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Die Entscheidung für einen Beruf gehört zu den wichtigsten Schritten im Leben Ihres Kindes. Die Karriereexpertin und Bestsellerautorin Svenja Hofert zeigt, was Sie wissen müssen, um Ihr Kind bei der Berufswahl optimal zu unterstützen: Welche Trends gibt es auf dem Jobmarkt und was bedeuten sie für Ihr Kind? Welche Studiengänge und Ausbildungen eröffnen ungeahnte Möglichkeiten - und welche nicht? Welche Berufe haben wirklich Zukunft? Mit einem Fünf-Stufen-Plan begleiten Sie Ihr Kind auf dem Weg ins Berufsleben, ohne es zu bevormunden.
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Seitenzahl: 283
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Svenja Hofert
»Am besten wirst du Arzt«
So unterstützen Sie Ihr Kind wirklich bei der Berufswahl
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Die Entscheidung für einen Beruf gehört zu den wichtigsten Schritten im Leben Ihres Kindes. Die Karriereexpertin und Bestsellerautorin Svenja Hofert zeigt, was Sie wissen müssen, um Ihr Kind bei der Berufswahl optimal zu unterstützen:
Welche Trends gibt es auf dem Jobmarkt und was bedeuten sie für Ihr Kind?
Welche Studiengänge und Ausbildungen eröffnen ungeahnte Möglichkeiten – und welche nicht?
Welche Berufe haben wirklich Zukunft?
Mit einem Fünf-Stufen-Plan begleiten Sie Ihr Kind auf dem Weg ins Berufsleben, ohne es zu bevormunden.
Über die Autorin
Svenja Hofert ist Expertin für neue Karrieren und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Entwicklungen des Arbeitsmarkts und Prognosen für die Zukunft. Sie ist eine der erfolgreichsten Autorinnen zu beruflichen Themen und hat bereits zahlreiche Bestseller geschrieben. Derzeitiger Berufswunsch ihres neunjährigen Sohnes: Sportreporter.
Zwei moderne Familiendramen
Liebe Eltern,
Teil 1Vorschau: Wie sich die Arbeitswelt Ihres Kindes ändert
Berufs- und Karrierewege früher und heute
Parallelwelten: Die alte und die Neue Arbeit
Trends in der Neuen Arbeit
Die Ursache für die Veränderungen – und ihre Wirkung
Was Sie Ihrem Kind raten können
Teil 2Wie Sie Ihrem Kind den Weg zur passenden Ausbildung zeigen
Schule bald vorbei – und dann?
Muss ich mein Kind durchs Gymnasium prügeln?
Mein Kind will eine Lehre machen: Was soll ich raten?
Jobs »mit Zukunft« und das Butterbrot-Prinzip
Der Schlüssel für zukunftstaugliche Jobs
Mein Kind will studieren – was soll ich raten?
Extra-Jobs Lehrer, Arzt und Co.
Teil 3Wie Sie Ihr Kind bei der Entscheidungsfindung unterstützen
Stufe 1: Persönlichkeit – Wer bist du?
Stufe 2: Können – was kannst du?
Stufe 3: Interessen – welches Wissen willst du vertiefen?
Stufe 4: Lebensplan – welche Funktion hat dein Beruf für dein Leben?
Stufe 5: Perspektiven – ein Blick zurück auf die ersten vier Stufen
Ein paar Worte zu Tests
Teil 4Schlusswort: »Mache Fehler und lerne daraus«
Zwei Happy Ends
Danke
Für die weitere Information
Anmerkungen
»Meine Eltern haben viel mit mir gesprochen«, sagt Anna, die Maschinenbau studiert. »Sonst hätte ich mir das nicht zugetraut. Das Studium macht mir Spaß. Es war eine gute Entscheidung.«
Felix: »Meine Eltern wollten sich da nicht einmischen. Ich habe mich für BWL entschieden, weil andere Mitschüler meinten, damit könne man alles machen. Das Studium hat mich gelangweilt. Jetzt studiere ich Neurowissenschaften. Ich hätte darauf bestehen sollen, mich mit meinen Eltern zu unterhalten, um mir über meine Interessen klar zu werden.«
»Meine Mutter hat große Angst um mich, weil ich mich für einen sozialen Beruf entscheiden möchte. Sie glaubt den negativen Nachrichten aus der Presse. Ihr zuliebe studiere ich jetzt Eventmanagement, bin aber sehr unglücklich«, erzählt Finn.
»Die Lehrer sagen, die Eltern sollen sich nicht einmischen, weil sie die Beratung übernehmen. Wie soll das gehen? Sie kennen die Jobs in der Wirtschaft doch gar nicht. Für die Kinder bleiben Eltern die wichtigste Anlaufstelle«, so eine Bildungspädagogin.
»Am besten wirst du Arzt«, empfiehlt die Mutter ihrem Sohn. »Ärzte werden immer gebraucht. Du kannst damit auch heute noch Geld verdienen, wenn du nicht gerade Hausarzt wirst. Werde Radiologe. So wie Onkel Peter, der hat eine Praxis und kann sich einen Porsche leisten.«
»Am besten wird er Rechtsanwalt«, meint der Onkel, als er in der Familie über seinen Neffen spricht. »Mit Jura liegt man nie falsch.«
Die Mutter protestiert. »Aber …! Anwälte stehen doch heute auf der Straße und verdienen Hungerlöhne. Onkel Hans hat eine Kanzlei für Straßenverkehrsrecht und musste sich neulich Geld bei seiner alten Mutter leihen.«
»Ich will aber kein Arzt werden, und Jura interessiert mich auch null Komma null«, erwidert der Sohn. »Ich will im Moment gar nichts werden–ich bin erst 15.«
»Am besten lernt sie in der Bank, da hat sie was Sicheres und Solides in der Hand. Unsere Familie hatte immer schon mit Geld zu tun«, argumentiert Papa.
»Sie soll lieber gleich studieren. Mit BWL kann sie nichts falsch machen. Damit kann sie alles werden und Karriere machen. Mit einer Lehre kommst du doch heute nicht mehr weiter«, meint Mama.
»Ich will aber was mit Medien machen, Papa! Bank ist total langweilig«, entrüstet sich die Tochter.
»Kind, überleg dir das. Mach doch ein duales Studium, da übernehmen dich die Arbeitgeber ganz sicher. Das hat einen so guten Ruf.«
»Ihr seid doof!«, ruft die Tochter, bevor sie die Tür zuknallt und sich für Germanistik einschreibt.
auch Sie haben ein Kind, das kurz vor dem Schulabschluss steht? Sie möchten wissen, was Sie tun können, um ihm bei der Berufswahl zu helfen? Für Sie habe ich dieses Buch geschrieben. Denn die Anfragen von Eltern häufen sich in den letzten zwei, drei Jahren. Zunehmende Verunsicherung macht sich bei Eltern und Kindern breit–kein Wunder bei all den widersprüchlichen Nachrichten und der wachsenden Vielfalt von Möglichkeiten.
»Können Sie sich bitte meinen Sohn anschauen?«, fragt der Vater. Der Sohn hat gerade Abitur gemacht, weilt jetzt im Ausland und sein Dad macht seine Termine. »Nur damit er nicht in die falsche Richtung rennt. Eher zur Vorsorge«, erklärt der besorgte Papa.
Dann sitzt Finn in meinem Büro und lässt die Schultern hängen.
Die Oma beharrte auf einem richtigen Ausbildungsberuf.
Die Mitschüler empfahlen eine Karriere bei Porsche oder Daimler, Hauptsache, ein bekanntes Unternehmen.
Sein Vater, der Arzt, hatte ihm alle Wege offen gelassen und ihn zu mir geschickt.
»Mein Kopf war voll«, klagt er.
Kurz vor dem Abitur hatte er noch gedacht: »Am besten wirst du Arzt wie Papa.« Dann überrumpelte ihn die Prüfungsangst und brachte ihm eine Durchschnittsnote von 2,9 ein. Also Informatik? Oder doch BWL? Oder Eventmanagement?
»Mach doch das«, sagen die einen. »Mach das bloß nicht«, die anderen. »Bist du verrückt?«, meint die Mutter, als Finn Architektur studieren will. Der Junge ist völlig aus dem Konzept: Informations-Overkill, Beeinflussungszange.
Willkommen in der schönen neuen Karrierewelt, in der wir Helikopter-Eltern1 um unsere Kinder schwirren. Wir wollen nichts falsch machen–und machen deshalb nichts richtig.
So schön sie sein mögen, die vielen neuen Möglichkeiten, so viele Fragezeichen hinterlassen sie auch. Die Qual der Wahl verunsichert uns Eltern, unsere Kinder, ja, uns alle zusammen.
Ich bin überzeugt, dass wir unseren Kindern bei den ersten beruflichen Entscheidungen helfen müssen–auch um sie vor den vielen unqualifizierten Meinungen zu schützen. Ich glaube nicht an den Erfolg elterlichen Schulterklopfens à la »Wird schon werden«. Genauso gefährlich finde ich es, auf Basis eigener Berufs- und Karriereerfahrungen Empfehlungen wie »Am besten wirst du Arzt« auszusprechen (oder auch das Gegenteil »werde bloß nicht …«). Der Titel dieses Buchs ist also ironisch zu verstehen.
Ich gehe mit diesem Buch einen anderen Weg: Zunächst gebe ich Ihnen einen Ausblick auf die neue Arbeits- und Karrierewelt, dann die wichtigsten Informationen zu Ausbildung und Studium und lasse Sie schließlich im Praxisteil mit Ihrem Kind zusammenarbeiten: Teamwork eben.
Als Eltern dürfen wir uns einmischen, auch wenn es die Pädagogen nervt. Wir müssen informieren, Möglichkeiten zeigen und bewerten helfen. Dazu brauchen wir viel mehr Wissen als früher. Dieses Wissen beschert uns weder der Blick in die Zeitungen und die Online-Jobportale noch unser eigener Job. Wir müssen also etwas tun, wozu Lehrer, denen die sogenannte »freie Wirtschaft« oft reichlich fernliegt, zu einem großen Teil selbst nicht in der Lage sind. Wir als Eltern haben Einfluss, und wir müssen diesen nutzen.
Unsere eigenen Karrieren sind teils geradlinig, teils im Zickzack verlaufen. Vielleicht haben wir Abfindungsverträge in den Händen gehalten, unter Kollegen- und Cheffrust gelitten, Begrenzungen erlebt, sind als Frau an die gläsernen Decken der Männerwelt gestoßen. Vielleicht aber haben wir als Quereinsteiger in einem ganz anderen Berufsfeld als dem erlernten unsere Bestimmung gefunden. Manche haben vielleicht die Welt der Minijobs und der Zwangs-Selbstständigkeiten kennengelernt–andere den Sprung in die freiwillige Selbstständigkeit gewagt und würden nie wieder ein festes Angestelltenverhältnis eingehen. Wir lesen ständig, wie unsicher die Arbeitswelt sein soll, hören von schwankenden Gehaltskurven und gegensätzlicher Entwicklung des Arbeitsmarktes, vom angeblichen Fachkräftemangel und dem »Schweinezyklus«2. Es begegnen uns neue Berufe, Studiengänge und Möglichkeiten, immer mehr Möglichkeiten. Das schürt die Angst vor falschen Entscheidungen des eigenen Kindes. Es soll ihm ja später gutgehen.
Wir haben Verantwortung. Als Beraterin erlebe ich täglich die Auswirkungen falscher, von Mama, Papa und Onkel Dieter mitbestimmter Entscheidungen–sie wirken oft auch noch bei 40-Jährigen nach, halten manche geradezu gefangen!
Frust und Ärger, sogar Traurigkeit über verpasste Chancen und die verzweifelte Suche nach dem Traumjob kommen immer häufiger und immer früher. »Hätte ich gewusst, was möglich ist, wäre ich einen anderen Weg gegangen«, sagen die einen. »Hätte ich doch überhaupt einmal nachgedacht«, sagen die anderen. Alle bewerten es aber letztendlich positiv, wenn sie über ihre Berufsentscheidung nachdenken und nicht einfach spontanen Eingebungen und dem Zufall folgen.
Sie müssen als Eltern wissen, dass die Arbeitswelt Ihrer Kinder nicht mehr wie die Ihre ist. Sie sollten erfahren, wie sich Karrieren ändern und was Arbeit morgen für Ihr Kind bedeutet. Damit Sie Hilfe zur Selbsthilfe bieten können. Das schließlich macht einen guten Berater aus. Er nimmt keine Entscheidungen ab. Er sortiert und empfiehlt mit Blick auf das Kind und seine Bedürfnisse und Möglichkeiten.
Mit »er« meine ich natürlich auch »sie«, so wie ich auch immer Jungen und Mädchen im Blick habe, wenn die Rede ist von Ihrem Kind, Junior oder Sprössling. Diese Vereinfachung macht das Buch einfach lesefreundlicher. Danke für Ihr Verständnis.
Viele neue Erkenntnisse auf der Reise durch unsere neue Arbeits- und Karrierewelt wünscht
Svenja Hofert
TEIL 1
VORSCHAU: WIE SICH DIE ARBEITSWELT IHRES KINDES ÄNDERT
Den Arzt gab es schon im antiken Ägypten. Solch alte Berufe besitzen heute Seltenheitswert. Spätestens seit der Jahrtausendwende wachsen immer neue Jobs auf dem technologiegedüngten Berufsboden. Diese Jobs kennen diejenigen nicht, die mit einem so »alten« Beruf wie dem des Arztes und den Karrierevorstellungen des letzten Jahrhunderts durchs Leben gegangen sind.
Wir als Eltern sind der wichtigste Ansprechpartner für die Berufswahl unserer Kinder. Doch wie sollen wir sie beraten, wenn wir nur unsere Welt kennen und gar nicht wissen, wie die Arbeitswelt heute und morgen aussieht? Was wird aus der Arbeit, wie wir sie kennen? Was wird aus Berufen, Funktionen–und wie sehen Karrieren von morgen aus?
Jedes Jahr spüre ich mehr, wie die Zeiten sich ändern und der Arbeitsmarkt sich dreht. Schauen Sie mit mir hinter die Kulissen.
Im Anschluss an meinen Vortrag werde ich von sechzehn jungen Frauen umringt. »Das habe ich alles nicht gewusst. Das macht mir Angst«, sagt Lisa mit Tränen in den Augen. Die anderen muntern sie auf. »Sieh das doch positiv. Du darfst dich verändern! Du hast so viele Möglichkeiten! Ist doch viel besser als damals bei deinen Eltern!«
Die neuen Entwicklungen polarisieren. Sie verzücken abenteuerlustige, entdeckungshungrige, begeisterungsfähige junge Menschen. Sie verängstigen Unsichere, Sicherheitsorientierte und Zweifelnde.
Diese Unsicheren, Sicherheitsorientierten und Zweifelnden spiegeln die Sorgen ihrer Eltern. Unsere Kinder, ob sie nun entdeckungshungrig oder unsicher sind oder von beiden Seiten etwas haben, stehen vor anderen Herausforderungen als wir selbst. Es wäre wichtig, sie auf das Neue vorzubereiten.
»Ich wollte Designerin werden oder Mediengestalterin«, erklärt Lisa. »Nach Ihrem Vortrag habe ich Angst davor. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, einmal selbstständig zu arbeiten. Sie haben aber ja gesagt, dass man damit rechnen muss, einmal Freiberufler zu sein.« Am Beispiel verschiedener Berufe, unter anderem Designer und Journalist, hatte ich zuvor erklärt, wie sich die Arbeitswelt verändert. Im Design steigt der Anspruch an die Kreativität und an die Fähigkeit, Ideen zu verkaufen, seitdem auch Mitarbeiter mit Basiskenntnissen einfaches Layout mit wenigen Mausklicks herstellen können–dafür reicht ein kleines Adobe-Programm namens InDesign. Um dieses zu nutzen, brauchen Designer kein Studium mehr, was feste Jobs gefährdet und Gehälter schon seit zehn Jahren nach unten drückt.
Die Medienbranche bekommt seit geraumer Zeit die Auswirkungen des Internets zu spüren; der daraus entstehende Kostendruck bedrängt die verbliebenen klassischen Berufsbilder, etwa des Journalisten. Angestellten, die lange im Beruf sind, wird gekündigt und durch jüngere Redakteure ersetzt, die manchmal für kaum 2000 Euro brutto im Monat arbeiten. Einige, die wollen, bekommen keine feste Stelle und schlagen sich mit freien Aufträgen durch.
Ich bin fest überzeugt, dass junge Menschen, die sich für diese (und andere) Wege entscheiden, solche Dinge wissen müssen–selbst wenn dadurch Illusionen zerbrechen. Aber Berufsentscheidungen dürfen eben nicht aufgrund einer Illusion getroffen werden. Es ist falsch, nur einem Trend wie dem, »was mit Medien« zu tun, zu folgen. Das hat bei einigen von uns gerade so noch geklappt, weil die Zeiten anders waren. Bei unseren Kindern funktioniert das nicht mehr.
Erinnern Sie sich? Wie haben Sie sich für einen Beruf entschieden? Wenn Sie nicht zu den geschätzten 2 Prozent gehören, die schon früh wussten, was sie werden wollten, und diesen Entschluss zielgerichtet in die Tat umsetzten, dann stellten sich erste Gedanken an eine berufliche Zukunft wahrscheinlich erst kurz vor Ihrem Schulabschluss ein. Vielleicht gaben Ihre Eltern den Impuls. Möglicherweise haben Sie, wie so viele, gar nicht sich selbst in den Vordergrund gestellt, sondern den Glamour (dann waren es vielleicht Medien), die Intellektualität (dann war es etwas Geisteswissenschaftliches) oder die Zukunftssicherheit eines Jobs (dann sprach früher viel für BWL oder Jura). Vielleicht hat sich auch einfach alles zufällig gefügt und entwickelt. Wie bei mir.
Früher war die Berufswahl unschuldig. Wir machten einfach, was nahelag. Und Gott sei Dank waren die Möglichkeiten begrenzt. Die von mir getroffenen Entscheidungen lassen sich aus dem Kontext der Zeit verstehen, in der ich sie getroffen habe.
Schauen wir mal ein paar Jahrzehnte zurück. 1975 ist das Jahr, in dem der Vietnamkrieg endet und die Schlussakte von Helsinki sowie das Washingtoner Artenschutzabkommen unterzeichnet werden. Ich war damals zehn Jahre alt, und am meisten eingeprägt haben sich mir die Fahndungsplakate mit den Fotos der RAF-Terroristen, denen man auf Schritt und Tritt begegnete, die überall hingen, und das Mini-Atomkraftwerk im Bausatz, das sich mein Vater als Arbeit mit nach Hause nahm. Im Stall meiner Großeltern väterlicherseits, ehemalige Bauern, nach dem Krieg aus Schlesien vertrieben, leben sechzehn Hühner und fünf Kaninchen, von denen zu meinem großen Entsetzen alle zwei Wochen sonntags eins auf den Tisch kommt. Obst und Gemüse bauen meine Großeltern selbst an, Eier verkaufen sie an die Nachbarn, und gegen ein paar D-Mark grast auf der grünen Wiese ab und zu das Pony des Nachbarn.
Zu dieser Zeit spielt die Landwirtschaft als Haupterwerbsquelle schon lange keine Rolle mehr. Als sich 1850 die Industrialisierung durchsetzt, überzieht sie auch die landwirtschaftliche Produktion. Mein Großvater, der Bauer, findet nach dem Krieg eine Anstellung in der Industrie bei Bosch und beschreitet damit einen typischen Weg der durch die Industriegesellschaft vertriebenen bäuerlichen Bevölkerung.
Sein Sohn, mein Vater, ist dagegen schon ganz Kind der nun erwachenden Dienstleistungsgesellschaft. Aus Vernunftgründen mehr denn aus Leidenschaft lernt er Versicherungskaufmann und legt als Prokurist in den goldenen Zeiten des Kölner Gerling-Konzerns eine Karriere aus Fleiß auf den glänzenden Marmor. Golden ist hier wörtlich zu nehmen: Wer einmal diesen ehemaligen Konzernpalast gesehen hat, wird ihn ewig als Zeichen einer untergegangenen Arbeitswelt, in dem es zum Beispiel Extra-Kantinen für die Prokuristen gab, in Erinnerung behalten.
Mein Vater wirkt nicht mehr mit an der industriellen Produktion wie sein Vater. Jahrzehntelang vertreibt er Policen für den Anlagenbau–er arbeitet damit anders als mein Opa für und nicht in der Industrie, die zu dem Zeitpunkt schon an Boden und Arbeitsplätzen verloren hat.
1975, als die sechzehn familieneigenen Hühner friedlich auf unseren Wiesen picken, arbeitet fast die Hälfte aller Berufstätigen in Dienstleistungsunternehmen, 2008 sind schon 71,9 Prozent aller Deutschen in diesem Bereich beschäftigt, den man auch Tertiärsektor nennt. In unseren Nachbarländern Österreich und der Schweiz liegt der Wert nur leicht niedriger.1 Jetzt haben sich die Vorzeichen vollkommen verschoben: Die Industrie treibt die Exporte, aber sie ist kein Jobmotor mehr. Stattdessen reduziert sie die einfachen Arbeitskräfte. Immer weiter, immer wieder.
Sechsunddreißig Jahre später, das erste Jahrzehnt des 21. Jahrtausends ist angebrochen. Wir leben an der Schwelle zu einer neuen Zeit, für die es noch keinen Namen gibt. Neuzeit–das waren noch die achtziger und neunziger Jahre, seit 2000 ist da irgendeine neue Zeit, für die erst nachfolgende Generationen einen Begriff finden werden. Postmoderner als postmodern können wir nicht werden. Die neue Art zu arbeiten nenne ich in diesem Buch einfach und kurz »Neue Arbeit«. Sie ist durch die Frage bestimmt, wie man noch effizienter produzieren kann, Prozesse sich noch weiter optimieren lassen. Die Technik steuert die Neue Arbeit. Deep Blue2, der Schachcomputer, der mit klugen Schachzügen gefüttert wurde und 1995 Garri Kasparow besiegte, ist überholt. Längst gibt es aus Fehlern lernende Computer, die sich automatisch immer weiter verbessern–wie wir Menschen auch. Das Einzige, was sie nicht können, ist kreativ sein. Unter anderem daran sehen wir auch, was die Neue Arbeit kennzeichnet: Der Computer rechnet, der Mensch bringt Ideen ein. Es geht nicht mehr um Fleiß und Handwerkszeug, es geht um Ideen und Köpfchen.
Der Opa ein Kind des Industriezeitalters, der Vater Spross der Dienstleistungsära. Ist es nicht konsequent, dass ich, die Tochter, im sogenannten Wissenszeitalter3 angekommen, mir eine Wissenskarriere auswählte? Nein, nicht wirklich auswählte. Ich stolperte hinein. Der Anfang vollzog sich zufällig. Ich bin heute zufrieden mit meinem Berufsleben, aber ich muss auch ehrlich zugeben: Manchmal bedaure ich, dass ich den anderen Weg nicht kennengelernt habe–den geplanten, durchdachten.
Dieses Buch hätte ich dann aber wohl nie geschrieben, weil die Suche nach einem beruflichen Ziel, die Kern meiner Beratungsangebote ist, dann nicht mein Thema geworden wäre. Es wäre etwas anderes gekommen, was auch gut gewesen wäre, mich aber woanders hingeführt hätte. Sie verstehen sicher, warum ich nicht glauben kann, dass Beruf von Berufung kommt.
Das sehe ich ganz anders als viele Kollegen. Autoren, die sich mit beruflicher Neuorientierung beschäftigen, argumentieren gern mit Vorbestimmung. Der Glaube ist durch Bücher wie Wishcraft oder Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will von Barbara Sher4 tief verwurzelt. Doch er ist nicht nur falsch, sondern schädlich. Manche Menschen etwa denken, sie wären zum »Coach« berufen. Doch wie soll Ihr Kind für einen Beruf vorherbestimmt sein, der im Grunde gar keiner ist und den es zum Zeitpunkt seiner Geburt nicht einmal gab?
Bis zum Abitur habe ich mir dann keine Gedanken über meine berufliche Zukunft gemacht. Den Berufsvorschlag meiner Eltern, Bankkauffrau, lehnte ich ab. Ich wollte studieren. Beim Blättern durch den Studienkatalog der Universität Köln landete ich bei Psychologie, nachdem ich mehrere dicke Bände der Schriften von Sigmund Freud und mit Begeisterung Alice Millers Das Drama des begabten Kindes5 gelesen hatte, schien das die passende Lösung. Ich bekam nicht sofort einen Platz. Nachdem ich ein Semester gewartet hatte, wollte mich die ZVS6 dann in eine andere Stadt entsenden. Das wollte ich wiederum nicht; ich wollte zu Hause bleiben.
Nach erneutem Durchblättern des Studienangebotskatalogs schrieb ich mich an der Uni Köln für Slawistik und Geschichte ein, vorsichtshalber gleich auf Lehramt und Magister parallel. Germanistik schien mir zu einfach, und einfach fand ich langweilig. BWLer sah ich, Yuppie-geschädigt, als leidenschaftslose Karrieristen an, und Jura fiel in eine ähnliche unakzeptable Kategorie.
Die letztendliche Entscheidung war durch die Gorbatschow-Ära geprägt; Slawistik war zu der Zeit ein In-Studium. Mir gefiel, dass ich noch mal drei Sprachen lernen musste und damit eine Aufgabe hatte. Allerdings war diese nicht groß genug, so schrieb ich nebenbei einen Science-Fiction-Roman. Die Zeit reichte auch noch, um mir das Studium fast komplett durch den Job in einer Jazz-Kneipe und journalistische Arbeiten zu finanzieren. Doch das In-Studium mit den damals guten Berufsprognosen erwies sich nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Luftblase. Über die nun offenen Grenzen kamen Russlanddeutsche, die bestens Russisch konnten.
Geschichte wählte ich, sehr typisch für berufliche Erstentscheidungen auch heute noch, als zweites Hauptfach, weil es neben Englisch mein Leistungskurs gewesen war. Der von mir so genannte Schmeicheleffekt tat das Seine zu dieser Entscheidung: Ich war im Kurs immer die Einzige, deren Arbeiten mit »Eins« bewertet wurden, weil ich in der Analyse der »Goldenen Bulle« und anderer Primärquellen zu echter Höchstform auflief. Heute bin ich mir sicher, dass der Schmeicheleffekt auch in Physik, Chemie oder Biologie hätte auftreten können–besonders Physik hat es mir später sehr angetan. Es lag am Lehrer. Es liegt auch heute oft am Lehrer.
Ich absolvierte ein journalistisches Volontariat in einem großen Redaktionsbüro, das unter anderem Sportmagazine herausgab. Durch die Arbeit für Medien von Boulevard bis Tageszeitung lernte ich unglaublich viel. Nebenbei wurde ich an die Public Relations herangeführt.
Danach: Drei zufällige Bewerbungen, drei zufällige Jobangebote, man hatte eigentlich einen Wirtschaftswissenschaftler präferiert. Ich entschied mich gegen eine Laufbahn als Redakteurin und landete in einem Software-Unternehmen. Nach kaum zwei Jahren beförderte man mich zur Leiterin eines Teams aus acht Mitarbeitern. Später wechselte ich in einen internationalen Konzern, arbeitete als Pressesprecherin und schaffte es, durch Mitarbeit in Projekten mir Zugang zu den unterschiedlichsten Themen zu verschaffen, unter anderem zum Personal. Ich arbeitete als Consultant und sammelte einiges an Erfahrung in großen Outplacement-Projekten. Beim Outplacement geht es um den Abbau von Mitarbeitern, ein Thema, das um die Jahrtausendwende große Relevanz bekam. Ach ja, vorher hatte ich schon angefangen, Artikel und Bücher zu schreiben, keine Science-Fiction mehr. Mein erster Ratgeber erschien noch unter Pseudonym, da ich fest angestellt war. Es war das erste Buch zum Thema »Jobsuche und Bewerbung im Internet« und basierte auf meiner Erfahrung, die ich als Abteilungsleiterin mit furchtbaren Online-Bewerbungen gemacht hatte–zu einer Zeit, als diese noch einen winzigen Teil aller Bewerbungen ausmachten.
Vielleicht entdecken Sie in meinen Schilderungen Parallelen zu sich selbst: Berufsorientierung? Hat nicht wirklich stattgefunden. Den sicherheitsorientierten Vorschlag meiner Eltern schlug ich in den Wind. Mein Muster war Revolution, das anderer Mitschüler Identifikation: Sie wurden wie die Eltern Ärzte und Anwälte.
Ich wählte mein Studium einerseits entlang der Fächer, die ich schon in der Schule gut konnte (Prinzip Schmeicheleffekt) und andererseits, weil etwas gerade »in« war (Prinzip aufgebauschte Nachfrage: Gedankenlos wird studiert, was in einem bestimmten Zeitraum »in« ist). Slawistik stellte sich als mäßig interessant heraus, glücklicherweise konnte ich mich auf die eher rationale und analytische Sprachwissenschaft spezialisieren. Wenn ich ehrlich bin, motivierte mich die Abbruchquote von 80 Prozent mehr als der Inhalt. Hauptsache Abschluss, dachte ich. Stimmte damals dann auch irgendwie.
Es gab noch kein privates Fernsehen, kein Internet und keine Karriereseiten in Zeitschriften. Es gab auch keine Kommilitonen, die ständig nervten: »Du musst doch wissen, was du später mal machen willst!« Ob das nun mein Glück war oder nicht (weil mich ein anderer Weg woandershin geführt hätte), werde ich niemals wissen.
Die weinende Lisa. Kann es für sie nicht auch so laufen wie für mich? Nein! Es gibt einen ganz entscheidenden Unterschied. Lisa weiß zu viel. Sie geht in Vorträge wie den meinen. Sie liest und spricht mit anderen über Dinge, die früher gar kein Thema waren.
Heute ist es deshalb keine Frage mehr, ob zufällige Fügungen nicht manchmal auch von Vorteil sind. Zufällige Entscheidungen sind deshalb so gut wie unmöglich, weil es zu viele Informationen gibt. Je umfangreicher eine Speisekarte, desto schwerer fällt die Wahl. Vielleicht haben Sie heute Appetit auf das eine–aber ist es auch das, was Sie satt macht, und ist es letztlich überhaupt bekömmlich und sichert ein gesundes Leben?
Man kann nicht mehr einfach mit dem Finger in einen Katalog tippen und sagen: »Das nehme ich.« Die Informationen holen einen ein und werden Zweifel nähren. Bei den einen früher, bei den anderen später.
Wenn ich heute mit Eltern spreche, argumentieren diese oft, der Berufswunsch und Weg Ihres Kindes werde sich schon »entwickeln«. Doch das war früher so, bei uns. Bei Ihren Kindern nicht mehr. Zufällige Lebensläufe kann es schon deshalb nicht mehr geben, weil alle Welt über den Lebenslauf und die Berufsplanung spricht und zu viele Möglichkeiten der Berufswahl die Unschuld genommen haben.
Die beste Entscheidungshilfe bietet die Praxis. Wer Arbeitserfahrung hat, spürt Stärken und Schwächen und kann sortieren, was einem entspricht und was nicht. Die wirkliche Arbeitswelt jedoch kennt Ihr Kind maximal aus Praktika, die viel zu kurz sind für solche echten Eindrücke.
Die Schule könnte Lücken füllen, doch sie tut dies nur in sehr engen Grenzen. Es gibt an Gymnasien kein Pflichtfach »Arbeitsmarkt und Beruf«. Wer sollte es auch lehren? Auf der ersten Seite dieses Buches habe ich die Aussage einer Bildungspädagogin wiedergegeben, die in ein Projekt involviert war, in dem Lehrer an die Wirtschaft herangeführt werden sollten. Es fand sich kein Betrieb, der bereit war, hier mitzumachen–zu besserwisserisch traten die Pädagogen in den Unternehmen auf. Die Schule, vor allem das Gymnasium, als Informationsstätte für Neue Arbeit und Berufe können wir also getrost vergessen. Wie sollen Lehrer lehren, was sie selbst nicht kennen?
Bleiben Sie, die Eltern. Aber was, wenn bis dahin das Fernsehen den Realitätssinn zerstört hat?
Meine Lektorin Juliane Wagner schickte mir vor einiger Zeit einen Link auf einen Artikel. Immer mehr Jugendliche würden sich anhand von Fernsehsendungen für ein Berufsbild entscheiden, hieß es dort. Der Arzt führt die Fernsehberufswunschliste an–ob als Gerichtsmediziner wie im Münsteraner Tatort mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers oder als bärbeißiger Dr. House in der gleichnamigen TV-Serie. Die Designerin aus der Telenovela Anna und die Liebe hat auch nicht wenige junge Menschen auf ein in der Realität hart umkämpftes Berufsbild gebracht, in dem es oft keineswegs glitzernd, sondern sehr hart und konkurrenzbetont zugeht. Auch das Leben eines Anwalts und Kommissars sieht realiter beileibe nicht so aus wie im Fernsehen.7 Besonders dramatisch ist, dass der Serienkonsum das Streben nach Glanz- und Glitterkarrieren als Model oder Casting-Star zweifellos maßgeblich steuert und Illusionen weckt.
Ihre Kinder entscheiden sich für ihren Berufsweg nach dem, was sie sehen und kennen: bei Ihnen, im Fernsehen, im Internet. Dies alles spiegelt jedoch nicht die Arbeitswelt wider, sondern nur die Fantasie der Fernsehschaffenden und das, was sich verkauft. Was wissen Drehbuchautoren und Regisseure über die Jobs der Neuen Arbeit? Meist herzlich wenig. Dabei könnte ich mir spannende Plots rund um einen Technology-Evangelisten oder einen Manager für Corporate Social Responsibility8 vorstellen.
Er müsste dann allerdings nebenbei einen Mord aufklären. »Ich möchte etwas machen wie Kommissarin X«, schrieb mir eine Coaching-Interessentin und erläuterte ihren Berufswunsch detailreich anhand von Fernsehszenen. In diesen Serien sehen wir seit einigen Jahren Profiler, die sich mit spannenden Fällen und Schwerverbrechern auseinandersetzen. Der Berufswunsch Profiler, also Fallanalytiker, liegt deshalb vielen Krimiaffinen nahe. Dieser Wunsch muss inzwischen so ausgeprägt sein, dass sich das Bundeskriminalamt gezwungen sah, ein PDF auf seine Website zu stellen, in dem es den Job entmystifiziert. Darin heißt es: »Zwischen den Wünschen und Hoffnungen dieser jungen Leute [die das BKA anschreiben], die oft von den realitätsfernen Darstellungen der Medien gespeist werden, und den tatsächlichen Rahmenbedingungen im polizeilichen Alltag liegen oftmals Welten.«9
Tatsache ist: Ausgebildet zum Profiler werden ausschließlich Polizeimitarbeiter. Und: Es gibt in Deutschland nur 50 Fallanalytiker sowie 40 weitere in Ausbildung. Der Bedarf ist damit, so sagt das BKA deutlich, absolut gedeckt. Oft erhält das BKA Anfragen von Psychologiestudenten, die durch das Fernsehen glauben, ihr Studium sei eine gute Basis für den Beruf. Doch die deutschen Profiler sind keine Psychologen. Überhaupt spielt die Psychologie bei der Polizei eine untergeordnete Rolle, erst recht wird sie kaum zur Aufklärung von Schwerverbrechen herangezogen. Ich weiß das aus primärer Quelle, denn meine Bürokollegin und Partnerin ist eine ehemalige Polizeipsychologin.
Bei anderen Berufsbildern läuft es ähnlich: Das Fernsehen verspricht etwas, das der Alltag nicht hält. »Ich würde gern etwas fürs Fernsehen machen«, das höre ich sogar noch von Über-30-Jährigen. Das ist wie manche Teenie-Schwärmerei: unrealistisch, überzogen und auf das falsche Objekt bezogen. Erreicht man das Objekt der Begierde, stellt es sich auch nur als ein Job mit Fehlern und Begrenzungen heraus.
Die neue Realität in der Arbeitswelt bildet sich überhaupt nicht im Fernsehen ab. Bestenfalls erlangt man durch Dokumentationen wie Die Dinosaurier: Das fantastische Urzeitexperiment eine Ahnung davon, was heute durch Computersimulationen möglich ist. Doch der Job eines Entwicklers solcher Simulationen ist für spektakuläre Handlungen wenig geeignet. So geben im Fernsehen Kommissare, Ärzte und Anwälte den Ton an, die aus der alten Welt stammen und einen verschwindend geringen Teil am Gesamtarbeitsmarkt ausmachen. Lediglich 400000 Ärzte gibt es in Deutschland–von knapp 27 Millionen sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen. Gut jeder vierte Beschäftigte arbeitet in Deutschland in Bereichen wie Metall, Textil und Holz. Haben Sie davon je auch nur einen Einzigen im Fernsehen gesehen?
Eine weitere gefährliche Einflussquelle, der besonders Mädchen unterliegen, die immer noch bedeutend mehr lesen als Jungs, sind Romane. Kennen Sie einen Roman mit einem Helden, der Maschinenbauingenieur ist? Oder einer Heldin, die ihr Geld als Community Managerin verdient, die Foren im Internet moderiert? Sicher nicht. Es finden sich andere Autoren, Journalisten, Designer, Fotografen, Regisseure–lauter Glanz-und-Glitter-Berufe, die überlaufen sind und gerade zu einem großen Teil der Wissensgesellschaft zum Opfer fallen. Die maximale Annäherung an das wahre Leben ist ein Hacker oder Computerexperte, der die Welt wahlweise rettet oder zerstört. Diese Realitätsverzerrung führt ganz viele geradewegs zur falschen Berufswahl.
»Ich wusste schon immer, dass ich ABC werden oder bei XY arbeiten wollte«–das ist so eine Aussage, die ich öfter von jungen Leuten höre. »Ich weiß das einfach. Ich spüre es«–so lautet ein beliebter Zusatz. Ich versuche dann zu ergründen, woher solche »Intuition« kommt. Viele kommen dann von selbst darauf, dass sie einem Traumbild erlegen sind.
Machen Sie Berufswünsche, die beim Fernsehen entstanden sind, niemals lächerlich, nehmen Sie sie ernst, so naiv sie Ihnen auch scheinen mögen. Bringen Sie Ihr Kind durch Fragen selbst zu der Erkenntnis, dass es einem Trugbild aufsitzt. Ziel ist es, dass Ihr Kind äußere Einflüsse als solche auch wahrnimmt und erkennt, dass die Realität des Fernsehens nicht jener der Arbeitswelt entspricht.
Dazu kann ein Reality-Check gehören. Ein Ausflug auf die Seite des BKA würde im Fall des »Profilers« ausreichen, um Berufswünsche auf eine realistische Basis zu stellen. Wenn Ihr Kind Moderator werden möchte, dann fordern Sie es auf, den Weg dorthin zu recherchieren–durch die Suche nach Moderatorenlebensläufen im Internet und durch Gespräche mit Menschen, die Moderatoren kennen oder vielleicht selbst welche sind.
Viele Interessen entspringen der Familiengeschichte. Mein Opa mütterlicherseits hat mich sehr beeinflusst; meine Familie sagt, ich hätte viel von ihm–er war Theologe, Philosoph und er schrieb Bücher, die er nie veröffentlichte und das auch nicht wollte. Nach dem Krieg arbeitete er bei der Arbeitsagentur. Es gab Restauratoren und Orgelbauer in der Familie, abgebrochene Psychologiestudenten, eine unfreiwillige Krankenschwester (meine Mutter), die eigentlich Innenarchitektin werden wollte, und diverse Kaufleute.
Erst heute erkenne ich, dass sich in meinem Leben alles davon zu etwas Eigenem vereinigt hat. Mir ist auch bewusst, dass all dies durch den Wandel in der Arbeitswelt begünstigt war, der es mir ermöglichte, mir den Wunschjob selbst zu mixen.
Dass die Familie sehr stark prägt, muss man bei jeder Berufsorientierung berücksichtigen. Ich sehe immer wieder, dass Menschen sich bewusst gegen den Weg der Eltern entscheiden und später auf ihn zurückkommen. Oder dass man sich auf den Weg der Eltern begibt und später von ihm abweicht. Man muss sich damit auseinandersetzen.
Wichtig ist dabei oft weniger der Beruf selbst, sondern dass mit den familiären Berufen ein bestimmter Status verknüpft ist–das kann Herabschauen oder Ansehen sein. Der Schlosser mit einer positiven Berufsbiografie im Lebensgepäck sagt begeistert: »Handwerk hat goldenen Boden.« Der Schlosser, der Abwertung erfuhr, sagt warnend: »Aus dir soll etwas Besseres werden.« Das Kind wird das Modell seiner Eltern entweder ablehnen oder annehmen.
In beiden Fällen wird es aber gleich prägend sein. Daraus erst entspringt der Motor, sich für bestimmte Bereiche und Berufe zu interessieren. Eine Klientin von mir ist wohl auch deshalb Fernsehmoderatorin geworden, weil sie etwas Besonderes sein wollte–der Vater ist Handwerker, die Mutter Hausfrau. Ich will diese Motivation nicht bewerten: Es ist eine Motivation, und jede innere Motivation, aus der etwas entspringt, das einen selbst zufrieden macht, ist positiv. Man muss sie nur unterscheiden von äußeren Motivationen. Diese sind Beeinflussungen und haben nichts mit dem Menschen und seiner Persönlichkeit zu tun.
Der berufliche Weg bedeutet nicht nur die Entscheidung für einen Beruf, sondern bezieht sich auch auf die Leistungsbereitschaft und Karriere- und Erfolgsaffinität. Kinder ehrgeiziger Eltern werden entweder auch ehrgeizig oder genau das Gegenteil–auch hier fällt oft die Entscheidung zwischen Revolution und Identifikation. Es kann auch sein, dass sich Geschwister an diesem Punkt geradezu auseinanderdividieren: der eine wie die Eltern, der andere komplett anders.
Identifikation ist typischer bei solchen jungen Menschen, die nicht genau wissen, was sie wollen, die ihre innere Motivation nicht kennen. Sie richten ihre Wünsche an den Eltern aus. Oft haben sie einen längeren Weg vor sich, bis sie sich dessen bewusst werden und sich davon lösen können. Haben Sie so ein Kind, müssen Sie deshalb besonders vorsichtig sein. Diese Kinder orientieren sich zu stark an der Außenwelt und spüren sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu wenig.
Das ist bei den Revolutionären nicht anders. Auch sie orientieren sich an der Außenwelt, nur dass dies bei ihnen zu einem »Ich mach das anders«-Verhalten führt. Es kann dabei sein, dass sie sich selbst und die eigenen Interessen und Bedürfnisse aber genauso wenig wahrnehmen.
Dann gibt es die Interesse-Kinder, die weder das eine noch das andere sind. Interesse-Kinder spüren sich selbst und besitzen eine eigene, innere Motivation. Sie ruhen in sich und wissen klar und ohne jeden Zweifel, was sie wollen–wie Max, Sohn einer Freundin, dem schon mit sechs Jahren klar war, dass er Pyrotechniker werden wollte, und der dieses Vorhaben sein Schulleben lang zielgerichtet verfolgte–obwohl niemand in der Familie je mit Pyrotechnik zu tun hatte.
Interesse-Kinder sind ein Geschenk. Sie gehen ihren Weg von ganz allein. Lassen Sie sie unbedingt gehen.