Triangulum Australe - Annika Thierbach - E-Book

Triangulum Australe E-Book

Annika Thierbach

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Beschreibung

»Bring mich zum ewig schlafenden Stern« Aus dem Nichts erscheint der mysteriöse, wunderschöne Blue und bittet Gais, ihn zum schlafenden Stern »Canis Evarum« zu bringen. Zu seinem Entsetzen muss Gais feststellen: Blue hat einen Gedächtnisverlust erlitten. Daher weiß er nicht, dass ausgerechnet er selbst Schuld am ewigen Schlaf von Canis Evarum hat. Und, dass ausgerechnet er selbst dessen Sohn, den kleinen unschuldigen »Beta« vor Jahrzehnten brutal entführt hat. Und nun bittet Blue ausgerechnet Gais, einen Nahestehenden des schlafenden Sterns, um Hilfe? Das kann nur eine Falle sein! Oder sagt Blue die Wahrheit? Hat er tatsächlich keine Erinnerungen mehr an seine Schandtat? Gais balanciert zwischen seinem unstillbaren Durst nach Rache und dem Wunsch, Blue zu glauben. Denn wenn es ihm gelingt, Blues Gedächtnis wiederherzustellen, gibt es eine Chance, den verschollenen Beta zu finden! Gais ist nicht so naiv, an Zufälle zu glauben. Und er ist erst recht nicht so naiv, sich in den geheimnisumwitterten Blue zu verlieben, nur weil er der Einzige ist, der den finsteren Gais nicht fürchtet oder meidet. Denn Gais ist ein rücksichtsloser, furchteinflößender und abstoßender Mann, an dem ein Ruf der Erhabenheit haftet. Er ist ein Monster, absolut nicht liebenswert. Oder doch?

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG: Canis Evarum

1 STERN: Blau

2 STERNE: Als die Blumen zu deinen Lügen tanzten

3 STERNE: Monster

4 STERNE: Adern

5 STERNE: Säure

6 STERNE: Elektrische Impulse

7 STERNE: Das Ende der Ewigkeit

8 STERNE: »Weil nur du mich berühren konntest«

EPILOG: Alunaria

NACHWORT: Triangulum Australe

ENZYKLOPÄDIE

LISTE RELEVANTER STERNE

LESEPROBE

STERNE

— PROLOG —

Canis Evarum

»Sternbilder haben schon viele Sterne zusammengeführt.«

Canis Evarum schwebte im endlosen Kosmos, umhüllt von einem dichten Schleier pulsierender Sterne. Das Universum. Eine unerfindliche Unendlichkeit, eine Welt, in der die Physik ihre Regeln selbst schrieb, eine Leinwand voll wunderschöner stellarer Nebel, die Heimat verschiedenster Himmelskörper, ein Uterus des Lebens.

Nahezu alle Himmelskörper im Kosmos, ganz gleich ob Sterne, Planeten, Monde oder sogar Kometen mit aktivem Kern, verfügten über einen zweiten, humanoiden Körper: humanoide Sterne, die mächtigste und älteste Spezies im Universum. Sie wurden im Inneren ihres Himmelskörpers geboren und erreichten ein Alter von bis zu mehreren Milliarden Jahren, basierend auf dem Energievorkommen des Himmelskörperkerns.

Und manche von ihnen verfügten über sonderbare Fähigkeiten. Mächte der Manipulation: Gaben. Dazu zählten die norderische Wurzel: Manipulation und Erschaffung von jeglichem Gewächs, der osterische Wind: Manipulation und Erzeugung von Winden, die süderische Flamme: Manipulation und Erzeugung von Hitze und Flammen, der süderische Donner: Manipulation und Erzeugung von Energie in Form von Donner, das westerische Nass: Manipulation von Flüssigkeiten und das westerische Eis: Manipulation und Erzeugung von Eis. Zur Ausführung war natürlich die notwendige atmosphärische Zusammensetzung nötig sowie das Vorhandensein der zu manipulieren bezweckten Materie. Sprich: Im leeren Kosmos ließ sich selbstverständlich kein Feuer oder Eis erschaffen.

Das galt jedoch nicht für die übrigen beiden Gaben. Die einzigen außerelementarischen Kräfte, die tatsächlich im absoluten Nichts ausgeübt werden konnten: die mächtige und seltene Gabe der Schutzschilderzeugung: Manipulation und Erzeugung von Schutzschilden, und die mächtigste und seltenste aller Gaben: die Weltengestaltung: Manipulation und Erzeugung von Sphären von/ auf Himmelskörpern. Sprichwörtlich: ›Terraforming‹.

›Selten‹ war kein Begriff für das Vorkommen von Sternen mit diesen beiden Gaben. Erschaffer von Schutzschilden wurden je Generation – die belief sich auf 1,8 Milliarden Jahre – sechs bis sieben Mal pro Galaxie geboren. Jede Organisation war bereit, sich die Hände schmutzig zu machen, um solche Sterne für ihre Dienste rekrutieren zu können. Und für Weltengestalter waren sie bereit, zu morden. Diese wurden je Generation nur ein Mal pro Galaxiehaufen geboren.

Aus diesem Grunde verschwieg Canis Evarum, dass er ein Erschaffer von Schutzschilden war. Gleiches galt auch für den Stern, der augenblicklich vor ihm schwebte.

Begabte konnten die Schwingungen der gleichen Gabe bei anderen Sternen spüren, und bei diesem Stern hier namens ›Betria‹ waren sie unmissverständlich präsent. Canis Evarum streckte seine Hand nach dem bläulich-weißen Licht des Gasriesen aus und verlor sich in seiner mächtigen Aura. Die Aura der Schutzschilderzeugung. Manchmal glaubte er, dass sie nach ihm rief. Wieder und wieder reiste er an, um sich darin zu verlieren. Und, um über den Stern zu wachen.

Betria hatte noch keinen humanoiden Körper, was bedeutete, dass dieser noch geboren werden würde. Und das konnte jederzeit passieren: im nächsten Moment, in einem Tag, in einem Jahr oder in einem Jahrtausend.

Canis Evarum würde da sein, wenn es soweit war. Er würde das Baby als seines großziehen und dessen Gabe zu einem Geheimnis machen. Nur so konnte er den Stern vor der Gier der von Bosheit verseuchten Herzen beschützen.

Wochen, Monate, Jahre zerfielen zu Sternstaub, in freudiger Erwartung auf die Geburt des humanoiden Körpers dieses Sterns. In dieser Zeit ließ sich Canis Evarum auf einem nahegelegenen, bevölkerten Mond nieder, fand einen Job als Mentor für Jungsterne, fand Freunde, und er fand die große Liebe. Atria war eine intellektuelle, wunderschöne Frau, mit Augen so grün wie die Wälder der Erde und Haare so schwarz wie die Nacht. Sie lernten einander kennen, weil Canis Evarums Interesse an Betria ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Denn Atria, Betria und ein dritter Stern namens Gatria bildeten zusammen ein Sternbild: ›Triangulum Australe‹.

»Sternbilder haben schon viele Sterne zusammengeführt«, hatte sie ihm gesagt.

Canis Evarum schenkte ihr sein Vertrauen und sein Herz. Sie hütete das Geheimnis um seine Gabe mit rührender und unerschütterlicher Fürsorge. Dieses Geschenk sollte auch dem humanoiden Körper Betrias zukommen. So beschlossen sie, ihn gemeinsam zu adoptieren, sobald er geboren wurde.

Und es geschah. Betria gebar einen Jungen mit Augen und Haaren so bläulich-weiß wie das Lichterkleid des Himmelskörpers selbst. Sie nannten ihn ›Beta‹.

Jahre später erschien tatsächlich der dritte und letzte Stern des Sternbildes. Atria lernte Gais, den humanoiden Körper des Sterns Gatria, auf einer Debatte kennen, bei der sie beide als Rekrut tätig waren. Dort begegnete sie ihm mit den selben Worten, die sie Canis Evarum bei ihrem ersten Treffen ans Herz gelegt hatte: »Sternbilder haben schon viele Sterne zusammengeführt.« Aus dieser belanglosen Bemerkung entwickelte sich eine Freundschaft, und so luden Atria und Canis Evarum Gais dazu ein, ihren kleinen Sohn Beta kennenzulernen.

Aber das Treffen fand nie statt.

Noch am Tag der Verabredung erschien ein verhüllter, maskierter Mann und versuchte gewaltsam, das Kind an sich zu reißen. Beispiellose Panik erschütterte die Eltern, als der Maskierte ihr Haus mit einer Druckwelle attackierte und mit einem finsteren Schatten voraus in den Trümmern erschien.

Um die beiden, die er am meisten liebte, zu beschützen, sah Canis Evarum sich dazu gezwungen, seine Gabe zu offenbaren. Und doch er war zu schwach. Seine Schilde waren nicht stark genug, um den Attacken des mächtigen Widersachers standzuhalten. So geriet der kleine Beta in die Hände des Entführers. Der verzweifelte Vater nahm noch die Verfolgung auf, aber das Schicksal hatte sich für die Seite des Maskierten entschieden.

Canis Evarum fiel im Zuge des Gefechts in einen unerklärlichen, ewigen Schlaf, und Beta blieb seither verschollen.

— 1 STERN —

Blau

Blues Lächeln war abscheulich. Es verlieh ihm etwas Jungenhaftes und darüber hinaus etwas Unschuldiges, wohingegen in Wahrheit so ein boshaftes Monster in ihm steckte. … Und es war so wunderschön wie kein Juwel je schillern konnte.

Lange Beine in schweren Schuhen trugen Gais durch die großen, prunkvollen Hallen des Parlamentsgebäudes. Der humanoide Stern brandete durch eine hektische Menge, deren zahlreiche Stimmen und schnellen Schritte an den hohen Wänden widerhallten. Gais blieb einen Augenblick stehen und nahm den eigentümlichen Duft des Gemäuers in sich auf. Das dunkelgraue Gestein der Wände, das von lichten, grünen Ranken überzogen und von knisternden Fackeln in ein Sonnenuntergangsorange getunkt wurde, roch mineralisch, nach einer Meeresbrise und nach Arbeit.

Dies war ein Ort der lauten Stimmen. Hier nahm Gais regelmäßig an emotionsgeballten Debatten teil, die sich mit der Aufnahme von potenziell geeigneten Planeten für den föderalen Kosmos beschäftigten, wie auch heute. Gais war ein Rekrut für die Föderation, einem intergalaktischen Netzwerk, welches zugehörige Himmelskörper mit Ressourcen versorgte und sie mit anderen Sektoren1 im Universum mittels Wurmlöchern oder Wurmlochkreuzungen verband. Doch bevor es zu einer Debatte kam, musste erst ausführliche Vorarbeit geleistet werden. Der erste Schritt bestand darin, geeignete Himmelskörper im Kosmos zu finden, danach wurden sie umfassend analysiert. Die Schwerpunkte, die das Für und Wider einer Aufnahme in den föderalen Kosmos bestimmten, lauteten unter anderem: Waren die Werte der wohnhaften Spezies mit denen der Sterne im Einklang? Falls nein: War man der Auffassung, dass sich die Spezies dem intergalaktischen Regelwerk beugen würde? Wie war der Bestand der Rohstoffe? Wie entwickelte sich das Klima? Drohten Gefahren aus dem Kosmos, wie zum Beispiel Sonnenwinde, veränderliche Strahlung oder Kometen?

Der letzte Schritt von Gais‘ Arbeit mündete dann schließlich in einer Debatte um den auserwählten Himmelskörper. Dort setzte er sich für die Aufnahme in die Föderation ein, indem er den Richtern die Vorteile dessen schmackhaft redete und Gegenstimmen mithilfe von weiteren Rekruten, die seine Meinung vertraten, mundtot machte.

Gais liebte seinen Job, und das lag nicht nur daran, dass er ausgesprochen talentiert darin war. Er kleidete sich gerne in die erzürnten Blicke derer, die er niedertrampelte.

Die bevorstehende Debatte beschäftigte sich mit dem Planeten Ora. Die dort hausierende Spezies litt an einer alarmierenden Rohstoffknappheit, die bereits Armut, Krieg und Tod verursacht hatte. Die Bevölkerung war im Gange, sich selbst auszulöschen. Und welche Spezies war derart für ihr ehrloses und unvergleichlich dummes Raubtierverhalten bekannt, als die Menschen?

Das würde kein einfacher Kampf werden. Mit Gais, der unter Menschen aufgewachsen war und deshalb auch ihre guten Werte kannte, hatte seine Partei zwar einen wertvollen Kandidaten in ihren Reihen, doch ihre Gewinnchance war in etwa so sicher wie eine marode Brücke, die sich über eine hohe Schlucht spannte. Ein falsches Argument glich einem Einsturz. Denn kaum eine Spezies war im Universum so verhasst wie die Menschen. Selbst Gais konnte nicht leugnen, dass sie in jeder Galaxie weit oben auf der Liste der verdammten Spezies prangten.

Gemischtes Gemurmel, heiteres Gerede und hiesige Diskussionen verstummten augenblicklich, als der Mann mit dem weinroten Haar und den bernsteinfarbenen Augen eintrat. Gais, der humanoide Körper des Sterns Gatria, war für sein barbarisches Temperament bekannt. Ganz gleich, über welche Türschwelle er trat, schickte er eine Welle beklemmender Stille voraus, auf die häufig Seufzer, verdrehte Augen und Geflüster folgten. Der Vollstern2 selbst – ein ausgewachsener humanoider Stern – stritt sein rücksichtsloses Mundwerk, sein Desinteresse an den Worten und der Meinung anderer und sein forsches Auftreten nicht ab. Alternativ ließ sich sein Verhalten auch mit den Worten ›schonungslos ehrlich‹ definieren. Die perfekten Eigenschaften für einen respektierten und gefürchteten Rekruten.

Und die miserabelsten Eigenschaften für einen gerne gesehenen Freund in privatem Kreise. Nur die Wenigsten wussten mit seiner Art umzugehen. Der Rest war Gesindel. Heuchler, die Ehrlichkeit großkotzig anpriesen, mit ihr aber nicht umzugehen wussten, sobald sie ihren persönlichen Auffassungen widersprach oder ihnen selbst gegenüber nicht löblich gesinnt war.

Gais scherte sich nicht um sie. Solche Trottel würde er ohnehin nicht in den Kreis derer mitaufnehmen, mit denen er sich freiwillig abgab. In seinen Augen waren die meisten der hier Anwesenden oberflächliche Geschöpfe. Sterne, die sich etwas darauf einbildeten, der mächtigsten Spezies im Universum anzugehören, deren Kompetenz als Rekrut sich jedoch mit dem Nutzen eines Megafons im Vakuum vergleichen ließ.

Die Blicke der anderen mit einem Gemisch aus Stolz und Desinteresse ignorierend, ließ er sich auf einem freien Stuhl nieder.

Die Halle war groß und hell. Prunkvolle Säulen, gehauen aus blankem, weißem Gestein, trugen die mit Buntglasmosaik verzierte Decke. Bepflanzte Schalen standen in den Ecken, opulente Gemälde schmückten die Wände und eine digitale Projektion eines Sonnensystems über den Köpfen hauchte dem Raum ein Stück Unendlichkeit ein. Der Duft des Gesteins wurde hier jedoch von Getränken, Parfüms und den eigentümlichen Noten der Anwesenden überdeckt.

Gais überbrückte die Zeit bis zur offiziellen Eröffnung mit geschlossenen Augenlidern und suchte nach dem Klang seines Herzschlags in seinen Ohren. Die vielen Stimmen der Angereisten prallten an ihm ab wie Wellen, die an einem unüberwindbaren Felsen brandeten.

Nachdem der Einführungsvortrag der Richter beendet war und die Rekruten zur Vorlage ihrer Argumente aufgefordert wurden, ließ Gais den anderen den Vorrang. Das tat er nicht aus Güte, sondern vielmehr, um sie bloßzustellen. Denn ihre Mühen waren immerzu vergebens, weil Gais sie im Anschluss ohnehin verbal ausschlachtete. Und sie alle wussten das. Sie wussten, dass Gais sie mit Absicht eine thesenreiche Schlacht ausrichten ließ, nur um im Anschluss, wenn sie glaubten, zu gewinnen, all ihre Errungenschaften mühelos zu zertrampeln. Es war, als würde er sich bei einem Wettrennen nach dem Startschuss absichtlich auf den letzten Platz fallen lassen, um seinen Kontrahenten dabei zuzusehen, wie sie sich verzweifelt um den ersten Platz bemühten. Denn letztendlich überholte er sie dennoch alle mühelos und überquerte entspannt als Erster die Ziellinie. Und er labte sich an ihrer Demütigung.

Nachdem alle anderen Teilnehmer ihre Zustimmungen oder Widersprüche geteilt hatten, erhob sich Gais von seinem Stuhl und ließ seine Augen über die angespannten Gesichter wandern, bis sie den Blick der Richter einfingen.

Daraufhin schallte Gais‘ bassgeschwängerte Stimme durch den Saal.

»Wissen Sie, ich liebe meinen Job. Hitzige Wortgefechte, ein erbitterter Kampf um Gleichberechtigung. Wie Sie sicher alle wissen …« Gais spürte die brüskierten Blicke auf seinem Haupt, die sein betontes Wort beschworen hatte. »Aber diese Debatte ist eine reine Verschwendung von Zeit, Personal und einer Menge Geld, die so manchem hier für ein ordentliches Mundwasser zugute käme.« Er fuhr fort: »Die für Ora benötigten Rohstoffe haben für uns Sterne weder einen finanziellen noch einen lebensnotwendigen Wert. Wir erleiden keinerlei Verluste, wenn wir sie den Menschen zur Verfügung stellen, ungeachtet dessen, ob sie sich an das Vertragsabkommen halten oder nicht. Im Gegenteil: Sollten sie sich trotz unserer Rohstoffspenden dennoch unserem Regelwerk verweigern und sich selbst zugrunde richten, speisen wir die Widersacher in den heutigen Reihen, sprich: die Menschenhasser, mit einer weiteren Darbietung über den miserablen Charakter der Menschen, an der sie sich ergötzen können. Und die Föderation, der Stifter der Rohstoffe, wird so oder so als ›großherziger Spender mit kompromissloser Hilfsbereitschaft‹ gefeiert, ganz gleich, was die Menschen aus den Gaben machen.

Eine Ablehnung des heute debattierten Antrags hingegen würde als Geldverschwendung erachtet werden und keiner der hier anwesenden Parteien schmeicheln. Mit der Aussicht darauf, dass die Rohstoffspende keinen Defizit für uns darstellt, ist eine Zusage der Maßnahme ein Gewinn für beide Seiten. Also, warum verschwenden wir hier unsere Zeit?«

Ein bunt gemischter Cocktail aus euphorischer Zustimmung, Verwunderung bis hin zu Empörung ergoss sich über die Anwesenden. Anschließend verloren sich alle in gedämpfte Gespräche, um sich über die provokanten Worte auszutauschen. Gais ließ sie gewähren, labte sich jedoch auch an dem Druck, den er auf die Tuschelnden ausübte, indem er sich nicht wieder hinsetzte, sondern mit gestrafften Schultern und einem furchtlosen Blick einfach stehen blieb. Der Vollstern war sich der Einschüchterung, die sein Auftreten beschwor, bewusst und nutzte das nicht selten aus.

Trotz seines abscheuumwitterten Rufs, der an ihm haftete wie der Schatten an seinen Füßen – taktlos, rücksichtslos, abstoßend –, waren Gais‘ Fähigkeiten als Rekrut sowohl von Gleichstimmigen als auch von gegnerischen Parteien unbestritten und hochgeschätzt. So genoss er die Ehre, nicht nur im Dienste der Föderation zu stehen, sondern auch ein Mitglied des Rats der Milchstraße – die politische Spitze der Galaxie – zu vertreten: Sirius. Gais‘ enge Verbundenheit mit diesem namhaften Stern, der über mehrere Galaxien hinaus mit Ehrwürdigkeit und Anerkennung angepriesen wurde, verlieh ihm eine zusätzliche Autorität.

Unbesiegbar machte ihn das natürlich nicht. Aber diese Debatte hier entschied er mit hoher Einstimmigkeit für sich und seine Partei. Nach zahlreichen Worten des Lobs von Rekruten aus seinen Reihen sowie boshaften Blicken aus gegnerischen Reihen, suchte er im Anschluss das hauseigene Restaurant auf.

Gais gehörte zu den Sternen, die seltener als häufiger aßen, allerdings war er kein Verächter von köstlichen Getränken. Mit einem Halm zwischen seinen Lippen navigierte er sich durch sein B-Ablem, dem kleinen Computer, der mittels eines Armbands um sein Handgelenk gebunden war, um seinem Auftraggeber bei der Föderation einen Bericht über den Ausgang der Debatte zu erstatten. Die verärgerten Blicke einer vierköpfigen Gruppe, die soeben über die Schwelle des Lokals getreten war, entgingen ihm währenddessen nicht. Der große Tisch, an dem er saß, war der Einzige, der nicht voll besetzt war, und bot noch Platz für reichlich Personen. Aber sie verließen das Restaurant wieder.

Niemand setzte sich zu Gais. Nie. Er trank stets alleine.

Nicht, dass ihn das störte oder gar kränkte. Er genoss die Gesellschaft seiner selbst, lauschte gerne dem Echo seiner eigenen Gedanken und genoss die Freiheit, keinem geistlosen Geschwätz und schamloser Heuchelei lauschen zu müssen.

So lehnte er sich zurück, schloss seine Augen und verlor sich in einer fernen Welt, die nur ihm gehörte. Das Pfeifen des seichten Windes, der die Baumkronen erzittern ließ, das Rauschen des Meeres, dessen Wellen hart gegen die Brandung schlugen, eine violette Aurora, welche den Himmel der Polarnächte erleuchtete. Gais wanderte durch Bilder in seinem Kopf und befreite die darunterliegende Sehnsucht, wieder nach Hause zurückkehren zu wollen. So schlug er seine Augenlider wieder auf und … Blau. Plötzlich erstreckte sich vor ihm ein Ozean aus unendlichem Blau.

Vor ihm saß ein junger Mann mit einem fremden Gesicht. Gais‘ verwirrter Blick wurde von einem Paar Iriden aufgefangen, die blauer waren als Chalkanthit-Kristalle, blauer waren, als Polarlichter leuchten konnten, und blauer waren, als jedes Blau, das er je gesehen hatte. Sie sahen aus wie ein Bildfehler, wie eine amateurhafte Fotomanipulation, in der das Sättigungsverhältnis nicht eingehalten worden war. Wenn ein Paradoxon ein Gesicht tragen würde, dann wären es diese irre blauen Iriden, die ihn anstarrten. Sie wurden von einem dichten Fächer ebenso blauer Wimpern eingerahmt, beschützt von einem Bogen blauer Brauen, und das kurze, wellige Haar kleidete sich ebenfalls in dieser satten Nuance. Die blasse Haut bildete einen harmonischen Kontrast und betonte die zarten Gesichtszüge des Mannes.

Er war hübsch. Ausgesprochen hübsch. Seine kleine Nase verlieh ihm etwas Jungenhaftes, während seine Lippen zum Küssen einluden. Eine schmale, geschwungene Oberlippe saß auf einer voluminösen Unterlippe, dessen Falten ganz zarte Schatten warfen. Die Schönheit dieses Mannes war ja fast schon ekelerregend, als Ergänzung für wilde Bettgeschichten allerdings genügsam.

»Ich grüße3 «, sagte Gais knapp und leerte sein Glas.

»Ich grüße«, entgegnete der Unbekannte.

»Keinen besseren Platz gefunden?«, fragte der Vollstern provokant.

Der Fremde ließ seine Worte unbeantwortet in der lauten Geräuschkulisse untergehen und warf stattdessen seine helle Kapuze zurück, um sich einer Halskette zu erleichtern. Diese legte er anschließend auf den Tisch, und Gais erkannte sofort, worum es sich bei dem Anhänger handelte: Es war ein ›Behälter der ewig Lebenden‹.

Wenn Sterne starben, zersetzten sie sich nicht, sie zerfielen zu Sternstaub. Traditionell wurde dieser nach einer kleinen Abschiedszeremonie im Kosmos zerstreut – dieser Brauch besagte, dass die Essenz der Sterne an das Universum ›zurückgegeben‹ wurde –, und Nahestehenden wurde ein Fingerhut des Sternstaubs überlassen. Dieser konnte wahlweise im eigenen Heim aufbewahrt oder in ein klares Behältnis gefüllt werden, um den Verstorbenen immer am Leib tragen zu können.

»Ich mache es kurz: Ich brauche deine Hilfe«, eröffnete der Blauhaarige. »Gais vom Stern Gatria, du bist ein Vertrauter von Atria vom Stern Atria, der Lebensgefährtin von Canis Evarum, dem ewig schlafenden Stern.«

Gais‘ Nerven erzitterten, als all diese Namen an seinen Ohren schabten.

»Das hier Anny, meine Mutter«, fuhr der Blauhaarige fort und strich mit seinen in Handschuhen steckenden, schlanken Fingern, die je vier statt drei Gelenke hatten, über den filigranen Anhänger. »Sie kannte Canis Evarum, aber sie konnte ihn nie besuchen, weil sie zu schwach war, um Wurmlöcher oder kosmische Brücken4 zu bereisen. Jetzt, da sie tot ist, möchte ich ihr diesen letzten Wunsch erfüllen und sie zu ihm bringen.«

Gais verstand, welches Anliegen der Fremde an ihn hatte.

»Und du möchtest, dass ich dich zu ihm führe?«

»Der Ort seiner Ruhestätte ist ein gut gehütetes Geheimnis – nicht, dass ich das beklagen möchte. Nur die Wenigsten wissen, wo er ruht, und ich bezweifle, dass du nicht zu diesen Wenigen gehörst.«

Gais schämte sich seines spöttischen Schnaubens nicht.

»Da vermutest du korrekt. Und, kannst du dir auch vorstellen, wie meine Antwort lautet, Fremder?« Das letzte Wort betonte er bedeutungsschwanger. »Glaubst du, dass ich jeden Dahergelaufenen voll Inbrunst zu Canis Evarum führe, der von verstorbenen Angehörigen schwadroniert? Es gibt einen guten Grund, warum seine Ruhestätte weder einen Namen noch eine Wegbeschreibung hat.«

Der Fremde brachte Gais‘ respektlosen Worten gegenüber seiner verstorbenen Mutter bloß Schweigen und ein unberührtes Antlitz entgegen.

»Dein Misstrauen ist berechtigt«, stimmte der Unbekannte zu. »Das kann ich dir hier und jetzt weder mit Worten noch mit Taten nehmen. Das kann nur die Zeit. Die Zeit, die wir brauchen, um zu ihm zu reisen.«

Gais lächelte amüsiert.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob du beneidenswert naiv oder ausgesprochen dumm bist.«

Auch diese schroffe Äußerung ließ der Blauhaarige unkommentiert.

»Ich habe lange überlegt, was ich dir im Gegenzug geben kann. Aber da ich dich nicht kenne, kam ich zu keiner Antwort.«

»Dann lass mich dir jetzt eine geben: Nein.«

Anstatt aufzustehen, wie der Fremde es an dieser Stelle vermutlich von Gais erwartete, um seinen letzten Worten Festigkeit zu verschaffen, lehnte sich der Vollstern entspannt zurück. Und anstatt zu betteln, wie Gais es von dem Unbekannten erwartete, griff dieser kommentarlos nach seiner Kette, legte sie sich wieder um und erhob sich!

»Danke für deine Zeit«, sagte er daraufhin mit solch einer Gleichgültigkeit, dass Gais begann, einen inneren Monolog darüber zu führen, ob der Fremde ein brillanter Schauspieler war oder erstaunlich wenig Enthusiasmus für sein Vorhaben aufbrachte.

Der Vollstern wollte seiner Skepsis Worte verleihen, als seine Augen plötzlich über ein Mineral stolperten, das ebenfalls an dem Hals des Blauhaarigen hing. Ein Mineral, dessen Gestalt in seinen alten Erinnerungen noch sehr präsent war: Feine Kanten ragten aus einem schillernden, silbernen Körper heraus, deren Spitzen entweder lila-bläulich schimmerten oder in ein mattes Schwarz liefen, das jegliches Licht zu verschlingen schien. Ein Estazorolith. Der Anblick des Steins beschwor Bilder von Pein in Gais herauf. Denn genau so einen hatte einst der Maskierte getragen, der vor über 20 Jahren Canis Evarums Sohn Beta entführt hatte.

Estazorolithen waren sehr eigenwillige Mineralien. Sie wollten nur von der Person getragen und berührt werden, auf die sie sich prägten – die unwiderrufbare Bindung zwischen Mineral und Träger. Jeder andere, dessen Finger die kalte Oberfläche des Steins auch nur streifte, erlitt schwere Attacken von Schwindel bis hin zu Halluzinationen. Gais erinnerte sich kristallklar daran, wie das Bild um ihn herum sich zu drehen begonnen hatte sowie die Hitze in seinen schmerzenden Schläfen und die vielen surrealen Farben, die er im Zuge des Wahns gesehen hatte. So war es dem Kriminellen damals gelungen, ihn als auch Atria aus dem Weg zu räumen, Canis Evarum in ein Koma zu stoßen und den unschuldigen Beta zu entführen.

Diese Erinnerungen kletterten manchmal noch immer in die tiefsten Ebenen von Gais‘ Träumen hinab und tränkten ihn mit Verbitterung. Noch heute gab es keine Antwort auf Fragen wie: Hätte er mehr gegen den Maskierten ausrichten können? Warum war Canis Evarum in einen ewigen Schlaf gefallen? Und am wichtigsten natürlich: Wo war Beta nun? Lebte er überhaupt noch?

Die langen Finger des Blauhaarigen warfen einen Schatten auf das Mineral, der sich zwischen den Erhöhungen und Vertiefungen des Steins aalte wie eine hungrige Schlange. Von Gais‘ finsteren Gedanken nichts ahnend, schob der Fremde die Kette mit dem ›Behälter der ewig Lebenden‹ wieder unter sein Shirt.

Zu ähnlich.

Da war eine Kerbe im Mineral. Eine Kerbe, die Gais auf schauderliche Weise vertraut war.

Plötzlich begriff er es. Dieser Estazorolith sah dem des Entführers nicht nur ähnlich, das war der selbe Estazorolith!

Ein heißer Schauer ließ Gais‘ Nerven erzittern. Seine Organe zogen sich vor Schreck zusammen, während Skepsis und Wut in ihm miteinander zu rangeln begannen.

Er blinzelte mehrere Male, als glaubte er, damit ein Trugbild verdrängen zu können, doch die Gestalt des Minerals blieb unverändert. Noch bevor seine Sinne wieder zu sich gekommen waren, griff er nach der Hand des Fremden, die den Stein wieder unter dem Stoff seiner Kleidung verstecken wollte. Der Blauhaarige hielt in seiner Bewegung inne und beäugte Gais mit einem Blick, der einer leblosen Puppe hätte gehören können.

»Dieser Stein … Wo hast du ihn her?«

Die irre blauen Augen des Fremden ruhten zwar auf den Bernsteiniriden des Vollsterns, doch es erschien so, als würde er Gais gar nicht ansehen. Im Blick des Unbekannten lag eine undefinierbare Leere, die ein eigenartiges Gefühl von Einsamkeit in Gais‘ hinaufbeschwor.

»Ich trage ihn, seit ich mich erinnern kann«, entgegnete er.

»Ich habe dich gefragt, wo du ihn herhast.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Deine Eltern?«, drängte Gais ungeduldig weiter, während seine Finger sich in die Handschuhe des anderen zu bohren begannen. »Haben deine Eltern ihn dir geschenkt?«

»Nein.«

Dieses Desinteresse des Mannes warf Fragen auf. Und Kohlen in Gais‘ Ofen der Wut. Nicht nur hinterfragte der Blauhaarige die Neugier des Vollsterns nicht, er begegnete ihr zudem auch mit Antworten, die knapper nicht sein konnten. Da war keine Regung in seinem Gesicht. Keine Zweifel, keine Reue, keine Scham.

Er war es!

»Du willst mir sagen, dass niemand dir dieses Mineral überreicht hat und es seit deiner Geburt einfach an deinem Hals hängt, oder was?«

Er war der Entführer Betas!

»Ich leide an Amnesie«, sagte der Fremde plötzlich.

Damit hatte Gais nicht gerechnet. Vielmehr hatte er geglaubt, komplexen und ausgefeilten Lügenkonstrukten zu begegnen, sollte der Entführer Betas je das Wort an ihn richten. Eine Maske anzutreffen, welche die Schuld verbergen sollte. Ein Geniestreich der Verschleierung. Stattdessen bediente der Verbrecher sich an einem derart einfallslosen Klischee? Amnesie? Ernsthaft jetzt?!

Unwissentlich lockerte Gais seinen Griff, woraufhin der Fremde seine Hand befreite und das Mineral unter sein Shirt schob.

»Ich habe einen Gedächtnisverlust erlitten, und meine ältesten Erinnerungen gehen auf Tage zurück, an denen ich ihn bereits an meinem Leib getragen habe.«

Der Vollstern schnaubte und fühlte sich zwischen Spott und Verachtung hin- und hergerissen.

Er war es!

Er war es!

Er war es!

Der Mann, der Canis Evarum in einen ewigen Schlaf gestürzt und seinen Sohn wegen dessen Gabe entführt hatte, stand augenblicklich vor ihm! Frei von jeglicher Emotion, dafür gekleidet in ein Schaubild eines unschuldigen Antlitzes.

Augenblicklich überkam Gais der Drang, dem Fremden an Ort und Stelle die Innereien aus dem Körper zu ziehen. Nur, um sie ihm dann in den Rachen zu schieben, damit er lernte, was es bedeutete, Müll zu fressen.

Aber das konnte er nicht tun. Nicht etwa wegen Nachsicht, nein. Sondern, weil er taktisch vorgehen musste. Wenngleich der Gedanke an Vergeltung ihn zu verführen versuchte, appellierte sein Verstand an ihn, dass es schlauer war, den Fremden zu benutzen. Ganz gleich, ob der Kerl nun log oder nicht – und das tat er definitiv! – war er nicht nur der erste Hinweis auf Betas Verbleib, er war auch ein direkter Wegweiser zu dem Verschollenen!

Der Vollstern versuchte, sich zu beruhigen. Er durfte nicht aus einem Impuls heraus handeln und musste die Fassung bewahren!

Aber wie sollte er vorgehen? Und noch viel wichtiger war: Wie gelang es ihm, seinen Durst nach Rache dauerhaft zu unterdrücken?

»Ich verabschiede mich«, sagte der verabscheuungswürdige Entführer auf einmal.

»Warte!«, hielt Gais ihn auf. »Ich …«

Er zögerte.

Der Fremde schob seine Kapuze über seinen blauen Schopf und sah den Vollstern an, als erwartete er gar nicht erst, dass Gais weiterredete.

»Ich bringe dich zu ihm«, verkündete der Vollstern und prüfte die Reaktion des Fremden genau.

Aber die irre blauen Augen sahen ihn bloß für einen Moment lang an, und Gais scheiterte brachiat, auch nur eine einzige Emotion aus ihnen zu lesen. Im Anschluss wandte sich der Unbekannte nach einem simplen »Einverstanden« ab und schlenderte aus dem Lokal, als hätte er Gais nicht mal eben unwissentlich seine verschleierte, abscheuliche Identität bekanntgegeben.

Dabei fielen Gais zwei Dinge auf. Erstens: Die anderen Gäste des Lokals sahen dem Fremden mit einem Blick hinterher, der annehmen ließ, dass keine Unterwäsche in diesem Raum noch trocken war. Der Blauschopf war gutaussehend, das konnte der Vollstern nicht leugnen, aber diese Vakuumverpackungen hier schmachteten ihn an, als bräuchten sie medizinische Unterstützung, um nicht gleich über ihn herzufallen.

Zweitens: Der Fremde wirkte wie jemand, der jegliches Geschehen in seiner Umwelt überhaupt nicht wahrnahm, wohingegen ihm in Wahrheit gar nichts entging.

Gais begriff, dass von diesem Mann eine unabdingbare Gefahr ausging. Was waren seine wahren Absichten? Wollte er Canis Evarum aufsuchen, um seinen Mord an ihm zu vollenden? Oder um ihn aus seinem Schlaf zu wecken, nur um ihn dann zu quälen?

Welche Qual war schon größer, als aus einem Koma zu erwachen und zu lernen, dass das einzige Kind sich in den Fängen eines geisteskranken Psychopathen befand? Konnte er Canis Evarums Schlaf überhaupt beenden? Das war in den vergangenen Jahren niemandem gelungen, und die Versuche daran hatten wirklich jegliche Experimentierfreude und Risikobereitschaft abgedeckt, die man sich nur vorstellen konnte.

Und wenn der Mann tatsächlich einen Gedächtnisverlust erlitten hatte?

Diese Möglichkeit einzukalkulieren ging nicht ohne ein Gerangel zwischen seinem Verstand und seinem Ego einher. Gais wollte ihn verachten, dennoch hielt er die Erwägung nicht für verschwendet. Mehr noch: Sie brachte neue Möglichkeiten mit sich. Wenn es Gais gelang, das Gedächtnis des Abtrünnigen wiederherzustellen, Erinnerung um Erinnerung, würde er sich damit den Weg zum verschollenen Beta freischaufeln. Entscheidend dabei war aber, den damit verbundenen Hass des Entführers, den Grund für seine Schandtat, auszuklammern, sonst würde der Blauschopf Gais wohl kaum zu seinem Entführungsopfer geleiten.

Vorausgesetzt, dass der Fremde wirklich die Wahrheit sagte.

Vorausgesetzt, dass Gais kein weiteres Mal an ihm scheiterte.

Vorausgesetzt, dass Beta überhaupt noch am Leben war …

Der Vollstern wusste, dass es noch zu früh war, seine Gedanken nach ›wahrscheinlich‹ und ›unwahrscheinlich‹ zu sortieren. Dafür brauchte er mehr Informationen, mehr Zeit, musste den anderen studieren. Ihn mit einem wachsamen Auge stets nahe bei sich halten und jeden seiner Schritte kontrollieren. Und dafür eignete sich die Dauer der bevorstehenden Reise bestens.

Wer wusste, welchen Weg der Blauschopf sonst einzuschlagen bereit war, um Canis Evarum zu finden?

Das würde Gais verhindern! Der Vollstern erhob sich, während sein Beschluss an Festigkeit gewann: So oder so würde er den Fremden nicht zum Ruheort von Canis Evarum bringen, sondern ihn der Sternallianz5 aushändigen, wie ein gebratenes Stück Fleisch an eine hungernde Bestie.

Der Vollstern beglich die Rechnung für die Getränke und trat eilig vor das Lokal, bevor seine einmalige Gelegenheit beschloss, woanders Fuß zu fassen. Dort ließ er seinen Blick über die Szenerie schweifen. Nicht nur musste er den Fremden in der Masse der vielen Passanten finden, auch die Reizüberflutung dieser Einkaufspassage verlangte einiges von ihm ab: Prunkvolle Gebäudefronten schmiegten sich an gepflasterte Wege, die von Kandelabern und Laternen beleuchtet wurden. Die blühenden Klettergewächse, die plätschernden Brunnen und die Vielzahl an Werbeschildern taten ihr übriges, um Gais‘ Sinne überzustrapazieren.

Gefunden! Der Blauschopf stand etwas abseits an einem aus Stein gefertigten Geländer, das sich um ein Geschäft für Duftöle zäunte. Obwohl sein Oberkörper in weit geschnittene Kleidung gehüllt war, verrieten seine langen, dünnen Beine seine zierliche Statur. Und doch wirkte er alles andere als schwach. Entweder war es seine Haltung, die diese nicht ins Bild passende Stärke ausstrahlte, oder es war das Wissen über die Boshaftigkeit, die in ihm lauerte.

Der Vollstern nahm einen Atemzug, um sein außer Fassung geratenes Ich zu zähmen, bis sein Gespür für Vernunft wieder hergestellt war. Diese Chance würde sich so schnell nicht mehr ergeben, drum durften seine Gefühle jetzt nicht über seine Taten bestimmen!

Mit sortierten Emotionen trat er an den Blauschopf heran, woraufhin sich ihre Augen wieder begegneten. Erneut zuckte Gais‘ Herz kurz zusammen, als er diese irre blauen Iriden erblickte. Noch immer sahen sie aus wie ein Bildfehler, an den er sich noch nicht gewöhnt hatte.

»Wie du dir vorstellen kannst, stehen hinter jeder Abmachung Bedingungen, und davon habe ich einige«, eröffnete Gais sein Anliegen. »Hauptsächlich begleite ich dich, damit ich dich im Auge hab, Fremder. Aus keinem einzigen anderen Grund. Die Geschichte mit deiner Mutter tut mir leid, aber sie interessiert mich nicht.«

Gais log nie. Wenn er redete, kletterte lediglich die Wahrheit über seine Lippen, Hand in Hand mit Schonungslosigkeit, für die er sich nicht im geringsten schämte. »Für die letzte Etappe der Reise werde ich deine Augen verbinden und dein B-Ablem herunterfahren, um sicherzustellen, dass du die genaue Position nicht erörtern kannst. Dann tust du, was immer du tun musst, damit deine Mutter im Universum der Toten glücklich ist, und dann verschwinden wir wieder. Verstanden?«

Na gut, jetzt hatte er gelogen.

Wieder sah der Fremde ihn für einen Augenblick mit seinen beißend blauen Iriden schweigend an, als versuchte er, einen Blick hinter den Vorhang von Gais‘ Worten zu werfen. Dabei gab es aber keinen Vorhang, der Gais‘ Absichten verhüllte. Anders als alle anderen Individuen, ging er ausgesprochen offen mit seinen Gedanken um.

»Verstanden«, entgegnete der Blauschopf knapp.

»Wie ist dein Name?«, wollte Gais wissen. »Und kein ›Namen sind Waffen ‹-Geschwafel.«

Er konnte es kaum erwarten, den Namen des Mannes zu erfahren, dessen Seele von Canis Evarums blutigen Handabdrücken verunreinigt war.

»Blue.«

Blue. Na, wenn das mal nicht passend war.

»Wann willst du los?«, fragte Gais weiter.

»Wann immer du bereit bist.«

Blues zarte Stimme war ein schmutziger Kontrast zu der Abscheulichkeit, die in ihm wohnte.

Gais schnaubte verächtlich, bevor er sagte: »Wir reisen zuerst nach Kestor. Für eine so lange Reise brauche ich ein paar Sachen. Und du kommst mit, damit ich dich im Auge habe.«

Wie zu erwarten, kommentierte Blue Gais‘ Aussage nicht, die eigentlich schon mit einer Beleidigung einherging, und starrte ihn weiterhin mit seinem emotionsleeren Gesicht an. Gab es denn gar nichts, das auch nur die kleinste Zuckung seiner Gesichtsmuskeln provozierte?

»Lächel mal«, hörte Gais sich plötzlich sagen.

Im Anschluss war er selbst derjenige, der irritiert den anderen anstarrte.

»Bring mich dazu«, sagte Blue nur.

»Denk an was schönes?«

Blues starres Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Was stimmte mit diesem Kerl nicht?

Egal.

»Mir nach, Blauschopf.«

Während der mehrstündigen Reise zum Planeten Kestor, auf dem Gais wohnte, stellte sich der Vollstern mehrere Male die Frage, ob es ratsam war, dem Entführer Betas Eintritt in seine Behausung zu verschaffen. Wer wusste, wozu er diese Information nutzen konnte? Doch er war immer wieder zu dem Beschluss gekommen, dass dieser Bengel es nicht verdiente, Angst in ihm zu schüren.

Die letzte kosmische Brücke führte sie in die ›Lifa-Grotte‹ auf dem Planeten Kestor. Als Gais aus dem felsigen Verschlag hervortrat, erstreckte sich vor ihm eine Szenerie, die er gegen keine andere eintauschen würde.

Dieser Planet rühmte sich in der Hochschätzung seiner einzigartigen Wälder. Dank des extrem hohen Sauerstoffgehalts und weiteren edlen Gasen, aus denen sich die Atmosphäre zusammensetzte, ragten die kestrischen Bäume bis zu mehrere Kilometer in die Höhe, und deren Stämme erreichten einen Durchmesser von über 7.000 Fußlängen. Ihre mächtigen Astwerke boten sowohl Tieren als auch Sternen ausreichend Wohnraum. Während andere die Böden bevorzugten – insbesondere Familien mit Kindern –, wohnte Gais in der Höhe. Eines aber hatten alle Kestrier gemein: Sie lehnten die moderne Lebenskultur ab. Keine versmogten Städte mit ihren Hochhäusern, ihren bunten Leuchtreklamen und der hohen Bevölkerungsdichte, die solch ein geballter Raum zwangsweise mit sich brachte. Sowohl dieser Aspekt, als auch die Tatsache, dass auf diesem Planeten eine kosmische Brücke installiert war, eine Kreuzung mehrerer Wurmlöcher, hatten Gais vor einigen Jahren zu dem Entschluss geführt, sich hier niederzulassen.

Der Vollstern stahl sich einen Blick auf Blue, der augenblicklich neben ihn trat und seine leuchtend blauen Iriden über die kestrische Idylle rollte. Sie fielen hinab zum Boden, kletterten dann wieder empor, bis er schließlich seinen Kopf in den Nacken warf, um das gigantische Blätterdach der Bäume zu erreichen. Und tatsächlich! Seine Augen weiteten sich, und seine Lippen öffneten sich einen Spalt weit.

»Imposant«, kommentierte er, und Gais hörte den seichten Unterschied aus seiner Stimme heraus.

Begeisterung lag darin.

»Also, wenn du jetzt immer noch keinerlei Gefühl in deiner Fratze gezeigt hättest, hätte ich dich auf Kabel und Drähte überprüft«, sagte Gais schonungslos.

Natürlich folgte auf seine Äußerung kein Einwurf seitens Blue. Dieser stapfte Gais wortlos hinterher, jedoch nicht ohne die fremde Umgebung mit neugierigen Blicken zu erkunden. Schweigend wanderten sie über die schweren Aststränge der Bäume, viele Kilometer über dem Boden. Nur der Klang des Holzes, das unter dem Gewicht ihrer Schritte knarzte, durchbrach die Stille. Das wiederum ließ Gais‘ Gedanken immer lauter werden. Und seinen Zorn. Wie gerne würde er diesem Blauschopf einen leichten Stups geben …

Der Geruch von Harz und einer rauchigen Note, welche die Atmosphäre des Planeten ausmachte, lag in Gais‘ Nase. Die goldenen Strahlen der dämmernden Sonne pirschten sich mutig durch das dichte Astwerk der Bäume und malten glühende Linien in die Luft. Kestor scheiterte nie daran, Gais‘ innere Unruhe zu besänftigen.

Plötzlich knirschte es hinter ihm, dann ertönte ein Knall. Gais schreckte herum und sah, wie Blue, ganz ohne seine Beihilfe, das Gleichgewicht verloren und sich mit einer lauten Druckwelle vom Fall bewahrt hatte. Sein Körper schwebte noch immer halb in der Luft. Und das war der Moment, in dem Gais skeptisch wurde. Sich mit einer Druckwelle vom Abgrund wegstoßen? Logisch. Ein paar Sekunden in der Luft hängen, als könnte man fliegen? Unlogisch.

Blues zweites Bein fand wieder Halt auf dem Holzboden des Baumes. Als sich ihre Blicke begegneten, war noch immer kein Anzeichen von emotionaler Regung in seinem Gesicht zu finden. Auf Gais‘ Antlitz schien das wohl nicht zuzutreffen, denn Blue klärte ihn ungefragt auf: »Ich verfüge über die Gabe des osterischen Windes.«

Der Vollstern begriff. So hatte Blue sich also in der Luft gehalten.

Gais biss seine Zähne aufeinander. Zugegeben, die Gabe des osterischen Windes war die schwächste aller Gaben. Dennoch erschwerte das Gais‘ Vorhaben, den anderen zu kontrollieren. Es vereinfachte jedoch auch seinen Hass auf ihn. Begabte Sterne waren keine einfachen Zeitgenossen. Viele von ihnen bildeten sich etwas auf ihre Fähigkeiten ein und labten sich in Bewunderung und Neid, was sie dazu verleitete, auf andere herabzusehen.