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Stell dir vor, jeder Planet und jeder Stern im Universum hat einen zweiten, humanen Körper. Sie sind Persönlichkeiten. Sie leben unter uns. In der Nacht zu Iwans 18. Geburtstag erscheint eine fremde Frau in seinem Zimmer und eröffnet ihm, er gehöre der mächtigsten Spezies an, die das Universum behaust: den humanoiden Sternen. Was er zunächst für eine Erscheinung seiner Schizophrenie hält, entfädelt sich alsbald als bittere Realität und Iwan muss die Erde verlassen, um Schüler am Hofe Ankors zu werden. Doch was erwartet dort jemanden, der unter Menschen, einer schändlichen Plage der Galaxie, aufgewachsen ist? Iwan weiß nicht mehr, wem er trauen soll. Insbesondere, nachdem seine Schwester durch einen Hinterhalt verschleppt wird. Wie findet man einen Verschwundenen im unendlich erscheinenden Kosmos? Eine urbane Legende berichtet von einem Kompass, der die Macht besitzt, Objekte und Personen der Sehnsucht im Kosmos aufzuspüren. Doch Iwan ist bei seiner Suche nicht alleine. Seine Verfolger lechzen nach dem Artefakt, denn damit stünde ihrem Plan, das Universum mit einem einzigen, gewaltigen schwarzen Loch zu vernichten, nichts mehr im Wege. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, der Rat der Milchstraße fordert die Hinrichtung der verschollenen Schwester und die Sicht zwischen Wahn und Realität verschwimmt zunehmend. Was verbirgt sich tatsächlich hinter diesem Kompass? Was hat Iwans Schizophrenie damit zu tun? Und wie begegnet man der Zerstörung eines schwarzen Lochs?
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Seitenzahl: 591
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Stern * Das Ende der Gegenwart
Sterne * Das Ende der Gegenwart
Sterne * Fremdes Blut
Sterne * Der Hof Ankor
Sterne * Manifestation
Sterne * Tränen aus Blut
Sterne * Entführung
Sterne * Nachruf der Diamanten
Sterne * Schreie des Romos
Sterne * Tanz der Lichter
Sterne * Der Dunst der gefesselten Seelen
Sterne * Der Dom der Vergessenen
Sterne * Stimmen der Illusion
Sterne * Rubinrot
Sterne * Unendlich
Enzyklopädie
Nachwort
»Unerwartete Wendungen können uns vom Weg abbringen, aber vielleicht ist der neue Weg sogar der leichtere? Das kommt darauf an, was man daraus macht.«
Die kühle Luft des Dezembers flutete den finsteren Raum. Iwan stand am offenen Fenster und betrachtete das Pulsieren der Sterne am kristallklaren Nachthimmel. Neugierig suchte er nach Sternbildern und ließ die unerfindliche Schönheit des endlosen Kosmos an sich herantragen.
Die nackten Ellenbogen versanken im Schnee auf der maroden Fensterbank, während der warme Dunst seines Atems vor seinem Gesicht waberte. Mehrere Minuten genoss er die friedvolle Ruhe, bis ein Klopfen an der Zimmertür ihn aus seinem morgendlichen Ritual riss.
»Iwan, bist du wach?«, wollte seine Mutter wissen.
»Ja, Mom«, versicherte er ihr.
Ohne weitere Worte verschwand ihr Schatten hinter der Türschwelle wieder und wurde von leisen Schritten davongetragen. Widerwillig kehrte der 17-Jährige der Welt hinter dem Fenster den Rücken zu und blickte in die Tristesse seines Zimmers. Alte, abgenutzte Möbel gähnten in die Dunkelheit.
Lustlos schlenderte er in sein eigenes Badezimmer – ein Privileg, das nur er besaß – und wusch die Müdigkeit aus seinen Augen. Daraufhin suchte er den Blick seines Ebenbildes im Spiegel. Graublaue Augen trafen seinen Blick, oder zumindest graublaue Kontaktlinsen. Schwarzes Haar schmiegte sich klamm an blasse Haut.
Kurz danach zog er sich an, brühte sich eine Tasse Kaffee auf und ging in das Zimmer seiner Schwester. Wie erwartet, schlummerte die 16-Jährige noch. Iwan strich eine Strähne ihres üppigen braunen Haares aus dem friedlichen Gesicht und wedelte den Dampf des heißen Gebräus zu ihrer Nase. Sie hasste den Geruch. Hin und wieder genügte er, um sie aus dem Schlaf zu ekeln, doch heute half nur ein sanftes Rütteln an ihren Schultern.
Stahlblaue Augen sahen zu ihm hinauf. Ein Merkmal, das jedes Mitglied dieser Familie teilte – mit Ausnahme von Iwan. Seine ungewöhnliche Augenfarbe versteckte er hinter Kontaktlinsen.
Als sie ihm nörgelnd den Rücken zuwandte, bewaffnete er sich mit ihren Stofftieren und fing an, sie damit zu bewerfen.
»Hör auf!«, fluchte sie.
Iwan hatte aber zu großen Gefallen an seiner morgendlichen Routine und stellte das Feuer erst ein, als Raisa sich widerwillig aus dem Bett erhob.
»Ist ja gut! Jetzt hau ab, du Lauch!«, giftete sie und glitt schlaftrunken zum Badezimmer.
Belustigt arrangierte er die kuschelige Munition auf dem nun verlassenen Bett und begab sich zurück in sein eigenes Zimmer, um seine Unterlagen für die Uni zusammenzupacken. Mit geschulterter Tasche warf er einen letzten Blick aus dem Fenster und saugte jedes Detail des sich vor ihm erstreckenden Bamberg auf: Pudriger Schnee hüllte die Häuserkette in eine weiße Decke, die das Licht der Straßenlaternen wie ein Meer aus feinen Kristallen reflektierte. Die nackten Äste der Bäume erzitterten unter ihrer Last. Grauer Dunst waberte über die Straßen und trübte die bunten Lichter der weihnachtlichen Dekorationen. Auch der Wolkenteppich begann sich zu verdichten und übermalte das Himmelsgemälde.
Als er sich an dem diesigen Bild sattgesehen hatte, ließ sich Iwan von seinem verzerrten Schatten auf der gegenüberliegenden Wand des Zimmers begrüßen, den die kahlen Äste der Bäume zu durchbohren schienen. Jeden Morgen pinselte die Straßenlaterne auf dem Hof kunstvolle Schattenbilder über sein Bett, die ab und an eine leicht dämonische Gestalt annahmen.
Mit einem Seufzer voran ging er ins Wohnzimmer, in dem sich inzwischen auch seine Schwester eingefunden hatte. Bei seinem Erscheinen legte sein älterer Bruder Lionel die Zeitung beiseite, griff nach seiner Aktentasche und zog dicke Kleidung an. Iwan empfand den vielen Stoff als überflüssig, tat es seinem Bruder aber dennoch nach. Auf Wunsch ihrer Eltern. Iwan hatte noch nie nachvollziehen können, warum die Menschen so ein Problem mit Kälte hatten, da sie ihn in keinster Weise belastete.
Gemeinsam marschierten sie die Treppe hinunter und ließen sich von der eisigen Kälte des Dezembers empfangen. Dann verabschiedeten sie sich voneinander und gingen ihrer Wege.
Während Lionel anfing, sein Auto vom Frost zu befreien, erklomm Iwan den verschneiten Asphalt.
An der Bushaltestelle versammelten sich bereits zahlreiche Menschen, im Kampf gegen die Kälte. Eine junge Frau, gehüllt in einen voluminösen Mantel, sog den heißen Dampf aus ihrem Kaffeebecher ein, während ein älterer Herr sich auf das stetige Reiben seiner nackten Hände beschränkte. Da er die Menschenmenge nicht mochte, beschloss Iwan, heute auf den Bus zu verzichten – er war früh dran und konnte es sich daher leisten. Also setzte er Kopfhörer auf und ließ sich von der Musik davontragen. Das Gerede der Menschen wich stummer Gestik, das Heulen der kalten Motoren erstarb und die Autos schwebten geräuschlos an ihm vorbei. Völlig in sich versunken, marschierte er so durch das müde Bamberg.
Das seichte Rauschen der Regnitz begleitete die Straßen auf ihren Wegen, Risse im Mauerwerk versteckten sich hinter dichten Efeuranken und Farbe blätterte von Bänken und Geländern. Und doch war die Verwitterung neben der Schönheit der prunkvollen Bauten und kleinen Brücken, welche die Stadt charakterisierten, kaum wahrnehmbar.
Die Zeit zerfiel zu Sternenstaub, als er durch die Seitenstraßen und Gassen schlenderte und schlussendlich die Universität Bamberg erreichte. Sofort fielen ihm seine Freunde ins Auge, die sich wie immer am üblichen Platz getroffen hatten:
Michael, die Personifikation des Lebens und André, dessen Gegenpol. Gut gelaunte Geselligkeit mit gepflegtem Auftreten stand neben einem halbwachen Geist mit dunklen Augenringen.
Iwan ließ sich von guter Laune einerseits und einem unverständlichen Gemurmel auf der anderen Seite begrüßen. Er konnte nicht anders, als den müden André zu necken und schenkte beiden ein übertrieben heiteres Lächeln, was er mit dem Wort »Arschloch« quittierte.
»Sieht aus, als hättest du das Familientreffen überlebt«, sagte Iwan zu Michael.
»Es gibt so viele Dinge, die unterhaltsamer sind als das Gelaber über Liebes- oder Ehepartner, Scheidung und Kinder. Kinder, die so überaus einzigartig sind, dass die Welt nur auf ihre Ankunft gewartet hat«, stöhnte der Blonde. »Wieso hast du noch keine Freundin? Wieso bist du noch nicht verheiratet? Wann bekommst du endlich Kinder?«, äffte er seine Ver wandtschaft nach. »Ich bin 26, ich hab noch mein ganzes Leben Zeit, Bälger in die Welt zu setzen.«
André legte mutig seinen Arm mutig um Michaels Nacken und provozierte ihn: »Hast du denn wenigstens schön brav deine Milch ausgetrunken?«
Die Neckerei entlockte Michael nicht mehr als ein Augenrollen. Auch als Iwan ihn über die positiven Aspekte von Milch, wie etwa gesundes Knochenwachstum, unterrichtete, wahrte er die Fassung. Erst als Ben auftauchte und zur Begrüßung »Hey Mika! Ärgern dich die Großen etwa wieder?« fragte, verteilte er Schimpfworte.
Die Mauern der Universität hatten die vier Männer zusammengeführt.
Michael war der Älteste der Gruppe und darüber hinaus der Reifste mit seinem altklugen Verstand. Sein blondes Haar war stets perfekt frisiert und seine Kleidung immer aufeinander abgestimmt. Der etwas kleiner gewachsene André, mit einem dunklen, vollen Schopf als Markenzeichen, verkörperte eher den Typ ›Nerd‹. Computerspiele, Comics und Bücher stapelten sich in den Regalen des 20-Jährigen, ohne jedoch einen negativen Einfluss auf seine vorbildlichen Noten auszuüben. Der 22-jährige, groß gewachsene Ben war ein machtloses Opfer seiner dominanten Triebe. Keine weibliche Silhouette entkam seinen gierigen, dunkelbraunen Augen. Iwan als Jüngster komplettierte das Quartett mit seiner frühreifen Art.
Bereits im Alter von 16 Jahren hatte er sein Studium an der Universität begonnen. Gelungen war ihm das durch seine Hochbegabung, wegen der er in der Schule zwei Klassen übersprungen hatte. Doch nur wenige konnten mit seiner Intelligenz umgehen … Darüber hinaus litt Iwan an einer unheilbaren und abschreckenden Erkrankung sowie an den Folgen eines Ereignisses, das sich vor fünf Monaten zugetragen hatte. Geschehnisse, die sein Wesen gezeichnet hatten. Geschehnisse, die ihn überwiegend zu einem ungeladenen Gast machten.
Michael, André und Ben waren die ersten Menschen in seinem Leben, die an seiner Seite geblieben waren – ohne Verpflichtung oder Zwang – und die sich überdies stets bemühten, Iwan wieder zu dem Menschen zusammenzusetzen, der er vor fünf Monaten gewesen war. Sie radierten seine Launen aus und schubsten ihn über Hürden an. So wie jetzt.
»Ich gehe kurz in die Bibliothek«, warf Ben ein. »Kommt wer mit?«
Das war mehr als nur eine Frage. Es war eine Aufforderung an Iwan, die er durchaus verstand, aber noch nicht umzusetzen bereit war, denn er pflegte eine äußerst komplizierte Beziehung zur Bibliothek. Dort hatten so viele Geschichten begonnen, die ihm unbeschreibliches Glück eingebracht hatten. Schlussendlich aber hatte er alles dort Erlangte verloren. Infolgedessen hatte er dem Wunderland der Bücher den Rücken gekehrt. Zwar hatte Iwan so manche Wunden zunähen können, doch für dieses Loch in seiner Brust reichten die Fäden noch nicht aus.
Er war noch nicht so weit. Er lehnte ab.
»Wieso kaufst du dir das Buch nicht einfach, statt jeden Tag darauf zu hoffen, dass es wieder da ist?«, lockerte André die Stimmung auf.
»No risk, no fun.«
Seufzend opferte Michael sich zum Wohl der Truppe – genauer genommen, zu Iwans Wohl – und ließ sich von Ben zielstrebig über den Hof geleiten. Als die Sonne sich mit einer glühenden Linie am Horizont ankündigte, suchten auch Iwan und André das Innere der Mauern auf und schlenderten zum Hörsaal.
Auf die Minute genau trudelte die Dozentin ein: Schwammige Oberarme, dicke Brillengläser und ein geblümter Fal tenrock behaupteten sich den Reihen voller verschlafener Gesichter.
Während André reuelos wieder einschlief, hob Iwan Schild und Schwert im Kampf gegen die Langeweile, die so ein trockener Vortrag mit sich brachte. Doch sein Kampf währte nicht lange. Nach nur wenigen Minuten hisste er die weiße Flagge und ließ sich von seinen Gedanken davontragen. Sein Blick flog durch die verschlossenen Fenster, zeichnete die Konturen der Dächer nach und hüpfte von den Passanten zu der Elster auf einem kahlen Zweig.
Er seufzte neidisch. Unterforderung. Sie war sein größter Feind.
Als Professor Saal die Folter nach einer gefühlten Ewigkeit endlich beendete, hatte die aufgehende Sonne den Himmel in ein wildes Aquarell aus dunklem Blau und kräftigem Orange verwandelt. Andrés Kopf ruhte noch immer auf Michaels Schulter, der das sorglose Brummen des Schlafenden mit Fassung getragen hatte. Ein Foto davon sollte seine Belohnung sein.
»Wie, geht‘s schon los?«, murrte André, nachdem Michael ihn geweckt hatte.
»Die Vorlesung ist vorbei, du Pfosten.«
André hegte Zweifel, bis er der Aufforderung der Jungs, einen Blick in ihren Gruppenchat zu werfen, folgte.
»Hey, nimm das raus!«, empörte er sich, als er das Foto entdeckte.
»Ich hab‘s schon getwittert.«
Schlagartig wich die Müdigkeit aus Andrés Augen. Erbost eröffnete er ein unterhaltsames Wortgefecht mit dem Urheber der Aufnahme, der der unerwarteten Schlagfertigkeit nicht gewachsen war. Ben sorgte mit einem Themenwechsel für Abhilfe und adressierte den bevorstehenden Tag:
»Und, wie ist nun der Plan für deinen Geburtstag?«, wollte er von Iwan wissen.
»Was war denn das für eine Frage?«, raunte Michael. »Muss ich euch an unsere Tradition erinnern? Weihnachtsmarkt am Maxplatz?«
»Punsch und Glühwein, bis der Arzt kommt«, fügte André hinzu, als wäre das eine Tatsache, die keinen Widerspruch duldete.
Daraufhin richteten sich drei Paar Augen auf das Haupt des bald 18-Jährigen.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Iwan der Thematik gezielt aus dem Weg gegangen. Bunte Lichter, der Duft von gebrannten Mandeln, Glühwein, das heitere Leben … Was ihn einst erfüllt hatte, betrachtete er nun als Reizüberflutung. Menschenmassen, überteuerte Speisen, zu erwerbende Waren, deren Wertschätzung keine Woche überdauerte …
Diese Kehrtwende seiner Auffassung war eine klare Nachwirkung der Tragödie, die sich vor fünf Monaten ereignet hatte. Auch zu dieser Hürde sah Iwan sich eigentlich noch nicht bereit, auf der anderen Seite aber wollte er ungern mit ihrer Tradition brechen, zumal er das Potenzial eines gelungenen Abends durchaus erkannte.
Iwan haderte mit sich, erinnerte sich aber an die Worte, die Michael ihm neulich unterbreitet hatte: »Es wird Zeit, den Schutzbunker zu verlassen.«
Und Worte ohne Taten waren bloß Schall und Rauch. Daraufhin fasste er einen Entschluss:
»Meinetwegen, aber ich habe ein Recht darauf, zu schmollen.«
Das Lächeln der Jungs wand sich augenblicklich in seiner Breite. Mehr von ihrer Vorfreude trugen sie jedoch nicht an die Oberfläche. Iwan wollte keinen Applaus. Das hätte sich deplatziert angefühlt.
Geteilt wurde der Plan dennoch, und zwar mit der weiblichen Ergänzung der Gruppe, die sie vor der Kantine der Universität abfingen. Diese setzte sich aus Andrés älterer Schwester Nikola, ihrer besten Freundin Liliane und dem Grund für Bens schlaflose Nächte zusammen: Evelina. Der vielfältig begabten Tochter einer schwerreichen Familie mit außergewöhnlicher Erscheinung: makellose dunkle Haut, üppiges schwarzes Haar, das im Sonnenlicht bläulich schimmerte, und himmelblaue Augen. Die zierliche Statur und der Verzicht auf Make-up der erst vor kurzem zu dem Freundeskreis Gestoßenen bildeten einen starken Kontrast zu Lilianes durchtrainiertem Körper, den sie ausschließlich in sportive Kleidung hüllte, sowie ihrem kunstvollen Make-up. Nikola indes trug stets ihre Vorliebe und geschmackvolle Affinität für Mode zur Schau und lebte eine große Palette an Erscheinungsbildern aus.
»Na, Mädels? Alles fit im Schritt?«, begrüßte Liliane die Männer mit ihrer provokanten Art, für die man sie kannte und liebte.
»Er ist heute Morgen noch etwas schüchtern«, entgegnete André ungerührt.
»Der Campus ist größer als eure Anzahl an Hirnzellen, und trotzdem lauft ihr uns immer wieder ins Netz.«
»In Fachkreisen auch ›weibliche Intuition‹ genannt.«
»Hey!«, tadelte Ben ihn. »Nur weil dein Würmchen es sich leisten kann, schüchtern zu sein, musst du uns nicht gleich in den Rücken fallen.«
André grinste überheblich. Er war derzeit der Einzige, der eine feste Beziehung führte. Mit einem Mann. Gelegentlich ergriff er auch mal für Frauen Partei, allerdings nicht in Bezug auf seine Sexualität – er liebte ausschließlich das eigene Geschlecht.
Nachdem die Fronten geklärt waren und der Plan für den bevorstehenden Tag geschmiedet war, suchte die Gruppe den nächsten Hörsaal auf. Für einen viel zu langen Moment hatte Iwan mit dem Gedanken an Kapitulation gerungen, schließlich waren die Vorträge der Dozenten allesamt uninteressant für sein unterfordertes Gehirn. Doch die bevorstehende Vorlesung sollte anders verlaufen, als befürchtet: Statt der sonst anwesenden hageren Silhouette mit der tiefen Raucherstimme trat ein erschreckend junger Mann in einem grauen Anzug zum Pult. Mit wenigen Worten stellte er sich als Vertretung für die kürzlich erkrankte Professorin vor. Der blonde Schopf war bis auf das letzte Haar perfekt frisiert, die Haut ebenmäßig und die Brauen so dicht, dass sie Schatten über die grauen Augen warfen. Die Brille mit dem schwarzen Gestell unterstrich seine markanten Gesichtszüge.
»Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit, insbesondere in Anbetracht der anstehenden Prüfungen«, eröffnete der Dozent und fügte hinzu: »Ich bin mir sicher, wir machen das Beste daraus. Sie wissen ja: Unerwartete Wendungen können uns vom Weg abbringen, aber vielleicht ist der neue Weg sogar der leichtere? Das kommt darauf an, was man daraus macht.«
Die schmalen Augen suchten die von Iwan und ließen ihn beinahe glauben, dass die Worte ganz allein ihm galten.
Professor Karim beschränkte sich auf eine knappe Vorstellung seiner Persönlichkeit und eröffnete eine Vorlesung in schroffem Tempo. Hinter seinen Thesen lugte ein frisches Weltbild hervor, ein abwechslungsreicher Blick auf die Aspekte des Lebens. So scheute er sich auch nicht, sich für die Gleichberechtigung aller Menschen auszusprechen, adressierte politische Krisen und forderte einen Blick auf die globale Ganzheit. Ausführliche Beispiele zu seinen Behauptungen reihten sich an geschwollene Fachbegriffe und erzeugten eine Autorität, die keine Widerworte hinsichtlich seiner Einstellung duldete.
Die Studenten lauschten seinen Worten mit Empörung und Faszination zugleich. Sogar Iwans Verstand wurde aus der Dämmerung gezogen und gefordert.
Ein absolutes Gelingen.
Das Ende des Vortrags ging mit Verwirrung einher. Iwan verstand die Gesetze der Zeit nicht mehr, als er sich eine Bestätigung von seiner Armbanduhr einholte. Was blieb, waren angereicherte Diskussionen, die ausschließlich in zwei Richtungen zweigten: Hingebung in Anbetracht des Erscheinungsbildes des Dozenten oder Abneigung hinsichtlich seiner fordernden Lehrweise.
Auch Iwans Freunde seufzten, als sie aus dem Saal schlenderten. Er warf einen Blick über die Schulter und fing den forschen Blick des Professors auf, als hätte dieser bloß darauf gewartet. Ein Blick, so undurchsichtig wie durchdringend. Ein Augenkontakt, der einen Wettlauf gegen die Zeit eröffnete.
Als die Gruppe durch den Korridor marschierte, wurde sie von einem lauten Knall erschüttert. Erschrocken sahen die Studenten zu Professor Romano, der über seinen massigen Bauch hinweg auf die zu Boden gefallenen Bücher starrte, als wäre er auf eine Leiche gestoßen. Mit nur wenigen Schritten eilten die jungen Männer dem alten Mann zu Hilfe. Leicht beschämt tupfte er die Schweißperlen von seiner faltigen Stirn und rückte die schweren Brillengläser auf seiner knubbeligen Nase zurecht.
»Meine Herren.« Er räusperte er sich. »Vielen Dank.«
»Nicht dafür«, beschwichtigte Michael und sammelte die Bücher vom Boden auf.
Auch Iwan war in die Knie gegangen, hielt aber in seiner Bewegung inne, als sein Blick über einen Umschlag stolperte, der seinen Namen trug.
»Das haben Sie mit Absicht gemacht, oder?«, fragte er seufzend.
»Ich bin schon alt, mein Junge«, rechtfertigte sich der Alte entrüstet.
Daraufhin nahm Iwan demonstrativ den Briefumschlag hoch und hob gleichzeitig seine Brauen.
»Da wir vom Alter sprechen …«, lockte er ihn.
Hastig griff der Dozent nach dem Umschlag und plädierte: »Es war schlichtweg das Gewicht, das zum Fall geführt hat. Und den bekommst du erst morgen!«
»Das Geflüster der Voids«, sagte Michael plötzlich.
Seine blauen Augen hafteten auf dem Titel, den er laut vorgelesen hatte. Ein Buch, auf dessen Erscheinen Iwan viele Monate lang fieberhaft gewartet hatte und das er nur allzu gern verschlingen würde, hätte er das Geld dafür …
»Und so weiter«, winkte Professor Romano ab und stapelte die aufgehobenen Bücher vor seinem fülligen Leib. Mit den Worten: »Den restlichen Weg schaffe ich allein«, wandte er sich von den Studenten ab und marschierte davon. Sein Weg führte in die Höhle des Löwen: die Bibliothek.
Fingerkribbeln.
Professor Romano betreute die Bibliothek, und Iwan hatte ihm eine geraume Zeit lang assistiert. Seither hatte der alte Mann den einen oder anderen Versuch gemacht, den Studenten in die verheißungsvollen Wände zu locken. Allerdings ohne ihn zu bedrängen. Und auch ohne nennenswerten Erfolg.
Auch jetzt ließ Iwan den Köder ziehen und kehrte dem alten Mann verbissen den Rücken zu. Michael aber zeigte sich mit der raschen Kapitulation überraschend unzufrieden.
»Jetzt gib dir einen Ruck!«, drängte er ihn. »Unerwartete Wendungen, richtig?«
Iwan zögerte.
»Komm schon«, lieferte André nach. »Deine Schwärmerei für dieses Buch war zeitweise unerträglich. Jetzt hol es dir! Sieh es als Versöhnungsversuch des Schicksals.«
»Gier ist der falsche Antrieb«, fand Iwan.
»Deine Vorliebe für Kosmologie ist keine Gier«, widersprach Michael. »Das ist Hingebung. Vielleicht etwas fanatisch.«
»Hier sind die Fakten«, fasste André zusammen. »Das schlimmste Szenario wäre eine Wahnvorstellung, von der du dich zwangsläufig wieder erholen wirst. Ich spreche zwar nicht aus eigener Erfahrung, halte das aber durchaus für einen angebrachten Preis für das, was daraus werden kann.«
Finsternis schlich sich in Iwans Stimme. »Stimmt. Du sprichst nicht aus eigener Erfahrung«, knurrte er und wappnete sich zur Flucht auf den Hof, doch ein weiterer Knall ließ ihn erstarren. Bevor er sich umdrehen konnte, erschien Michaels blonder Schopf auf seiner Schulter.
»Wenn du nicht gehst, gebe ich Kaya deine Handynummer.«
Kaya war eine Kommilitonen aus dem ersten Semester, die laut André ein Auge auf Iwan geworfen hatte. Aber nachdem dieser noch immer nicht über den Ausgang seiner letzten Beziehung vor fünf Monaten hinweg war, lag sein Interesse an einer neuen Partnerschaft derzeit im Null-Bereich.
»Bist du nicht etwas zu jung, um deinen eigenen Tod zu planen?«, schoss er zurück.
Der Ältere zückte daraufhin ungerührt sein Smartphone und rief den Chat mit Kaya auf, deren Augen Iwans Leib ständig mehr erforschten, als die Kosmologen das Universum. Bevor seine Finger die Tastatur aufrufen konnten, riss Iwan ihm das Handy aus der Hand und marschierte aufgewühlt zu dem alten Mann, der erneut die Bücher hatte fallen lassen.
»Mein Handy!«, rief Michael ihm hinterher.
»Das ist mein Pfand!«, antwortete Iwan und ging ein weiteres Mal an der Seite des alten Professors in die Knie.
»Das ist nicht nötig«, beschwichtigte der.
»Ach so? Wenn das so ist, warum sitze ich dann hier?«
Die Schultern des alten Mannes erschlafften, die Lippen waren aufeinander gepresst.
»Weil du ein selbstloser, gütiger, junger Mann bist?«
»Und weil Sie und die Jungs einen Plan ausgetüftelt haben«, ergänzte Iwan.
»Das auch.«
Der Student seufzte. Üblicherweise zeigten sich seine Freunde einsichtig seiner Verweigerungen der Bibliothek gegenüber. Doch dieser Schachzug war nicht nur durchdacht, er war gewagt. Denn das Resultat reduzierte sich auf zwei unterschiedliche Extreme: Entweder würde die Welle seines Zorns den Frieden zerreißen, oder aber er würde den Schritt über die marode Brücke, die hoch über dem finsteren Abgrund kauerte, wagen. Seine Chance, in die Tiefe zu stürzen, war schwindelerregend hoch.
»Nun, das hier war nicht Teil des Plans«, räumte der Dozent ein. »Eigentlich wollten wir dich morgen erst locken, doch das erschien mir plötzlich makaber. Schließlich ist morgen dein 18. Geburtstag. Der wichtigste Tag im Leben eines Menschen, nicht?«
»Vermutlich«, murrte Iwan zwiegespalten.
Die Verlockung war durchaus da.
»Nur bis zur Tür, okay?«, kam der Professor ihm entgegen. »Du weißt, ich würde dich niemals zu etwas zwingen. Nennen wir es einen sanften Anstoß.«
»Unsere Vorstellungen von sanft gehen ein wenig auseinander.« Iwan seufzte. »Aber gut, ich begleite Sie. Bis vor die Tür.«
Der alte Mann war überwältigt. Iwan fing das Leuchten seiner kleinen Augen mit unerwarteter Freude ein. Freude, die alsbald Panik wich, als er dem Professor durch die Korridore folgte.
Die Schritte schnürten Iwans Lunge zu. Die Luft wurde dünner, die Farben um ihn herum wichen trister Ödnis.
Fünf Monate lang hatte er den Weg in die Bibliothek gemieden. War das närrisch?
Plötzlich zerklüfteten tiefe Risse die Wände. Die gerahmten Bilder und Fotografien fielen zu Boden, und die Glasscherben schillerten so verräterisch, wie die verzerrten Grimassen der darauf Porträtierten dämonisch wirkten. Sie begannen mit schaurigen Stimmen zu reden. Obwohl Iwan kein Wort verstand, drangen sie bis in sein Herz vor und ließen ihn erstarren. Sein Atem ging schnell und flach, seine Augen schlossen sich von selbst. Er bohrte seine Finger in die Seiten der Bücher, die er an seinen Leib presste, als suchte er in den gedruckten Worten nach Halt.
Schizophrenie. Der beständigste und mächtigste seiner Schatten.
Zitternd ließ Iwan die Sekunden zerfallen und lauschte den Zeilen der Nachschlagewerke, die behutsam auf ihn einredeten. Die einzigen Fäden, welche die Verbindung zur Realität manchmal aufrecht erhielten, waren die Berührungen eines anderen oder der Schlag seines Herzens. Bis in seine Fingerspitzen drang das wilde Pochen vor.
Plötzlich holte ihn ein lauter Knall in die Realität zurück. Iwan waren die Bücher aus den Fingern geglitten und zu Boden gefallen. Vor ihm erstreckte sich nun wieder das Bild des Korridors. Intakt, lichtdurchflutet und friedlich. Als wäre nichts geschehen.
Übelkeit rüttelte ihn aus der Starre. Hastig eilte er zum Fenster, riss es auf und sog seine Lungen mit der eisigen Luft des Dezembers voll. Ließ den Sauerstoff alle Rückstände des Wahns aus seinem Körper waschen.
Iwan wusste nicht, wie lange er dort verharrt und die Schneeflocken beobachtet hatte. Er mochte Schneeflocken. Sie waren stumm, und wo auch immer sie zu Boden rieselten, wurde es still. Auch Professor Romano schwieg, nachdem er an Iwans Seite getreten war. Doch sein Gesichtsausdruck sprach zu ihm: Er war besorgt. Es war jedoch nicht die Sorge eines Unwissenden. Es war die Sorge eines Mannes, der über Iwans Krankheit und deren Handhabung im Bilde war.
Iwan litt an Schizophrenie. Realitätsverlust, Halluzinationen. In unregelmäßigen Abständen verlor er den Bezug zur Realität, sowohl in der Nacht als auch am helllichten Tag. Medikamente stützten seinen Krankheitsverlauf.
Dazu galten drei wichtige Regeln:
1. Kontakt
Wenn Iwan von einer Wahnvorstellung heimgesucht wurde, driftete sein Hör- und Sehvermögen davon. Lediglich die Berührung eines anderen konnte er gelegentlich wahrnehmen. Es vermittelte ihm das Gefühl, nicht allein zu sein.
2. Kein Mitleid
Iwan wollte nach seiner Rückkehr in die Realität nicht bemitleidet werden, sondern wünschte sich, dass die anderen dem üblichen Alltag nachgingen. Das Fortlaufen der Zahnräder räumte ihm das Empfinden von Normalität ein.
3. Beharrlichkeit
Die Fähigkeit, die Arme durch einen Strauch voll Dornen zu strecken, um nach Iwans Hand zu greifen. Die Stärke, allen Hürden zum Trotz, an Iwans Seite zu bleiben.
Es gab nicht viele Menschen in Iwans Leben, die diese Regeln befolgten oder zu befolgen bereit waren. Professor Romano war einer von ihnen. Summend beugte er sich über Bücher, die Iwan im Zuge seiner Wahnvorstellung hatte fallen und liegen lassen. Dieser Akt verlieh Iwan die Kraft, wieder in den Alltag zurückzukehren. So kam er dem alten Mann ein weiteres Mal zur Hilfe. Dieser zeigte sich reuevoll.
»Ich war übermütig. Das hätte ich dir nicht aufbürden dürfen.«
»Das war unausweichlich. Es musste geschehen. Das wissen Sie.« Müde fügte er hinzu: »Immerhin war ich nicht allein.«
Der Betreuer der Bibliothek kannte Iwan seit Beginn seines Studiums. Er wusste, wie kümmerlich sowohl die gesundheitliche als auch die finanzielle Lage des Studenten war. Drum hatte er ihm mühevoll die Welt der Lektüre eröffnet – bis zu dem Tag hatte Iwan Bücher gemieden, da ihre Inhalte ihn oftmals unterfordert hatten. Er hatte ihm deren Tiefgründigkeit vor Augen geführt. Der Professor selbst führte ein Leben zwischen gedruckten Zeilen und den Geschichten, die sie schrieben. Doch sein Organisationsvermögen war im Gegensatz dazu fürchterlich, nein, katastrophal. Daher hatte Iwan ihm als Assistent zur Seite gestanden. Bis zu jenem Tag …
»Iwan, ich überlasse die Entscheidung dir allein. Aber ich weiß, dass du guten Rat nicht ablehnst. In der Bibliothek erwarten dich lediglich alte Freunde, keine Feinde.«
»Ich fürchte mich nicht vor dem, was hinter der Tür ist. Ich fürchte mich vor dem, was mein Kopf daraus macht.«
Iwan seufzte.
»Leichter gesagt …«
»... als getan«, beendete Professor Romano den Satz.
Ihr altes Spiel.
Dies hatten sie oft gespielt, wenn sie über komplizierte Themen philosophiert hatten. Gefolgt von dem Impuls, wachsam zu bleiben, ließ Iwan sich von dem Dozenten zur Tür begleiten. Dieser unterhielt ihn währenddessen mit belanglosen Themen, um ihm zumindest etwas Ablenkung zu verschaffen.
Doch neben Nervosität kehrte auch ein Gefühl von Heimat ein. Und dann kam es, das Schild, das die Worte zur Hölle buchstabierte: ›Bibliothek‹.
Die Türen standen weit offen, als erwarteten sie Iwans Ankunft. Der Duft von Kaffee und Jazz-Musik aus einem alten Grammophon schwängerten die Luft.
Iwan schmunzelte. Wie viele Reparaturen hatte der Plattenspieler schon überstanden? Die Plattensammlung des Dozenten war genauso ansehnlich wie die seiner Bücher.
Furcht hielt Iwan dennoch am Fleck.
Sollte er den Schritt wagen? War der Zeitpunkt gekommen, sich in den Schlund zu stürzen und den Kampf zu führen, den er so lange gemieden hatte? Sein Sturz wäre verheerend, doch sein Sieg wäre umso überragender.
Von dem Wissen beschwingt, dass Zögern nur Kapitulation beschwor, tat Iwan das Unerwartete: Er nahm einen tiefen Atemzug, schüttelte seinen Kopf frei und stürzte sich mit großen, hastigen Schritten in die Bibliothek.
Und hier stand er nun.
Der Geruch von bedruckten Seiten und alten Einbänden stieg in seine Nase, während seine Augen über die zahlreichen Buchrücken rollten. Ein Bild, schmerzhafter als erwartet und wohltuender, als vermutet.
Nach einer fünfmonatigen Reise – auf der Suche nach sich selbst – war Iwan wieder heimgekehrt und begriff langsam, dass er die ganze Zeit über lediglich hier hätte suchen müssen. Wie war es möglich, dass ihn plötzlich das Empfinden überkam, er wäre bloß einen Tag fort gewesen?
Iwan schluckte einen Schwall Emotionen herunter und nahm all die unvergessenen Eindrücke in sich auf: Überfüllte Regale stapelten sich bis unter die Decke und trugen die Last vom angesammelten Staub. Auch der Boden versteckte sich unter dem Dreck des hereingetragenen Winters. Der Kaffeekranz auf dem Tisch bezeugte, dass die Kaffeetasse des Professors noch immer an der gleichen Stelle stand, und dieselben Vorhänge schmückten das wüste Ambiente.
Aufgewühlt legte Iwan die Bücher auf dem Hauptpult ab und krallte sich an dem Floß fest, mit dem er auf dem Strudel seiner Emotionen driftete.
»Eine Tasse Kaffee?«, fragte Professor Romano.
Der Student fand die blassgrünen, vor Euphorie leuchtenden Augen des alten Mannes. Tiefe Falten zeichneten knittrige Konturen um die eingefallenen Höhlen. Ein Kunstwerk, das viele Jahre aufrichtigen Lächelns geschaffen hatten.
Iwan lehnte ab. Der Dozent seufzte.
»Dich hier stehen zu sehen, war mehr ein Wunschtraum als eine Erwartung«, sagte er berührt. »Ich habe mir viele Szenarien ausgemalt, in denen ich dir das hier gebe.«
Er holte das Buch hervor, auf das Iwan so hinfieberte, sowie den Umschlag.
Zögerlich nahm Iwan den Einband entgegen. Sanft fuhren seine Finger über die erhöhten Buchstaben des Titels.
»Professor …«
Iwan war nicht wortkarg. Er besaß einen großen Wortschatz, doch dieser erlitt gerade Schiffbruch.
»Den Brief öffnest du erst morgen«, verlangte der Alte.
»Wie kann ich Ihnen danken?«
Der Professor prustete los.
»Mir fehlt es an nichts, Junge! Spar dir die Münzen. Die Quittung habe ich im Kamin verbrannt! … Versehentlich, natürlich.«
Iwan schnaubte amüsiert. Immer schmerzlicher wurde ihm bewusst, wie sehr er die Gegenwart der Bibliothek und die Weisheit des Professors vermisst hatte.
Der Zeitpunkt war gekommen, eine Kette von der Kerkertür zu seinem verwundeten Herzen abzureißen. Damit waren zwar noch nicht alle Glieder und Schlösser entfernt, doch dieser Erfolg war ein großer.
Ebenso groß war Iwans aufrichtiger Dank an den Dozenten.
Aufgewühlt ließ er sich zu einem Gespräch hinreißen, in dem sie über die Geschehnisse der verlorenen Zeit sinnierten. Unterdessen musste der Student eine weitere Lektion lernen: Was er zunächst für ein Schauspiel gehalten hatte, offenbarte sich zügig als bittere Realität – sofern es ihm zustand, das zu beurteilen: Der alte Mann war überfordert. Und das zeichnete sich unmissverständlich im Zustand der Bibliothek ab. Ein erschreckender Großteil der Bücher war vollkommen fehlplatziert, unübersichtlich eingeräumt bis hin zu lieblos aufgestapelt. Die Regalböden versteckten sich unter einer Staubschicht, die Topfpflanzen bettelten um Wasser und die Pflege der Datenbank war nicht weniger als eine blanke Katastrophe.
Entsetzt fuhr Iwan sich durch sein schwarzes Haar. Diese Verwüstung hätte der Professor niemals absichtlich erzeugt, um den ehemaligen Assistenten zur Wiederaufnahme seiner Tätigkeit zu verführen. Das war nur das Ergebnis von Überlastung.
Jetzt begann Iwan zu verstehen, weshalb es durchlaufend keine Interessenten für den Posten gab …
In perfekter Harmonie mit diesem Gedanken stürmte Evelina in die Bibliothek. Als sie Iwan erblickte, stoppte sie, als hätte er sie verschreckt.
»Oh, hi«, sagte sie sichtlich verwirrt und fügte rasch hinzu, ein Buch vergessen zu haben.
Der Dozent verschwand sofort im kleinen Nebenzimmer, um es zu besorgen.
Zwischen den Wartenden kehrte eine beklemmende Stille ein. Iwan hatte noch nie mit Evelina alleine gesprochen, schließlich war sie vor vier Monaten an die Universität gewechselt und noch nicht lange Teil des Freundeskreises.
Bens Hingabe für sie konnte er zumindest in Bezug auf den optischen Aspekt unterstützen: Evelina war klein und zierlich, ihre Gesichtszüge waren so zart wie die einer Puppe, und ihre himmelblauen Augen bildeten einen starken Kontrast zu ihrer kaffeebraunen Haut und den schwarzen Haaren. Kurzum: Sie war ausgesprochen hübsch.
Sie wippte nervös auf den Fersen, bis sie sich dazu durchrang, das Schweigen zu durchbrechen:
»Man sagte mir, die Bibliothek sei der letzte Ort, an dem man dich finden kann.«
»Du hast meine Tarnung auffliegen lassen«, scherzte er.
Erst nach einem Wimpernschlag schien sie den Sarkasmus in seinen Worten zu verstehen. Obwohl ihre Freundschaft zu Nikola und Liliane erst von kurzer Dauer war, war sie über Iwans Geschichte über die Bibliothek im Bilde.
»Das hier war … ungeplant«, klärte er sie auf. »Zumindest von meiner Seite aus. Die Jungs haben das eingefädelt.«
Evelina lächelte. Ein zartes, aufrichtiges Lächeln.
»Wow«, sagte sie. »Ich wusste, sie führen was im Schilde, aber das …«
Daraufhin biss sie sich wieder nervös auf die Lippe. Die Konversation wollte nicht ins Rollen kommen. Bevor Iwan das unangenehme Schweigen füllen konnte, wirbelte der Professor aufgebracht an ihnen vorbei und durchwühlte das Pult.
»Kann man Ihnen helfen, Professor?«, fragte die junge Frau.
»Mir ist nicht mehr zu helfen«, entgegnete er trocken und richtete die Brille, die unter seinen hastigen Bewegungen auf seiner Nase wippte. »Ich habe es nur verlegt.«
Iwan wechselte einen vielsagenden Blick mit Evelina, die belustigt schmunzelte und ihm den Titel des Buches nannte.
»›Kosmologie und ihre Rolle im 20. Jahrhundert‹«, zitierte sie.
Iwan zögerte wie jemand, der eine Botschaft über einen Lottogewinn erhalten hatte.
»Du begeisterst dich für Kosmologie? Ich dachte, ich wäre ein Findelkind.«
»Die Thematik fristet ein hartes Dasein an einer Universität für Politik, IT, Geologie und so weiter. Insbesondere, wenn es um Fotografie geht.«
»Sag mir nicht, du fotografierst Sterne?«
»Schuldig«, gestand sie schmunzelnd. »Aber das ist ein harter Job, wegen der Wetterbedingungen und der Kosten für qualitative Objektive.«
Diese Aussage klang einleuchtend, aber auch bedenklich. Der Reichtum ihrer Eltern vertrug sich nicht mit der Klage über die Anschaffungskosten der Materialien.
Obwohl er seine Gedanken nicht verbal zum Ausdruck brachte, las Evelina sie offenbar aus seiner Mimik.
»Keine falsche Scheu. Man sollte annehmen, dass ich genug Taschengeld habe. Das habe ich auch«, stellte sie klar. »Aber ich finde, das Equipment liegt besser in den Händen, wenn ich es selbst finanziert habe. Deshalb habe ich hier ausgeholfen.«
Ihren letzten Satz untermauerte sie, indem sie den gesuchten Titel, ohne lange zu suchen, aus einem völlig unpassenden Regal zog. Ihr waren die Zustände, die hier herrschten, anscheinend bekannt. Oder zumindest die Verwirrung des Dozenten. Dieser fragte prompt entgeistert:
»Oh, wie ist das denn dahin geraten?«
Iwan stöhnte.
»Oh, Professor. Was mache ich nur mit Ihnen?«
Belustigt und gehemmt zugleich sah er zu dem runden Kopf hinab. Ein verwirrtes Antlitz fing seinen Blick auf. Daraufhin sprengte Iwan weitere Ketten zur Kerkerzelle seines Herzens und nahm Worte in den Mund, die er nie wieder auszusprechen geplant hatte.
Unter keinen Umständen.
Unter gar keinen Umständen.
Eigentlich.
»Mein Unterricht endet um 14 Uhr. Bringen Sie Kaffee mit. Ne Menge Kaffee. Wir bringen Ordnung in dieses Chaos.«
Die Gesichtszüge des Dozenten entgleisten.
»Interpretieren Sie nicht zu viel in meine Worte!«, ermahnte Iwan den alten Mann, doch dieser war längst ein Opfer seiner Euphorie geworden.
»Heureka!«, schrie er und warf, in einer Ironie, die passender nicht hätte sein können, einen Stapel Papiere feierlich durch die Lüfte, als wären sie Konfetti – und nicht etwa wertvolle Dokumente.
Iwan und Evelina nahmen seine Freude sowohl mit einem Seufzen als auch einem Lächeln hin.
Und Iwan? In ihm herrschte ein ebenso großes Chaos vor. Freude sowie Furcht, blinder Eifer und Übermut brauten sich zu einem undefinierbaren Gemisch in ihm zusammen. Ein explosives Gemisch.
»Ich unterstütze euch«, beschloss Evelina. »Wer, wenn nicht wir?«
Iwan studierte ihren suchenden Blick. Er wusste, dass sie seine Gedanken in diesem Moment ebenso erforschte wie er ihre.
»Tu das nicht meinetwegen«, bat er sie. »Ich möchte kein Mitleid.«
»Und ich möchte keinen spätpubertierenden Kerl, der in jeder gegebenen Minute seinen Orbit um mich zieht.« Damit meinte sie Bens Schwärmerei für sie. »Das hält ihn mir vom Hals.«
Iwan hielt einen Moment inne. So viel Schlagfertigkeit hatte er ihr nicht zugetraut.
Wieder deutete sie seine Gedanken und sagte: »Was?! Da es nicht viele Männer gibt, die ausschließlich an mir und nicht am Vermögen meiner Eltern interessiert sind, sollte es mir wohl nicht zustehen, Ansprüche zu haben?«
»Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
»Schon okay«, gab sie schließlich klein bei. »Wir alle haben unsere Geschichte, nicht?«
So war es. Jeder lebte eine eigene Geschichte, und sowohl seine als auch ihre hatten in einer gewissen Weise hier begonnen. Und nun begannen sie gemeinsam ein neues Kapitel. Ermöglicht hatten dies seine Freunde. Sie, die als einzige freiwillig an seiner Seite geblieben waren.
Iwan wusste nicht, wie er seine Dankbarkeit ihnen gegenüber in Worte fassen sollte, und eigentlich wollten sie es auch nicht hören. Doch er tat es trotzdem, nachdem er mit Evelina wieder auf den Hof zurückgekehrt war. Aufgewühlt, wie er war, überkam ihn lediglich die Befürchtung, all das bloß zu träumen. Wenn dem so war, wollte er noch nicht aufwachen und ein wenig länger diesen Rausch leben. Geschehnisse, die immer als unerreichbar gegolten hatten, waren eingekehrt. Er war eingekehrt an einen Ort, der lange Zeit bis in seine Albträume hinabgeklettert war.
Dennoch wollte Iwan seinen Erfolg nicht mit Übermut krönen. Er hatte eine seiner größten Ängste bezwungen, doch das bedeutete noch lange nicht, dass alle Tränen versiegt waren.
Nur noch wenige Stunden trennten Iwan vom Erwachsensein. Diese verbrachte er mit Nachhilfe für seine widerspenstige Schwester – es galt, eine Wiederholung des Schuljahres zu verhindern –, dem Räubern von Kuchenteig und seiner neuen Lektüre.
Der Tag sprintete eifrig auf sein Ende zu und Iwan beschloss, ihn mit einer erholsamen Dusche zu beenden. Der Wasserhahn heulte kläglich und der defekte Heizkörper diente nur noch als Träger für nasse Handtücher. Lediglich mit Boxershorts und einer Sweatjacke am Leib nahm er sein Medikament gegen die Schizophrenie ein und musste mit Erschrecken feststellen, dass die Last der Emotionen dazu geführt hatte, die Einnahme am Mittag zu vergessen. Ein Fehler, der meist Folgen hatte.
Sein Krankheitsbild besaß keine absolute Verhaltensweise, sie war relativ. Völlig unstrukturiert brachen die Bilder über ihn herein und nahmen ihm die Fähigkeit, Wahn von Realität zu differenzieren. Die Prognose eines jeden Arztes war die Gleiche: Seine Schizophrenie war unheilbar.
Alles, was Iwan nun tun konnte, war zu hoffen, dass sein kranker Kopf sich nachsichtig zeigen würde …
Eiskalte Luft drang durch das Fenster in sein angrenzendes Zimmer. Während er den Atem des Dezembers in seine Lunge aufnahm, ließ er sich zu einem prüfenden Blick auf seine Skizzen hinreißen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Größtenteils hielten sie Szenerien und Gestalten aus seinen Träumen fest. Die mit Aquarell gepinselten Bilder an der Wand waren ebenfalls Momentaufnahmen aus seinen nächtlichen Reisen durch die selbst erschaffenen Welten: idyllische Gefilde, imposante Paläste, an deren vom Zerfall gezeichneten Mauern die Wellen brachen, Sternbilder und viele weitere Phantasien.
Plötzlich begann die Schreibtischlampe zu flackern. Ein verschmorter Geruch kitzelte seine Nase.
Als Iwan die Glühbirne überprüfen wollte, erlosch sie.
Er war zu müde, um dem weiteres Interesse zu widmen, schließlich war es kurz vor Mitternacht. So wandte er sich dem Bett zu, nur um sich von einem unbekannten menschlichen Schatten an der Wand erschrecken zu lassen. Die Müdigkeit wich schlagartig. Hastig drehte er sich um und fand eine finstere Silhouette vor dem Fenster, die mit dem Rücken zu ihm stand. Das Mondlicht brach sich an der schmalen Statur und erschuf eine silbrige Korona.
Doch die Einsicht nahm ihm bald den Schreck. Er hielt sie für eine Wahnvorstellung, die seine Hoffnung zerstörte, dass die vergessene Einnahme der Medikamente glimpflich würde.
Plötzlich drehte sich der Schatten in einer flüssigen Bewegung um. Ein Finger legte sich auf voluminöse Lippen, die zum Küssen einluden. Zarte Konturen wurden von einem sanften Licht erleuchtet, das von einer gläsernen Kugel am Handgelenk erzeugt wurde.
Auch für Iwan galten im Zuge seiner Erkrankung drei strikte Regeln:
1. Vergiss niemals die Einnahme der Tabletten
2. Eröffne niemals eine Konversation mit einem Wahnkonstrukt
3. Versuche stets mit aller Kraft, die Distanz zum Wahn aufrechtzuerhalten
Dieses Wahnkonstrukt in Gestalt einer Frau hob den Kopf. Zinnoberrote Augen trafen auf seine.
»Alles Gute zum Geburtstag, Iwan.«
»Es ist an der Zeit, die Augen zu öffnen für das, was du tatsächlich bist: ein Stern.«
Für einen Augenblick glaubte Iwan, das Haar der Unbekannten würde in Flammen stehen. Das einbrechende Licht der Straßenlaterne hüllte ihre Statur in eine glühende Kontur – rot gefärbt durch das zinnoberrote Haar, das in seichten Wellen bis zur Hüfte hinab fiel. So rot, wie keine Lava je glimmen konnte.
Iwans Augen tasteten die surreale Erscheinung nach einem Indiz ab, mit dem er sein krankes Hirn hätte überlisten können. Doch das Bild war perfekt. So perfekt, dass er eine seiner selbst aufgestellten Regeln brach:
»Wer spricht da?«, fragte er behutsam.
Das Wahnkonstrukt schwieg. Was hätte er anderes erwarten können?
Seufzend schlenderte Iwan zum Lichtschalter. Ein kurzes Aufblitzen, und plötzlich explodierte die Glühbirne der Deckenleuchte. Iwan erschrak. Mit nackten Füßen marschierte er zur Eckleuchte, doch hier wiederholte sich das Schauspiel: Die Glühbirnen explodierten. Feine Glassplitter bohrten sich in den alten Papierschirm der Lampe und schillerten gefährlich im schwachen silbrigen Licht.
Ab diesem Moment nahm Iwan das Geschehen zweifelsohne als Illusion hin. Seine Hoffnung, das Durchbrechen der geregelten Einnahme seiner Medikamente hätte keine Auswirkung auf sein krankes Gehirn gehabt, war närrisch gewesen. Mit diesem abschließenden Gedanken ließ er das Geschehene ohne weitere Aufmerksamkeit stehen und sank auf sein Bett. Sein Smartphone zeigte 00:02 Uhr an.
»Natürlich konntest du das nicht unkommentiert lassen.«
Seine Worte galten seinem kranken Hirn. Die neue Lektüre thematisierend, fügte er hinzu: »Na dann, zeig mal, was du aus einer Literaturstunde über Kosmologie machen kannst.«
Ein Kichern durchbrach die Stille.
»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte die Frau mit einer tiefen Stimme, so knisternd wie Feuerzungen und so rauchig wie lodernde Glut. Eine Melodie, so sinnlich wie geheimnisvoll.
»Lass uns zu den Sternen aufbrechen«, flüsterte sie.
Plötzlich flutete gleißendes Licht seine Augen. Der nun 18-Jährige schreckte hoch und entdeckte das Antlitz der unbekannten Frau. Glühend rote Augen definierten ihr Gesicht. Beinahe wörtlich brannten sie sich in seine ein. Ebenso rote Wimpern warfen einen Schatten über ihre geschwungenen Augen, die von zwei gleichfarbigen Brauen überdacht wurden. Geschwungene Lippen luden zum Küssen ein, die pfirsichfarbene Haut zu zarten Berührungen. Der warme Schein – er erstrahlte aus einer gläsernen Kugel auf ihrem Armband – legte sich wie ein goldener Schleier um ihr rotes Haar. Sie wirkte wie eine Frau mit Haar aus Feuer.
Ein schwarzer Mantel aus auffällig dünnem Stoff fiel locker über ihre Statur, und nackte Beine endeten in offenen Schuhen mit beängstigend hohen Absätzen.
»Mit Schweigen führt man keine Konversation«, eröffnete Iwan.
»Woher die plötzliche Ungeduld?«, entgegnete sie. »Ich habe eine lange Reise hinter mich gebracht. Nun lass dich erst einmal ansehen.«
Vermutlich hätte ihr hungriger Blick ihm schmeicheln sollen, doch das Rot ihrer Augen hinterließ förmlich Brandspuren auf seinem Leib.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte er provokant.
»Schmächtig, äußerst blass«, resümierte sie. »Aber sehr reif für dein Alter.«
Iwan hätte vieles in diese zweideutige Bewertung hineininterpretieren können, doch das widersprach seinem Regelwerk. Nach wie vor galt es, sich nicht mit einem Wahnkonstrukt einzulassen. Schließlich wusste er, wozu das führen konnte. Drum ließ er sich wieder auf die Matratze fallen und wandte ihr den Rücken zu.
Sie, die mehr als nur eine Illusion war, trat verärgert an das Bett heran.
»Ich darf doch sehr bitten! Ist das deine Art, eine Lady zu empfangen?«, empörte sie sich.
Da keinerlei Reaktion von Iwan erfolgte, griff sie nach seiner Schulter, doch er schlug sie hastig weg.
»Hau ab!«, fluchte er.
Plötzlich spürte er ein Brennen an seiner Schulter. Iwan schreckte hoch und tastete nach seiner Haut. Sie war unversehrt. Hatte er sich das nur eingebildet?
»Nun, ich darf mich vorstellen? Mein Name ist Leyra. Ich habe eine lange Reise hinter mich gebracht, um dir persönlich zum Geburtstag zu gratulieren.«
Ein flinker Griff unter ihren Mantel offenbarte eine Broschüre, die sich Iwans skeptischem Blick behaupten musste.
»Ein Reiseführer?«
»Genau. Die gesamte Strecke deiner bevorstehenden Reise ist allerdings nicht vermerkt.«
»Eine Reise wohin?«
Das betörende Lächeln fand seinen Weg auf ihre Lippen zurück. »Zu den Sternen.«
Iwan fing das Lodern ihrer Feuerringe auf und prägte sich jedes Detail ihrer malerischen Schönheit ein.
»Welche Art von Reaktion erwartest du jetzt von mir?«
»Freude wäre ein Anfang.«
»Ein Prospekt aus dem vergangenen Jahrzehnt. Ich kann mich kaum halten …«
Sie verdrehte die Augen.
»Das Geschenk ist die Reise.«
Sich die müden Augen reibend, warf Iwan einen Blick auf die Papiere in seiner Hand, die sich ausschließlich mit der Stadt befassten, in der er heimisch war. Die Iriden hüpften über handgeschriebene Notizen, verfasst in einer Sprache, die er nicht einordnen konnte, und stolperten über eine brisante Kennzeichnung. Eine Markierung, die einen Radius hervorhob, an dem neuerdings ein nicht gemeldeter Wohnwagen parkte und Dienste der sexuellen Befriedigung anbot.
Er erschauderte. Jetzt verstand er, was hier vor sich ging. Das Ziel dieser ›Reise‹ war im Grunde genommen diese Frau. Die Fadenzieher dahinter konnten nur Michael, Ben und André sein.
»Ab morgen ist deine Schonfrist vorbei«, hatte Michael gestern nach Feierabend zu ihm gesagt.
Zugegeben, nur dank ihnen hatte er sich zu dem Unmöglichen überwinden und die Bibliothek betreten können, doch die Schreie der Bücher aus der Bibliothek hallten noch immer in seinen Ohren wider. Nicht anzunehmen, dass das Blut seiner Wunden soweit versiegt war, dass er sich nun einer Fremden hingab, um zu verdrängen, was niemals vergessen werden konnte.
Wütend erhob er sich aus den Federn und drückte der Frau ruppig die Broschüre in die Hand. Ein weiterer Blick auf ihr Erscheinungsbild setzte die Komponenten des nun Offensichtlichen zusammen: der viel zu dünne Mantel – es herrschten Minusgrade jenseits der Mauern –, die High Heels, die rote Perücke, die ebenso roten Kontaktlinsen, die Kennzeichnung im Reiseführer … Die Indizien waren eindeutig.
Zwischen bebenden Zähnen presste er hervor: »Mein Geburtstag ist ihr Todestag«, und sorgte damit für Verwirrung im Antlitz der Rothaarigen.
»Ich verstehe nicht?«
»Du darfst gehen«, wies er sie zurecht und griff erneut nach seinem Handy.
Das verräterische Gerät aber fuhr plötzlich runter, nachdem es ›Gerät überhitzt‹ gemeldet hatte. Daraufhin blickte er auf sein entsetztes Spiegelbild auf dem Display.
»Wessen Idee war das?«, verlangte er mit geballten Fäusten zu erfahren.
Ihr Zögern ließ ihn expliziter werden: »Wer hat dich geschickt?«
»Das Imperium«, entgegnete sie schroff.
»Das Imperium …«, wiederholte er mit sarkastischem Unterton. »Ich dachte da an einen Namen, den ich in einen Grabstein meißeln lassen kann.«
»Das Imperium ist ein Cluster von Sternen. Dafür reicht nicht mal der anliegende Friedhof.«
»Das hier«, Iwan deutete auf sie beide, »wird nicht passieren, klar? Mir sind der Wohnwagen und seine Dienste im markierten Gebiet durchaus bekannt. Diese Bezahlung hast du dir ohne die entsprechende Dienstleistung erworben. Gratuliere. Und jetzt hau ab!«
Leyras Gesichtszüge entgleisten.
»Hältst du mich etwa für eine Nutte?!«, empörte sie sich.
»Ja!«
Klatsch! Eine Backpfeife. Iwan war entrüstet.
»Wofür war das denn?!«
»Du hast mich eine Nutte genannt!«
»Technisch gesehen, hast du dich eine Nutte genannt.«
Nach einem verächtlichen Schnauben fluchte sie in einer fremden Sprache. Iwan konnte im Augenblick nur die Rolle des Zuhörers spielen. Allen Umständen zum Trotz mochte er ihre dunkle, rauchige Stimme.
»Spar dir deine Vorwürfe. Was soll ich denn denken, wenn eine leicht bekleidete Frau mitten in der Nacht in meinem Zimmer erscheint und mich zu diesem Wohnwagen bringen will?«
»Jedenfalls nicht an Sex«, giftete sie. »Ich will nicht zu diesem Wohnwagen, und darüber hinaus habe ich mehr Stoff am Leib als du.«
»Sei froh, dass ich nicht nackt schlafe.«
Sie kicherte hassgeschwängert.
»Du hast die Denkweise eines Menschen.«
»Ja, was denn sonst?«
Ihr verzerrtes Gesicht warf Fragen auf. Doch bevor diese gestellt werden konnten, suchte Iwan versöhnliche Worte und missachtete fortlaufend seine Regel, keine Konversation mit einem Wahnkonstrukt zu führen.
»In Ordnung. Es tut mir leid. Fangen wir noch mal von vorne an. Belehr mich eines Besseren.«
Sie seufzte. »Zugegeben … war ich der Auffassung, diese Kleidung wäre angemessen. Mangelnde Recherche. Mein Fehler.«
»Also, wohin soll die Reise tatsächlich führen?«
Leyra wies mit ihrem Finger auf die Kennzeichnung in der Broschüre.
»Das Gasthaus zum Sternenpfad. Dort beginnt unsere Reise im Grunde genommen erst.«
»Dieses verkommene, alte Ding? Die Gastwirtschaft dort wurde vor Jahren eingestellt.«
»Für Menschen, ja. Aber nicht für unseresgleichen.«
Die Rothaarige duldete keinen Widerspruch.
»Sag, Iwan. Glaubst du an Leben jenseits der Erde?«
»Ja.«
Sein Blick war so gefestigt, wie der Klang seiner Worte entschlossen.
»Und du?«
Ein Lächeln erklomm ihre voluminösen Lippen.
»Nun, das sollte ich wohl. Denn ich komme von jenseits.«
Er sah sie skeptisch an. Das also hatte sein krankes Gehirn aus dem Lesen in seinem neuen Buch gemacht. Das gefiel ihm, also biss er an.
»Okay, und was genau bist du dann?«
»Ein Stern.«
»Sternenstaub«, korrigierte er.
Sie schnaubte spöttisch.
»Menschen«, sie betonte den Begriff, »sind eine von zahlreichen Spezies im Universum. Anzunehmen, sie wäre die einzige, ist närrisch.«
Sie trug ihre Schönheit einen Schritt näher an ihn heran.
»Ich gehöre zum Volk der Sterne, der ältesten Spezies im Universum. Und ich bin heute Nacht hierhergekommen, um dir zu offenbaren, dass auch du ein Stern bist, Iwan. Du bist jetzt 18 Jahre alt. Deine Volljährigkeit berechtigt dich zum Eintritt in das föderale Netzwerk des Kosmos.«
Iwan wusste, dass er bereits zu viele Worte mit dem Wahnkonstrukt gewechselt hatte. Doch gelegentlich genoss er es, sich gegenüber einer Reflexion seiner eigenen Gedanken zu behaupten. Das war wie ein Spiel zwischen Katz und Maus, nur, dass er beides verkörperte.
»Mit anderen Worten: Ich bin ein Alien.«
»Dort, wo ich herkomme, ist das eine Beleidigung.«
»Eine Frage: Sehe ich in deinen Augen aus wie ein Gasriese?«, fragte er.
»Mehr wie eine Zwiebel.«
Eins zu null für seinen Kontrahenten – das Gehirn.
»Eine Zwiebel …?«, wiederholte er skeptisch.
»Das ist doch der Begriff für jemand Schmächtiges?«
Nach einem hasserfüllten Schnauben klärte er sie auf: »›Lauch‹ ist der Begriff, den du suchst. Und er gilt hierzulande ebenfalls als Beleidigung«, übertrieb er.
Konnte man seinen eigenen Verstand überhaupt anschwindeln?
»Nun, Iwan Klas. Würdest du mich zu den Sternen begleiten?«
Die Antwort war selbstredend, und doch rangelten ›Ja‹ und ›Nein‹ um Vorherrschaft. Iwan wusste, sich dem Wahn hinzugeben, konnte fatale Folgen haben – womöglich kam er an einem fremden Ort zu sich? Dieses Desaster wollte er seinen Eltern nicht aufbürden, schon gar nicht an seinem 18. Geburtstag. Und doch dürstete eine Stimme in seinen Ohren nach dem Wahnsinn. Die Bedeutung von Richtig und Falsch begann zu verschwimmen, drum wählte er das Risiko.
Er beschloss, sie zu begleiten. Zu den Sternen.
Nachdem er sich rasch eingekleidet hatte, ergriff er ihre Hand.
Hier begann seine Geschichte. Die Geschichte seines neuen Lebens.
Iwan legte seine Finger in ihre und wurde von einer angenehmen Wärme überrascht. Die wich jedoch zügig einer unangenehmen Hitze, die sein Herz japsen ließ.
Bildete er sich das ein?
Plötzlich erschütterte ein gewaltiger Schlag seinen Leib. Die Sicht zerlief zu einem verschwommenen Aquarell. Ein undefinierbares Zusammenspiel von Hitze und Kälte kratzte wie die Krallen eines Raubtiers über seine Haut. Dumpfe Hiebe peitschten seine Ohren. All das geschah in nur wenigen Sekunden. Als Iwan wieder zu Sinnen kam und den letzten Rausch aus seinen Augen blinzelte, fand er sich an einem ganz anderen Ort wieder. Das Innere seines Zimmers war einem kleinen, verschneiten Hof gewichen, der sich vor dem alten Gasthaus zum Sternenpfad erstreckte. Die marode Fassade des schlafenden Gebäudes vegetierte in der Dunkelheit der sternklaren Nacht. Mächtige Nadelbäume überdachten das alte Bauwerk und skizzierten etwas Herrschaftliches. Weder den Asphalt noch das prunkvolle Schild über dem Eingang hatte man von der Last des Schnees befreit. Vor der Tür zeichneten sich Fußabdrücke ab.
Oft hatte Iwan während der Busfahrten zu diesem unheilvollen Verschlag hinaufgeblickt, doch aufgesucht hatte er ihn nie. Weshalb hatte sein Hirn ihn also hierhergeführt?
Mit beachtenswerter Eleganz erklomm Leyra mit ihren dünnen Absätzen die drei flachen Stufen zur Haustür. Flink holte sie einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und entriegelte das Schloss. Ein lautes Knarren heulte in die Nacht, als die Rothaarige die Tür öffnete. Auf einmal gleißte seichtes Licht aus dem Inneren des Hauses, gefolgt von heiterem Jazz und einem Gewirr aus Stimmen.
Verwirrt ließ Iwan seine Augen über die Außenseite der Fensterreihe rollen. Hinter dem Glas herrschte Finsternis. Ein Kontrast, der keinen Sinn ergeben wollte und es vermutlich auch nicht musste. Entscheidend war die Tatsache, dass dieses Geschehen nicht real war. Davon war er überzeugt.
»Hereinspaziert, junger Mann«, forderte Leyra ihn auf.
Er, dem die Anrede äußerst fremd vorkam, stieg die Stufen in einen spärlichen beleuchteten Flur hinauf. Eine plötzliche Übelkeit überfiel ihn. Taumelnd griff er sich an die jäh schmerzenden Schläfen.
»Unwohlsein ist eine natürliche Reaktion deines Körpers. Du hast dich noch nie derart schnell bewegt«, schilderte die Rothaarige.
Iwan beachtete ihre Worte nicht und ließ seine Augen über das Interieur wandern.
Was hatte er innerhalb dieser Mauern je vermutet? Das Ergebnis spiegelte seine genaue Erwartung wider: Ein verschmutzter Teppich klebte auf morschem Boden, nasse Mäntel tropften an der Kleiderstange und das Mobiliar setzte sich aus einem überfüllten Wandschrank, einem brüchigen Hocker und Putzutensilien zusammen, die vor einer offenstehenden Kammer in die Finsternis gähnten.
Statt modrigem Geruch aber wurde die Luft von sowohl süßen als auch herzhaften Düften erfüllt. Das Zentrum des Geschehens versteckte sich hinter einer verschlossenen Tür. Licht drang durch sattes Buntglas in den Vorraum und malte ein verzerrtes Farbenspiel auf den Boden.
Doch was sich hinter dieser Tür zum Hauptsaal verbarg, lehrte Iwans Vorstellungskraft Demut. Mit einem Knarren gab das alte Holz den Blick auf einen Ort frei, an dem sich die Nacht versteckt hielt:
Vor ihm erstreckte sich ein Raum im Stil einer Kneipe, oder zumindest ansatzweise. Die große Theke zur Rechten bot reichlich Platz zum Anstoßen, und das gewaltige Flaschenregal hinter dem Tresen sparte nicht an Auswahl. Das gesamte Mobiliar bestand ausnahmslos aus Holz: Barhocker, Tische und Stühle.
Die Aufmachung hingegen erschuf eine Atmosphäre, die nicht nur ein anderes Zeitalter skizzierte, sondern eine gänzlich andere Welt kreierte.
Ranken, die an Efeu erinnerten, kletterten über alle Wände hinweg, schmiegten sich an Flaschen im Regal, brennende Fackeln und runde, rot leuchtende Lampen, die ihre aggressive Farbe auf das Blätterwerk warfen. Baumstämme ragten aus dem Boden und verloren sich in der Decke. Lichterketten und vielseitige Notizen wanden sich um die alte Rinde. Das Highlight: Glühwürmchen schienen ihren Weg durch die Risse in der Decke gefunden zu haben und erfüllten die Räumlichkeit mit pulsierenden, tanzenden Lichtern.
Iwan nahm all die Eindrücke sowohl mit Begeisterung als auch Skepsis in sich auf. Wenngleich die Beleuchtung hier nur schwach war, so hätte sie sich draußen doch abzeichnen müssen? Das galt ebenso für das heitere Leben, das sich hier eingefunden hatte – ein weiteres Indiz der Surrealität.
Während Leyra sich ihres Mantels entledigte, schien ein Glühwürmchen Gefallen an Iwans Nähe gefunden zu haben. Genervt wedelte er es weg. Doch es blieb beharrlich und wechselte plötzlich die Farbe seines Lichterkleides. Das warme Gold wich einem intensiven Blau.
»Nicht. Das Wedeln macht sie aggressiv«, klärte Leyra ihn auf.
Iwan wollte etwas erwidern, doch ihre Kleiderwahl erregte seine Aufmerksamkeit.
Zwei lange weiße Stoffbänder wurden wie ein Kimono über Kreuz von einem schwarzen Band an ihrer Taille gehalten und fielen locker über den ebenso schwarzen Rock. Das Rot ihres Bustiers konkurrierte nicht im Entferntesten mit dem ihrer feurigen Haare. Dennoch geizte sie nicht mit Reizen, denn Leyra trug das Bustier nicht, wie üblich, unter dem Stoff, sondern darüber.
Zugegeben, Iwan hatte noch nie Feingefühl für Mode besessen – seine Garderobe setzte sich aus Sweatern, T-Shirts und Jeans in vorzugsweise dunklen Farben zusammen –, aber ein Kleidungsstil wie ihrer war ihm noch nie unter die Augen gekommen.
Offensichtlich zeichnete sich seine Irritation in seinem Gesicht ab, womöglich sogar mehr.
»Gefällt dir, was du siehst?«, neckte sie ihn vergeltend.
»Da bin ich mir noch nicht sicher.«
Daraufhin erforschten ihre Iriden seinen Leib. Wenn es keine Missbilligung war, die ihren Blick kleidete, dann war es Hohn.
»Schwarze Sweatjacke und graue Jeans. Ich bin überwältigt.«
»Wenn das mein Geburtstagsgeschenk ist, hätten wir auch in meinem Zimmer bleiben können«, befand er trocken.
»Mir ist nach einem guten Drink. Das Angebot hier ist stattlich, findest du nicht?«
»Mit einem Kaffee hätte ich dir auch dienen können.«
»Wie steht es um einen Kronram?«
»Noch nie davon gehört.«
»Niederlage.«
»Und nach ihr die Weltherrschaft.«
»Worauf genau läuft dieses Gespräch hinaus?«
Sie schmunzelte.
»Keine Ahnung. Du hast angefangen.«
Leyra schnaubte amüsiert und wandte sich in einer fremden Sprache an den Barkeeper. Iwan, der ungern die Rolle des Zuhörers spielte, suchte derweil einen Platz am Fenster auf und beobachtete die zu Boden rieselnden Schneeflocken. Der Himmel begann, sich in einen Wolkenteppich zu hüllen.
Nur selten verstand Iwan, welche Botschaften mit seinen Wahnvorstellungen verbunden waren. Diese zu hinterfragen, war ein Spiel, das er nicht gewinnen konnte. Dass er zum Denken zu müde war, hatte dennoch etwas Amüsantes, schließlich träumte er bereits. Zumindest glaubte er das.
Das dumpfe Geräusch von Glas auf Holz riss ihn aus den Gedanken. Leyra war mit zwei Krügen zu ihm zurückgekehrt, die mit einer schaumigen, blauen Flüssigkeit gefüllt waren. Iwan tanzte auf einem schmalen Grat zwischen Abneigung und Neugier. Was sein Gehirn wohl daraus machte, wenn er tatsächlich davon kostete?
Mutig beschloss er, das Risiko einzugehen.
»Habe ich deine Träume zerrissen?«, fragte sie belustigt.
»Du bist ein Teil des Traumes.«
»Tatsächlich?«
Iwan zögerte. Niemals hätte er im wachen Zustand eine so sonderbare Erscheinung zu Blatt gebracht. Seine Augen surften über die Wellen ihrer roten Haare. Üblicherweise zog er natürliche Farben den künstlichen vor. Zinnoberrotes Haar hatte er noch nie als attraktiv erachtet. Ihres hingegen hatte etwas Sonderbares, und Iwan konnte sich nicht erklären, weshalb.
»Sprich nicht mit mir über dieses Thema«, blockte er ab und erstickte seine Stimme mit einem Schluck des blauen Getränks. Bitterkeit eroberte seine Mundhöhle und wich rasch einer süßlichen, zarten Note, deren Geschmack Iwan mit nichts zu vergleichen wusste.
»Kronram. Meistens die beste Wahl für einen Jungstern«, sagte Leyra amüsiert.
Iwan wollte diese Thematik nicht weiter ausführen und räumte ein: »Ich gestehe, der Schuppen verbirgt mehr, als die Fassade vermuten lässt. Die Reise ist dir gelungen.«
»Die eigentliche Reise steht noch bevor. Aber zuerst müssen wir die Spielregeln durchgehen.«
»Regel Nummer eins: keine Reise ohne bekanntes Ziel«, eröffnete Iwan unbeeindruckt.
»Das sagte ich bereits.«
»Sterne. Das ist nicht sehr explizit.«
»Aber was wäre, wenn es möglich wäre?«
Iwan, der nicht zu Diskussionen gewillt war, entgegnete zänkisch: »Nein.«
Daraufhin hob Leyra majestätisch eine der roten Brauen. Der dadurch entstandene Blick war unbezahlbar.
»Nun … Welchen Himmelskörper würdest du gerne aufsuchen wollen, wenn es möglich wäre?«
»Den Mond Titan.«
»Du hast Geschmack«, erwiderte sie.
»Sag das noch mal.«
»Was? Du hast Geschmack?«
»Was auch immer das Ganze hier ist, für diesen Satz hat es sich gelohnt.«
Sie kicherte.
»Ach, Iwan, ich genieße unsere Konversation sehr.«
»Besser wird’s nicht.«
»Verwirf dein rationales Denken und mach Raum für die Fantasie. Wie würdest du dir Titan in Gestalt eines Menschen vorstellen? Die Rede ist von Personifizierung.«
»Ich … Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.«
»Dann tu es jetzt. Du sagtest, du glaubst an das Leben jenseits der Erde. Ich bin hier, um dir aufzuzeigen, dass es existiert und darüber hinaus durchaus erreichbar ist.«
Iwan reflektierte ihre Worte. Technik, die das Bereisen anderer Welten bewerkstelligen konnte, existierte nicht. Was also würde sein Gehirn ihm sagen, würde er es fragen?
»Und wie?«
»Kosmische Brücken. Gabelungen mehrerer Wurmlöcher. Für das menschliche Auge nicht sichtbar.«
»Die Gravitation eines Wurmlochs macht es sichtbar, ähnlich wie bei einem schwarzen Loch«, widersprach er.
»Das ist korrekt. Das gilt jedoch nicht für eine kosmische Brücke.«
Leyra nahm einen kräftigen Schluck vom Kronram und räusperte sich für Worte, die nicht nur eine Reise eröffneten, sondern ein neues Leben.
»Wir führen dieses Gespräch, weil du die Antwort auf die große Frage bist, Iwan. Der Mensch ist nicht allein. Unzählige Spezies behausen das Universum. Sterne sind weitaus mehr als bloß hübsche, pulsierende Sprenkel am Nachthimmel. Sie sind die ältesten Geschöpfe des Kosmos und die mächtigsten noch dazu. Sie sind überall daheim, sogar auf der Erde. Nur wissen sie es nicht. Nicht bis zum Erreichen ihrer Volljährigkeit. Deine Zeit, Iwan Klas, ist nun gekommen. Es ist an der Zeit, die Augen zu öffnen für das, was du tatsächlich bist: ein Stern.«
Iwan ließ die gesprochenen Wort Revue passieren, ohne sie ernst zu nehmen, räumte ihnen jedoch Achtung ein. Er spielte mit dem Feuer.
»Überzeuge mich.«
»Du hast keine Brustwarzen.«
Ein kurzer Moment der Stille. Ihre Aussage konnte ihn nicht erschüttern, schließlich war sie eine Manifestation seines Unterbewusstseins.
»Und auch keinen Bauchnabel«, erweiterte sie ihre Liste an Argumenten, die seine fehlende Menschlichkeit beweisen sollten.
Iwan grinste. Das war eine unerwartete Wendung.
»Habe ich recht?«, neckte sie ihn siegessicher.
Iwan ließ seinen Körper sprechen. Triumphierend schob er die Sweatjacke nach oben und entblößte seine Bauchdecke, inklusive Bauchnabel.
Ihr entsetzter Blick nährte ihn Genuss.
»Es steht eins zu eins. Mach weiter.«
Leyra aber zögerte.
»Wieso hast du einen Bauchnabel …?«
»Ein kleines Andenken meiner Mutter an die Geburt.«
Die Rothaarige war plötzlich gar nicht mehr empfänglich für seinen Sarkasmus.
»Du bist nicht der Sohn deiner Eltern. Sterne werden im Kern ihres Himmelskörpers geboren.«
Schweigen.