückt, denn nur ein Verrückter könne über Jahrzehnte jeden zweiten Tag, außer Montag, in die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums gehen, aber das glaube er nicht, Herr Reger ist ein gescheiter, gebildeter Mann, so Irrsigler. Ja, hatte ich zu Irrsigler gesagt, Herr Reger ist nicht nur ein gescheiter und gebildeter, sondern auch ein berühmter Mann, immerhin hat er in Leipzig und Wien Musik studiert und Musikkritiken für die Times geschrieben und schreibt noch heute für die Times, sagte ich. Kein gewöhnlicher Schreiber, sagte ich, kein Schwätzer, ein Musikwissenschaftler im eigentlichsten Sinne des Wortes und mit dem ganzen Ernst einer großen Persönlichkeit. Reger ist mit allen diesen musikfeuilletonistischen Schwätzern, wie sie hier tagtäglich in den Tageszeitungen ihren Geschwätzschmutz ausbreiten, nicht zu vergleichen. Reger ist tatsächlich Philosoph, habe ich zu Irrsigler gesagt, Philosoph in aller Deutlichkeit dieses Begriffs. Seit über dreißig Jahren schreibt Reger seine Kritiken für die Times, diese kleinen

musikphilosophischen Aufsätze, die eines Tages sicher in einem Buch gesammelt erscheinen werden. Dieser Aufenthalt im Kunsthistorischen Museum ist zweifellos eine der Voraussetzungen dafür, daß Reger so für die Times schreiben kann, wie er für die Times schreibt, sagte ich zu Irrsigler, ganz gleich, ob mich nun Irrsigler verstanden hat oder nicht, wahrscheinlich hat mich Irrsigler gar nicht verstanden, dachte ich und denke ich genauso jetzt. Davon, daß Reger für die Times seine Musikkritiken schreibt, weiß in Österreich niemand, höchstens ein paar Leute wissen davon, sagte ich zu Irrsigler. Ich könnte auch sagen, Reger ist ein Privatphilosoph, sagte ich zu Irrsigler, ungeachtet der Tatsache, daß es eine Dummheit gewesen ist, das zu Irrsigler zu sagen. Im Kunsthistorischen Museum findet Reger das, das er sonst nirgends findet, sagte ich zu Irrsigler, alles Wichtige, alles Nützliche für sein Denken und für seine Arbeit. Die Leute mögen Regers Verhalten als verrückt bezeichnen, das ist es nicht, sagte ich zu Irrsigler, hier in Wien und in Österreich nimmt man Reger nicht wahr, sagte ich zu Irrsigler, aber in London und in England und selbst in den Vereinigten Staaten weiß man, wer Reger ist, um was für eine Kapazität es sich bei Reger handelt, sagte ich zu Irrsigler. Und vergessen Sie nicht die ideale Temperatur von achtzehn Grad Celsius, die hier im Kunsthistorischen Museum ganzjährig herrscht, sagte ich auch wieder zu Irrsigler. Irrsigler nickte nur mit dem Kopf. Reger ist eine in der ganzen musikwissenschaftlichen Welt hochgeachtete Persönlichkeit, sagte ich zu Irrsigler gestern, nur hier, in seinem Heimatland, will niemand etwas davon wissen, im Gegenteil, hier, wo er zu Hause ist, wird Reger, der doch alle andern in seinem Fach weit hinter sich gelassen hat, diese ganze widerwärtige provinzielle Stümperhaftigkeit, gehaßt, nichts weniger als gehaßt wird Reger in seiner Heimat Österreich, sagte ich zu Irrsigler. Ein Genie wie Reger wird hier gehaßt, sagte ich zu Irrsigler ohne Rücksicht darauf, daß Irrsigler gar nicht verstanden hatte, was ich damit meinte, indem ich zu ihm gesagt habe, ein Genie wie Reger wird hier gehaßt und ohne Rücksicht darauf, ob es tatsächlich richtig ist, von Reger als von einem Genie zu sprechen, ein wissenschaftliches Genie, ja sogar ein menschliches Genie, dachte ich, ist Reger sicher. Genie und Österreich vertragen sich nicht, sagte ich. In Österreich muß man die Mittelmäßigkeit sein, um zu Wort zu kommen und ernst genommen zu werden, ein Mann der Stümperhaftigkeit und der provinziellen Verlogenheit, ein Mann mit einem absoluten Kleinstaatenkopf. Ein Genie oder ja schon ein außerordentlicher Geist wird hier auf entwürdigende Weise über kurz oder lang umgebracht, sagte ich zu Irrsigler. Nur Leute wie Reger, die man an einer einzigen Hand abzählen kann in diesem fürchterlichen Land, überstehen diesen Zustand der Herabsetzung und des Hasses, der Unterdrückung und der Ignoration, der allgemeinen geistesfeindlichen Gemeinheit, der hier in Österreich überall herrscht, nur Leute wie Reger, die einen großartigen Charakter haben und tatsächlich einen scharfen unbestechlichen Verstand. Obwohl Herr Reger zur Direktorin dieses Museums eine nicht unglückliche Beziehung hat und obwohl er diese Direktorin gut kennt, sagte ich zu Irrsigler, wäre es ihm niemals im Traum eingefallen, diese Direktorin um irgend etwas ihn und dieses Museum Betreffendes zu bitten. Gerade als Herr Reger die Absicht gehabt hat, der Direktion und das heißt, der Direktorin den schlechten Zustand der Sitzbanküberzüge in den Sälen mitzuteilen und sie möglicherweise zu veranlassen, neue Sitzbankbezüge herstellen zu lassen, wurden die Sitzbänke neu überzogen; und durchaus geschmackvoll, sagte ich zu Irrsigler. Ich glaube nicht, sagte ich zu Irrsigler, daß die Direktion des Kunsthistorischen Museums davon Kenntnis hat, daß Herr Reger seit mehr als dreißig Jahren

jeden zweiten Tag hier in das Museum hereinkommt, um auf der Sitzbank im Bordone-Saal Platz zu nehmen, das glaube ich nicht. Das wäre ja auch sicher bei irgendeinem der Zusammentreffen Regers mit der Direktorin zur Sprache gekommen, soviel ich weiß, weiß die Direktorin nichts davon, weil Herr Reger nie davon gesprochen hat und weil Sie, Herr Irrsigler, immer darüber geschwiegen haben, weil es der Wunsch Herrn Regers ist, daß Sie über die Tatsache, daß Reger seit über dreißig Jahren jeden zweiten Tag außer Montag das Kunsthistorische Museum aufsucht, schweigen. Verschwiegenheit, das ist Ihre große Stärke, habe ich zu Irrsigler gesagt, dachte ich, während ich Reger betrachtete, der den Weißbärtigen Mann von Tintoretto betrachtete, der seinerseits wieder von Irrsigler in Augenschein genommen wurde. Reger ist ein außergewöhnlicher Mensch und mit außergewöhnlichen Menschen müsse man behutsam umgehen, habe ich gestern zu Irrsigler gesagt. Daß wir, nämlich Reger und ich, gleich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen das Museum aufsuchten, sei undenkbar, habe ich gestern zu Irrsigler gesagt und habe es doch ausgerechnet heute, weil Reger das ebenso ausgerechnet wünschte, wieder aufgesucht, aus was für einem Grund Reger heute da ist, weiß ich nicht, dachte ich, ich werde es bald wissen. Irrsigler war auch ganz erstaunt gewesen, als er mich heute sah, denn ich hatte ja erst gestern zu ihm gesagt, daß es ausgeschlossen sei, daß ich einmal gleich zwei Tage hintereinander in das Kunsthistorische Museum gehen werde, so wie es für Reger bis jetzt ausgeschlossen gewesen ist. Und jetzt sind wir beide, Reger wie ich, heute wieder im Kunsthistorischen Museum, in dem wir erst gestern gewesen waren. Das mußte Irrsigler irritiert haben, dachte ich, denke ich. Daß es möglich ist, sich einmal zu irren und also gleich am nächsten Tag wieder ins Kunsthistorische Museum zu gehen, dachte ich, aber, überlegte ich, doch nur, daß sich Reger allein irrt oder daß ich allein mich in dieser Tatsache irre, aber doch nicht, daß wir beide, Reger und ich, in dieser Tatsache irren. Reger hat gestern ausdrücklich zu mir gesagt, kommen Sie morgen hierher, ich höre ja noch, wie das Reger sagt. Aber Irrsigler hat natürlich davon nichts gehört und wußte davon nichts und hat sich naturgemäß gewundert, daß Reger und ich heute schon wieder im Museum sind. Hätte Reger gestern zu mir nicht gesagt, kommen Sie morgen hierher, ich wäre heute nicht ins Kunsthistorische Museum gegangen, möglicherweise erst in der kommenden Woche, denn zum Unterschied von Reger, der tatsächlich jeden zweiten Tag ins Kunsthistorische Museum geht und das seit Jahrzehnten, gehe ich nicht jeden zweiten Tag ins Kunsthistorische Museum, sondern nur, wenn ich Lust und Laune habe. Und will ich Reger treffen, muß ich ja nicht unbedingt ins Kunsthistorische Museum gehen, ich brauche nur das Hotel Ambassador aufzusuchen, in das er ja immer, nachdem er das Kunsthistorische Museum verlassen hat, geht. Im Ambassador treffe ich Reger ja, wenn ich will, täglich. Im Ambassador hat er seine Fensterecke und zwar den Tisch neben dem sogenannten Judentisch, der vor dem Ungarntisch steht, der hinter dem Arabertisch steht, wenn man von Regers Tisch aus gegen die Hallentür blickt. Ich gehe natürlich viel lieber ins Ambassador, als ins Kunsthistorische Museum, aber wenn ich es nicht erwarten kann, bis Reger ins Ambassador kommt, gehe ich schon gegen elf ins Kunsthistorische Museum, um ihn zu treffen, meinen Gedankenvater. Den Vormittag verbringt Reger im Kunsthistorischen Museum, den Nachmittag im Ambassador, gegen halb elf geht er ins Kunsthistorische Museum, gegen halb drei ins Ambassador. Bis zu Mittag ist ihm die Achtzehngradtemperatur im Kunsthistorischen Museum die angenehme, am Nachmittag fühlt er sich wohler im warmen Ambassador, in welchem es immer eine Temperatur von dreiundzwanzig Grad hat. Am

Nachmittag denke ich nicht mehr so gern und nicht mehr so intensiv nach, sagt Reger, da kann ich mir das Ambassador leisten. Das Kunsthistorische Museum ist seine Geistesproduktionsstätte, so er, das Ambassador ist sozusagen meine Gedankenaufbereitungsmaschine. Im Kunsthistorischen Museum fühle ich mich ausgesetzt, im Ambassador geborgen, so er. Dieser Gegensatz, Kunsthistorisches Museum – Ambassador, ist es, den mein Denken wie nichts sonst braucht, das Ausgesetztsein einerseits, die Geborgenheit andererseits, die Atmosphäre im Kunsthistorischen Museum einerseits und die Atmosphäre im Ambassador andererseits, das Ausgesetztsein einerseits, die Geborgenheit andererseits, mein lieber Atzbacher; mein Denkgeheimnis beruht darauf, sagte er, daß ich den Vormittag im Kunsthistorischen Museum und den Nachmittag im Ambassador verbringe. Und was gibt es Gegensätzlicheres, als das Kunsthistorische Museum, also die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums, und das Ambassador. Ich habe mir das Kunsthistorische Museum genauso zur Geistesgewohnheit gemacht, wie das Ambassador, sagte er. Die Qualität meiner Kritiken für die Times, an der ich übrigens schon vierunddreißig Jahre mitarbeite, sagte er, beruht tatsächlich darauf, daß ich das Kunsthistorische Museum und das Ambassador aufsuche, das Kunsthistorische Museum jeden zweiten Vormittag, das Ambassador jeden Nachmittag. Allein diese Gewohnheit hat mich nach dem Tod meiner Frau gerettet. Mein lieber Atzbacher, ohne diese Gewohnheit wäre ich auch schon gestorben, sagte Reger gestern. Jeder Mensch braucht eine solche Gewohnheit zum Überleben, sagte er. Und ist es die verrückteste aller Gewohnheiten, er braucht sie. Regers Verfassung scheint sich gebessert zu haben, seine Sprechweise ist wieder die gleiche wie vor dem Tod seiner Frau. Zwar sagt er, daß er jetzt den sogenannten toten Punkt überwunden habe, aber er wird doch zeitlebens darunter leiden, von seiner Frau allein gelassen zu sein. Immer wieder sagt er, daß er in dem lebenslänglichen Irrtum gewesen sei, er lasse seine Frau zurück, er sterbe früher als sie, weil ihr Tod doch so plötzlich gekommen war, war er noch ein paar Tage vor ihrem Tod felsenfest davon überzeugt gewesen, sie werde ihn überleben; sie war die Gesunde, ich war der Kranke, so, in dieser Meinung und in diesem Glauben, lebten wir immer, sagte er. Kein Mensch ist je so gesund gewesen, wie meine Frau, sie lebte ein Leben in Gesundheit, während ich immer eine Existenz in Krankheit, ja eine Existenz in Todeskrankheit geführt habe, sagte er. Sie war die Gesunde, sie war die Zukunft, ich war immer der Kranke, ich war die Vergangenheit, sagte er. Daß er einmal ohne seine Frau und tatsächlich allein zu leben habe, sei ihm nie zu Bewußtsein gekommen, das war kein Gedanke für mich, so er. Und wenn sie schon vor mir stirbt, so sterbe ich ihr nach, möglichst rasch, habe er immer gedacht. Jetzt müsse er einerseits mit dem Irrtum, daß sie nach ihm sterbe, genauso fertig werden, wie mit der Tatsache, daß er sich nach ihrem Tod nicht umgebracht habe, ihr also nicht, wie er es vorgehabt habe, nachgestorben sei. Da ich immer gewußt habe, daß sie alles ist für mich, habe ich naturgemäß an ein Weiterexistieren nach ihr nicht denken können, mein lieber Atzbacher, sagte er. Aus dieser menschlichen und tatsächlich menschenunwürdigen Schwäche heraus, aus dieser Feigheit heraus, bin ich ihr nicht nachgestorben, sagte er, habe ich mich nicht umgebracht nach ihrem Tod, bin ich im Gegenteil, wie es mir jetzt scheint (so er gestern!), stark geworden, manchmal kommt mir in letzter Zeit vor, als wäre ich jetzt stärker denn je. Ich hänge jetzt noch mehr an meinem Leben, als vorher, ob Sie es glauben oder nicht, ich bin tatsächlich mit der größten Unbändigkeit angeklammert an das Leben, so er gestern. Ich will es nicht wahrhaben, aber ich lebe mit einer noch größeren Intensität als

vor ihrem Tod. Freilich, ich habe über ein Jahr gebraucht, um überhaupt diesen Gedanken denken zu können, aber jetzt denke ich diesen Gedanken gänzlich ungeniert, so er. Was mich so außerordentlich bedrückt, ist ja doch die Tatsache, daß ein solcher aufnahmefähiger Mensch, wie meine Frau einer gewesen ist, mit dem ganzen ungeheuerlichen Wissen, das ich ihm vermittelt habe, gestorben ist, also dieses ungeheuerliche Wissen mit in den Tod genommen hat, das ist das Ungeheuerliche, noch viel ungeheuerlicher ist diese Ungeheuerlichkeit, als die Tatsache, daß sie tot ist, so er. Wir stecken und wir stopfen alles aus uns in einen solchen Menschen hinein und er verläßt uns, stirbt uns weg, für immer, so er. Und das Unvermittelte kommt noch dazu, die Tatsache, daß wir den Tod dieses Menschen nicht vorhergesehen haben, nicht einen Moment habe ich den Tod meiner Frau vorausgesehen, so, als hätte sie ein ewiges Leben, habe ich sie betrachtet, nie an ihren Tod gedacht, sagte er, so, als lebte sie tatsächlich mit meinem Wissen in die Unendlichkeit hinein als Unendlichkeit, so er. Tatsächlich ein überstürzter Tod, sagte er. Wir nehmen einen solchen Menschen für die Ewigkeit, das ist der Irrtum. Hätte ich gewußt, daß sie mir wegsterben wird, ich hätte völlig anders gehandelt, so wußte ich nicht, daß sie mir weg- und voraussterben wird und handelte gänzlich unsinnig, so, als existierte sie unendlich in die Unendlichkeit hinein, während sie gar nicht für die Unendlichkeit gemacht war, sondern für die Endlichkeit, wie wir alle. Nur wenn wir einen Menschen mit einer so hemmungslosen Liebe lieben, wie ich meine Frau geliebt habe, glauben wir tatsächlich, er lebt ewig und in die Unendlichkeit hinein. Noch nie hat er, auf der Sitzbank im Bordone-Saal sitzend, den Hut aufgehabt, und genauso wie mich die Tatsache, daß er mich für heute ins Museum bestellt hat, beunruhigte, weil diese Tatsache tatsächlich die ungewöhnlichste ist, wie ich dachte, die ich mir denken kann, ist die Tatsache, daß er auf der Sitzbank im Bordone-Saal seinen Hut auf dem Kopf aufbehalten hat, die ungewöhnlichste, ganz abgesehen von einer Reihe anderer ungewöhnlicher Tatsachen in diesem Zusammenhang. Irrsigler war in den Bordone-Saal eingetreten und hatte, zu ihm hingehend, Reger etwas ins Ohr geflüstert, um gleich darauf wieder aus dem Bordone-Saal hinauszugehen. Die Mitteilung Irrsiglers hatte aber auf Reger, wenigstens von außen betrachtet, keinerlei Wirkung, Reger war nach der Mitteilung Irrsiglers genauso auf der Sitzbank sitzen geblieben, wie vor der Mitteilung Irrsiglers. Es beschäftigte mich aber doch, was Irrsigler zu Reger gesagt haben könnte. Ich gab aber den Gedanken, was Irrsigler zu Reger gesagt haben könnte, gleich wieder auf und beobachtete Reger, gleichzeitig hörte ich ihn zu mir sagen: die Leute gehen ins Kunsthistorische Museum, weil es sich gehört, aus keinem anderen Grund, sie reisen sogar aus Spanien und Portugal nach Wien und gehen ins Kunsthistorische Museum, um zu Hause in Spanien und Portugal sagen zu können, daß sie im Kunsthistorischen Museum in Wien gewesen sind, was doch lächerlich ist, denn das Kunsthistorische Museum ist nicht der Prado und es ist auch nicht das Museum in Lissabon, davon ist das Kunsthistorische Museum weit entfernt. Das Kunsthistorische Museum hat ja nicht einmal einen Goya und es hat nicht einmal einen El Greco. Ich sah Reger und beobachtete ihn und hörte gleichzeitig, was er am Vortag zu mir gesagt hatte. Das Kunsthistorische Museum hat nicht einmal einen Goya, nicht einmal einen El Greco hat es. Natürlich kann es auf den El Greco verzichten, denn El Greco ist kein wirklich großer, kein allererster Maler, sagte Reger, aber keinen Goya zu haben, ist für ein Museum wie das Kunsthistorische Museum geradezu tödlich. Keinen Goya, sagte er, das sieht den Habsburgern ähnlich, die ja, wie Sie wissen, keinen Kunstverstand gehabt haben, ein Gehör für Musik

ja, aber keinen Kunstverstand. Beethoven haben sie gehört, aber Goya haben sie nicht gesehen. Goya wollten sie nicht haben. Beethoven ließen sie die Narrenfreiheit, denn die Musik war ihnen ungefährlich, aber Goya durfte nicht herein nach Österreich. Nun ja, die Habsburger haben genau den dubiosen katholischen Geschmack, der in diesem Museum zu Hause ist. Das Kunsthistorische Museum ist genau der dubiose habsburgische Kunstgeschmack, der schöngeistige, widerliche. Was reden wir nicht alles mit Leuten, die uns nicht das geringste angehen, sagte er, weil wir Zuhörer brauchen. Wir brauchen Zuhörer und ein Sprachrohr, sagte er. Lebenslänglich haben wir den Wunsch nach dem idealen Sprachrohr und finden es nicht, denn das ideale Sprachrohr gibt es nicht. Wir haben einen Irrsigler, sagte er, und sind doch die ganze Zeit auf der Suche nach einem Irrsigler, nach dem idealen Irrsigler. Wir machen einen ganz einfachen Menschen zu unserem Sprachrohr, und wenn wir diesen ganz einfachen Menschen zu unserem Sprachrohr gemacht haben, suchen wir ein anderes Sprachrohr, einen anderen dafür, für unser Sprachrohr, geeigneten Menschen, sagte er. Nach dem Tod meiner Frau habe ich wenigstens den Irrsigler, sagte er. Irrsigler war, wie alle Burgenländer, doch nur ein burgenländischer Dummkopf, bevor er auf mich gekommen ist, sagte Reger. Wir brauchen einen Dummkopf als Sprachrohr. Ein burgenländischer Dummkopf ist ein ganz und gar geeignetes Sprachrohr, sagte Reger. Verstehen Sie mich richtig, ich schätze Irrsigler, ja ich brauche ihn jetzt wie einen Bissen Brot, ich habe ihn jahrzehntelang gebraucht, aber nur ein Dummkopf wie Irrsigler ist als Sprachrohr brauchbar, sagte Reger gestern. Wir nützen einen solchen Dummkopf als Menschen natürlich aus, sagte er, aber andererseits machen wir ja gerade dadurch, daß wir ihn ausnützen, aus einem solchen Dummkopf einen Menschen, indem wir ihn zu unserem Sprachrohr machen und unsere Gedanken in ihn hineinpressen, zugegeben ziemlich rücksichtslos am Anfang, machen wir aus einem burgenländischen Dummkopf, wie Irrsigler einer war, einen burgenländischen Menschen. Irrsigler hat doch, bevor er auf mich gestoßen ist, beispielsweise von Musik keine Ahnung gehabt, von keiner Kunst, im Grunde von gar nichts, selbst von seiner Dummheit nicht. Jetzt ist Irrsigler weiter, als alle diese kunsthistorischen Schwätzer, die Tag für Tag hier hereinkommen und den Leuten die Ohren volltrommeln mit ihrem kunsthistorischen Schwachsinn. Irrsigler ist weiter als diese kunsthistorischen Redeschweine, die jeden Tag Dutzende von Schulklassen, die sie vor sich hertreiben, für ihr Leben vernichten mit ihrem Geschwätz. Die Kunsthistoriker sind die eigentlichen Kunstvernichter, sagte Reger. Die Kunsthistoriker schwätzen so lange über die Kunst, bis sie sie zu Tode geschwätzt haben. Von den Kunsthistorikern wird die Kunst zu Tode geschwätzt. Mein Gott, denke ich oft, hier auf der Bank sitzend, wenn die Kunsthistoriker ihre hilflosen Herden an mir vorbeitreiben, wie schade um alle diese Menschen, denen von eben diesen Kunsthistorikern die Kunst ausgetrieben wird, endgültig ausgetrieben wird, sagte Reger. Das Geschäft der Kunsthistoriker ist das übelste Geschäft, das es gibt, und ein schwätzender Kunsthistoriker, und es gibt ja nur schwätzende Kunsthistoriker, gehört mit der Peitsche verjagt, aus der Kunstwelt hinausgejagt, sagte Reger, hinausgejagt aus der Kunstwelt gehörten alle Kunsthistoriker, denn die Kunsthistoriker sind die eigentlichen Kunstvernichter und wir sollten uns die Kunst nicht von den Kunsthistorikern als Kunstvernichter vernichten lassen. Wenn wir einem Kunsthistoriker zuhören, wird uns übel, sagte er, indem wir einem Kunsthistoriker zuhören, sehen wir, wie die Kunst, die er beschwätzt, vernichtet wird, mit dem Geschwätz des Kunsthistorikers schrumpft die Kunst und wird vernichtet. Tausende, ja Zehntausende Kunsthistoriker verschwätzen und vernichten die Kunst,

sagte er. Die Kunsthistoriker sind die tatsächlichen Kunsttöter, hören wir einem Kunsthistoriker zu, nehmen wir an der Kunstvernichtung teil, wo ein Kunsthistoriker auftritt, wird die Kunst vernichtet, das ist die Wahrheit. So habe ich in meinem Leben kaum etwas mit einem tieferen Haß gehaßt, als die Kunsthistoriker, sagte Reger. Irrsigler zuzuhören, wenn er einem Ahnungslosen ein Bild erklärt, ist eine reine Freude, sagte Reger, denn er ist im Zustande des Erklärens eines Kunstwerkes niemals geschwätzig, er ist kein Schwätzer, nur der bescheidene Aufklärer und Berichterstatter, der dem Betrachter das Kunstwerk offen läßt, es ihm nicht durch Geschwätz verschließt. Das habe ich ihm, Irrsigler, im Laufe von Jahrzehnten beigebracht, wie Kunstwerke zu erklären sind als Betrachtung. Aber es ist natürlich alles, das Irrsigler sagt, von mir, sagte Reger dann, er hat naturgemäß nichts Eigenes, aber doch das Beste aus meinem Kopf, wenn auch angelernt, ist es doch von Fall zu Fall nützlich. Die sogenannte Bildende Kunst ist für einen Musikwissenschaftler, wie ich einer bin, von höchster Nützlichkeit, sagte Reger, je mehr ich mich auf die Musikwissenschaft konzentriert und tatsächlich je mehr ich mich in die Musikwissenschaft verrannt habe, desto eindringlicher beschäftigte ich mich mit der sogenannten Bildenden Kunst; umgekehrt denke ich, daß es für einen Maler beispielsweise von größtem Vorteil ist, wenn er sich der Musik widmet, also daß er, der sich vorgenommen hat, lebenslänglich zu malen, auch lebenslänglich musikalische Studien betreibt. Die Bildende Kunst ergänzt auf wunderbare Weise die musikalische und die eine ist immer gut für die andere, sagte er. Ich könnte mir meine musikwissenschaftlichen Studien ohne die Auseinandersetzung mit der sogenannten Bildenden Kunst, insbesondere mit der Malerei, gar nicht vorstellen, sagte er. Ich betreibe mein Musikgeschäft deshalb so gut, weil ich mich gleichzeitig, und mit nicht weniger Enthusiasmus und mit nicht weniger Intensität überhaupt, mit der Malerei beschäftige. Nicht umsonst gehe ich seit über dreißig Jahren in das Kunsthistorische Museum. Andere gehen am Vormittag in ein Wirtshaus und trinken drei oder vier Gläser Bier, ich setze mich hier herein und betrachte den Tintoretto. Eine Verrücktheit vielleicht, wie Sie denken müssen, aber ich kann nicht anders. Dem einen ist es die liebste jahrzehntelange Gewohnheit, seine drei oder vier Gläser Bier in einer Vormittagskaschemme zu trinken, ich gehe ins Kunsthistorische Museum. Der eine nimmt gegen elf Uhr vormittag ein Vollbad, um über die Tageshürde zu kommen, ich gehe ins Kunsthistorische Museum. Wenn wir dann auch noch einen Irrsigler haben, sind wir gut bedient, sagte Reger. Tatsächlich habe ich von Kindheit an nichts mehr gehaßt, als die Museen, sagte er, ich bin von Natur aus ein Museumshasser, aber ich gehe wahrscheinlich gerade aus diesem Grunde seit über dreißig Jahren hier herein, ich leiste mir diese zweifellos geistesbedingte Absurdität. Wie Sie wissen, gehe ich ja nicht in den Bordone-Saal wegen Bordone, ja nicht einmal wegen Tintoretto, wenngleich ich den Weißbärtigen Mann doch für eines der großartigsten Gemälde, die je gemalt worden sind, halte, ich gehe wegen dieser Sitzbank in den Bordone-Saal und wegen des idealen Lichteinflusses auf mein Gemütsvermögen, tatsächlich wegen der idealen Temperaturverhältnisse gerade im Bordone-Saal, und wegen Irrsigler, der nur im Bordone-Saal der ideale Irrsigler ist. Und ich hielte es in Wahrheit auch niemals in der Nähe beispielsweise von Velázquez aus. Ganz abgesehen von Rigaud und Largillière, die ich wie die Pest meide. Hier im Bordone-Saal habe ich die beste Meditationsmöglichkeit, und sollte ich einmal Lust haben, hier auf der Bank etwas zu lesen, beispielsweise meinen geliebten Montaigne oder meinen vielleicht noch mehr geliebten Pascal oder meinen noch viel mehr geliebten Voltaire, wie Sie sehen, sind meine geliebten