Inhaltsverzeichnis
Lob
Weg von der Natur
In die Stadt!
Ein Straßenfest an einem leicht windigen Herbsttag
Frauen wollen es immer schummrig
Schlägerei in der Commerzbank
Route 66
Freiheit, Rock’n’ Roll, Easy Rider
Ein Testlauf zu Fuß
Fisch auf Bennos Haut
Die letzte Tour
Lucies alte Kneipe
Respekt vor Kakerlaken
Mit drei Arabern im Zelt
Der Blumenstock der Nachbarin
Ausflug in die Hauptstadt
Abjerutscht in de Schattenseite vonne Jesellschaft
Lucies neue Kneipe
Reich und schön
Ungewaschene Glöckner
Tanken in der Sommerzeit
Zum Bieseln nach Hannover
Die Welt im Hinterhof
Vereinsgründung
Ausflug in die alte Hauptstadt
Crashkurs in Bonn
Die instruktive Form des Zirkulars
Explosionen bis zur Schulter
Straßenfest
Fleißig am Wenden
Ein Flug nach Ayurveda
Ein spezieller Blick auf Fräulein Tatjana
Asche im Hirschkopf
Schwachstromelektroden im Bauchbereich
Rund um den Markt
Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat
Beleidigt, beleidigt, beleidigt
Tauchkurs in Ägypten
Gespräche mit der Madonna
Die Schlange vor dem Kühlschrank
Auseinandersetzungen beim Sperrmüll
Mit Puschkin und Placebo am Viktualienmarkt
Weissagung am Bahnhof
Arbeiten im ICE-WC
Puschkin, Placebo und der Achter
Die arme Isabella
Die arme Susi
Frauen und Vorstellungskraft
Exakt zwei Halbe Bier
Die Odyssee
Keine Erfahrung mit Gemütlichkeit
Mit dem Gesicht zur Wand
Endlich was für Kinder
Messen im Vergleich
Leiber und Modelle
Zwischen Scylla und Charybdis
Das zweite Ich
Werdende Rotweinkenner
Zurück im Leben
Das Leuchten in Puschkins Augen
Zurück zum Straßenfest
Wenn Mütter jubeln
Laster am Arm
Reichsmark im »Hahnhof«
Kevin folgt nicht
Prominenz am Tisch
Eng und feucht
Der Silen am Firmament
Copyright
Meiner Mutter, die den Rebellen in mir zuließ
In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich.
Voltaire
Weg von der Natur
Wenn alle in die Berge fahren, ist die Stadt am schönsten. In den Bergen hat man ständig Natur und Gesundheitsnarren um sich herum, die so beschissen aussehen, dass sie einem die Laune, ja, das ganze Leben verderben. Dieselbe Situation an Sonntagen am See. Zu viele Familien, zu viele teilnahmslose Rentner und turtelnde Paare, die das Ende nicht kennen. Natur ist etwas Wunderbares, aber man findet dort selten die richtige Mischung. Wo sind die Wilden, die Penner, die Künstler, die Rebellen? Man sollte sich seine Umgebung immer genau aussuchen. Die besten und wichtigsten Plätze findet man in der Stadt. Dort mischt sich alles. Neben Museen und Theatern findet man auch schrullige Läden, eine übersichtliche Natur und Lokale, in denen man zwischen Gast und Personal nicht immer auf Anhieb unterscheiden kann.
Die größte Abwechslung aber bieten die Menschen. Jeder hat eigene Vorstellungen und Wünsche, jeder will etwas anderes, und da entsteht, wenn man Glück hat, so etwas wie Schönheit.
Aus diesem Grund müssen Geschichten erzählt werden, in deren Mittelpunkt nicht Gewinn und Karriere stehen, sondern Menschen mit ihren kleinen Glücksmomenten, Ängsten und Sehnsüchten.
Ich kann sie erzählen. Ich, der Würzbach Hubert, bin in dieser Stadt aufgewachsen, weiß selten, was ich will, bin also ein entschlossener Zweifler, der sich vom Leben eher wie ein Blatt im Wind umhertragen lässt. Aber eines beruhigt mich immer: »Der Zufall ist der größte Freund des Glücks!«
In die Stadt!
Ein Straßenfest an einem leicht windigen Herbsttag
Der, den keiner versteht, versteht mich am besten! Um die siebzig ist er, der Ranftl Sepp. Netter Kerl. Er nuschelt etwas, weil er immer sein Gebiss verlegt. Sagt er. So habe ich ihn zumindest verstanden. Eigentlich nuschelt er sogar sehr. Wahrscheinlich findet er seine dritten Zähne schon lange nicht mehr. Oder er hatte nie welche.
Auf seiner steirischen Quetschen spielt er leise Seemannslieder. Ohne es zu merken, summt er die Melodie mit: »Ob am Kai von Casablanca, ob am Kap von Salvador, hm hm hm hm hm hm hmhm.« Ich vermute, ich summe auch mit. Wenn er redet, dann mit einer solchen Eindringlichkeit, dass man sich gezwungen fühlt, so zu tun, als würde man ihn verstehen. Ich lege mir dann immer was zurecht, was er gemeint haben könnte, und gebe die entsprechenden Antworten. Klappt nur bedingt. Besser er spielt, und wir summen.
Das ist mein Platz auf diesem Straßenfest. Neben dem Ranftl Sepp. Leise Seemannslieder. Etwas abseits von den anderen. Kaum bemerkt. Geplant war es nicht, dass ich heute hier sitzen würde, auf diesem Straßenfest, an diesem leicht windigen Herbsttag, zwischen Ferienende und Oktoberfest. Geplant war das nicht. Aber dazu später.
Das Geschehen vor mir läuft ab, als hätte ich Pergamentpapier vor mein Gesicht geklebt. Gorillas im Nebel. Mir fallen immer Filmtitel ein, wenn vor mir etwas abläuft und ich mich nicht beteiligt fühle.
Auf der gegenüberliegenden Bank sitzt, mittendrin und doch einsam, mein Freund Herbert. Sein Blick ist in die nahe Ferne gerichtet, als ob er mit Adleraugen eine Ameise auf dem Asphalt beobachtet. Er blickt mit dem Ausdruck der Ausdruckslosen.
»Hey, Herbert, setz dich halt zu uns. Bei uns ist noch frei. Herbert. Warum sagst du denn nichts?«
»Wer immer redet, lernt keinen kennen!«, sagt er.Vielleicht hat er Recht, denke ich. Manchmal ist er aber auch kompliziert. Manch einer versteht das falsch, würde eher sagen: »Wer nie seinen Mund aufmacht, der lernt überhaupt keinen kennen!« Aber so meint er das nicht, der Herbert. Ich kenne ihn.
Frauen wollen es immer schummrig
Nach den chaotischen Ereignissen der letzten Zeit wollte ich diesen Tag nutzen, um in aller Ruhe über den Begriff Auszeit nachzudenken.
In meinem »Café Klughardt«, an meinem schönen Holztisch hinten rechts, möchte ich von früh bis spät sitzen und über Auszeit nachdenken. Das hübsche Fräulein Tatjana bringt mir meine Getränke. Auch wenn sie mich nie beachtet, freue ich mich, wenn ich sie sehe. Nicht zu dünn, kräftiger Gang, keine Tänzerin, aber eine Art! Eine Art! Sie taucht mich mit jeder Geste in ein Sammelbecken der Illusionen. Sie weiß es nicht, und das soll auch so bleiben. Vielleicht sind es die Illusionen, die uns zu einer Auszeit verhelfen? Das Reale, das uns umgibt, das alleine kann es doch nicht sein. Weil man ja drin ist. Das ist die Drinzeit. Das kann es ja nicht sein. Die Vorstellung, die wir uns von etwas machen.
Sobald Wirklichkeit und Vorstellung zusammentreffen, womöglich auch noch geplant, müssen wir die Dinge neu ordnen, was schwer ist. Deshalb geben wir dem Ganzen Worte, was sonst bleibt uns übrig. Aber die Illusion hat sich da schon verabschiedet.
Ich würde das Fräulein Tatjana gerne mal auf ein Glas Wein einladen. Aber nicht im Café und nicht tagsüber. Sondern abends in einem schönen Lokal. Aber es ist unglaublich schwer, ein schönes Lokal zu finden. Ich mag Lokale, die gleichmäßig ausgeleuchtet sind, mit so einem angenehmen Neonlicht, wo man sich gut erkennen kann. Aber es gibt kaum eine Frau, die diese Leidenschaft mit mir teilt. Frauen wollen es immer schummrig. Da weiß ich schon beim Reingehen, dass ich ungünstig wirke. Also lasse ich das erst mal mit der Einladung.
Eigentlich schreibe ich in meinem Café auch immer Tagebuch, angedacht als Mahnmal für das eigene Leben, um rückwirkend zu lesen, ob sich denn etwas gebessert hat. Und wenn ich mal was geschrieben habe, so meine Hoffnung, dann kann ich mir das auch besser merken, weil das nicht so einfach ist mit der Steuerung, was man sich merkt und was nicht. Gedächtnistraining hilft da nicht, weil erst mal die innere Einsicht fehlt, sich das alles merken zu müssen. Ohne Einsicht kein Training.
Also vermischt sich das, die Gedanken über Auszeit, das Tagebuch und der Terminkalender, und ich schreibe alles in ein und dasselbe Buch. Vergangenheit plus Zukunft, um mit der Gegenwart zurechtzukommen.
Und überhaupt: Wann soll ich mir bitte schön eine Auszeit nehmen. Wann denn? Da brauche ich doch bloß reinzuschauen in meinen Terminkalender. Morgen ist wieder Ding. Morgen ist immer Ding. Es gibt kaum einen Tag, an dem nicht Ding ist.
Und zudem noch Geburtstage. Freunde, Verwandte, Bekannte. Das ganze Jahr über Geburtstage, Hochzeiten, Beerdigungen, Verlobungen, Anlässe: »Würden wir uns sehr freuen, Sie anlässlich unseres 25-jährigen Bestehens des Dings begrüßen zu dürfen!« Konfirmation, Firmung, Firmenfeiern, und im Verein wird auch gerne gefeiert. Und ehrlich gesagt, ich pack’s von den Leberwerten her nicht mehr.
Und dann sollst du zum Arzt gehen, dich untersuchen lassen, dir über Krankheiten Gedanken machen, zum Wählen gehen, alles wissen, alles kennen, jung bleiben, dich pflegen, dich für andere freuen, über eine Tiffany-Lampe, nach der sie so lange gesucht haben. Und nebenbei noch schlafen, essen und aufs Klo gehen, davon redet ja keiner, und jeden Tag Post und Rechnungen und Werbung und einkaufen gehen und wegschmeißen und gesund leben und genießen. Und vom Arbeiten und Geld verdienen war noch gar nicht die Rede. Das ganze Leben rinnt einem wie Sand durch die Finger, und die wichtigen Dinge gehen dabei verloren. Immer mehr Straßen, immer weniger Ziele.
Schlägerei in der Commerzbank
Jetzt spielt er schon wieder »Unter fremden Sternen«, der Ranftl Sepp. »Hab ich Sehnsucht nach der Ferne, hm hm hm hm«, summen wir vor uns hin. Komischer Titel, denk ich mir noch. Das Einzige, was einem in der Fremde vertraut ist, sind doch die Sterne. Den Kleinen und den Gro ßen Wagen finde ich immer gleich. Und die Milchstraße. Sonst eigentlich nix. Aber das reicht mir.
Und der Herbert sitzt immer noch da und sagt nix. Den wollte ich auch mal zum Thema Auszeit anzapfen. Der Herbert hat in der Stadt eine Weinhandlung. Eine kleine schöne … nein, schön ist die nicht. Eine Menge Kartons und die schmale Resopaltheke zum Probieren. Was schön ist bei ihm: Er hat ein sehr angenehmes Neonlicht. Der Herbert ist im Wesentlichen ein recht grantiger Mensch. Von Grund auf. Man könnte auch sagen, er steht den Dingen nicht unreflektiert gegenüber. Dafür mag ich ihn. Ab und zu, wenn ich ein Problem mit mir habe, tue ich so, als wäre es sein Problem, und so erfahre ich über ihn etwas über mich.
Und so habe ich es bei ihm über das Thema Urlaub probiert. Weil Urlaub auch so ein Ding ist. Da mache ich mir Gedanken, ob das denn überhaupt etwas für mich ist, oder ob ich dann im Urlaub nicht doch wieder bloß Tag für Tag eine geistige Liste abhake, was ich daheim erzählen könnte, warum der Urlaub so besonders war, und danach keine Ahnung mehr habe, ob ich jetzt erholt bin oder nicht.
Also ging ich in Herberts Vinothek mit dem Satz: »Herbert, du schaust heute irgendwie schlecht aus!«
»Ich hab schon immer Scheiße ausgschaut, was soi denn da heit anders sei!«, erwiderte er grummelnd, während er die Noagerl der letzten Verkostung in sich reingoss. »Ich weiß es nicht, Herbert, irgendwie schaust du aus wie ein Zwetschgendatschi, der über den Winter im Garten liegen geblieben ist. Ich glaub, du brauchst mal einen Urlaub!« Herbert blickte einigermaßen überrascht auf: »Ich Urlaub, spinnst du, wo soll ich denn da hinfahren?«
»Ja, irgendwohin, wo’s schön ist, wo’s warm ist, am besten ans Meer!«
»Ans Meer, ja.« Er trank den nächsten Rest. »Ans Meer, damit mir die greisligen Feuerquallen die Fiaß verätzen, die Sonna brennt mir die Birn weg, und die Kinder, diese Hundskrüppeln, die verreckten, tanzen mit ihrem Wasserball auf meiner Wampen umanand!«
»Ja, das kann schon sein, Herbert, aber abends, an der Hotelbar, den Spaß, den du da hast, diese Gaudi!«
»Ich allein im Urlaub, an der Hotelbar. Des muaßt grad du sagen, du weißt ganz genau, wenn ich da keinen Bekannten hab, mit dem ich reden kann, dann geh ich auf die anderen los!«
Und das stimmt. Der Herbert ist in der Fremde nicht ungefährlich. Der hat erst neulich in der Commerzbank eine Schlägerei angefangen. Und das war lange vor diesem Finanzzusammenbruch. Da wollte er nur zwei 50-Euro-Scheine auf sein Konto einzahlen. Aber in dieser Filiale, in der es früher vor Angestellten nur so wimmelte, gibt es jetzt nur noch zwei von diesen Jammergestalten, deren einzige Aufgabe es zu sein scheint, den Kunden in den Vorraum rauszuwinken. Wo die Automaten stehen.
Und alles wird kleiner, überall gibt es Mikrochips, die Tastaturen von Mobiltelefonen sind von der Grö ße her nur noch von Dreijährigen bedienbar, aber der Geldeinzahlungsautomat, ein riesiger Kasten, gleicht einem monströsen Schiffsdieselmotor, der die Vermutung zulässt, dass da einer drinsitzt. Du schiebst deine Karte in den Schlitz, es öffnet sich ein gieriger Schacht, du schmeißt deine zwei Fünfziger rein, der Schacht schließt sich, und nach gefühlten drei Minuten grauenerregender Geräusche öffnet sich der Schacht wieder, und es kommt ein 50-Euro-Schein wieder raus wegen einer kaum erkennbaren abgeknickten Ecke, die man wieder glatt falten möge. Und mit diesem 50-Euro-Schein ist der Herbert wieder in die Filiale rein und hat eine Schlägerei angefangen. Ich dachte noch, das haben sie jetzt von ihrem Personaleinsparen, zwei so windige Bürscherl sind natürlich zu wenig für Herbert. Na gut, sie waren auch nicht vorbereitet.
Dies nur zur näheren Erläuterung. Der Herbert macht nicht nur Sprüche, auf den muss man schon aufpassen.
Während Herbert am letzten Glas seiner Weinprobe nippt, fahre ich mit meinen Urlaubsimpressionen fort: »Überleg doch mal, Hotel am Meer, da ist heutzutage alles All-inclusive, da kannst du abends an der Hotelbar so viel saufen, wie du willst, brauchst nix mehr bezahlen!«
Herbert hält das Glas schwenkend gegen das Licht: »Ich hab mein Leben lang, wenn ich gsuffa hab, zoit.« Er leert das Glas genüsslich und sagt: »Derf i des jetzt a nimmer?«
»Ja, dann machst halt einen Gesundheitsurlaub, tust ein bisserl was für deinen Körper!«
»Mein Körper ist froh, wenn er daheim seine Ruhe hat, und diese Meinung teile ich mit ihm. Mir glangt’s doch jetzt scho, wenn ich sie jeden Tag sehe, diese Wahnsinnigen, wie sie mit ihren Skistecken durch die Pampas wackeln, mit aufgrissne Aung, ois warns alle auf Ecstasy!«
»O.K., Herbert, es gibt Möglichkeiten. Dann machst halt einen Bildungsurlaub, das tut dir auch gut, schaust dir ein paar schöne alte Mauern an, Kirchen, Kathedralen!«
»Gäh, des oide Glump von damois«, erwidert er mit einer schlummernden Wut, die ich aus der ruckartigen Wischtechnik seiner Thekenreinigung herauslese. »Kathedralen soi ich mir anschauen, wia hamsn de baut, die Kathedralen, damals, ha, wia hamsn de baut?«
»Ja, Herbert, so genau weiß ich das jetzt auch nicht!«
»Mit Tausenden von Tagelöhnern, Sklaven, halb verhungerte Kinder ham de baut, barfuß auf achtzig Meter Höhe hams de Steinquader hochhieven müssen …«, schrie er mich an, »wenn einer ausrutscht, runterfällt, egal, sind ja genug da, und da würdest du mich heute wieder hinschicken, dass ich womöglich noch drei Euro fuchzig Eintritt bezahle, die Verbrechen von damals nachträglich finanziere, Renaissance, Barock und wie sie alle heißen, diese Verbrecher!«
Wütend wirft er seinen Wischlappen in die Ecke. Eine beklemmende Stille durchzieht seine kleine Vinothek, und die gestapelten Weinkisten verwandeln sich für Sekunden in Kirchtürme und Minarette. Plötzlich steht, von uns unbemerkt, ein älterer Herr im Laden, der anscheinend das Ende von Herberts Tirade miterleben durfte, denn er beendete die Stille mit dem ergänzenden Satz: »Ja, die Nazis sind überall!«
Route 66
Freiheit, Rock’n’ Roll, Easy Rider
Der Herbert war nicht immer so. Auch er hatte Träume. Mitte der neunziger Jahre arbeitete er noch als Roady und Ersatztechniker bei mittelgroßen Konzerten. Er war darin richtig gut. Wenn irgendwas nicht klappte, Herbert war da. Es gab nichts, wofür er keine Lösung hatte. Er lief ständig als lebende Werkzeugtasche herum. Wenn er herumlief, klapperte und schepperte alles, und jeder wusste, solange wir dieses Scheppern hören, kann uns nichts passieren. Die Musiker hatten sofort Vertrauen zu ihm. Wie er das mit der Sprache hinkriegte, war uns immer ein Rätsel. Die Musiker sprachen einen grässlichen Slang, Herbert jubelte in sein schweres Bairisch ein paar englische Brocken, und sie verstanden sich prächtig. »Wenn i sog, possible, dann haut des scho hi, ich steig amoi nauf, sen we look!«
Es waren meist amerikanische Countrybands auf Gasttour durch Europa. Die Kontakte entstanden damals über seine Stammkneipe, den »Rattlesnakesaloon«. Dort saß ich mit ihm oft nach der Show, wir schimpften, meckerten und schwärmten, bis wir die Tonnenmänner draußen hörten und wussten, die Nacht ist wieder mal vorbei, jetzt heißt’s beim Rausgehen: »Sonnenbrillen aufsetzen!«
Eine Zeit lang war Herbert von seinem Arbeitsumfeld so infiziert, dass er unbedingt einmal nach Amerika wollte. Dafür hätte er sogar seine Flugangst überwunden. »Einmal«, sagte er immer, »einmal die Route 66 abfahren!« Er sah mich mit glühenden Augen an: »Verstehst du, mir zwei mieten uns ein Wohnmobil und fahren los. Route 66. Dann kommt eine Kneipe, da gehen wir rein, saufen, dann gehen wir wieder raus und fahren weiter. Dann kommt wieder ein Pub oder so ein Bikerlokal, da gehen wir wieder rein und so weiter, verstehst du? Freiheit, Rock’n’ Roll, Easy Rider!« Dabei schwang er die geballte Faust mit einer solchen Begeisterung, dass ich immer froh war, wenn am Tisch gerade keiner vorbeilief. Zudem hörte ich aus Herberts Reisebeschreibungen heraus, dass er auf diesem Highway eigentlich nichts wollte als fahren und trinken. Für Besichtigungen reizvoller Sehenswürdigkeiten war bei dieser straffen Tour offenbar kein Platz. Und so schwärmte er vor sich hin, bis ich entschlossen und bedeutungsvoll aufstand und dem Gerede ein Ende machte: »Herbert, jetzt ist Schluss. Nicht immer nur reden. Weißt du was? Wir zwei, wir machen das jetzt. Du und ich: Route 66, Freiheit, Rock’n’ Roll, Easy Rider!«
Ein Testlauf zu Fuß
Und wir haben es gemacht. Eine Zeit lang jeden Donnerstag. Nein, nicht übertreiben, es war jeden vierten Donnerstag im Monat. Ein ganzes Jahr lang, zwar nicht in Amerika, aber in München. Zu Fuß. So eine Art Testlauf, damit wir, wenn es eines Tages so weit ist, vorbereitet sind. Günstig für uns war es, die Tour von hinten anzufangen, also in Los Angeles, Kalifornien, das war bei uns Ecke Schleißheimer/Schellingstraße. Das Lokal hieß »Sorgenbrecher«. Sehr angenehm, ruhig, vielleicht stand noch der Aschenbrenner Anton am Treseneck, ein ehemaliger Kriegskamerad von Herberts Vater, durch seinen Oberschenkeldurchschuss hatte er eine etwas eigenartige Gangart, der er eine gewisse Popularität im Stadtviertel verdankte. Netter Kerl. Er trank immer Fuhrmann, süßen Rotwein mit Cola, da ihm der Arzt Alkohol verboten hatte. Quatschte ihn jemand an, sagte er meist schon nach dem ersten Satz: »Kommen Sie auf den Punkt, meine Zeit ist knapp!« Und damit war jedes Gelabere im Keim erstickt. Denn auf den Punkt kommen wollte und konnte in dieser Kneipe keiner.
Herbert und ich hatten zum Einstieg zwei, drei Halbe Bier und den einen oder anderen Magenbitter, Underberg, Fernet, oder auch einen Turmwächter, je nach Stimmung. Dann ging’s aber auch schon weiter, die Schwindstraße runter, Richtung Phoenix/Arizona, in den »Zapfhahn«.
Dort war es sehr ruhig. Das hing vielleicht mit der Tageszeit zusammen, es war ja auch erst halb acht in der Früh. Auch dort, ganz gelassen zwei, drei Halbe Bier, diesmal aber die hellen Kurzen, also Korn, Wodka oder Obstler. Danach in die Heßstraße, quasi schon New Mexico. Das Lokal hieß »Fliesenorgie«, war früher eine Metzgerei, bis oben hin weiß gefliest, und der Wirt, der faule Hund, hat das Teil einfach so übernommen, wie es war. Unter dem Deckmantel der Originalität nannte er es einfach »Fliesenorgie«. Es gab dort auch keine Heizung. Es war immer etwas frisch in der »Fliesenorgie«, um nicht zu sagen arschkalt. Deshalb tranken wir auch immer einen Aquavit. »Was kümmelt’s uns!«, hieß dort unser Trinkspruch. Dazu nur ein kleines Bier, da die Gläser dort extrem dreckig waren.
Anschließend ging’s die Luisenstraße wieder hoch in den »Siphon«. Da waren wir dann schon in Texas. »Siphon« klingt zwar vom Namen her etwas unsportlich, die Atmosphäre dort war aber immer sehr nett. Es war schon früher Mittag, recht gut gefüllt, und wir hatten auch unsere geistige Hoch-Zeit.
Eine übersprudelnde Kreativität befiel uns dort, wir schrieben auf kleine Zettel kurze Gedichte und trugen diese dann laut vor:
»So langsam solltest du begreifen,
dein Bauch erlaubt kein Hemd mit Streifen!«
Solche Reime etwa, aber durchaus auch Anspruchsloses. Das gab dann immer ein großes Hallo und eine Runde Schnaps, später wurden die einzelnen Reime oft zu einem furiosen Schlager zusammengefasst, und ich glaube, so mancher Evergreen wäre dort geboren worden, hätten wir uns um die richtige Vermarktung bemüht. Aber wir mussten schließlich unsere Tour fortsetzen.
Es ging weiter, wieder Richtung Schellingstraße, »Zur trüben Funzel« im Bundesstaat Oklahoma. Das einzige Lokal, von dem ich bis heute nicht weiß, was wir da drinnen gemacht haben. Ganz eigenartig. Das hab ich aber nie gewusst, auch kurz nach dem Verlassen nicht. Bestimmt lag das an der Tageszeit. Am frühen Nachmittag kann man noch so körperbewusst leben, da sackt der Kreislauf in den Keller! Zumindest habe ich keine schlechten Erinnerungen.
Irgendwas werden wir schon gemacht haben. Ein Stück weiter oben lag das Lokal »Zum Fass«, doch da sind wir nicht gerne rein, das war uns zu bürgerlich, da gab es sogar kleine Speisen. Aber wir mussten rein, um Kansas zu streifen, haben aber im Regelfall nur ein Reparaturpils getrunken und sind wieder weitermarschiert, Richtung Missouri, also in unserem Fall Richtung Barerstraße zu einem kleinen gemütlichen Stehausschank. Den durften wir auf keinen Fall auslassen, alleine schon wegen der Wirtin, oder, um genauer zu sein, wegen ihres Namens, Ruth, also wegen Route 66, das musste einfach sein. Und um den Namen zu vervollständigen tranken wir bei ihr dann auch immer sechs Sechsämtertropfen. Ruth war schließlich noch keine 66, und wir wollten sie ja nicht beleidigen.
Fisch auf Bennos Haut
Bei Ruth traf ich einmal den Wilfinger Benno. Der kam gerade aus der Untersuchungshaft. Das war ein kleiner Rückschlag, da ihn das Schicksal jüngst auf der Karriereleiter nach oben getrieben hatte.
Der Wilfinger Benno war eigentlich Lastwagenfahrer. Einmal hatte er eine Fuhre Fisch in einem Kühllaster zu transportieren: Nordseeschollen und Springlachse aus Reykjavik. Als er durch die kleine Stadt Uelzen fuhr, leuchtete plötzlich die Warnlampe der Kühlanlage auf. Benno blieb auf dem Marktplatz neben der Kirche stehen, nahm sein Werkzeug, legte sich in seinem zerschlissenen Unterhemd unter die Zugmaschine, versuchte irgendetwas zu entdecken und schraubte und bastelte herum. Öl- und dreckverschmiert kroch er erfolglos wieder hervor, es war nichts zu machen. Die Lampe blinkte erbarmungslos weiter, die Kühlung war ausgefallen. Und das an einem Sonntag! Keine Werkstatt hatte geöffnet. In seiner Panik wollte er nach seinem Transportgut sehen, öffnete die hinteren Ladetüren, und schon kam ihm ein Schwall aufgetauter Springlachse entgegen. Jetzt war er richtig eingesaut. Ihm blieb nur noch die Möglichkeit, seinen Chef anzurufen. Wenn der keine Lösung hat, dachte sich Benno, weiß er wenigstens Bescheid.
Da sah er auf der anderen Straßenseite eine Frau in einen Laden hineingehen und dachte, da gehe ich hinüber, die haben sicher Verständnis und lassen mich telefonieren! In seiner Aufregung sah er allerdings nicht, dass es sich um die Frauenbuchhandlung »Desdemona« handelte. Die hatte an diesem Sonntag geöffnet, da eine Lesung stattfand. Das Buch hieß Salz auf unserer Haut, die nicht standesgemäße, aber ergreifende Liebe einer Pariser Intellektuellen zu einem bretonischen Fischer. Und just in dem Moment, als die Vorleserin an die Stelle kam, in der die beiden sich eng umschlungen ihrem ersten Liebesakt nähern, betrat Benno, verölt und verdreckt im zerrissenen Unterhemd und mit seinem ausgeprägten Fischgeruch die Buchhandlung. Siebzehn Frauen starrten den Benno an, nicht unbedingt ablehnend, manche durchaus wollüstig. So viele Frauen, dachte Benno, haben mich in meinem ganzen Leben noch nicht angeschaut. Beide Seiten schienen auf jeden Fall sehr überrascht. Einige Zuhörerinnen mögen das sogar für eine Inszenierung gehalten haben. Auf jeden Fall wichen die Schrecksekunden sehr schnell einer euphorischen Begeisterung. Noch bevor die Inhaberin der Buchhandlung sich zu einer sachlichen Regelung durchringen konnte, zogen die Frauen Benno in die Mitte ihrer Runde, andere ließen die Rollos herunter, die Tür wurde zugesperrt. Sektkorken knallten, ein hitziger Sonntagnachmittag folgte. Einer genaueren Beschreibung des Geschehens enthielt sich der Benno in seiner Erzählung.
Benno wurde fortan für Privatveranstaltungen engagiert. Zum Lastwagenfahren blieb ihm keine Zeit mehr. Sein Terminkalender war voll. Seinen Tagesablauf musste er streng regeln. Außerdem musste er beachten: wenig Bewegung, viel Bier, da sein Bauchumfang wichtig war für seine Auftritte.
Bevor er zu einem Termin loszog, holte er einen nicht mehr ganz frischen Fisch aus dem Kühlschrank, rieb sich damit ein, zog eines der zehn mit Öl und Dreck präparierten Unterhemden über und nahm seinen Kassettenrekorder. Sogar einen französischen Akzent hatte er sich antrainiert. Es lief blendend. Benno lebte seinen Traumberuf aus.
Nur einmal hatte er Pech. Bei einem Blitzauftrag schrieb er in der Eile die falsche Hausnummer auf.
Er stapfte routiniert in den dritten Stock eines Mietshauses, klingelte, eine Frau öffnete ihm, er grüßte freundlich, marschierte, ohne zu zögern, durch den Flur in die Wohnküche, in der schon sechs Frauen in Erwartungshaltung saßen. Was Benno nicht wissen konnte, war, dass diese Frauen zu einer Tupperware-Party gekommen waren. Benno wunderte sich zwar einen Moment über die irritierten Blicke, legte aber dann doch routiniert los. Er stellte seinen Rekorder auf die Anrichte und schaltete ein. Leise säuselten schwülstige Chansons, während Benno mit den Hüften kreiste und langsam sein bretonisches Fischerhemd aufknöpfte, unter dem sein präpariertes Unterhemd lauerte. Die vermeintliche Gastgeberin hatte inzwischen die Polizei gerufen. Die Beamten betraten in voller Schutzmontur und mit vorgehaltenen Waffen gerade in dem Augenblick die Küche, als sich der beleibte Benno mit seinem Fischgeruch mit einem Hüftschwung auf den Schoß einer der Mütter setzen wollte.
Nach zwei Tagen Untersuchungshaft hatte sich die Situation schließlich aufgeklärt, und so saß er nun bei Ruth an der Theke, sauber und gekämmt, und stieß auf seine Freiheit an.
Nach dem Besuch bei Ruth ging es wie gewohnt weiter, hoch die Rambergstraße nach Illinois in die etwas karge Trinkhalle »Zur letzten Bleibe«. Wir dachten immer, das Lokal heißt so, weil ein Friedhof in der Nähe ist, aber dem war nicht so. Yevgen, der Wirt, gab seinem Lokal diesen schönen Namen, weil er der Überzeugung war, seinen Arbeitsplatz in diesem Leben nicht mehr zu wechseln.
Das war dann auch unsere letzte Station. Weiter sind wir nicht mehr gekommen. Den letzten Bundesstaat, Michigan am gleichnamigen See, das wäre ja in München der Kleinhesseloher See gewesen, ließen wir weg. Da gibt es nur das »Seehaus«, und da muss man nicht reingehen und schon gar nicht eine so wunderbare Extremtour beenden. Diese Atmosphäre, die selbstgefällige Studenten, Töchter und Söhne betuchter Eltern, ausstrahlen, passte nicht in unser Konzept.
Zum anderen konnte man unser Tourende in der »Letzten Bleibe« ohne Übertreibung als großartigen Abschluss bezeichnen. Herbert wurde dort immer unerwartet melancholisch. Der Wirt kam aus Bar, einem kleinen Ort in der Ukraine, und spielte deshalb immer emotional anrührende ukrainische Choräle, welche sicher ihr Übriges zu Herberts Stimmungsumschwung beitrugen. Herbert erzählte von seinem Vater, der in russischer Gefangenschaft viel zu früh gestorben, aber doch ein großartiger Geschichtenerzähler gewesen sei. Dann kam Herbert ins Stocken, er schluckte, ohne zu trinken, die Tränen flossen, und als er sich halbwegs gefasst hatte, sah er mich an und begann mir eine von diesen Geschichten zu erzählen, mit seinen wässrigen Augen, und ich weiß gar nicht, ob ich ihm richtig zuhörte, aber wie er das erzählte, mit einer beinahe begeisterten Trauer, holte er damit seinen Vater für einen Moment zurück ins Leben.
Da kamen auch mir die Tränen, und deswegen ihm auch wieder, wir lagen uns an der Theke in den Armen und heulten uns aus. Yevgen, der Wirt, dachte ich, der muss sich wundern. Alle vier Wochen kommen die zwei vorbei und fangen an zu weinen. Aber nein, er stellte uns zwei Wassergläser Wodka hin, auch ihm flossen die Tränen, er schien das nicht nur zu kennen, sondern auch zu mögen. Wie gesagt: ein großartiger Abschluss.
Die letzte Tour
So war das vor gut zehn Jahren. Jeden vierten Donnerstag drehten wir die Runde. Und im letzten Mai, nachdem ich das Thema Reisen abgeschlossen hatte, kam ich auf die Idee, noch einmal loszuziehen. »Was meinst du, Herbert, wir zwei noch einmal unsere Route 66, in alter Erinnerung, Freiheit, Rock’n’ Roll, Easy Rider?« Ich konnte ihn überreden. Wir sind tatsächlich noch einmal losgezogen. Punkt sieben Uhr aufstehen, kein Frühstück, wie früher, und los. Der »Sorgenbrecher«, unsere erste Station, hatte gerade Ruhetag. Den hatte der früher nie. Gut, es war kein Donnerstag, aber darum geht’s ja gar nicht. Aber was soll’s, dachten wir uns, selbst schuld. Um die Ecke, wo sonst der »Zapfhahn« schon freudig auf uns wartete, befindet sich jetzt ein Laden mit dem Titel: »DVD 24 h«!