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»Lernen Sie es kennen, das Trio Infernal der Vergänglichkeit.« (Oliver Müller)
Was passiert mit uns, wenn wir altern, sterben, tot sind? Ohne Sentimentalität, aber sehr empathisch beschreibt Oliver Müller dies in seinem Buch, ein nüchterner, erhellender und kluger Blick auf die Biologie alles Lebendigen. Und irgendwie auch tröstlich: Denn was man kennt, muss man nicht so sehr fürchten.
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Seitenzahl: 388
Oliver Müller
Altern. Sterben. Tod.
Die Vergänglichkeit des Menschen aus
der Sicht der Naturwissenschaften
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Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Covergestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See
Covermotive: © Maksim Shmeljov / shutterstock.com
Tabellen und Abbildungen: © Oliver Müller
ISBN 978-3-641-24067-7 V003
www.gtvh.de
Die Erwähnung und Beschreibung von Substanzen und Vorgehensweisen zur Therapie und Prävention von Krankheiten oder zur Lebensverlängerung garantieren nicht die genannten Wirkungen, stellen keine medizinischen Ratschläge dar und ersetzen auch nicht die von einer Ärztin oder einem Arzt empfohlenen oder angeordneten Maßnahmen.
Für Xenia und Tim, die mich meine eigene Vergänglichkeit vergessen lassen
INHALT
Vorwort
Einleitung
1. LEBEN UND VERGÄNGLICHKEIT
1. Was ist Leben?
Die Besonderheiten des Lebens als Zustand
Der Aufbau des menschlichen Körpers
Weitere Bedingungen des Lebens
Der Nachweis des individuellen Lebens
2. Wann beginnt und wann endet das menschliche Leben?
Die Bedingungen des Lebens am Lebensende
3. Die Phasen des Lebens: Entwicklung, Altern und Sterben
Entwicklung, Zellteilung und Wachstum
2. ALTERN
1. Was ist Altern?
Altern im Alltag
Der Begriff Altern
Wann beginnt und wann endet Altern?
Altern und Krankheit
2. Alterungsprozesse
Die Unumkehrbarkeit der Alterungsprozesse
Das übergeordnete physikalische Prinzip des Alterns
Ordnung ist nicht nur das halbe Leben
Stoffwechsel und Unordnung
Altern im Alter
3. Altern auf mehreren Ebenen
Alterungsprozesse und deren Folgen
Biochemisches Altern
Altern auf Molekülebene I: Anhäufung von molekularem Abfall
Altern auf Molekülebene II: Schädigung wichtiger Moleküle
Alterung auf Molekülebene III: Verkürzung der Chromosomen
Embryonale Stammzellen
Zelluläres Altern
Der Ersatz von toten Organzellen
Zelluläre Seneszenz
Zelluläre Seneszenz und Krebs
Seneszente Zellen als Ursache für die Organalterung
4. Individuelles Altern
Die Geschwindigkeit des Alterns
Beeinflussung der Geschwindigkeit des Alterns
Beschleunigung des Alterns
Verzögerung des Alterns
Alterung der Organe und des Körpers
Merkmale typischer Alterskrankheiten
5. Demenz, Arteriosklerose und Krebs
Demenz
Kleine Gehirne alter und dementer Menschen
Gehirnverkleinerung und Demenz
Häufigkeit der Demenz
Demenz als lebenszeitverkürzender Faktor
Die Alzheimer-Krankheit
Moleküle und Zellen in Gehirnen von Alzheimer-Patienten
Ursachen der Alzheimer-Krankheit
Prävention der Alzheimer-Krankheit und der Demenz
Mehr denken gegen die Alzheimer-Krankheit?
Ginkgo
Arteriosklerose
Entwicklung und Verlauf der Arteriosklerose
Häufigkeit der Arteriosklerose
Faktoren, die das Fortschreiten der Arteriosklerose begünstigen
Folgeerkrankungen der Arteriosklerose
Prävention der Arteriosklerose
Omega-3-Fettsäuren
Krebs
Entstehung einer Tumorzelle und eines Tumors
Ursache der Tumorentstehung
Ursachen für Mutationen
Externe Mutationsursachen
Anzahl von Mutationen
Krebsrisiko und Lebensalter
Häufigkeit der Krankheit Krebs
Krebsprävention
Die 12 Regeln gegen den Krebs
6. Sinn und Vorteile des Alterns und eines hohen Alters
Zunehmende Fähigkeiten im Alter
Leistungsfähigkeit im Alter
Altersweisheit
Kristalline Intelligenz
Altersweisheit: Eine Folge von Alterungsprozessen oder von Lebenserfahrung?
3. STERBEN
1. Die Topthemen Sterben und Tod
Das Sterblichkeitsparadoxon
Relevanz der Sterblichkeit
2. Konsequenzen der beobachtbaren und allgemeinen Sterblichkeit
Sterblichkeit als Voraussetzung für die Weiterentwicklung einer Art
Sterblichkeit als Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Menschen?
Die Weiterentwicklung des Menschen
Sterblichkeit zur Begrenzung der Anzahl »biologisch sinnloser« Jahre
Die Unbewertbarkeit menschlicher Lebensjahre
Der Vorteil älterer Menschen für die Weiterentwicklung des Menschen
Sterblichkeit und Anzahl der Menschen
Die maximal mögliche Anzahl von Menschen
3. Die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und deren Auswirkungen
Entwicklung der Sterblichkeitserkenntnis
Tabuisierung von Sterben und Tod
4. Die komplexe Angst vor Sterben und Tod
Angst vor dem Ende der Lebenszeit und vor deren Begrenztheit
Angst vor Leiden während des Sterbeprozesses
Angst vor dem Tod als Zustand und vor der Situation nach dem Leben
Argumente gegen Angst vor Sterben und Tod
Thanatophobie: Die krankhafte Angst vor Sterben und Tod
5. Beeinflusst die Sterblichkeitserkenntnis unsere Handlungen?
Die Sterblichkeitserkenntnis als Antrieb
Die Sterblichkeitserkenntnis als Faktor, der unsere Handlungen beeinflusst
Der Einfluss der Sterblichkeitserkenntnis auf die menschliche Zivilisation
Erkenntnis der Sterblichkeit als Voraussetzung für Lebensqualität
Der Wert der Sterblichkeitserkenntnis
6. Der Sterbeprozess
Der Beginn des Sterbens
Die Phasen des Sterbeprozesses
Das Ende des Sterbeprozesses und der Beginn des Todes
7. Sterblichkeit in Zahlen
Sterblichkeit und Mortalität
Wo sterben wir?
Woran sterben wir?
Die rechtsmedizinische Einteilung der Todesarten
Die gerichtsmedizinische Sektion
Die klinische Sektion
Die medizinische Einteilung der Todesursachen
Die häufigsten Todesursachen
Wann sterben wir?
Mortalität in verschiedenen Lebensaltern
Die mittlere Lebenserwartung
Statistische Einflüsse auf die mittlere Lebenserwartung
Die fernere Lebenserwartung
Entwicklungen der mittleren und der ferneren Lebenserwartung
Die unterschiedlichen Lebenserwartungen von Frauen und Männern
Die unterschiedlichen Lebenserwartungen in verschiedenen Ländern
Ursachen der unterschiedlichen Lebenserwartungen in verschiedenen Ländern
Zusammenhang zwischen Reichtum eines Landes und Lebenserwartung
Abnahme der Lebenserwartung in manchen reichen Ländern
8. Künftige Entwicklung der Lebenserwartung
Entwicklung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit
Die künftige Entwicklung der mittleren Lebenserwartung in Deutschland
Wie alt können wir werden?
Wie können wir unsere Lebenserwartung erhöhen?
Warum leben Japaner in Japan so lang?
Medizinische Ratschläge zur Prävention der häufigsten Krankheiten
Populäre Ratschläge zur Lebensverlängerung
Die Pille, die längeres Leben garantiert
Verlängerung des Lebens von Tieren in Gefangenschaft
Verlängert Hungern die Lebenserwartung?
9. Das Sterben der einzelnen Zelle
Nekrose und Apoptose
Unterschiede zwischen Nekrose und Apoptose
4. TOD
1. Was ist der Tod?
Die Prinzipien des Todes
2. Die Stufen bis zum endgültigen Tod
Der klinische Tod
Der Hirntod
Der Hirntod als endgültiger Tod
Hirntod ohne vorherigen klinischen Tod
Funktionierender Körper trotz Hirntod
Unterschiede zwischen Tod und Wachkoma
Die Feststellung des Hirntods
Kritik am Hirntodkonzept
Argumente für die Definition des Hirntodes als endgültigen Tod
Ende aller Organfunktionen und der biologische Tod
Der genaue Zeitpunkt des Todesbeginns
3. Todeszeichen
Herzstillstand
Die todbringende Verletzung
Die Nulllinie im Elektroenzephalogramm
Atemstillstand
Fehlen des Pupillenreflexes und anderer Reflexe
Totenkälte
Totenflecken
Totenstarre
Verwesung und Fäulnis
4. Der Umgang mit dem eigenen nahenden Tod
Die stufenartige Reaktion auf die Nachricht des nahenden Todes
Kritik am Phasenmodell
5. Nahtoderfahrungen
Inhalte der Nahtoderfahrungen
Nahtoderfahrungen als Indizien für eine Weiterexistenz nach dem Tod
Argumente gegen Nahtoderfahrungen als Beweise für eine postmortale Weiterexistenz
6. Die alte Menschheitsfrage: Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Die Seelenlehre im Alltag
Eigenschaften der Seele
Die Seelenlehre in den fünf Weltreligionen
Die Attraktivität der Seelenlehre
Die Seele aus Sicht der Wissenschaft
Nachweis von Aktivitäten der Seele am lebenden Gehirn und an Nervenzellen
Die Körperabhängigkeit der Seele
Körperlosigkeit und Unsterblichkeit der Seele
Unsterblichkeit und Körperlosigkeit der Seele provozieren viele Fragen
Schlussfolgerungen
Möglichkeiten der postmortalen Weiterexistenz
Kryonik
Mind uploading
Reproduktion
Klonen
Konservierung
Werke und Erinnerung
Das Leben nach dem eigenen Tod
7. Auswege aus der Sackgasse
Fokussierung auf das laufende Leben
Kann man die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit dauerhaft ausblenden?
Wissenschaftlicher Nachweis der unsterblichen Seele
Unsterblichkeit durch Medizin und Wissenschaft
Wissen oder Glauben?
Verwendete und weiterführende Literatur
VORWORT
Wer über Sterben und Tod nachdenkt, thematisiert letztendlich das Leben.
Margot Käßmann, deutsche Theologin
Warum muss jeder Mensch sterben? Was passiert beim Sterben? Geht das Leben nach dem Tod weiter? Diese Fragen beschäftigen mich seit meiner Kindheit. Meine Antworten darauf variierten von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt. Als kleiner Junge war für mich klar, dass mein Vater nach seinem frühen Tod nur kurz weg war und sehr bald zurückkommen würde. Ein paar Jahre später fragte ich als Jugendlicher nach dem Sinn unseres Daseins. In der kurzen Zeit zwischen Geburt und Tod konnte ich schon aufgrund der zeitlichen Begrenztheit keinen Sinn erkennen. Daher muss das Leben im Tod irgendwie weitergehen, um wenigstens posthum Sinn zu machen. Ist das Leben vor dem Tod vielleicht nur eine Art Vorbereitung auf die viel wichtigere Existenz nach dem Tod? Diese Idee passte zu den christlichen Vorstellungen, die ich im Religions- und Konfirmandenunterricht kennenlernte. Während meines Theologiestudiums hoffte ich, noch mehr darüber zu erfahren, um die für mich wichtigen Fragen beantworten zu können. Doch je mehr ich mich in das Studium der christlichen Ideen vertiefte, desto mehr erkannte ich, dass man als religiöser Mensch viele teilweise widersprüchliche Prämissen im wahrsten Wortsinne glauben, also unbewiesen übernehmen muss. Dazu sah ich mich nicht in der Lage und suchte meine persönliche und berufliche Zukunft in Naturwissenschaft und Medizin. Während meines naturwissenschaftlichen Studiums lernte ich die Moleküle, Zellen und Strukturen sowie die molekularen und zellulären Vorgänge kennen, die einen lebenden Körper ausmachen. Ich erfuhr, dass diese Vorgänge nur in einem lebenden Organismus geordnet ablaufen können und mit dem Tod des Organismus enden. Nach dieser Vorstellung ist der lebende Mensch »nur« ein hochkomplexes System aus Molekülen, Zellen und Organen, in denen ständig unzählige Vorgänge und Reaktionen ablaufen. Mit dem Lebensende enden diese Abläufe. Mehr lernte ich im Studium nicht über die Themen Altern, Sterben und Tod. Das lag vor allem daran, dass man damals, in den 1980er-Jahren noch nicht viel darüber wusste. Methoden zur Analyse der Aktivität von Nervenzellen und von ganzen Hirnregionen waren gerade erst entwickelt und noch zu kompliziert und zu teuer, um sie zur Klärung von Fragen rund um Altern, Sterben und Tod einzusetzen. Außerdem kümmerten sich die Lebenswissenschaftler schon aufgrund ihres Selbstverständnisses vor allem um die Vorgänge während des Lebens. Altern, Sterben und Tod lagen für die meisten von ihnen nicht nur am zeitlichen Rand des Lebens, sondern auch am thematischen Rand ihrer Wissenschaft.
Das hat sich unterdessen sehr gewandelt. In den letzten Jahren konnte die moderne Naturwissenschaft viele Fragen rund um Altern, Sterben und Tod beantworten. Mediziner und Naturwissenschaftler haben das spannende Thema der menschlichen Vergänglichkeit als Forschungsthema entdeckt. An vielen Universitäten wurden Lehrstühle und Institute für die Erforschung der Prozesse und der Folgen des Alterns eingerichtet. Zahlreiche internationale Fachzeitschriften haben sich auf die Veröffentlichung von Studien spezialisiert, in denen die Vorgänge während des Alterns, des Sterbens und nach dem Lebensende näher untersucht werden.
Leider sind die dabei gewonnenen Erkenntnisse noch nicht bei vielen Menschen angekommen. Genau das will ich mit diesem Buch ändern. Leserinnen und Leser sollen nach der Lektüre die aktuelle Sicht der Naturwissenschaft auf Altern, Sterben und Tod kennen und verstehen. Die in diesem Buch gebotenen Informationen können vielleicht dabei helfen das eigene Lebensende als weniger bedrohlich zu empfinden, und die persönlichen Vorstellungen der menschlichen Vergänglichkeit mit Hilfe wissenschaftlicher Fakten zu modifizieren und zu ergänzen. Wenn ich manche Hemmungen abbauen kann, über das eigene Altern, das eigene Sterben und den eigenen Tod vorurteilsfrei und sachlich nachzudenken, dann habe ich mein Ziel erreicht. Wenn dieses Buch außerdem die eine Leserin und den anderen Leser dazu anregen kann, mit ihren und seinen Mitmenschen über diese Themen zu diskutieren, würde ich mich freuen.
Eine Abhandlung über so ein umfangreiches und vielschichtiges Thema wie die menschliche Vergänglichkeit kann nur einen Bruchteil des vorhandenen Wissens darstellen. Die Auswahl der dargestellten Themen erfolgte nach rein subjektiven Kriterien. Wenn ich ein Thema nur am Rande oder gar nicht erwähne, bedeutet das nicht, dass dieses Gebiet unwichtig ist. Weitere und vertiefende Informationen finden sich in den zitierten Quellen und auf der buchbegleitenden Internetseite http://www.altern-sterben-tod.de.
Auch wenn ich versucht habe, alle Aspekte korrekt und unmissverständlich darzustellen, kann ein Buch wie dieses nicht frei von Unvollständigkeiten und missverständlichen Formulierungen sein. Ich freue mich deshalb über jeden sachlichen Kommentar und alle konstruktiven Verbesserungsvorschläge.
Ein solches Buch kann nicht von einem Menschen alleine geschrieben und veröffentlicht werden. Ich danke allen, die zum Entstehen und zur Veröffentlichung des Buches beigetragen haben. Professor Dr. Hermann Herbst danke ich für seine Erlaubnis, Fotos seiner mikroskopischen und makroskopischen Präparate zu verwenden. Dr. Martina Wesselhöft und Martin Iwanski danke ich für die Vermittlung wichtiger Kontakte und die Unterstützung während der Erstellung des Manuskripts. Meinem Literaturagenten Günter Berg danke ich dafür, dass er von Anfang an vom Gelingen des Projekts überzeugt war und mich auf vielfältige Weise unterstützt hat. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gütersloher Verlagshauses danke ich für die fruchtbare Zusammenarbeit. Allen voran gilt mein Dank Diedrich Steen für die guten Gespräche, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für seine zahlreichen Ideen und Verbesserungsvorschläge. Gudrun Krieger und Beate Nottbrock danke ich für ihre sorgfältige Arbeit bei der Formatierung und Zusammenstellung des Manuskripts. Meiner Familie danke ich dafür, dass sie mir die Zeit, die Ruhe und das Vertrauen gab, um mich diesem Projekt widmen zu können.
Zweibrücken, Herbst 2018
Oliver Müller
EINLEITUNG
Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit.
Bibel, Altes Testament, Prediger 3, Vers 1
Vergänglichkeit ist das Phänomen der zeitlich begrenzten Existenz. Alles, was aus Materie besteht, ist vergänglich. Da unser Körper aus Materie besteht, ist auch er vergänglich. Daraus folgt, dass unsere Zeit als eine Kombination aus körperlichen und nicht körperlichen Anteilen irgendwann vorbei sein wird. Wir werden vergehen und dann irgendwann vergangen und Vergangenheit sein. Unser Weg in die Vergangenheit beginnt bereits während unseres Lebens und führt über Altern und Sterben in den Tod.
Mit diesen simplen Tatsachen werden wir täglich konfrontiert. Ältere Menschen berichten uns über ihre nachlassenden Fähigkeiten und Alterskrankheiten. Immer wieder erfahren wir vom Tod eines nahestehenden Menschen oder müssen das Sterben eines Mitmenschen miterleben. Und manch einer der gestorbenen Menschen fehlt uns noch lange nach seinem Tod. Aber nicht nur die Vergänglichkeit anderer Menschen ist uns ständig präsent. Altern, Sterben und Tod bedrohen uns auch selbst und kommen uns selbst unweigerlich immer näher. Spätestens wenn wir die Folgen des Alterns im eigenen Körper spüren, wird uns bewusst, dass auch wir altern und dass auch unsere eigene Lebenszeit begrenzt ist.
Trotz ihrer unmittelbaren Nähe werden die vielen Fragen und Probleme, die unsere Vergänglichkeit verursacht, in unserer Gesellschaft, die auf Jugend und moderne Technik setzt, verdrängt und tabuisiert. Denn unsere sicher eintretende Nichtexistenz wirkt bedrohlich, macht Angst und provoziert unzählige Fragen. Viele von uns haben Angst vor den Antworten auf diese Fragen und trauen sich darum nicht, sie zu stellen. Und wer doch einmal mehr wissen will, wird mit jahrhundertealten Hypothesen, persönlichen Wunschvorstellungen oder vorgefertigten Ideologien konfrontiert, die oft noch mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten.
Eine Ursache für die Unsicherheit und die Angst vor unserer unausweichlichen Vergänglichkeit ist unser mangelndes Wissen. Die meisten von uns kennen weder die genauen Vorgänge in einem alternden Körper, noch kennen sie die typischen Phasen des Sterbens oder die Unterschiede zwischen einem lebenden und einem endgültig toten Menschen.
Mein Ziel ist es, Unsicherheit und Angst beim Umgang mit unserer Vergänglichkeit durch Wissen und Sachlichkeit zu mildern. Denn in den letzten Jahren konnten Wissenschaftler und Ärzte viele Rätsel rund um die Themen Altern, Sterben und Tod lösen. Auf Fragen wie: »Warum altern wir überhaupt?«, »Warum führt Altern immer irgendwann zum Tod?«, »Was passiert beim Sterben?« und »Gibt es ein Leben nach dem Tod?« konnten in zahlreichen wissenschaftlichen Studien Antworten gefunden werden. Dieses Buch stellt die Ergebnisse einiger dieser Studien vor.
Die Frage dabei ist, welche Voraussetzungen eine Studie erfüllen muss, um als wissenschaftlich bezeichnet zu werden. Immerhin sind sich alle Wissenschaftler darüber einig, dass eine Studie, die wissenschaftlich genannt werden kann, vier Bedingungen erfüllen sollte, nämlich:
• Reliabilität (Zuverlässigkeit),• Objektivität (Unabhängigkeit von äußeren und subjektiven Faktoren),• Repräsentativität (stellvertretend für andere nicht untersuchte Systeme) und• Validität (Gültigkeit).Was das bedeutet, kann an folgendem Beispiel deutlich werden: Ein multinationales Wissenschaftler-Team unter der Leitung von Rafael de Cabo von den amerikanischen Gesundheitsinstituten in Baltimore (USA) analysierte den Effekt des Diabetes-Medikaments Metformin. Konkret wollten die Forscher wissen, ob Metformin die Lebensdauer von Mäusen beeinflusst. Dazu gaben sie einer Gruppe von Mäusen täglich eine Dosis Metformin, während eine zweite Gruppe kein Metformin erhielt. Bis auf die Metformin-Gabe wurden alle Mäuse unter identischen Bedingungen gehalten. Jeden Tag wurden die lebenden Mäuse in beiden Gruppen gezählt, so lange, bis alle Mäuse tot waren. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass die Anzahl der lebenden Mäuse in der Metformin-Gruppe langsamer abnahm als in der Gruppe der Kontrollmäuse. Mit anderen Worten: Die Mäuse mit Metformin lebten länger als die Mäuse ohne Metformin.
Zuallererst müssen die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zuverlässig sein und dürfen nicht einfach nur auf Zufall beruhen. In der genannten Studie zeigte die statistische Auswertung der Überlebenszeiten der Mäuse, dass sich die Lebenszeiten zwischen behandelten und unbehandelten Tieren signifikant unterschieden. Und auch in einer anderen ähnlichen Studie sollten sich die Lebenszeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit in ähnlichem Ausmaß unterscheiden. Das heißt, die Ergebnisse sind mit Hilfe einer ähnlichen Studie reproduzierbar (wiederholbar). Damit sind die Studie und die erhaltenen Ergebnisse zuverlässig, sie erfüllen das Kriterium der Reliabilität.
Wichtig ist auch, dass die Ergebnisse einer Studie unbeeinflusst und unabhängig von äußeren Faktoren und auch von den Personen sind, die die Analysen durchführen. Wenn man davon ausgeht, dass die Wissenschaftler bei der Haltung, Zählung und Dokumentation der lebenden Mäuse keine Fehler gemacht haben und dass auch andere Wissenschaftler unter den gegebenen Versuchsbedingungen dieselben Ergebnisse erhalten hätten, ist das Kriterium der Objektivität erfüllt.
Natürlich können in keiner Studie die Auswirkungen eines Parameters auf alle Lebewesen einer bestimmten Art untersucht werden. Im Fall der erwähnten Studie wäre es unmöglich gewesen, die Wirkung von Metformin auf alle zurzeit lebenden Mäuse zu testen. Um aus beispielhaften Ergebnissen mit einer begrenzten Anzahl von Tieren auf viele Organismen, am besten auf alle Organismen einer Art schließen zu können, muss das Kriterium der Repräsentativität erfüllt sein. In der genannten Studie wirkte sich Metformin auf die Lebenszeiten von Mäusen unterschiedlicher Mäusestämme sehr ähnlich aus. Daraus kann man schließen, dass Metformin sehr wahrscheinlich auch auf nicht getestete Mäuse ganz ähnliche Effekte hat. Damit sind die beispielhaften Ergebnisse repräsentativ für alle Mäuse.
Schließlich müssen die Ergebnisse die zu Beginn gestellte Frage beantworten. Im Fall dieser Studie lautete die Ausgangsfrage: »Wirkt sich Metformin auf die Lebensdauer von Mäusen aus?« Diese Frage wurde durch Vergleich der Lebenszeiten Metformin-behandelter mit den Lebenszeiten unbehandelter Mäuse und durch die dabei erhaltenen Ergebnisse beantwortet. Damit sind die Studie und die erhaltenen Ergebnisse zur Beantwortung der gestellten Frage geeignet (gültig), sie erfüllen das Kriterium der Validität.
Nicht alle Fragen rund um Altern, Sterben und Tod können durch experimentelle Studien beantwortet werden, die die Bedingungen der Naturwissenschaft erfüllen. Beispielsweise ist es schwierig, den Einfluss der Sterblichkeitserkenntnis, also unseres Wissens, dass wir sterben müssen, auf unser Leben nach strengen wissenschaftlichen Kriterien endgültig zu untersuchen. Dies liegt daran, dass wir uns und unser Leben nicht mit Menschen und deren Leben vergleichen können, bei denen diese Erkenntnis keine Rolle spielt. Denn es gibt weder unsterbliche Menschen noch Menschen, denen die eigene Sterblichkeit nicht bewusst ist. Deshalb werde ich die Rolle der Sterblichkeitserkenntnis und auch einzelne andere Themen anhand ausgewählter vorurteilsfreier Denkmodelle und Konzepte der modernen Philosophie darstellen.
Das Buch gliedert sich in vier unabhängige Kapitel. Auch wenn es viele Querverweise zwischen den Kapiteln gibt, stehen die einzelnen Kapitel für sich und können auch unabhängig voneinander gelesen und verstanden werden. Bevor ich die vielschichtigen Prozesse der Vergänglichkeit und des Alterns vorstelle, erläutere ich die allgemeinen Grundlagen des Lebens. Die Besonderheiten eines lebenden Systems, der Aufbau unseres Körpers und die Antworten auf die Fragen, wann individuelles Leben beginnt und wann es endet, werden im ersten Kapitel zusammenfassend beschrieben.
Die Moleküle, Zellen und Strukturen, die den Körper formen, beginnen sich bereits während der Alterung und dann vor allem ab dem Zeitpunkt des Lebensendes zu verändern und in der Atmosphäre zu verteilen. Dieser Zusammenhang und das übergeordnete physikalische Prinzip der Vergänglichkeit werden im zweiten Kapitel »Altern« erläutert. Weitere Themen dieses Kapitels sind die molekularen, zellulären und organischen Alterungsprozesse sowie die Alterskrankheiten, die aus der Vergänglichkeit der körperlichen Materie resultieren. Mit Demenz, Arteriosklerose und Krebs werden drei typische Alterskrankheiten näher beschrieben.
Letzte Konsequenz des Alterns ist das Sterben. Im dritten Kapitel werden die Phasen des Sterbeprozesses beschrieben. Der Einfluss der Sterblichkeit auf unser Leben wird vorgestellt. Außerdem werden die menschliche Lebenserwartung und die Ursachen für die unterschiedlichen Lebenserwartungen beleuchtet. Verschiedene Möglichkeiten zur Beeinflussung unserer Lebenserwartung werden vorgestellt.
Jedes individuelle Leben endet mit dem Beginn eines besonderen Zustands, der Tod genannt wird. Im vierten Kapitel wird dieser Zustand anhand von acht Prinzipien näher beschrieben. Definitionen des genauen Zeitpunkts des Todesbeginns werden vorgestellt und miteinander verglichen. Die Entstehung und die Bedeutung von Nahtoderfahrungen werden erklärt. Schließlich werden Möglichkeiten der postmortalen Weiterexistenz vorgestellt, um die Frage nach einer möglichen Weiterexistenz nach dem Lebensende zu beantworten.
1. LEBEN UND VERGÄNGLICHKEIT
Das Leben ist eine ansteckende Krankheit, die beim Geschlechtsverkehr übertragen wird und immer zum Tod führt.
Verfasser unbekannt
1. Was ist Leben?
In unserer Alltagssprache hat der Begriff »Leben« zahlreiche Bedeutungen. Beispielsweise bezeichnet er die Gesamtheit aller Lebewesen in einer Umgebung (»das Leben im Ozean«) oder auch die Lebenszeit eines Menschen (»sein Leben war kurz«). Das entsprechende Verb »leben« wird ebenso wie das verwandte Substantiv in vielen Zusammenhängen verwendet, und zwar meistens als Gegenteil der Begriffe »gestorben sein« oder »tot sein«. Es steht oft synonym für »lebendig sein« oder »am Leben sein«. In der Formulierung »sie lebt seit 2010 in Berlin« steht »leben« für »sich befinden«, in dem Satz »ich lebe zusammen mit meinen zwei Katzen« für »wohnen« oder »seine Zeit verbringen«.
Die Besonderheiten des Lebens als Zustand
Im wissenschaftlichen Zusammenhang versteht man unter »Leben« einen besonderen Zustand, in dem sich nur lebende Wesen befinden können und der sie von leblosen oder toten Systemen unterscheidet. Diese Definition wird natürlich erst aussagekräftig, wenn man zusätzlich erklärt, was den Zustand »Leben« so besonders macht, was also ein lebendes Wesen von einem Nichtlebewesen unterscheidet. Diese Klärung kann über die Bedingungen und Eigenschaften erfolgen, die ein System erfüllen oder besitzen muss, um als Lebewesen bezeichnet werden zu können.
Leben ist ein Zustand, in dem sich Systeme befinden, die bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften besitzen, die tote oder nicht lebende Systeme nicht haben.
Ein Lebewesen, beziehungsweise die Vorgänge, die in einem Lebewesen, in seinen Organen und Zellen ablaufen, müssen folgende Bedingungen erfüllen (Tabelle 1.1).
Bedingung
Konsequenz
zeitliche Begrenztheit
die Dauer eines individuellen Lebens ist begrenzt
Zellgebundenheit
jedes Lebewesen besteht aus mindestens einer Zelle
Reproduktionsfähigkeit
Lebewesen können sich vermehren
Informationsweitergabe
Lebewesen können Information weitergeben
Reizbarkeit
Lebewesen können äußere Reize wahrnehmen und darauf reagieren
Stoffwechsel
in jedem Lebewesen werden Energie und Stoffe umgesetzt
Tabelle 1.1 Eigenschaften und Fähigkeiten, die ein Lebewesen besitzt.
Für alle lebenden Systeme gilt: Individuelles Leben findet ausschließlich im Zeitraum zwischen Lebensbeginn und Lebensende statt und ist damit zeitlich begrenzt. Allerdings hängen die genauen Zeitpunkte für Beginn und Ende von deren Definitionen und den Methoden zu deren Nachweis ab.
Die Bedingung der zeitlichen Begrenztheit ist bei einzelligen Lebewesen wie dem Pantoffeltierchen Paramecium oder dem Bakterium Escherichia coli nicht erfüllt. Das Leben jedes Einzellers hat zwar einen zeitlichen Beginn, nämlich den Zeitpunkt der Teilung der Mutterzelle. Im Gegensatz zu einem Vielzeller durchläuft ein Einzeller aber nicht die typischen Phasen von Entstehung, Entwicklung, Altern, Sterben und Tod. Das bedeutet, dass die Moleküle, aus denen der Einzeller besteht, und deren Anordnung, sich vom Zeitpunkt der Entstehung an nur wenig verändern. Unter optimalen Voraussetzungen und bei Zufuhr von ausreichend Nahrung könnte also ein Einzeller ewig leben. Dennoch ist auch die Lebenszeit der allermeisten Einzeller begrenzt. Denn das Leben eines Einzellers kann aufgrund von Nahrungsmangel, Vergiftung oder Überhitzung jederzeit enden. Genau wie jedes andere Lebewesen ist also auch ein Einzeller fakultativ sterblich.
Die Lebenszeit jedes Lebewesens ist zumindest fakultativ begrenzt.
Jedes Lebewesen ist von seiner Umgebung abgegrenzt. Leben findet in biologischen Organisationseinheiten statt, die Zellen genannt werden. Tatsächlich kennen wir nur Lebewesen, egal ob Bakterien, Pilze, Pflanzen oder Tiere, die aus mindestens einer Zelle bestehen.
Der Aufbau des menschlichen Körpers
Der menschliche Körper ist aus vielen Milliarden Zellen aufgebaut, die in spezialisierten festen und flüssigen Organen angeordnet und organisiert sind. Ein Organ ist über seine Funktionen definiert. Wir haben beispielsweise Organe für die Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe (Bronchien, Lunge), Organe für den Stofftransport im Körper (Blut, Blutgefäße) und Organe für die Nahrungsaufnahme, Verdauung und Resorption (Mund, Speiseröhre, Magen, Darm). Betrachtet man ein Organ unter dem Mikroskop, sieht man, dass jedes Organ aus einzelnen geordneten Strukturen besteht. Diese Strukturen sind nicht nur strukturelle, sondern auch funktionelle Einheiten und werden aus spezialisierten Zellen und extrazellulären Bestandteilen gebildet (Tabelle 1.2).
Organ
Haut
Blut
Gehirn
Leber
Einheiten
Epidermis
Dermis
Hypodermis
Knochenmark
Blut
Gefäße
neuronales Gewebe
Neuroglia
Leberläppchen
Zellen
Keratinozyten
Melanozyten
Makrophagen
Sinneszellen
Erythrozyten
Thrombozyten
Granulozyten
Lymphozyten
Monozyten
Nervenzellen
Astrozyten
Oligodendrozyten
Ependymzellen
Mikrogliazellen
Hepatozyten
Kupfer-Zellen
Sternzellen
Endothelzellen
extrazelluläre Bestandteile
Wasser
Kollagen
Salze
Wasser
Albumin
Globuline
Aminosäuren
Salze
Wasser
Neurotransmitter
Salze
Wasser
Gallensäuren
Salze
Tabelle 1.2 Beispiele für Organe mit ihren wichtigsten zellulären und extrazellulären Bestandteilen.
Alle Zellen und extrazellulären Anteile und damit auch das Organ und der ganze Mensch bestehen aus Molekülen (Abbildung 1.1). Zellen setzen sich hauptsächlich zusammen aus Makromolekülen, das heißt aus Proteinen, Nukleinsäuren und Kohlenhydraten, sowie aus vielen verschiedenen kleinen Molekülen und Ionen wie Wasser, Aminosäuren, Vitaminen, Lipiden sowie Salzen. Der extrazelluläre Gewebeanteil besteht vor allem aus Wasser, Proteinen, sowie aus Salzen und verschiedenen kleinen Molekülen wie Aminosäuren und Lipiden.
Abbildung 1.1 Prinzipieller Aufbau des menschlichen Körpers. Als Beispielorgan ist schematisch die Leber gezeigt. Die Leber besteht aus geordnetem Gewebe. Dieses besteht aus funktionellen Einheiten, die aus Zellen bestehen, die wiederum aus Molekülen aufgebaut sind.
Der menschliche Körper besteht aus Zellen, die aus Molekülen zusammengesetzt sind.
Weitere Bedingungen des Lebens
Ein Lebewesen muss zwar nicht zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz, aber wenigstens prinzipiell und vorübergehend die Fähigkeit zur Reproduktion haben. Aufgrund der begrenzten individuellen Lebenszeit wären einzelne Lebewesen oder auch eine biologische Art, die ausschließlich aus nicht reproduktionsfähigen Individuen besteht, nur kurzfristige Phänomene und damit kein echtes Leben. Bei der Reproduktion gibt jedes Lebewesen Information weiter, um zu gewährleisten, dass die neu entstehenden Lebewesen dem vorhergehenden, sich selbst reproduzierenden Lebewesen ähneln.
Ein Lebewesen muss fähig sein, bestimmte äußere Reize wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Wahrnehmung von Umweltreizen und die Reaktion darauf sind Voraussetzungen für das Überleben in jeder Umwelt. Nur das Bakterium, das eine Zuckerquelle wahrnehmen und sich gezielt darauf zubewegen kann, wird auch Energie zum Weiterleben erhalten. Nur das Zebra, das den Löwen sehen, hören oder riechen und vor ihm fliehen kann, hat die Chance, nicht gefressen zu werden.
Außerdem muss ein Lebewesen einen biochemischen Stoffwechsel haben: Es muss in der Lage sein, bestimmte Moleküle auf-, um- und abzubauen, um dadurch Energie aufzunehmen. Nur ein Stoffwechsel, der Energie in den unterschiedlichsten Formen bereitstellt, ermöglicht die vielfältigen Funktionen eines Organismus, wie zum Beispiel Reproduktion, Wachstum und Wahrnehmung.
Jedes Lebewesen kann sich reproduzieren, Informationen weitergeben, auf Umweltreize reagieren, sowie Moleküle auf-, um- und abbauen.
Der Nachweis des individuellen Lebens
Die Vorgänge, die Leben ausmachen, sind mit mindestens einer geeigneten Methode nachweisbar. Beim Menschen können die Lebensvorgänge lange nach Lebensbeginn oder auch lange vor Lebensende schnell, einfach und mit vielen verschiedenen Methoden nachgewiesen werden. Ob ein Mensch lebt, erkennt man an vielen Parametern, die sich mit unterschiedlichen Methoden nachweisen lassen, beispielsweise durch Messung von Herzschlag, Atmung, Stoffwechselreaktionen, Verdauungsaktivität, Zellteilungen oder Nervenaktivitäten (Tabelle 1.3).
Methode
Messung der Aktivität / Funktionalität von
Tasten und Fühlen von Puls oder Herzschlag
Herz- und Kreislaufsystem
Abhören der Herztöne mit Stethoskop
Messung der elektrischen Signalweiterleitung im Herzmuskel mittels Elektrokardiogramm (EKG)
Messung des Blutdrucks
Abhören der Atemgeräusche mit Stethoskop
Lungen und Atmungssystem
Fühlen und Abtasten der Atembewegungen
Analyse des Sauerstoffgehalts des Blutes
Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns mittels Elektroenzephalogramm (EEG)
Nerven und Nervensystem
Auslösung und Testung von Reflexen
Tabelle 1.3 Bespiele für übliche Methoden und Parameter, die zum Nachweis von Vorgängen des Lebens eines Menschen eingesetzt werden. Alle genannten Methoden liefern positive Ergebnisse bei einem gesunden Menschen lange nach Lebensbeginn und auch lange vor Lebensende.
Aber nicht alle diese Methoden sind geeignet, um das Leben eines Menschen in zeitlicher Nähe zu Lebensbeginn und Lebensende nachzuweisen. Denn rund um Lebensbeginn und Lebensende sind nur wenige Methoden zum eindeutigen Nachweis des Lebens geeignet. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, den Nachweis der Atmung eines vorgeburtlichen Fetus im Mutterleib zu verwenden, um dessen Leben zu prüfen, da der erste Atemzug erst sehr viel später, normalerweise während des Geburtsvorgangs erfolgt. Das heißt: Beim Test auf Leben mit der Bedingung »Atmung« würde der Fetus als potentiell lebendes Wesen durchfallen. Dagegen wäre ein Fetus, gemessen an anderen Kriterien, wie zum Beispiel Herz- oder Nervenaktivität, zweifelsfrei bereits ein lebendes Wesen. Tatsächlich hängen die zu definierenden Zeitpunkte für Lebensbeginn und Lebensende von den eingesetzten Prüfverfahren und auch von den gemessenen Parametern ab.
Die genauen Zeitpunkte für Lebensbeginn und Lebensende hängen von der eingesetzten Methode zu deren Nachweis ab.
2. Wann beginnt und wann endet das menschliche Leben?
Aufgrund dieser Methodenabhängigkeit ist die Frage nach den genauen Zeitpunkten für Beginn und Ende des menschlichen Lebens nicht einfach zu beantworten. Dazu kommt, dass auch Naturwissenschaftler und Ärzte verschiedener Fachgebiete unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wann Leben beginnt. Für den Physiker beginnt das neue Leben mit der Erhöhung der molekularen Ordnung zur Bildung von Ei- und Samenzelle im Körper der Eltern (Kapitel 2). Der Zellbiologe definiert als Lebensbeginn die Bildung der Zygote, die als erste Zelle des neuen Menschen durch Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht. Für den Kardiologen beginnt das Leben in der 7. Schwangerschaftswoche, wenn der Herzschlag des Embryos mittels Ultraschallmessung nachweisbar ist. Und der Neurologe wird den Termin des Lebensbeginns in die 25. Schwangerschaftswoche legen, wenn die elektrischen Signale des neuen Gehirns und damit die Gehirntätigkeit nachweisbar sind. Als allgemeine Antwort auf die Frage, wann das menschliche Leben beginnt, lässt sich am ehesten folgende Aussage formulieren: Das Leben beginnt, sobald das Ergebnis einer geeigneten Methode zum Nachweis des Lebens positiv ist. Dabei hängt die Definition des genauen Zeitpunkts von der eingesetzten Methode ab.
Das Leben eines Menschen beginnt, sobald mindestens ein Lebensvorgang nachgewiesen werden kann.
Die Frage, ab wann ein Mensch nicht mehr lebt, lässt sich ebenso wenig eindeutig beantworten wie die Frage nach dem genauen Zeitpunkt des Lebensbeginns. Die Antwort ist abhängig von der Definition des Begriffs Leben und von der zum Lebensnachweis eingesetzten Methode. Noch schwieriger wird die Beantwortung der Frage nach dem Zeitpunkt des Lebensendes aufgrund persönlicher und kulturell oder religiös motivierter Wertvorstellungen, die die Definition des genauen Zeitpunkts des Lebensendes beeinflussen. Für jemanden, der von einer bestimmten Form der Weiterexistenz nach dem Lebensende überzeugt ist, endet mit dem körperlichen Tod zwar das nachweisbare Leben, nicht aber die Existenz des Individuums. Auf mögliche Formen der Weiterexistenz werde ich im vierten Kapitel ausführlich eingehen. An dieser Stelle geht es nur um die objektiv nachweisbaren Vorgänge im menschlichen Körper, in seinen Organen und seinen Zellen und um deren Ende. Versteht man unter dem Lebensbegriff nur diese nachweisbaren Lebensvorgänge, dann sind sich alle Wissenschaftler und Ärzte einig, dass dieses Leben irgendwann endet. Allerdings besteht keine Einigung über den genauen Zeitpunkt dieses Endes.
Über viele Jahrhunderte galt der leicht messbare Nachweis des Aussetzens von Atmung und Herzaktivität als gleichbedeutend mit dem Lebensende. Heute weiß man, dass dieser sogenannte klinische Tod reversibel sein kann und nur eine von mehreren Phasen im Sterbeprozess ist (Kapitel 3). Auch andere Todeszeichen, wie geringe Körpertemperatur oder Pupillenstarre, beweisen nicht das endgültige Lebensende. Dagegen ist der sogenannte Hirntod, also das Ende der Hirnaktivität, nach heutigem Kenntnisstand endgültig und irreversibel. Dieses Ende ist am Fehlen geordneter Signale im Elektroenzephalogramm erkennbar und gilt heute für die meisten Ärzte als endgültiges und irreversibles Lebensende.
Analog zur Antwort auf die Frage nach dem genauen Starttermin des menschlichen Lebens lautet die Antwort auf die Frage, wann das menschliche Leben endet: Das menschliche Leben endet, sobald es mit keiner Methode mehr nachweisbar ist. Umgekehrt heißt das auch, dass ein Mensch so lange lebt, wie eine Methode zum Nachweis eines Lebensvorgangs ein positives Ergebnis liefert. Der Zeitpunkt des Lebensendes ist identisch mit dem Zeitpunkt des Todesbeginns. Deshalb lässt sich dieser Zeitpunkt nicht nur durch den negativen Nachweis des Lebens festlegen, sondern auch durch den positiven Nachweis des Todes. Hierfür dienen die sogenannten Todeszeichen, die in Kapitel 4 beschrieben werden.
Leben endet an dem Zeitpunkt, an dem es mit keiner Methode mehr nachgewiesen werden kann.
Die Bedingungen des Lebens am Lebensende
Laut Tabelle 1.1 muss Leben folgende Bedingungen erfüllen: zeitliche Begrenztheit, zellulärer Aufbau, Fähigkeit zur Reproduktion und zur Informationsweitergabe, Reizbarkeit und Stoffwechsel. Jede dieser Bedingungen muss zumindest zeitweise erfüllt sein, um ein System als lebend zu bezeichnen. Das bedeutet, dass der Verlust einzelner Bedingungen nicht unbedingt das Lebensende beweist. Beispielsweise kann die Fähigkeit zur Reproduktion längst erloschen sein, und der Mensch lebt trotzdem.
Der Verlust anderer Bedingungen ist dagegen tatsächlich mit dem Leben eines Organismus nicht vereinbar. Dazu gehören zellulärer Aufbau, Reizbarkeit und Stoffwechsel. Da es keinen lebenden Organismus gibt, der nicht aus intakten einzelnen Zellen besteht, beweist das Fehlen eines intakten Zellaufbaus, dass ein System nicht (mehr) lebt. Die Prüfung von Reaktionen auf bestimmte Reize dient als medizinischer Todesnachweis in Ergänzung oder auch anstelle der Messung der Hirnströme. Der Verlust des biochemischen Stoffwechsels führt unter anderem dazu, dass Verbindungen zwischen Muskelfasern nicht mehr gelöst und dass keine Körperwärme mehr produziert werden kann. Dies ist nach dem Lebensende an den Todeszeichen Totenstarre und Totenkälte erkennbar (Kapitel 4).
Das Nichtvorhandensein von intakten Zellen, von Reaktionen auf bestimmte Reize oder von einem biochemischen Stoffwechsel ist mit Leben nicht vereinbar.
3. Die Phasen des Lebens: Entwicklung, Altern und Sterben
Zwischen Lebensbeginn und Lebensende finden in einem menschlichen Körper bestimmte, regelmäßig sich wiederholende physiologische, zelluläre und molekulare Vorgänge statt. Beispielsweise teilen sich während des gesamten Lebens Zellen, Signale werden zwischen Nervenzellen übertragen und Moleküle werden auf-, um- oder abgebaut. Ebenso wird ständig Blut durch die Gefäße transportiert, in der Lunge wird Sauerstoff aus der Atemluft ins Blut aufgenommen und in den Nieren wird Blut gefiltert und Harn produziert.
Allerdings verändern sich die Vorgänge in einem Körper mit steigendem Lebensalter. Viele Vorgänge im Körper eines Kleinkinds unterscheiden sich vor allem quantitativ von denen im Körper eines jungen Erwachsenen. Und in dessen Körper laufen andere Vorgänge ab als im Körper eines alten Menschen. Beispielsweise ist der Anteil sich teilender Zellen in den ersten Lebensjahren deutlich höher als in späteren Lebensjahren. Aufgrund der Unterschiede vor allem im Blick auf Anzahl und Ausmaß der physiologischen und zellulären Vorgänge lassen sich im zeitlichen Verlauf des Lebens drei Lebensphasen unterscheiden: Entwicklung, Altern und Sterben (Abbildung 1.2).
Abbildung 1.2 Schematische Darstellung der drei Phasen Entwicklung, Altern und Sterben, die der Mensch während seines Lebens durchläuft. Nach der Entstehung einer befruchteten Eizelle entwickelt sich daraus in der Entwicklungsphase der erwachsene Körper. Dann beginnt die Phase des Alterns, die in den Sterbeprozess übergeht. Der Sterbeprozess ist zwangsläufige Folge des Alterns, kann aber auch zu jedem früheren Zeitpunkt des Lebens beginnen. Der Sterbeprozess endet mit dem Tod.
Der Mensch durchläuft die Phasen Entwicklung, Altern und Sterben, die sich in zahlreichen Vorgängen voneinander unterscheiden.
Entwicklung, Zellteilung und Wachstum
Unter Entwicklung des menschlichen Körpers verstehe ich alle Vorgänge, die notwendig sind, um aus einer befruchteten Eizelle, einer sogenannten Zygote, einen erwachsenen Körper zu machen. Dazu gehören Zellteilung, Wachstum und Reifung. Diese Vorgänge sind in der Phase der körperlichen Entwicklung eng miteinander verknüpft und nicht voneinander zu trennen.
Das Wachstum eines Organismus beruht vor allem auf Vermehrung der Zellen durch Zellteilung (Proliferation) und der dazu parallel verlaufenden Vergrößerung der extrazellulären Strukturen. Unsere allererste Zelle, die befruchtete Eizelle, aus der jeder von uns entstanden ist, hatte einen Durchmesser von weniger als einem Fünftel Millimeter und ein Volumen von gerade einmal 30 Millionstel Milliliter. Aus dieser einmaligen Zelle entstand dann durch Zellteilung und Wachstum ein erwachsener Organismus mit ungefähr 100 Billionen (10 hoch 14) Zellen und einem Volumen von durchschnittlich 75 Liter.
Durch zelluläre Teilung, Reifung und Wachstum entwickelt sich aus einer Zygote ein erwachsener Mensch.
Allerdings entsteht durch Vermehrung von Zellen alleine noch kein vielzelliges und differenziertes Lebewesen. Vielmehr müssen sich zur Entwicklung der Organe mit ihren verschiedenen Funktionen die neu entstandenen Zellen für ihre Aufgaben spezialisieren. Diese Weiterentwicklung nennt man zelluläre Reifung oder Differenzierung (Abbildung 1.3). Dabei kann sich nicht jede Zelle jederzeit in jede spezialisierte Zelle entwickeln und für jede beliebige Aufgabe differenzieren. Vielmehr durchlaufen die Zellen während der Entstehung eines Organismus verschiedene Phasen der Differenzierungsfähigkeit.
Aus der ersten Zelle eines Menschen, der sogenannten Zygote, die durch Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht, kann sich ein vollständiger Organismus entwickeln. Diese Fähigkeit heißt Totipotenz (lateinisch totus: ganz und potentia: Vermögen, Kraft). Die Zygote teilt sich, wobei die Totipotenz während der ersten drei Zellteilungen erhalten bleibt. Wenn man einen achtzelligen Embryo in zwei vierzellige Embryos trennt, entwickeln sich zwei vollständige neue Organismen. Nach mehreren Zellteilungen verlieren die embryonalen Zellen ihre Totipotenz. Sie können sich nicht mehr zu einem vollständigen Menschen entwickeln, bleiben aber pluripotent (lateinisch plus: mehr). Pluripotente Zellen können sich zu prinzipiell allen Organen entwickeln, sind also noch nicht auf einen bestimmten Gewebetyp festgelegt. Aus diesen Zellen entstehen in der nächsten Phase die organspezifischen multipotenten (lateinisch multi: viele) Zellen, die sogenannten adulten Stammzellen. Adulte Stammzellen entwickeln sich zu den noch teilungsfähigen Progenitorzellen (lateinisch progenitor: Vorläufer) und im nächsten Schritt zu den funktionellen Organzellen. Diese ausdifferenzierten Organzellen vollziehen die eigentlichen Aufgaben des Organs und können sich nicht mehr vermehren. Die Regeneration der meisten Organe geschieht durch Teilung der Progenitorzellen. Progenitorzellen gelten auch als somatische Stammzellen. Sie sind also teilungsfähig und unipotent, das heißt sie können sich nur zu dem einen Typ Zellen differenzieren, aus dem das betreffende Organ besteht.
In einem menschlichen Organismus gibt es viele verschiedene Zelltypen, die sich aus Stammzellen mit unterschiedlicher Entwicklungspotenz bilden.
Abbildung 1.3 Die Entwicklung eines Organismus aus einer befruchteten Eizelle (Zygote). Durch Zellteilung entstehen einige hundert embryonale Stammzellen. Diese entwickeln sich zu adulten Stammzellen, aus denen Progenitorzellen und dann funktionelle Organzellen entstehen. Progenitorzellen können sich teilen und zu einem Zelltyp differenzieren und so die toten Zellen eines bestimmten Organs ersetzen.
Während des Lebens finden Zellteilung, die Vergrößerung der extrazellulären Strukturen, das damit einhergehende Wachstum und die zelluläre Differenzierung statt. Alle diese Abläufe spielen sich lebenslang ab, also auch noch, wenn der Organismus bereits »ausgewachsen« ist und seine endgültige Größe erreicht hat. Denn die meisten Gewebe erneuern sich ständig durch Teilung und Differenzierung der Progenitorzellen. Das ist sinnvoll und notwendig, denn die meisten Zellen haben, im Vergleich zur Lebenszeit des gesamten Organismus, nur eine sehr kurze Lebensdauer. Eine Zelle unserer Darmschleimhaut lebt nur wenige Tage, eine Hautzelle nur wenige Wochen, eine Leberzelle immerhin ein paar Monate. Pro Sekunde sterben in unserem Körper 50 Millionen Zellen. Fast alle toten Zellen werden durch Teilung der Progenitor- oder der Stammzellen ersetzt. Aber eben nur fast alle. Denn ab dem Erwachsenenalter verliert der Mensch mehr Zellen, als er neu bildet. Ein Beispiel für ein Organ, in dem ständig Zellen verloren gehen, ist unser Gehirn. Täglich sterben ungefähr 50.000 Nervenzellen, die nur zu einem Bruchteil ersetzt werden können, weil es keine oder zu wenige neuronale Progenitorzellen gibt. Da im Erwachsenenalter mehr Zellen sterben, als durch Teilung der Progenitorzellen ersetzt werden können, nimmt die Gesamtanzahl der Zellen in einem erwachsenen Körper langsam, aber stetig ab. Der ständige Verlust ist eine Ursache des Alterns (Kapitel 2).
Nicht alle toten Zellen werden durch neue Zellen ersetzt, die durch Teilung von Stammzellen entstehen.
2. ALTERN
Nicht das Altern ist das Problem, sondern unsere Einstellung dazu.
Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.), römischer Redner und Staatsmann
1. Was ist Altern?
Altern im Alltag
Jeder Mensch altert. Diese Erkenntnis ist in der Gesellschaft angekommen. Das Fernsehen sendet Dokumentationen, Talkshows und Serien, die sich um das Älterwerden als solches und um alte Menschen und deren Probleme drehen. Im Kino laufen Spielfilme, in denen ältere Menschen und ihr Umgang mit dem Älterwerden mehr oder weniger realistisch, aber immer sehr emotional und prägnant dargestellt werden.
Mehr als 21 % aller Menschen in Deutschland sind älter als 65 Jahre, so viele wie nie zuvor. Politiker reden vom demographischen Wandel und den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Täglich erscheinen neue Bücher und Internetseiten über das Altern mit Informationen und Tipps speziell für ältere Menschen.
Altern ist nicht nur Thema vieler realer und erdachter Geschichten, und alternde und alte Menschen sind nicht einfach nur Zahlen in einer Statistik. Wer selbst (noch) jung ist, hat ältere Freunde und Angehörige, die beispielsweise von altersbedingten Krankheiten berichten. Egal, wie alt (oder jung) man selbst ist: Altern betrifft nicht nur die anderen, sondern jeden Menschen. Keiner kann sein eigenes Altern verhindern. Jeder spürt die Folgen des Älterwerdens früher oder später selbst am eigenen Körper und an seinen nachlassenden Fähigkeiten.
Altern ist allgegenwärtig und betrifft jeden Menschen.
Der Begriff Altern
Der Ausdruck »Altern« wird häufig gleichbedeutend mit »älter werden« verwendet. Nach diesem Verständnis umfasst der Vorgang des Alterns alle zeitabhängigen Veränderungen des Menschen. Danach gehört zum Altern auch die Entwicklung mit Reifung und Wachstum, die sich vor allem in den ersten zwanzig Lebensjahren eines Menschen abspielen. Tatsächlich werden wir während des gesamten Lebens älter, und zwar bereits vor der Geburt ebenso wie während der Kindheit, der Jugend und auch während des gesamten Erwachsenenalters.
Um die Begrifflichkeit des Alterns auf die zweite Lebenshälfte und auf das Lebensende einzugrenzen, unterscheide ich zwischen »Altern« und »älter werden«. Während wir vom Zeitpunkt unserer Zeugung an älter werden, beginnt unser Altern erst sehr viel später. In diesem Buch verwende ich den Begriff »Altern« für alle zeitabhängigen und nicht umkehrbaren Veränderungen des Körpers, die das Risiko für den Verlust seiner Funktionen, seiner Zellen und seiner Moleküle und für die Entstehung bestimmter Krankheiten erhöhen. Alterungsprozesse wie die Schädigung der DNA oder die Anhäufung unbrauchbarer Moleküle in der Zelle sind zwar während des gesamten Lebens nachweisbar. Allerdings führen sie in den ersten Lebensjahren nicht zum Verlust von zellulären und körperlichen Funktionen und zur signifikanten Erhöhung des Krankheitsrisikos. Um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, beschränke ich mich im Folgenden auf die wichtigsten und wissenschaftlich fassbaren Vorgänge des molekularen, zellulären und körperlichen Alterns und dessen Folgen.
Altern umfasst alle zeitabhängigen molekularen, zellulären und körperlichen Prozesse, die zum Verlust körperlicher Bestandteile und Funktionen führen.
Wann beginnt und wann endet Altern?
Die oben formulierte Definition bezieht das Altern auf die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers. Daraus lässt sich zwar kein genaues Datum für den Beginn des Alterns festlegen. Aber immerhin lässt sich so der Zeitpunkt für den Beginn des Alterns in Relation zu den anderen Phasen des Lebens angeben. Demnach beginnt Altern, sobald die Phase des Wachstums und der körperlichen Entwicklung abgeschlossen ist.
Da der Sterbeprozess ein Abschnitt des Lebens ist, altert ein Mensch also nicht nur vor dem Sterben, sondern auch während des Sterbeprozesses. Altern und Sterben überschneiden sich also. Während der letzten Phase des Lebens kommen zu den laufenden Alterungsvorgängen noch die vielfältigen Prozesse des Sterbens. Altern und Sterben enden zum selben Zeitpunkt, nämlich mit dem Ende des Lebens.
Ein Mensch altert vom Zeitpunkt des Abschlusses seiner Entwicklung bis an sein Lebensende.
Altern und Krankheit
Dass ein hohes Alter als solches keine Krankheit darstellt, leuchtet jedem Menschen sofort ein. Aber die Tatsache, dass auch der Weg dorthin, nämlich das Altern und alle damit verbundenen Prozesse keine Krankheiten sind, ist nicht jedem klar. Und noch weniger bekannt ist, dass Altern und ein hohes Alter keine Todesursachen sind. Entgegen landläufiger Meinung stirbt kein noch so alter Mensch an seinem hohen Alter. Und auch die oft zitierte »Altersschwäche« ist keine Krankheit und auch keine Todesursache, auch wenn sie sogar auf manchen Totenscheinen als Todesursache genannt wird. Tatsächlich kann ein Mensch nur am Verlust mindestens einer lebensnotwendigen Organfunktion sterben (Abbildung 2.1). Dieser Verlust wird durch mindestens eine Krankheit oder durch mindestens eine Verletzung verursacht.
Auch wenn das Erkrankungsrisiko für sehr viele Krankheiten mit zunehmendem Alter zunimmt, sind Altern und die damit verbundenen Alterungsprozesse als solches keine Krankheiten, sondern erhöhen lediglich das Risiko für die Entstehung bestimmter Krankheiten.
Abbildung 2.1 Alterungsprozesse verursachen körperliche Veränderungen, die das Risiko für bestimmte Krankheiten erhöhen. Entsprechende Krankheiten können zum Verlust einer oder mehrerer wichtiger Organfunktionen führen. Wenn lebensnotwendige Funktionen betroffen sind, beginnt der Sterbeprozess, an dessen Ende der Tod stehen kann. Der Verlust von Organfunktionen kann auch durch andere Ursachen wie Gewalteinwirkung oder altersunabhängige Krankheiten verursacht werden.
Altern und hohes Alter sind keine Krankheiten und auch keine Todesursachen.
2. Alterungsprozesse
Altern lässt sich anhand verschiedener Prozesse auf molekularer, zellulärer, organischer und körperlicher Ebene nachweisen. Diese Alterungsprozesse sind zeitabhängige, unvermeidbare und nicht umkehrbare Veränderungen, die das Risiko erhöhen, an bestimmten Krankheiten zu erkranken.
Alterungsprozesse sind zeitabhängige, unvermeidbare und nicht umkehrbare Veränderungen.
Die Unumkehrbarkeit der Alterungsprozesse
Genau wie die abgelaufene Lebenszeit nicht mehr zurückgewonnen werden kann, sind auch die Folgen aller zeitabhängigen Vorgänge des Alterns in unserem Körper endgültig und nicht umkehrbar. Viele Krankheiten, die als Folge von Alterungsprozessen entstehen, können zum Verlust einer oder mehrerer wichtiger Organfunktionen führen (Abbildung 2.1). Als Folge des Verlusts wichtiger Funktionen steigt dann das Risiko, dass der Sterbeprozess einsetzt, der in den meisten Fällen mit dem Tod endet.
Ein Beispiel: Mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit unseres Immunsystems ab, Krankheitserreger abzuwehren. Infolgedessen steigt das Risiko, an einer Infektion, wie zum Beispiel an einer Lungenentzündung zu erkranken. Bei einer Lungenentzündung, einer sogenannten Pneumonie, sind die Bronchien und das Lungengewebe von Bakterien, in den meisten Fällen von den sogenannten Pneumokokken besiedelt. Um die Bakterien abzuwehren, wandern Immunzellen in die Lungenbläschen und in das umliegende Lungengewebe ein, gleichzeitig strömt Flüssigkeit in die Lungenbläschen. Dadurch wird die wichtigste Funktion der Lunge, nämlich der Gasaustausch zwischen eingeatmeter Luft und Blut gestört. Weniger Sauerstoff kann aus der Luft ins Blut aufgenommen und weniger Kohlendioxid kann aus dem Blut in die Ausatemluft abgegeben werden. Die Folgen sind Sauerstoffmangel und Kohlendioxid-Überschuss, die im schlimmsten Fall zum Beginn des Sterbeprozesses und zum Tod führen können.
Die durch Altern hervorgerufenen körperlichen Veränderungen erhöhen das Risiko für bestimmte Krankheiten.
Das übergeordnete physikalische Prinzip des Alterns
Altern bedeutet, dass sich im Lauf der Zeit unser Körper und seine Bestandteile verändern. Gewebe, Zellen und Moleküle, die unseren Körper formen und ihn »funktionieren« lassen, verändern ihre Strukturen oder werden abgebaut. Aber warum passiert das überhaupt? Warum bleiben unser Körper und seine Bestandteile nicht in dem Zustand, in dem sie nach Abschluss von Wachstum und Entwicklung im jungen Erwachsenenalter sind? Warum nehmen die Anzahl unserer Zellen, die Funktionen und die Fähigkeiten unseres Körpers ständig und unweigerlich ab?
Die Art der Antworten auf diese Fragen hängt vom Blickwinkel der Ausgangsposition ab. An dieser Stelle werden diese Fragen aus Sicht der Physik beantwortet: Lebende Zellen und Organismen bestehen aus geordneten Strukturen. Für die Herstellung und die Erhaltung dieser Strukturen müssen die Zellen fortwährend aktiv sein. Dazu nehmen sie einfache Moleküle auf und formen daraus große und komplexe Moleküle, die sie zusammenbauen und anordnen. Die dafür notwendige Energie liefern Nährstoffe, die von den Zellen aufgenommen und um- und abgebaut werden.
Nach den Gesetzen der Physik strebt jedes System, das äußeren oder inneren Einflüssen ausgesetzt ist, den Zustand seiner Umgebung an. Der Zustand jeder Materie, die aus Atomen und Molekülen in einem geordneten Zustand besteht, gleicht sich im Lauf der Zeit dem ungeordneten Zustand der Umgebung an. Das gilt für unseren Körper genauso wie für einen hohen Berg und ein kleines Sandkorn.