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Wenn der letzte Schrei verstummt … Drei Frauen verschwinden innerhalb weniger Jahre auf mysteriöse Weise: die Schülerin Jill, die Stripperin Kelly Jo und die Kunststudentin Rhonda. Nichts verbindet die drei – bis auf ihre Bekanntschaft mit einem angesehenen, vermögenden jungen Mann, Craig Thornton. Angeblich soll er zu allen dreien eine Liebesbeziehung gehabt haben. Detective Gage Hudson ist überzeugt, dass der Mann mit der Mordserie zu tun hat. Allerdings ist Craig seit einem Jahr tot … «Eine Geschichte voll überraschender Wendungen. Ich konnte dieses Buch nicht aus der Hand legen.» (Lisa Jackson)
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Seitenzahl: 501
Mary Burton
Am Ende bist du mein
Übersetzt von Gabriele Weber-Jaric
Wenn der letzte Schrei verstummt …
Drei Frauen verschwinden innerhalb weniger Jahre auf mysteriöse Weise: die Schülerin Jill, die Stripperin Kelly Jo und die Kunststudentin Rhonda. Nichts verbindet die drei – bis auf ihre Bekanntschaft mit einem angesehenen, vermögenden jungen Mann, Craig Thornton. Angeblich soll er zu allen dreien eine Liebesbeziehung gehabt haben. Detective Gage Hudson ist überzeugt, dass der Mann mit der Mordserie zu tun hat. Allerdings ist Craig seit einem Jahr tot …
«Eine Geschichte voll überraschender Wendungen. Ich konnte dieses Buch nicht aus der Hand legen.» (Lisa Jackson)
Mary Burton hat in den USA bereits zahlreiche Romane veröffentlicht; «Am Ende bist du mein» ist der erste, der auf Deutsch erscheint. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Richmond, Virginia.
Mehr Informationen zur Autorin unter: www.maryburton.com.
Sonntag, 24. September, 22.00 Uhr
Die Zeit hatte ihre Spuren auf den Videos hinterlassen.
Mitten auf dem Bild war eine senkrechte schwarze Linie, umgeben von Schneegeriesel, die ehemals leuchtenden Farben waren verblasst.
Als er die Filme in den letzten zwölf Jahren gedreht hatte, war er davon ausgegangen, dass sie ewig halten würden. Dass die Zeit, gepaart mit exzessiver Betrachtung, die Bilder seiner drei Schauspielerinnen und ihrer letzten Vorstellungen beeinträchtigen könnte, hatte er nicht gedacht. Das erste Band war kein großer Verlust. Beleuchtung, Ausstattung, Blickwinkel, all das war ihm damals noch nicht richtig klar gewesen. Zu hastig war er da vorgegangen, zu nervös. Aber er hatte dazugelernt, war sicherer geworden. Beim letzten Band sah man das bereits deutlich.
Mit der Fernbedienung in der Hand beugte er sich vor und richtete seine Aufmerksamkeit auf dieses letzte Band und konzentrierte sich nur auf die Frau. Die technischen Störungen blendete er aus.
Ein vergissmeinnichtblauer Unterrock aus Seide umspannte ihre vollen Brüste und den schlanken Körper, schmiegte sich um die untergeschlagenen Beine und das runde Gesäß. Eine blondePerücke verhüllte kastanienbraunes Haar und betonte das blasse Gesicht. Unter den braunen Augen waren zwei Ränder verschmierter Wimperntusche und auf den Wangen blauschwarz angelaufene Blutergüsse. Blicklos starrte sie vor sich hin und hielt sich die Hand, die er ihr hatte brechen müssen, als sie das letzte Mal ungehorsam gewesen war.
Außerhalb des Bildbereichs wurde eine Tür geöffnet und geschlossen. Schlüssel klimperten. Die Frau richtete sich auf und versuchte zu stehen, doch die Kette um ihre Taille zwang sie zurück auf die Knie. «Hallo?»
Er selbst hielt sein Gesicht nie in die Kamera.
«Tut mir leid, dass ich zu spät komme. So lang wollte ich gar nicht wegbleiben.»
Die Brust der Frau hob und senkte sich in kurzen Atemstößen. «Ich dachte schon, Sie würden nie mehr wiederkommen.» Achtzehn Stunden war er fort gewesen.
«Ich konnte dich nicht für immer verlassen.»
In den vergangenen beiden Wochen hatte er sie in gewissen Abständen allein gelassen, jedes Mal gedroht, nie mehr wiederzukommen, und die Tür abgeschlossen. Auf dem Video sah er, wie sie ihm nachrief – ihn anflehte, nicht zu gehen, und an ihrer Kette riss. Nach drei, fünf oder auch mehr Stunden kehrte er zurück. Sie weinte jedes Mal, und auf ihrem Gesicht spiegelten sich Erleichterung, Angst und aufflackernder Zorn. Er hatte sie langsam zermürbt und ihr beigebracht, dass ihre Welt sich um ihn drehte und sonst niemanden.
Als sie hochschaute, schenkte sie ihm ein Lächeln, das zugleich einnehmend und verzweifelt war. «Lassen Sie mich jetzt gehen?»
«Noch nicht.»
Das Lächeln verblasste. «Sie haben gesagt, wenn Sie das nächste Mal kommen, kann ich gehen.»
«Dann habe ich meine Meinung eben geändert.» Per Zoomholte er das Gesicht heran. «Deine Vorstellung hat mir so gut gefallen, dass ich einfach noch nicht auf Wiedersehen sagen kann.»
Von nahem erkannte man in den Augen die Enttäuschung, die langsam Entsetzen wich. «Sie werden mich nie gehen lassen, nicht wahr?»
«Habe ich das nicht versprochen?» Er klang beleidigt.
Tränen kullerten über ihre Wangen. Ihre Lippen bebten. Anscheinend ahnte sie, dass dies das Ende war. Das Spiel war aus.
Hysterisch begann sie an der Kette zu reißen, kämpfte mit wundervoll hüpfenden Brüsten. «Lassen Sie mich gehen! Warum tun Sie mir das an?»
«Ich liebe dich, Adrianna.»
«Lassen Sie mich gehen!» Sie schluchzte den Satz hervor.
«Ich habe dir gesagt, dass ich dich liebe. Und was musst du daraufhin sagen?» Verärgerung tränkte seine Worte. Wie viele Lektionen brauchte sie denn noch, um ihre Rolle richtig zu spielen?
«Nein, nein, nein. Mein Name ist Rhonda.» Die Seide unter der Kette war aufgerieben und von dem rostigen Eisen bräunlich gefärbt. «Ich heiße Rhonda.»
«Du bist nicht Rhonda!» Er schnipste mit den Fingern. «Sag das, was ich dir beigebracht habe. Sonst muss ich den Viehtreiber benutzen.»
Bei der Erwähnung des Elektroschockers wich der Kampfgeist aus ihrem Blick. «Bitte nicht.» Das Flehen mündete in heiserem Flüstern.
«Sag es!» Sie standen kurz vor ihrer letzten Szene. Die gierige Vorfreude in seiner Stimme war deutlich zu hören.
Die Frau schloss die Augen. «Ich liebe dich.» Das schwache Flüstern kam wie ein Stück Müll aus einem Abfalleimer gefallen. Doch der Widerstandsgeist, den sie anfangs gezeigt hatte, war erloschen.
Die bloßen Worte reichten ihm nicht aus. «Sag es nochmal. Und sieh mich dabei an.»
Die Frau schaute ihn an. «Ich liebe dich.»
Das klang schon besser.
Nervös knibbelte sie an dem abgesplitterten roten Nagellack an ihren Zehennägeln. Ein tätowierter Marienkäfer zierte ihren rechten Fußknöchel. «Kann ich jetzt gehen?»
Er überging ihre Frage. «Warum hast du eine Marienkäfer-Tätowierung?» In den letzten beiden Wochen hatte er den Käfer mit Vorliebe berührt. Ihn geküsst.
Tränen strömten über ihr Gesicht, als sei ihr klar geworden, wie vergeblich ihre Worte waren. «Das habe ich Ihnen doch schon zigmal gesagt.»
«Sag es nochmal.»
«Er ist ein Glückszeichen.»
Er lachte. «O ja, mir bringt er Glück. Bei dir wäre ich mir da nicht so sicher.»
Heiße Wut loderte in ihren Augen auf. «Warum machen Sie das immer und immer wieder?»
«Warum mache ich was?»
«Diese Spiele, die Sie mit mir treiben. Warum lassen Sie mich nicht gehen? Ich habe geschworen, dass ich niemandem etwas sage. Ich will einfach nach Hause und alles vergessen. Ich will leben.» Der Zoom erfasste die Schweißperlen auf ihrer Stirn. «Ich habe alles gemacht, was Sie wollten.»
Sie legte den Kopf in den Nacken. Unter der Perücke lugten dunkle Haare hervor. Fast hätten sie ihm diesen Augenblick verdorben.
«Sag es nochmal.» Seine Stimme verriet die Gereiztheit, die er an dem Tag verspürt hatte. «Und sag es, als würdest du es meinen!»
Die Frau senkte ihren Blick und ballte ihre linke Faust so fest, dass sich ihre Fingernägel in die Haut gruben.
Er knipste den Elektroschocker an. Ihr Kopf fuhr hoch, und ihr Blick richtete sich wieder auf ihn. «Ich liebe dich.»
«Wie heiße ich?»
«Craig. Dein Name ist Craig. Ich liebe dich, Craig.»
«Nochmal.»
Dieses Mal schaute sie direkt in die Kamera und schrie die Worte. «Ich liebe dich, Craig!»
Sein erigierter Penis war härter geworden. Endlich war er in der Lage, sie zu nehmen. Mächtige Gefühle trieben ihn an, doch noch immer war er sich des alles sehenden Kamera-Auges bewusst und achtete darauf, dass sein Gesicht abgewandt blieb.
Sie hatte unter ihm gelegen. Ihr Negligé bauschte sich um ihre Taille. Ihr Körper war reglos und kalt wie ein Wintersee. Er hatte sich rasch und heftig entladen. Noch nie hatte er sich dermaßen lebendig gefühlt, so ganz dem Augenblick verhaftet. In jenen flüchtigen Sekunden waren die Stimmen verstummt, die ihn verfolgten und ihm sagten, er sei nicht gut genug.
Jetzt, als Craig das Video zum bestimmt hundertsten Mal sah, waren die exquisiten Gefühle, die er damals erlebt hatte, ebenso verblasst wie die Bilder.
Der undefinierbare Hunger, der ihn so viele Jahre gequält hatte, war stärker geworden, und die Unruhe drückte wie ein Gewicht auf seine Brust. Ganz gleich, wie oft er sich das Video anschaute, an ihm nagten wieder die alten Gelüste und bettelten darum, befriedigt zu werden.
«Verdammt.» Er spulte zurück, ließ die letzten Sekunden noch einmal ablaufen und spürte die brennende Begierde, die gestillt werden wollte. «Ich liebe dich, Craig. Ich liebe dich, Craig. Ich liebe dich, Craig.»
Craig beugte sich vor und berührte das Gesicht auf dem Bildschirm. Mit dem Finger fuhr er an ihren Augen und Lippen entlang.
Am Rand des Bildschirms fing die Kamera den Lauf einer Schusswaffe ein. Die Frau wich zurück und presste sich gegen die Wand.
Weinend wollte sie davonkriechen, doch die Kette hielt sie zurück. Er packte ihre Perücke und warf sie zur Seite. Dann zerrte er sie hoch. Ihre Finger krallten sich in seine Arme, während sie schrie und verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Er hielt sie fest und setzte die Achtunddreißiger an ihre Schläfe.
«Ich liebe dich, Adrianna», flüsterte er.
Die Kugel durchschlug ihren Schädel. Blut spritzte. Sie fiel vornüber und war tot. Sein Herz raste wie ein Tornado.
Dann ließ er sie los, trat zurück und sah zu, wie sie auf dem Boden zusammensackte. Eine Sekunde verging. Dann war die Aufnahme beendet, und Schneegestöber erfüllte den ganzen Bildschirm.
In diesem Augenblick wurde Craig wieder bewusst, wie sehr er sich von ihrem Entsetzen genährt hatte. Ihre Panik – ebenso wie die der beiden anderen – hatten ihn wie eine Droge berauscht.
«Ich hätte nicht auf dich hören sollen. Dich nie gehen lassen sollen.» Jahrelang hätte er sie da unten verborgen halten können.
Hätte er gewusst, dass bis zum nächsten Mal drei Jahre vergehen würden, hätte er sie versteckt gehalten und sich noch länger an ihr ergötzt.
Er war dumm gewesen. Sehr dumm.
Frustriert schaltete er den Fernseher aus und konzentrierte sich auf den neuen digitalen Camcorder, den er letzte Woche gekauft hatte. Er war nicht größer als seine Handfläche, hatte jedoch ein Vermögen gekostet, und der Junge in dem Elektronik-Laden hatte versprochen, dass er kristallklare Bilder produziere, die garantiert ein Leben lang halten würden.
«So klar, dass Sie die Poren auf einem Gesicht erkennen können», hatte der Junge gesagt.
Craig umschloss die Kamera und staunte, wie kompakt sie war. Technologie war doch eine feine Sache.
Er richtete das Objektiv auf die leere Kellerecke mit der Holzvertäfelung und der lose zusammengerollten Kette und drückte auf Aufnahme. Das grüne Lämpchen leuchtete auf. Ein paar Sekunden lang filmte er die Ecke, drückte auf Stop, spulte zurück und betrachtete die Aufnahme auf dem Display der Kamera. Der Junge hatte nicht gelogen. Das Bild war so scharf, dass er die Maserung des Holzimitats erkennen konnte und die Fasern des braunen Teppichs.
Craig warf einen Blick auf den neugekauften rosafarbenen Unterrock und die blonde Perücke. Er legte die Kamera weg, nahm die Perücke und strich über das echte Haar, das genau im richtigen Blond gefärbt worden war.
Stellte sich die Details vor, die er aufnehmen würde, wenn er die Nächste filmte. Dieser Kamera würde nichts entgehen, und die Bilder würden ihn für Jahre zufriedenstellen.
Dieses Mal, dieses Mal, würde er nichts überstürzen. Die Nächste würde er in Ruhe genießen.
Craig schaute zu dem Monatskalender hinüber, der an der Seite seines Aktenschranks hing. Vierundzwanzig rote X zogen sich über den September. Wie Feuer flammte die Vorfreude in ihm auf.
In nur drei Tagen war es so weit: Dann würde die Jagdsaison beginnen.
In nur drei Tagen würde die Bühne einer neuen Schauspielerin gehören, die seine süße Adrianna verkörpern durfte.
Dienstag, 26. September, 07.15 Uhr
Adrianna war in Eile. Auf dem Weg über den Flur stellte sie ihren Kaffeebecher ab, schlüpfte in ihre Leder-Slipper und streifte sich eine Jeansjacke über. Die Kontaktlinsen hatten ihr in den übermüdeten Augen gebrannt, also hatte sie die Brille aufgesetzt. Zum Schminken war keine Zeit gewesen: Wimperntusche und Lippenstift mussten genügen. Auch zum Frühstücken war sie nicht gekommen, aber wenigstens hatte sie einen Bananen-Muffin in ihre Handtasche gesteckt.
Am vergangenen Abend hatte sie noch vorgehabt, frühzeitig zu Bett zu gehen, um den heutigen Tag ausgeruht in Angriff nehmen zu können. Aber dann war der Anruf aus der Notaufnahme gekommen. Ihre Mutter war mit dem Krankenwagen eingeliefert worden und fürchtete, kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. Also hatte Adrianna sich wieder angezogen und war zum Krankenhaus gerast.
In den letzten Jahren hatte sie etliche Krankenhäuser von innen gesehen, und die Gerüche nach Desinfektionsmitteln hasste sie inzwischen ebenso sehr wie die piependen Monitore, die Besucher, die auf Stühlen herumrutschten, und das stundenlange Warten auf Testergebnisse. In einer Kabine der Notaufnahme fand sie ihre Mutter, die sich mit einer Krankenschwester stritt.
«Hallo, Mom.»
Der Zorn ihrer Mutter löste sich in Tränen auf. Adrianna warf der Krankenschwester einen entschuldigenden Blick zu, woraufhin diese sich dankbar verzog.
«Alles wird gut, Mom. Mach dir keine Sorgen.»
Die Nacht hatte Adrianna im Krankenhaus verbracht, auf einem harten Stuhl, am Bett ihrer schlafenden Mutter. Die unbeantworteten Fragen, der Streit früher am Tag, lag wie ein Keil zwischen ihnen, so wie es in den ganzen letzten neun Monaten gewesen war.
«Warum hast du mir nur nie gesagt, dass ich adoptiert worden bin?»
«Das weiß ich nicht. Es tut mir leid.»
Um fünf Uhr morgens hatte ein Arzt Adriannas Mutter für gesund erklärt und in der Lage, wieder nach Hause zu gehen. Sie habe lediglich einen Panikanfall gehabt.
Adrianna fuhr ihre Mutter nach Hause, wo Estelle, die Haushälterin, übernahm. Adrianna kehrte in ihr Haus zurück und wusch sich unter der Dusche die Krankenhausgerüche vom Körper und aus den Haaren. Danach war es kurz vor sieben.
Und jetzt war sie zu spät dran.
Sie schnappte sich ihren Kaffeebecher und riss die Haustür auf. Ein sonniger Morgen, bestimmt schon zwanzig Grad – feuchte Luft, drückend und klebrig. Klare leuchtende Frische würde erst mit dem Altweibersommer im Oktober kommen. Aber das Laub der alten Eiche in ihrem Vorgarten begann sich bereits langsam golden und braun zu färben.
Sie warf die Haustür mit einem Knall ins Schloss. Der Türklopfer, ein Löwenkopf aus Messing, klapperte noch, als sie den Schlüssel abzog, über die Treppe zu ihrem Landrover lief und dabei Kaffee aus ihrem Becher verschüttete. Für die fünfzigminütige Fahrt blieb ihr noch eine knappe Dreiviertelstunde, und das während der ersten Rushhour des Tages.
Immer zu spät. Der Terminkalender immer zu voll. Immer das nächste Projekt im Visier, um die Rechnungen bezahlen zu können.
Auf den letzten Metern zu ihrem Wagen kam sie an dem Schild in ihrem Vorgarten vorbei, mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN. Sie zog die Wagentür auf, warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und glitt hinter das Steuer. Als sie den Kaffeebecher an den Mund setzte, entdeckte sie den Briefumschlag unter dem Scheibenwischer.
Aufstöhnend steckte sie den Becher in den Halter, stieg aus und zupfte den cremefarbenen Leinenumschlag ab. Groß und schwungvoll hatte darauf jemand mit der Hand Adrianna Thornton geschrieben. Thornton war ihr Ehename, den sie schon seit zwei Jahren nicht mehr benutzte. Adrianna riss den Umschlag auf und zog die Karte hervor.
Einen schönen dritten Hochzeitstag, Adrianna. Du bist für immer mein.
In Liebe,
Craig
Craig.
Ihr Ehemann.
Wie versteinert stand sie da, und ihr Herz fing an zu hämmern.
Du bist für immer mein. Craig.
Auch die Zeit schien innezuhalten, während sie mit dem Daumen über die eingeprägten Initialen oben auf der Karte strich. CRT. Craig Robert Thornton.
Ihr dritter Hochzeitstag! Wie konnte sie den vergessen haben?
Aber die Nachricht war typisch für Craig. Einfach. Liebenswert. Von Herzen. Immer hatte er solche kleinen Botschaften hinterlassen. Liebe dich, Babe. Du bist die Beste. Immer der deine.
Nur dass ihr Mann diese Karte nicht geschrieben haben konnte.
Craig war tot.
Tränen brannten in ihren Augen, während sie auf die selbstbewusste Handschrift starrte. Ihre Hand fuhr zu ihrem Bauch, doch da war nichts mehr.
Wer aber konnte es gewesen sein?
Adrianna ließ ihren Blick über den University Drive schweifen, die adretten Backsteinbungalows, die gepflegten Rasen, und rechnete halb damit – hoffte es sogar –, irgendwo jemanden zu entdecken, der sie beobachtete. Sie hätte ihn zur Rede gestellt, und wenn auch nur, um sich von ihrem Kummer abzulenken. Aber da war keine verdächtige Gestalt.
Eine Nachbarin in einem Kostüm von Prada zerrte eine grüne Tonne mit Biomüll zum Bordstein. Ein älterer Mann jonglierte mit Kaffeebecher und Aktentasche und ließ sich in seinem Lexus nieder. Eine junge Mutter scheuchte ihre Grundschulkinder in einen Van, um sie zu einer Privatschule zu fahren. Alles war wie immer. Auf fast schon quälende Weise vorhersehbar.
Im Grunde konnte es für die Karte nur eine einzige Erklärung geben: Irgendjemand versuchte, ihr Angst einzujagen und sie aus der Bahn zu werfen, weil sie dabei war, Land und Haus der Thorntons zu verkaufen, die sie von ihrem Mann geerbt hatte. Das Familienanwesen der Thorntons – auch «Colonies» genannt – stammte noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg: achtzig Hektar Land, im östlichen Henrico County, wunderschön am Flussufer gelegen und von Historikern gerühmt. Die Colonies zu verkaufen, hieß diesen verträumten Landstrich dem einundzwanzigsten Jahrhundert preiszugeben, und es gab Menschen, die das Neue, das sich da anbahnte, nicht schätzten.
Heute – an ihrem dritten Hochzeitstag – würden Arbeiter kommen, um die elf Familiengräber der Thorntons auszuheben. Das Land war verkauft. Lediglich die Grabstätten mussten noch verlegt werden. Danach, am Tagesende, würde es nichts mehr geben, das Adrianna mit den Colonies verband.
Als sie den Antrag zur Umsetzung der Gräber stellte, hatte sie sich im Geist gewappnet, mit Vorwürfen, Einwänden, wenn nicht gar einem Gerichtsverfahren gerechnet. Aber auf so etwas wie diese Karte wäre sie nicht einmal im Traum gekommen.
«Wichser.»
Adrianna lief zurück zum Haus, öffnete die Mülltonne an der Seite, warf die Karte hinein und knallte den Metalldeckel zu. Seine Vibrationen spürte sie bis hoch in den Arm.
Von einem anonymen Feigling würde sie sich keine Angst einjagen lassen.
Einen schönen dritten Hochzeitstag.
Wieder kamen ihr die Tränen. Sie legte den Kopf in den Nacken und wünschte sich, der Schmerz in ihrer Brust würde vergehen, ebenso wie das ungute Gefühl, das sie befallen hatte. Die Karte hatte nichts zu bedeuten. Kein Grund, sich verrückt zu machen.
Einen schönen dritten Hochzeitstag.
Doch die einfachen Worte rissen die alten Wunden auf, ganz gleich wie sehr sie gehofft hatte, sie wären inzwischen verheilt.
Ihr Haar war noch feucht von der Dusche und klebte wie Spinnweben an ihren Schläfen. Sie strich es sich aus der Stirn und raffte es mit einem Gummiband zusammen.
Wieder in ihrem Wagen stellte sie das Autoradio an. Die Stimme von Sheryl Crow ertönte. Adrianna konzentrierte sich auf den Text und die Melodie, bis sie merkte, dass sie ruhiger wurde. An die verfluchte Karte würde sie nicht mehr denken. Oberste Priorität hatte heute die Sache mit den Gräbern. Sie mussten endlich verschwinden.
Sie stellte den Motor an und setzte den Wagen aus der Einfahrt zurück. Wenig später fuhr sie auf der I-64 Richtung Osten, verdrängte die Gedanken an die Karte und begann, mit dem Handy Lieferanten anzurufen.
Ihr gehörte eine Agentur für Inneneinrichtungen, Barrington Designs. Es war ein Geschäft, bei dem sie nicht nur ein Auge für Farben und Gestaltung brauchte, sondern auch das Geschick, die vielfältigen Details zu koordinieren, bis sie wie Puzzlestücke zusammenpassten. Stoffe, Hölzer, Installationen, Kacheln, Fliesen und Möbel mussten ausgewählt und die Arbeiten beaufsichtigt werden. Und währenddessen hatte sie darauf zu achten, dass ihre Projekte jeweils im Rahmen der geplanten Zeit und des Budgets blieben.
Als Adrianna die Bundesstraße verließ und über eine alte Landstraße den Weg zum Anwesen der Thorntons einschlug, hatte sie mit zwei Malern telefoniert, einem Tapezierer und einer Möbelfirma in North Carolina. Ihr letzter Anruf galt Billy Miller, dem Mann, der für die Verlegung der Gräber zuständig war. Dann tauchten vor ihr auch schon die weißen Säulen an der Einfahrt zum Herrenhaus auf.
Der Putz der Säulen war abgebröckelt, über die Einfahrt wucherte Gras, und aus dem Mauerwerk am Giebel des Hauses waren Steine herausgebrochen, alles eine Folge der Zeit und des Wirbelsturms, der im August durch das County gefegt war.
Angesichts der heruntergekommenen Fassade und der sinkenden Immobilienpreise hatten die Makler anfänglich den Kopf geschüttelt, doch das Haus und die Ländereien waren kaum auf dem Markt gewesen, da waren sie bereits verkauft. Der Käufer hieß William Mazur, ein Mann um die vierzig, von mächtiger Statur, mit militärisch kurzem Haarschnitt und einem Gesicht, das von Wind und Wetter gegerbt war. Wie er erklärte, habe er sich auf Anhieb in das Anwesen verliebt und davon geträumt, es zu besitzen, seit er in die Gegend gezogen war. Die Summe, die Adrianna verlangte, hatte er anstandslos gezahlt, allerdings mit der Auflage, dass sie die Grabstätten der Familie entfernen ließ. Gräber auf dem Grundstück würden seine neue Frau verstören. Adrianna hatte sofort eingewilligt.
Doch als sie durch die beiden Säulen auf das Haus zufuhr, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Die Thorntons hatten die Colonies gehegt. So viel Familiengeschichte. So viel Tradition. Und dann kam Adrianna und löste alles auf.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem sie und Craig hier zum letzten Mal gewesen waren, eine Woche vor ihrer Hochzeit im späten September. Ihre zukünftige Schwiegermutter, Frances Thornton, hatte sie und Craig gebeten zu kommen und Blumen auf die Gräber zu legen. Frances war seit dem College mit Adriannas Mutter befreundet gewesen, und Adrianna hatte Tante Frances von Kindheit an geliebt. Für die Frau, die kurz davor war, den Kampf gegen ihre Krebskrankheit zu verlieren, hätte sie alles getan.
«Craig, bitte nimm das jetzt ernst.» Adrianna legte einen Strauß Lilien auf das Grab seines Vaters.
Craigs dichtes blondes Haar fiel ihm in die Augen, sodass er sie mehr an einen Jungen als an einen Mann erinnerte. Er trug eine Khaki-Hose, ein weißes Polohemd und italienische Loafer ohne Socken. «Ich nehme das ernst, Babe.» Er schaute auf seine Rolex. «Was meinst du, wie lang du noch brauchst?»
«Ich weiß nicht. Wir sollen Blumen auf jedes Grab legen und dann eine Gedenkminute einhalten.»
«Eine Gedenkminute? Wozu soll das denn gut sein?»
«Frag mich nicht. Schließlich ist es deine Familientradition, nicht meine.»
Adrianna zupfte ein paar Blätter von ihrer Designer-Jeans. «Nimm meine Hand, und dann neigen wir den Kopf.»
Sein Lächeln war nachsichtig und liebevoll. «Was für Gedanken du dir wegen solcher Kleinigkeiten machst.»
Craig machte sich nie Gedanken. «Traditionen halten eine Familie zusammen.»
«Ich finde sie erdrückend.»
«Craig.» Sie sagte es warnend, wie eine leise Erinnerung an den Sommer, als sie ihre Verlobung gelöst hatte. Die vielen Partys, die oberflächlichen Witze, all das war sie damals leid gewesen. Sie hatte einen Mann gewollt und keinen Jungen. Nur der massive Druck ihrer Mütter hatte sie gegen Sommerende wieder zu ihm zurückgebracht. Sie hatten noch einmal eine Chance.
Craig straffte seine Schultern, und sein Blick wurde ernst. «Okay, ich werde mich bessern, das verspreche ich dir.» Er umschloss ihre Hand.
Besänftigt lächelte Adrianna ihn an. «Gut, dann legen wir jetzt eine Schweigeminute ein.»
Sie schaute auf die Inschrift des Grabsteins: Robert Thornton, geliebter Ehemann von Frances und liebender Vater von Craig. Adrianna neigte den Kopf und sprach ein stummes Gebet für die Thorntons und die Ehe, die sie eingehen würde.
Nach wenigen Sekunden wurde Craig unruhig und begann, mit der Fußspitze auf den Boden zu tippen. Adrianna warf ihm einen Seitenblick zu. «Hat dein Vater dir nie erklärt, wie man sich an einem Grab benimmt?»
Craig machte ein reumütiges Gesicht. «Du weißt doch, wie er gewesen ist. Mein Vater war kein redseliger Mensch.»
Im Gegensatz zu seinem Sohn war Robert Thornton ein strenger und verschlossener Mann gewesen. «Aber er muss es doch mal erwähnt haben.»
«Für diesen ganzen Familienkram hat er sich weit weniger interessiert als meine Mutter. Sie ist von dem Thema regelrecht besessen. Vor allem jetzt.»
Adrianna wünschte, er würde sich ehrfürchtiger zeigen. Sie dachte an das, was sie ihm zuliebe geopfert hatte, und auch dessen sollte er sich würdig erweisen. «Und?»
Betont demütig sagte er: «Ich ehre die Familie Thornton und die Privilegien, die sie mir schenkt. In dieser Familie heiße ich meine Braut willkommen. Wir werden für immer zusammen sein.»
Adrianna hob eine Braue. «Und das hältst du für passende Worte?»
Craig beugte sich zu ihr vor. «Mehr oder weniger. Und jetzt müssen wir uns küssen.»
«Wer sagt das?»
«Ich.» Er zwinkerte ihr zu und küsste sie auf den Mund. «In meinem Wagen befinden sich eine schöne Flasche Chardonnay und ein Picknickkorb. Wie wär’s, wenn wir den Tag genießen und die Toten in Frieden ruhen lassen?»
Craig legte einen Arm um sie. Adrianna lehnte sich an ihn und sog den Duft seines Rasierwassers ein. «Nimmst du überhaupt etwas ernst?»
«Dich nehme ich ernst.» Er sagte es mit Inbrunst. «Ich liebe dich, Adrianna, und ich möchte dich nie mehr verlieren.»
Adrianna spürte das schnelle Schlagen seines Herzens. Craig liebte sie tatsächlich. Und sie empfand sehr viel für ihn. Sie hoffte nur, dass beides ausreichen und ihre Ehe ihn gesetzter und reifer machen würde.
«Ich bin schwanger.»
Er drehte sie zu sich herum und schaute ihr in die Augen. «Was?»
Adrianna nagte an ihrer Unterlippe und hatte plötzlich Angst, er könnte das Kind nicht wollen. In manchen Dingen benahm er sich ja selbst noch wie ein Kind. «Seit einem Monat.»
Selig lächelnd drückte Craig sie an sich. «Ist doch großartig, Babe.»
«Du freust dich? Geplant war das ja nicht …»
Craig lachte. «Das ist die beste Nachricht, die ich jemals gehört habe. Das Leben wird einfach immer schöner.»
Zwei Monate später raste eine Betrunkene in ihren Wagen. Adrianna hatte eine Fehlgeburt. Craig erlitt einen Gehirnschaden. Zwei Jahre lag er im Koma, und im vergangenen Dezember war er gestorben.
Zwei Tauben flatterten über die Einfahrt hinweg. Adrianna fuhr zusammen und verjagte die düsteren Erinnerungen.
Mit ein paar tiefen Atemzügen lockerte sie die Enge in ihrer Brust und folgte der kiesbestreuten Einfahrt, die in einen Kreis vor dem Eingang des alten Gebäudes mündete. Beim Verlassen des Wagens warf sie einen Blick auf ihre Uhr und beschloss, sich rasch noch den Zustand der Räume anzusehen. Auf eine Minute mehr oder weniger käme es jetzt auch nicht mehr an.
Noch vor fünfzehn Jahren war das Herrenhaus imposant gewesen. Die Reichsten und Mächtigsten des Staates waren dort empfangen worden, und als Teenager hatte Adrianna an den Partys teilgenommen. Auch ihren sechzehnten Geburtstag hatte Frances dort für sie gefeiert.
Sie betrachtete den Verfall der runden Säulen, den Schimmel, der sich in die weißgekalkte Holzverschalung fraß, und die Lücken, dort wo die Dachpfannen dem Sturm zum Opfer gefallen waren.
Dann stieg sie die Stufen hoch und betrat die Eingangshalle, die zu einer breiten Treppe und einem langen Flur führte, der das Erdgeschoss teilte. Lichtschäfte fielen aus offenstehenden Türen.
«Mrs. Wells?», rief sie.
Mrs. Wells spähte aus dem vorderen Salon hervor. Die Haushälterin war Ende fünfzig, mit kurzen rötlich-grauen Locken und einer rundlichen Figur, die ihr Sweatshirt und ihre Jeans prall ausfüllte. Sie und ihr Mann Dwayne lebten nur wenige Meilen entfernt und hatten sich seit vierzig Jahren um das Anwesen gekümmert. Sie betupfte sich ihre rotgeränderten Augen. «Ja, Ma’am?»
Adrianna musterte sie besorgt. «Ist was passiert?»
Mrs. Wells schniefte. «Ach wo. Ich bin nur traurig, weil das Haus in andere Hände übergeht. So viele Erinnerungen. Trotzdem, schönen Dank, dass Sie fragen, Mrs. Thornton.»
«Bitte, nennen Sie mich Adrianna.»
«Ich glaube, das wäre nicht recht», lächelte Mrs. Wells verlegen.
Du lieber Himmel, dachte Adrianna, die Frau war gerade mal dreißig Jahre älter als sie. «Wir leben doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert.»
Ein Anflug von Humor blitzte in Mrs. Wells’ blassgrünen Augen auf. «Kommt drauf an, mit wem Sie reden. Ein paar Leute hier in der Gegend würden das mit Sicherheit bestreiten. Wenn Sie mich fragen, warten hier etliche noch darauf, dass die Konföderierten sich wieder erheben.»
«Ja, wahrscheinlich.» Adrianna folgte Mrs. Wells in den Salon.
Über den Möbeln hingen weiße Laken, und die Teppiche waren aufgerollt worden. Die Einrichtung wurde ebenfalls verkauft. Nur die Gemälde hatte Adrianna behalten. Sie lehnten in Schutzrahmen an der Wand. In gut einer Woche würden sie in einem Auktionshaus zum Verkauf angeboten. Der Erlös sollte der Säuglingsstation im Mercy Hospital zugutekommen.
«Sieht aus, als hätten Sie hier unten schon das meiste erledigt.»
«Die Möbel in den beiden vorderen Räumen habe ich poliert und abgedeckt. Nur um das, was oben steht, muss ich mich noch kümmern.»
«Bringen Dwayne und Ben heute alles ins Lager?» Dwayne Wells und seinem Sohn Ben gehörte ein gutlaufendes Transportunternehmen, das auf Antiquitäten und Kunst spezialisiert war. Adrianna hatte mehrfach mit ihnen zusammengearbeitet.
«Ben lässt Ihnen ausrichten, dass sie das morgen früh als Erstes machen. Heute führen sie einen anderen kleineren Auftrag durch. Morgen werden auch die Gemälde zum Auktionshaus geschafft.»
«Werden Sie denn bis dahin fertig?»
«Ja, Ma’am.»
«Schön. Mr. Mazur möchte das Haus in tadellosem Zustand übernehmen.»
«Entschuldigen Sie, wenn ich das frage, aber lässt Mr. Mazur nicht sämtliche Leitungen im Haus neu verlegen?»
«Doch. Und seine Arbeiter werden die Wände aufreißen. Weshalb er das Haus geputzt haben will, ist mir ein Rätsel. Aber bitte, er ist der Käufer.»
«Na, dann soll er seinen Willen haben.»
Adrianna schaute auf ihre Uhr. «Ich muss hinaus zu den Gräbern.»
«Dr. Heckman ist auch auf dem Weg dahin. Ich habe ihn gesehen.»
Adrianna presste die Lippen zusammen. «Ich wette, er hat die öffentliche Ankündigung in der Zeitung gelesen.» Eine solche Anzeige war vom Bundesstaat Virginia vorgeschrieben.
Für lange Zeit war Dr. Cyril Heckman ein Freund von Frances Thornton gewesen, insbesondere in den letzten Jahren vor ihrem Tod. Das Anwesen der Thorntons zu erhalten, wie es seit Generationen gewesen war, betrachtete er als seine Mission. Um den Verkauf zu unterbinden, hatte er im Frühjahr eine Klage eingereicht, doch die hatte Adriannas Anwalt niedergeschlagen.
«Ich könnte Dwayne oder Ben anrufen. Die würden ihm Beine machen.»
«Ein verlockender Gedanke, aber ich werde schon selbst mit ihm fertig.»
Mrs. Wells blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. «Ich mag den Mann nicht, selbst wenn Miss Frances ihn gern hatte.» Mrs. Wells war Frances Thornton über deren Tod hinaus treu ergeben, denn sie hatte ihr das Cottage des Hausverwalters mit einem Stück Land vermacht.
«Wenn die Möbel und die Gemälde fort sind, soll Ben mir die alten Sachen aus dem Keller holen», sagte Adrianna.
«Warum wollen Sie sich damit belasten? Das kann ich doch für Sie machen.»
«Nein, ich glaube, das erledige ich lieber selbst.»
«In den Kisten da unten dürfte das Zeug von drei Generationen stecken. Wer weiß, auf was Sie da alles stoßen?»
«Ja, wer weiß.»
Dienstag, 26. September, 08.15 Uhr
Gage Hudson war auf dem Weg zu den Colonies und spürte die Unruhe in seiner Magengrube, die sich verstärkte, je näher er seinem Ziel kam.
«Mach lieber halblang, Hudson», sagte Nick Vega. «Die Thorntons waren alter Virginia-Adel, und du, Sportsfreund, bist ein armer Hund aus dem Südwesten.» Nick war Detective im Morddezernat und saß auf dem Beifahrersitz des Crown Victoria. Vollkommen entspannt lehnte er sich zurück, schien keine Sorge auf der Welt zu haben und zuckte nicht einmal zusammen, als Gage aufs Gaspedal trat und auf der engen Straße einen Lieferwagen überholte.
Hudson leitete die Vermisstenabteilung, wünschte sich jedoch, bei seinen Suchaktionen häufiger Lebende als Tote zu finden. Schon seit Jahren arbeitete er mit Vega und den anderen Mitgliedern der Mordkommission zusammen. An deren Arbeitsweise und einige ihrer Marotten hatte er sich inzwischen gewöhnt. Auch Vegas Hänseleien und Seitenhiebe nahm er hin; sie gehörten zu ihm wie seine Vorliebe für Zigarren und Jazzmusik.
«Hast du bei meiner Einführung geschlafen?» Wenn Gage gestresst war, trat die Sprechweise des südwestlichen Virginia deutlicher hervor.
Vega zuckte mit den Schultern. Es waren die breiten Schultern eines Mannes, der Gewichte stemmte und in der Amateurliga Baseball spielte. Vega war Anfang dreißig, mit olivfarbener Haut und tintenschwarzem Haar, das er kurz trug. Er bevorzugte lässige Kleidung, Hemden mit offenem Kragen, weite Hosen, und liebte schlechte Witze, hatte aber einen scharfen Verstand. «Ich musste ans Telefon. Das große Finale habe ich verpasst.»
Gage trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. Er mochte es nicht, wenn er etwas zweimal sagen musste. Seit zwölf Jahren war er bei der Polizei, die letzten sechs in der Vermisstenabteilung. Bei der Arbeit galt er als zäher Bursche, wenn nicht gar als Jagdhund, wie einige behaupteten.
Gages Fähigkeiten wurden jedoch nie in Frage gestellt, obwohl es Menschen gab, die sich fragten, warum er zur Polizei gegangen war, da er doch eine vielversprechende Football-Karriere vor sich gehabt hätte.
Gage hatte schon in seiner Kindheit Football gespielt. Dank seines Talents und seiner eisernen Disziplin hatte er sich bereits in der Schulmannschaft hervorgetan und später an der Virginia Tech ein Stipendium erhalten. Schon im ersten Studienjahr war er Quarterback der College-Mannschaft geworden. Im zweiten Jahr – nach einem großen Sieg in der Sugar Bowl – war Gage ein regelrechter Star. Dem folgten eine schnelle Heirat mit dem Mädchen, das die Cheerleader anführte, und ein Vertrag mit den Atlanta Falcons. Danach war Gage Hudson unantastbar, zumindest für kurze Zeit.
Nach nur zwei Wochen im Trainingslager wehrte er einen brutalen Angriff ab, riss sich die Sehnen und Knochen einer Schulter und landete als Verletzter auf der Reserveliste. Seine Frau blieb in Atlanta, doch Gage zog sich nach Virginia zurück, in das Haus, das er seinen Eltern und Geschwistern gekauft hatte. Dort wollte er sich erholen. Eines Nachmittags, während er vor sich hin döste, kam seine Mutter und wollte wissen, wo Jessie sei, Gages zehnjährige Schwester, die vor drei Stunden hätte zu Hause sein sollen. Gage rappelte sich auf und fing an, die Eltern ihrer Freundinnen anzurufen. Niemand hatte Jessie gesehen.
Dann hatte die qualvolle Suche nach dem Mädchen begonnen. Drei schlaflose Tage und Nächte durchkämmte Gage die dichten Wälder der Umgebung.
Am Morgen des vierten Tages entdeckte er Jessie in einer verfallenen Hütte. Sie war an einen Stuhl gefesselt. Betäubt. Schmutzig. Kratzer an den Beinen. Ein Schuh fehlte.
Benommen schaute sie zu ihm hoch. «Gage?»
Selbst jetzt bei der Erinnerung hatte er das Gefühl zu ersticken. In rasendem Tempo war er mit ihr zur Notaufnahme gefahren. Wenig später kamen Ärzte, und sein schlimmster Albtraum wurde wahr. Jessie war vergewaltigt worden.
Jener Tag änderte den Verlauf seines Lebens. Gage verließ die Falcons und wurde Mitglied der Polizei.
Erst da erkannte er, wie wichtig anderen seine Football-Karriere gewesen war. Seine Frau, seine Eltern, die Leute aus der Stadt, sie alle nahmen ihm seine Entscheidung übel und ließen es ihn spüren, jeder auf seine Weise. Aber Gage hatte nicht mehr zurückgeblickt und seinen Entschluss nie bereut.
Gage räusperte sich. «Also, nochmal. Vor drei Jahren habe ich den Fall einer Vermissten bearbeitet. Rhonda Minor war ihr Name. An einem Freitag hatte sie ihren Bruder auf einen Drink treffen wollen, ist aber nie aufgetaucht. Der Bruder hat mehrmals versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, und überlegt, wo sie sein konnte. Aber sie war weg, und in ihrer Wohnung fehlte Kleidung. Seiner Aussage nach war sie eine anständige junge Frau und arbeitete hart, kein Mensch also, der sich einfach aus dem Staub macht. Kurz vorher hatten sie sich gestritten, aber trotzdem wäre sie deshalb nicht verschwunden. Ich habe damals mit den Nachbarn, Mitbewohnern und Freunden gesprochen. Niemand wusste, wo sie war. Ein paar von ihnen dachten, sie wäre nach Italien verschwunden, um dort Kunst zu studieren. Das war wohl ihr Traum.»
«Italien?», wunderte sich Vega. «Haben sie und ihr Bruder sich deswegen gestritten?»
«Ja. Er war dagegen. Sagte, ihr Chef hätte ihr einen Floh ins Ohr gesetzt.»
«Wer war dieser Chef?»
«Craig Thornton.»
Vega stieß einen Pfiff aus. «Der Craig Thornton?»
«Genau. Rhonda arbeitete in seiner Galerie. Sie hatte ein Kunststudium an der Virginia Commonwealth University abgeschlossen und wollte die Arbeit in einer Galerie kennenlernen. Aber Craig muss ihr ständig gesagt haben, wie begabt sie als Malerin sei und dass sie sich ganz darauf konzentrieren solle.»
«Die Galerie kenne ich. Ich glaube, die gibt’s schon ewig.»
«Seit einundachtzig Jahren.» Gages Kinnlade verhärtete sich.
«Und? Konnte Thornton dir weiterhelfen?»
Gage umklammerte das Lenkrad. «Nein. Der Typ war aalglatt und hat getan, als sei das alles ein Jux. Aber ich hatte den Mann kaum gesehen, da hatte ich schon den Verdacht, dass er irgendetwas verbirgt. Er hat mir sogar eine Ansichtskarte gezeigt, die Rhonda ihm aus New York geschickt hatte. Darauf stand ‹Vielen Dank. Ciao›.»
An einem verregneten Nachmittag im Oktober hatte Gage Craig Thornton aufgesucht, schlecht gelaunt und kampflustig. Im Sommer zuvor war er mit Adrianna ausgegangen, die inzwischen mit Thornton verheiratet war. In dem Sommer hatte sie sich von Craig getrennt und erklärt, sie sei bereit für ein neues Leben. Scheiße, sie waren nicht nur miteinander ausgegangen. Wem machte er hier eigentlich was vor? Sie hatten eine heiße, intensive Affäre. Gage hatte von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Dann hatte er einen neuen Fall übernommen. In den letzten beiden Augustwochen hatten sie sich kaum gesehen. Hinterher würde er es wieder wettmachen, das hatte er sich damals geschworen. Aber dann hatte sie ihm eröffnet, dass sie ihn verlassen und zu Thornton zurückkehren würde.
Als Gage an jenem Oktobernachmittag die Galerie betrat, glühten seine Gefühle für Adrianna noch immer wie heiße Asche.
Vier Jahre waren seit seiner Affäre vergangen, und er hatte sich gezwungen, nicht mehr daran zu denken. An das, was er besessen und verloren hatte. An den meisten Tagen war es ihm gelungen.
«Was war denn nun mit Thornton? Hat er dich einfach abgewimmelt?»
«So ungefähr. Aber irgendetwas war da. Etwas Unterschwelliges. Als wäre da mehr zwischen ihm und Rhonda gewesen. Ich habe noch gefragt, ob seine Frau Rhonda gekannt hat.»
Vega hob eine Braue. «Und?»
«Seine Miene hat sich ganz leicht verhärtet. Dann hat er gesagt, Adrianna verkehre nicht mit seinen Angestellten. Sie habe genug mit ihrem Geschäft für Inneneinrichtung zu tun und sei außerdem schwanger.» Schwanger. Für Gage war es wie ein Tritt in den Magen gewesen.
«Aber ich hätte Geld darauf verwettet, dass Thornton was mit Rhonda hatte.»
«Und weshalb?»
«Irgendwas ist zwischen den beiden gelaufen. Ich konnte es nur nicht beweisen.»
Vega schlug eine abgegriffene Hängemappe auf, auf deren Reiter Minor stand, und betrachtete das angeheftete Foto auf der Innenseite. Kastanienbraunes Haar, große braune Augen, strahlendes Lächeln und üppige Brüste, die sich unter der Kleidung abzeichneten. Sie entlockten ihm den nächsten Pfiff. «Donnerwetter.»
Gage warf einen Blick auf das Foto. «Ja, sie sah gut aus.»
Vega blätterte durch die Seiten mit Gages Notizen. «Hebst du alle Akten mit deinen ungelösten Fällen bei dir auf?»
«Nur solche, die mir keine Ruhe lassen.»
Vega überflog eine der Seiten. «Und wie ging’s weiter?»
«Ich habe ein bisschen gegraben. Leider hat es nicht ausgereicht, um Einsicht in Thorntons Geschäftsunterlagen erwirken zu können. Also habe ich angefangen, in seiner Vergangenheit herumzustochern. Rhonda war nicht die erste Frau in seiner Bekanntschaft, die verschwunden ist. Die Frau, mit der er auf dem Abschlussball war, ist irgendwann spurlos verschwunden. Nichts hat damals auf Thornton hingedeutet, denn als der Fall gemeldet wurde, war er außer Landes. Trotzdem hat der Typ was verheimlicht. Aber ohne Beweise und angesichts seiner Familienbeziehungen konnte ich ihm nichts anhaben.»
Vega runzelte die Stirn. «Hat er später nicht einen Autounfall gehabt?»
«Doch. Ungefähr sechs Wochen nach meinem Besuch in der Galerie. Eine betrunkene Fahrerin ist ihnen reingefahren. Thornton hat es den Schädel zertrümmert. Seine Frau hat es auch übel erwischt.»
«Wenn ich mich recht entsinne, ist er aber nicht gleich gestorben.»
«Er hat über zwei Jahre im Koma gelegen. Letzten Dezember ist er gestorben.»
«Jetzt kommt’s mir wieder. Die Frau hatte betrunken eine rote Ampel überfahren.»
«Ja, 2,6 Promille.»
«Scheiße. Bei 2,6 kannst du kaum noch stehen, geschweige denn fahren.»
«Sie ist verurteilt worden. Es war das dritte Mal, dass sie wegen Trunkenheit am Steuer geschnappt wurde. Inzwischen sitzt sie im Gefängnis eine dreijährige Strafe ab.»
Vega schaute Gage von der Seite an. «Du weißt ziemlich viel über die Thorntons.»
«Ich mag keine ungelösten Fälle.» Gage hielt seine Stimme ruhig, seinen Körper entspannt und schaute geradeaus. In Wahrheit war er alles andere als ruhig und entspannt.
Adriannas weiteres Leben hatte er in der Zeitung verfolgt. Nachrichten über ihr Geschäft. Dass sie den Vorsitz der Spendensammlung für die Kinderklinik übernommen hatte. Die Beerdigung ihres Mannes. Die öffentlichen Ankündigungen über den Verkauf des Anwesens und die Verlegung der Gräber.
«Und weshalb fahren wir ausgerechnet jetzt zum Haus der Thorntons?»
«Adrianna Barrington, die Witwe von Thornton, lässt die Familiengräber verlegen und räumt das alte Haus.»
«Na und?»
«Es gibt zwei verschwundene Frauen. Und was wäre besser geeignet als ein Privatfriedhof, um zwei Leichen zu vergraben?»
«Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?»
Dasselbe hatte Gage sich in den letzten Wochen gefragt, seit dem Tag, als er die Anzeige in der Zeitung gelesen hatte. Vielleicht war es tatsächlich weit hergeholt. «Nein, das glaube ich nicht. Vor drei Jahren wollte ich das Gelände untersuchen lassen, aber Thornton hat sich dagegen gewehrt. Und dann hat sein Anwalt dafür gesorgt, dass ich die Finger davon lasse.»
«Das beweist noch gar nichts.»
«Weiß ich selber.» Gage zuckte die Achseln. «Aber wenn du einen Stein anhebst, kommt meistens etwas darunter hervorgekrochen. Im schlimmsten Fall sind wir dabei, einen Vormittag zu verplempern.»
Vega rieb sich das frischrasierte Kinn. «Du weißt, dass Adrianna Barrington die Schwägerin von Warwick ist, oder?»
«Jacob Warwick?», fragte Gage verblüfft.
«Genau der.» Warwick war ehemaliger Boxer und Ex-Marine, ein erfahrener Detective der Mordkommission, der sich nichts vormachen ließ. Im vergangenen Winter hatte er die Chefreporterin eines Fernsehsenders geheiratet. Es war eine kleine Feier im engsten Kreis gewesen. Als es herauskam, hatte es viel Gerede unter den Kollegen gegeben.
Wie wenig er doch über Adrianna wusste, dachte Gage. «Sag bloß, sie ist die Schwester von Kendall Shaw Warwick, die früher bei Channel 10 war?»
«Ja. Das haben die beiden aber erst vor kurzem herausgefunden. Als sie noch sehr klein waren, wurden sie von zwei verschiedenen Familien adoptiert.»
«Was? Das höre ich jetzt aber zum ersten Mal.»
«Du kennst doch Warwick. Er lässt sich nicht gern in die Karten schauen. Außerdem hat Kendall ihn wohl gebeten, niemandem etwas zu sagen. Sie selbst hat ihre Beziehungen spielen lassen und die Presse zum Schweigen gebracht. Adrianna hat von der Adoption anscheinend nichts gewusst. Sie hat es erst letzten Winter erfahren und muss ziemlich durcheinander gewesen sein.»
Bei einem solchen Schlag ins Gesicht kein Wunder, dachte Gage. «Und warum wurde daraus so ein Riesengeheimnis gemacht?»
«Weil die Barringtons eine Tochter hatten, die fast genauso alt wie Adrianna war. Sie hieß übrigens auch Adrianna, ist aber gestorben. Die Barringtons haben sie einfach ersetzt.»
«Seltsam. Woran ist sie denn gestorben?»
«Laut Bescheinigung des Hausarztes plötzlicher Kindstod.»
«Und wo wurde sie begraben?»
«Unbekannt. Das Begräbnis wurde so geheim gehalten wie die Adoption. Und um die Staatsanwaltschaft einzuschalten, fehlten die Beweise.»
«Also haben wir einen siebenundzwanzig Jahre alten Totenschein und keine Leiche, die man nochmal untersuchen könnte.»
«Ja. Genügend Beweise, um die Akte zu schließen, aber nicht genug, um den Fall zu lösen.»
«Zumindest erklärt das, weshalb Kendall und Adrianna sich so ähnlich sehen.» Als er sie kennenlernte, hatte Gage Adrianna deswegen aufgezogen. Sie hatte gesagt, das habe sie schon häufig gehört.
«Wann hast du Adrianna Barrington eigentlich kennengelernt?», fragte Vega.
«Nach dem Autounfall habe ich mit ihr gesprochen. Ich hatte gehofft, ihr Mann hätte ihr etwas über Rhonda Minor erzählt.» Die Affäre behielt er für sich. Das war Schnee von gestern, und er wollte nicht als voreingenommen gelten.
Doch damals, nach dem Unfall, war der Fall Minor ein Vorwand gewesen. In Wahrheit wollte er wissen, wie es Adrianna ging.
Er war damals zum Mercy Hospital gefahren und hatte Adrianna auf der Säuglingsstation entdeckt, vor der Glasscheibe, hinter der die Neugeborenen lagen. Sie trug einen Morgenmantel. Das dichte blonde Haar fiel über ihre schmalen Schultern. Auf den hohen Wangenknochen erkannte man noch die Prellungen, die der Airbag hinterlassen hatte. Der Rest ihres Gesichts war blass und ungeschminkt.
Gage räusperte sich. «Adrianna?»
Adrianna regte sich nicht.
«Adrianna?»
Hellblaue Augen richteten sich auf ihn – ein gereizter und dann verwunderter Blick. «Gage? Was tust du denn hier?»
Von den Krankenschwestern hatte er erfahren, dass Adrianna im dritten Monat schwanger gewesen war und nach dem Unfall eine Fehlgeburt hatte. Mitgefühl und Sehnsucht vermischten sich in seiner Brust. «Es geht um einen Fall. Die Stationsschwester hat mir gesagt, dass ich dich hier finden würde.»
«Und weiter?»
«Was machst du hier unten?»
«Ich schaue mir die Babys an.» Ihr Blick kehrte zu den Säuglingen zurück. Adrianna war großgewachsen. Mit steifem Rücken stand sie da, aufrecht und eisern bemüht, ihren Schmerz zu verbergen.
Gage verspürte das Bedürfnis, sie zu berühren, und steckte seine Hände vorsichtshalber in die Hosentaschen. «Ich weiß Bescheid», sagte er. «Das mit dem Baby tut mir leid.»
Sie wandte sich um. Für einen Moment sah er die Trauer in ihren Augen.
«Wie geht es dir?»
«Ich werde es überleben.»
Gage suchte nach tröstlichen Worten, fürchtete aber, er würde nur hölzern klingen. «Was haben die Ärzte über deinen – ähm – über Craig gesagt?» Das Wort «Ehemann» brachte er nicht über die Lippen.
Adrianna betrachtete die Säuglinge. «Ich warte noch auf die letzten Testergebnisse.»
«Das muss hart sein.»
«Hart?» Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln, doch als sie ihn ansah, stand ihr die Sorge im Gesicht. «Ich habe meinen Sohn verloren. Mein Mann hängt an einer Beatmungsmaschine und weiß der Henker wie vielen Monitoren. Ich warte darauf, dass die Ärzte mir sagen, ob Craig in Zukunft vor sich hin vegetiert oder nicht. Ja, das ist tatsächlich hart.»
Gage hätte sie gern in die Arme geschlossen, doch seine Hände blieben in den Taschen.
Adrianna umklammerte ein zerknülltes Papiertaschentuch. Die Schwestern hatten Gage berichtet, dass Craigs Freunde und Bekannte nur auf einen Sprung vorbeigekommen seien und Adrianna sie tröste. Nur für sich selbst habe sie keinen Trost.
«Hast du denn niemanden in deiner Familie oder unter deinen Freunden, der herkommen und dir Beistand leisten kann? Was ist mit deiner Mutter?»
Adrianna seufzte. «Ich danke dir für deine Sorge, Gage, aber ich komme zurecht.»
Doch dann gab etwas in ihr nach. Tränen traten ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. Gage beugte sich vor. «Adrianna, dir geht es nicht gut. Das sehe ich doch.»
Adrianna hörte das Mitgefühl in seiner Stimme und wischte sich die Tränen ab. «Ich werde halt einen Fuß vor den anderen setzen.»
Sie hatte es ohne Selbstmitleid gesagt. Gage runzelte die Stirn. «Wann hast du eigentlich zum letzten Mal gegessen?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung.»
«Ich hole dir was aus der Cafeteria. Wie wäre das?»
Adrianna versteifte sich. Gage konnte förmlich sehen, wie sie sich wieder zurückzog. «Nicht nötig. Bitte, geh. Du hast hier nichts zu suchen.»
Einer der Säuglinge fing an zu schreien. Adrianna wandte sich ab und schaute durch die Glasscheibe.
Aber Gage war noch nicht bereit zu gehen. «Da ist noch etwas. Es geht um eine Frau, die verschwunden ist. Rhonda Minor. Sie hat für deinen Mann gearbeitet. Seit ein paar Monaten wird sie vermisst.»
«Ja, Craig hat mir schon erzählt, dass du mehrmals in der Galerie gewesen bist und ihn nach einer Angestellten gefragt hast.»
«Weiter nichts?»
«Nein. Den Weg hierher hättest du dir sparen können. Ich weiß nicht viel über Craigs Geschäft. Er hat nicht darüber geredet, und ich habe keine Fragen gestellt.»
Gage zog ein Foto von Rhonda Minor aus der Jackentasche. «Bitte, sieh dir das Foto an.»
Adrianna warf einen Blick darauf. «Ja, ich kenne die Frau. Auf ein, zwei Festen der Galerie habe ich sie gesehen. Aber richtig gesprochen habe ich mit ihr nie.»
«Sieh dir das Foto genauer an und denk nach. Sie ist dreiundzwanzig. Künstlerin. Möchte Malerin werden. Hat sie auf diesen Festen mal etwas zu deinem Mann gesagt, das dir komisch vorgekommen ist?»
Adrianna betrachtete das Foto. «Nein. Tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. Ehrlich nicht.»
«Kennst du Jill Lable?»
«Nein. Und ich habe auch keine Lust auf Ratespiele. Wer ist Jill Lable?»
«Die Frau ist mit Craig zur Schule gegangen. Seit zwölf Jahren wird sie vermisst.»
«Was soll das heißen?»
Gage wählte seine Worte mit Bedacht. «Ich verfolge lediglich die Spuren zweier Frauen, die deinen Mann gekannt haben und jetzt verschwunden sind. Meine Hoffnung war, dass Craig dir etwas über sie erzählt haben könnte. Männer erzählen ihren Frauen ja alle möglichen Dinge.»
«Auch dass sie jemanden ermordet hätten?»
Gage zuckte mit den Schultern.
«Craig mag ja Fehler haben, aber ein Mörder ist er nicht.»
«Da wäre ich mir nicht so sicher.»
Adrianna funkelte ihn böse an. Sie hatte zu viel Klasse, um zu sagen, er solle sich verpissen, aber ihre Augen verkündeten die Botschaft klar und deutlich. «Ich weiß nichts. Und jetzt geh bitte.»
Danach waren sämtliche Spuren im Sand verlaufen. Bis Gage die Anzeige im Richmond-Times-Dispatch gesehen hatte. Die Verlegung der Gräber war seine letzte Chance.
Gage überholte den nächsten dahinkriechenden Lieferwagen.
Vega dehnte seinen Rücken. «Glaubst du, Rhonda Minor ist tot?»
«Ja. Meiner Meinung nach war sie schon tot, ehe Craig Thornton den Unfall hatte. Mir fehlen lediglich die Beweise. Auch Jill Lable wurde nie gefunden. Aber ich werde die Suche nicht aufgeben, das habe ich mir geschworen.» Gage dachte an die Familien der beiden Frauen. «Rhondas Bruder ruft mich jeden Monat an und will wissen, ob es Neuigkeiten gibt.» Beim letzten Anruf klang er regelrecht gebrochen. Am zweiten September wäre Rhondas sechsundzwanzigster Geburtstag gewesen.
«Da vorn musst du abbiegen», sagte Vega.
Gage hatte das grüne Ortsschild mit der Aufschrift «Honor» schon entdeckt. «Weiß ich.»
Er schlug den Weg nach Osten ein, über eine Landstraße, die sie tiefer in das ländliche, teils noch unerschlossene Henrico County führte.
Sie durchquerten Honor, ein verlassenes Nest mit Trödelladen, Modegeschäft, kleinem Supermarkt und Tankstelle, dessen Bewohner tagsüber zum großen Teil in Richmond arbeiteten.
Zwei Meilen hinter Honor entdeckte Gage zwei weiße Säulen. Sie markierten die Einfahrt, die zu den Thorntons führte. «The Colonies» stand auf dem Eingangsschild.
«Mann, stell dir mal vor, du wärst so reich, dass du dir einen eigenen Friedhof leisten könntest», witzelte Vega. «So was nenne ich Leben.»
Gage zwang sich, tief Luft zu holen. Sich zu entspannen. «Träum weiter, Junge.»
Vega deutete auf die angrenzenden Wälder. «Falls Thornton die Frauen umgebracht hat, hätte er sie sicherlich hier vergraben. Es ist abgelegen. Und er hat die Gegend gut gekannt.»
«Sag ich doch.»
Der Wagen holperte über einen ausgefahrenen Weg, vorbei an riesigen Eichen. Dann erreichten sie eine Lichtung und erkannten Lieferwagen und einen gelben Bagger auf einem Friedhof, der von alten Bäumen beschattet wurde.
Gage stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Sein Magen verkrampfte sich, wie früher im College, wenn er vor einem entscheidenden Spiel stand. Er schloss seinen Hemdkragen, richtete seine Krawatte, streifte sein Jackett über und ließ seinen Blick über die Menschen rings um die Gräber wandern. Von Adrianna keine Spur. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Jene drei Tage, in denen Jessie verschwunden war, hatten Gage geprägt. Nichts war für ihn wichtiger als die Fälle, die er bearbeitete. Beim Anblick der Grabstätten war sein Jagdeifer erwacht. Er würde die vermissten Frauen finden, wenn nicht heute, dann an einem anderen Tag. Seine Gefühle für Adrianna würde er wie immer beiseiteschieben.
Dienstag, 26. September, 08.30 Uhr
Der Familienfriedhof der Thorntons wurde von Bäumen und einem schmiedeeisernen Zaun umschlossen, von dem die schwarze Farbe abblätterte. Eine uralte Eiche beschattete einen Teil der elf Grabsteine. Die meisten davon waren verwittert, Opfer von Regen und Wind. Ein wenig abgesetzt befanden sich darunter die drei Gräber von Craig Thornton und seinen Eltern. Dort waren die Marmorgrabsteine blank geputzt und die Messingplaketten poliert.
Als Adrianna ihren Mann im letzten Dezember begraben hatte, wäre ihr der Gedanke, sein Grab eines Tages wieder zu entfernen, mit Sicherheit nicht gekommen. Doch Schuldenberge waren eine Macht, die Prioritäten verlagern konnten.
Schon von weitem erkannte Adrianna die Ansammlung der Fahrzeuge, die auf der Wiese geparkt hatten: Lastwagen, einen Bagger, einen weißen Mercedes, einen alten Toyota und einen dunklen Crown Victoria. Die Lastwagen und der Bagger gehörten Miller Construction, der Mercedes William Mazur, der Toyota Dr. Cyril Heckman. Letzterer hielt ein selbstgemachtes Plakat in den Händen, auf dem «Rettet unsere Toten» stand, aber wenigstens hatte er die Presse nicht herbeilocken können.
Auf den Crown Victoria konnte sie sich keinen Reim machen. Er stand abseits der anderen Fahrzeuge, wie eine Spinne, die ihre Beute belauerte.
Adrianna verließ ihren Wagen. Dem Crown Victoria entstiegen zwei Männer, einer von ihnen in abgewetzten Cowboy-Stiefeln. Sie standen mit dem Rücken zu ihr, doch den größeren der beiden erkannte sie an dem breiten Kreuz und der lässigen selbstbewussten Haltung, die fast schon an Arroganz grenzte. Gage Hudson.
Ein unruhiges Kribbeln lief ihr über die Wirbelsäule hoch zum Nacken. Was hatte Gage Hudson hier zu suchen?
«Verdammt», murmelte sie. Es gab nicht viel, das Adrianna in ihrem Leben bereute, doch Gage Hudson stand auf der kurzen Liste an erster Stelle. Im Geist kehrte sie zu ihrer letzten Begegnung zurück und den Fragen, die er über Craig gestellt hatte. Mit Sicherheit war er nicht erschienen, um ihr einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.
Sie beschloss, es sofort hinter sich zu bringen, straffte die Schultern und ging auf geradem Weg auf ihn zu. Auch ein Pflaster riss man besser in einem Rutsch ab, statt es langsam von der Haut zu zupfen. Es war weniger schmerzhaft. Hoffte sie jedenfalls.
«Detective Hudson.» Zum Glück klang ihre Stimme klar und fest. «Was führt Sie denn hierher?»
Seine verspiegelte Sonnenbrille verbarg seinen Blick, doch die leichte Verkrampfung seiner Schultern entging ihr nicht. Anscheinend hatte ihm die förmliche Anrede nicht gefallen. Wahrscheinlich waren seine grauen Augen hinter den Gläsern schmal geworden. War nicht mehr zu ändern und auch besser so.
«Ms. Thornton. Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus, aber mein Partner – Detective Vega – und ich wollen uns die Verlegung der Gräber ansehen.»
Auch der schleppende Akzent des Südwestens war unverkennbar. «Ich heiße Barrington. Warum sollten Sie dabei sein?»
Er machte einen trägen Schritt auf sie zu. «Ich glaube, das wissen Sie, Ms. Barrington.»
Zwei verschwundene Frauen hatte er bei ihrem letzten Zusammentreffen erwähnt. Und jetzt glaubte er offenbar, sie wären hier draußen begraben. Seinen Besuch hatte er nicht angekündigt, was hieß, dass er ihr nicht traute. Die Erkenntnis versetzte ihr einen Stich. In barschem Tonfall fragte sie: «Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?»
Gage schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig. «Nein, Ma’am. Ich bin einfach so vorbeigekommen. Finden Sie, dass ich einen Durchsuchungsbefehl brauche?»
Etwas Drohendes lag in seiner Stimme, als blinke eine Warnleuchte auf. Wie immer in seiner Gegenwart geriet Adrianna aus dem Gleichgewicht. Sie hielt sich vor Augen, dass er lediglich seine Pflicht tat und aus beruflichen Gründen erschienen war. Nichts Persönliches.
Aber warum empfand sie es dann als etwas Persönliches? Ebenso wie die Fragen, die er ihr seinerzeit im Krankenhaus gestellt hatte. Sie fühlte sich angegriffen – genau wie damals.
Adrianna wusste, dass die Augen von Mazur, Dr. Heckman und den Arbeitern auf ihr ruhten. Sie zwang sich zu lächeln, auf eine Weise, die die meisten Menschen entwaffnete. Eher würde sie sich aufhängen, als vor Gage eine Schwäche zu zeigen. «Meinetwegen schauen Sie zu. Solange Sie den Arbeitern nicht in die Quere kommen.»
Der Anflug eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel. «Ich werde mein Bestes tun, Ms. Barrington.»
Die Botschaft dahinter war deutlich zu hören. Gage Hudson würde tun, was ihm gefiele, wann und wo er wollte. «Danke.»
Adrianna wandte sich zu Mazur und den sechs Arbeitern um. Etwas Brütendes lag in Mazurs Blick, das im Widerspruch zu seiner gelassenen Haltung stand. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen, hatte später aber ein Vermögen in Immobilien gemacht. Ihr Anwalt hatte ihn als rücksichtslos bezeichnet. «Kein Mann, mit dem man gern Geschäfte macht. Rafft das Land von Sterbenden und Toten an sich.»
Leider konnte sie es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.
Adrianna trat auf Mazur zu, lächelte und reichte ihm die Hand. «Was für eine nette Überraschung. Sie hatte ich hier nicht erwartet.»
Er nahm ihre Hand und drückte sie ein wenig zu fest. «Ich habe doch gesagt, dass ich vielleicht vorbeikomme. Warum haben Ihre Männer noch nicht angefangen?»
«Keine Ahnung. Eigentlich sollten sie schon dabei sein», entgegnete sie ruhig. Haltung zu wahren, gehörte zu ihren Spezialitäten. Angst und Tränen ließ sie nur zu, wenn sie allein war. «Aber warum sind Sie extra hergekommen? Ich hätte Ihnen alles berichtet.»
Ihr Lächeln schien ihn nicht zu berühren. «Ich vergewissere mich lieber selbst.»
«Na gut.» Es sah aus, als hätte der Mann mehr Widerstand erwartet. Ebenso wie Gage. «Bleiben Sie so lange, wie Sie möchten.»
«Ich habe den Vorarbeiter gefragt, weshalb er nicht anfängt. Er sagt, er arbeite nur für Sie.»
Bravo, dachte Adrianna und sagte: «Na, dann kann es ja jetzt losgehen.»
«Außerdem lungert dieser Heckman hier herum und wedelt mit seinem verdammten Plakat.»
«Heckman ist harmlos. Mit dem werde ich fertig.»
«Er sagt, er will die Presse rufen.»
«Das hat er schon mehrfach versucht. Niemand interessiert sich für ihn.» Adrianna wandte sich ab. Nach ein paar Schritten über den unebenen Boden verstellte Dr. Heckman ihr den Weg.
«Mrs. Thornton.»
«Ich heiße Barrington», erwiderte Adrianna gereizt. «Was machen Sie hier?»
«Ich kümmere mich um die Toten.» Heckman trug ein Tweed-Jackett mit Lederflicken auf den Ellbogen. Auf dem Kragen erkannte Adrianna etwas, das wie ein Teefleck aussah. Dunkle Hose, zerknittertes weißes Hemd und Tennisschuhe vervollständigten das Bild des exzentrischen Akademikers. Er roch nach Mottenkugeln und Pfefferminz.
«Die Toten kommen auch ohne Sie aus.»
Heckman klemmte sich das Plakat unter den Arm. «Sie entweihen die Gedenkstätten einer großen Familie.»
«Das sehe ich anders.» Adrianna hatte eine beträchtliche Summe für die neuen Grabstätten ausgegeben, auf einem wunderschönen Kirchenfriedhof unten an der Straße. Sie hatte die Gräber gerettet. «Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss mit Mr. Miller reden.»
In Heckmans blaue Augen trat der Blick des Fanatikers. «Das können Sie nicht tun.»
«Doch, kann ich.»
«Auch wenn ich mich auf die Gräber werfe?»
«Wenn Sie wollen, dass man Sie mit Gewalt fortschafft, nur zu.» Adrianna hätte ihn gern verjagen lassen. Nur Mazurs Anwesenheit hielt sie davon ab.
Billy Miller, der Besitzer der Tiefbaufirma, kam auf Adrianna zu, ein massiger Typ, mit breiter Brust und einem Bauch, der über seinen Gürtel hing. Wahrscheinlich war er Anfang vierzig, doch die Statur und das aufgedunsene rötliche Gesicht ließen ihn älter erscheinen. Aber er war Adrianna von Landbesitzern in Maryland und Nord-Virginia empfohlen worden, als Mann, der die logistischen Feinheiten von Grabverlegungen beherrschte.
«Gibt es irgendwelche Probleme?», fragte Adrianna.
«Kann sein.» Miller kaute pausenlos Kaugummi. Wie er Adrianna einmal erklärt hatte, war das die Alternative zu den vierzig Zigaretten, die er früher am Tag geraucht hatte.
In ihrem Rücken glaubte Adrianna den bohrenden Blick von Gage zu spüren. «Was für Probleme? Geht es um die Genehmigungen? Oder fürchtet die Ordnungsbehörde wieder, dass wir das Grundwasser verseuchen?»
Miller warf einen Blick auf die Männer hinter ihm und runzelte die Stirn. «Es ist ein bisschen komplizierter.»
Adrianna ahnte, das etwas Unangenehmes auf sie zukam. «Was soll das heißen?»
Miller zog sie von den anderen fort und schaute nach hinten, um sicherzugehen, dass ihnen niemand gefolgt war. Dann beugte er sich vor. «Ich habe das Land innerhalb der Einfriedung mit Bodenradar abgesucht. So wie Sie es gewünscht haben.»
Trotz der schwülen Luft überlief sie ein Frösteln. «Und weiter?»
«In der Erde unten am Fluss gibt es Unregelmäßigkeiten.»
«Was für Unregelmäßigkeiten?»
«Na, etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben.» Schmatzend bearbeitete er den Kaugummi in seinem Mund.
«Was?»
«Kann eigentlich gar nichts sein.»
«Und warum reden wir dann darüber?», fragte sie schroff und ungeduldig.
Miller sah sie verwundert an. Bei ihren bisherigen Treffen war sie jedes Mal ruhig, fast reserviert gewesen. Noch einmal schaute er in die Runde, um auszuschließen, dass jemand lauschte. «Weil wir möglicherweise noch andere Gräber gefunden haben.»
Der Schreck fuhr Adrianna durch sämtliche Glieder. Beinah hätte sie sich umgedreht, um nachzusehen, ob Gage sie beobachtete. Stattdessen schaute sie zu den Bäumen hinüber. Der Wald dahinter war dicht, mit wild wucherndem Unterholz. «Wo genau?»
«Na, bei den anderen Gräbern da am Fluss.»
Langsam wandte sie sich um und studierte die Ecke im Südosten, dort wo das Laub der Eiche die Grabmale überschattete. «Ich sehe nichts. Kommt mir alles wie immer vor.»
Millers Stimme war sehr geduldig. «Sie sind ja auch kein Profi. Wenn sich eine Leiche zersetzt, senkt sich die Erde darüber ein wenig ab, und die Pflanzen wachsen unregelmäßig nach.»
«Ist ein Kindergrab darunter?» Adrianna fasste sich an die Kehle und wünschte, sie könnte ihr Unbehagen besser verbergen.
«Nein. Dazu sind sie zu groß.»
Adrianna atmete auf. Nicht nur einmal hatte sie gedacht, dass das erste Kind ihrer Mutter auf diesem Friedhof begraben worden war. Frances hätte ihrer Mutter geholfen, das Grab zwischen den anderen zu verbergen. «Wenigstens etwas», murmelte sie.