Am Ende der Unschuld - Silke Ziegler - E-Book

Am Ende der Unschuld E-Book

Silke Ziegler

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Beschreibung

Milla Seifert erhält die Chance ihres Lebens: Sie soll einen Leitartikel über Robert Hoffmann schreiben, der seit fünf Jahren wegen Mordes in einem Pariser Gefängnis sitzt. Doch bei den Interviews mit Hoffmann kommen Milla zunehmend Zweifel an dessen Schuld. Kann sie ihrem Instinkt trauen, der sie glauben lässt, dass bei der Verurteilung Fehler gemacht wurden und er womöglich so unschuldig ist, wie er behauptet? Oder spielt der charismatische Mann ein perfides Spiel mit ihr? Als es im Gefängnis zu einem brutalen Zwischenfall kommt, trifft Milla eine folgenschwere Entscheidung ...

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Silke Ziegler

Am Ende der Unschuld

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von Adobestock/eyetronic

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-773-6

Überarbeitete Neuausgabe

Die Originalausgabe erschien 2016 unter gleichem Titel bei bookshouse.

Silke Ziegler lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als sie während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs auf ihre erste Romanidee stieß. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist oder an einem ihrer Romanprojekte schreibt, geht sie gern wandern oder liest.

Für alle starken Frauen, die unbeirrt ihren Weg gehen

Prolog

Paris

Simone spürte das vertrocknete Gras, das wie kleine, stumpfe Nadeln in ihren Rücken stach. Seit über zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Verzweifelt richtete sie ihren Blick in den Himmel, der sich in undurchsichtigem Schwarz über ihr erstreckte, bis sie einen einsamen Stern entdeckte. War er der einzige Beobachter dieser unwirklichen Szene? Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie hatte die ganze Situation so außer Kontrolle geraten können?

Als Simone versuchte, mit der Zunge ihre trockenen Lippen zu befeuchten, berührte sie versehentlich die Platzwunde, die er ihr mit seiner Faust zugefügt hatte. Die Schmerzen trieben ihr Tränen in die Augen. Ihre Wangen wurden feucht. Wie konnte er ihr das nur antun? Er liebte sie doch. Oder nicht? Zumindest hatte sie das bis eben geglaubt.

Vorsichtig probierte sie sich unter ihm zu bewegen. Doch sein schwerer Körper drückte sie nur noch stärker auf den Boden.

Während Simone mutlos die Augen schloss, musste sie an das winzige Wunder denken, das in ihrem Körper heranwuchs. Inständig hoffte sie, dass es noch zu klein war, um mitzubekommen, was seiner Mutter in diesem Moment widerfuhr. Dass es nicht spüren konnte, wie die Frau, die ihm das Leben schenken würde, auf die furchtbarste Weise geschändet wurde. Verzweifelt startete sie einen weiteren Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen.

»Liebling?«

Als er kurz innehielt, um ihr ins Gesicht zu sehen, erschrak sie zu Tode. In seinen Augen war nichts als blanker Hass zu erkennen.

»Was …?«, begann sie schwach.

»Halt’s Maul, du Schlampe. Du hast alles kaputtgemacht.«

Seine Stimme klang kalt. Brutal drückte er ihre Hände mit seiner Rechten über ihrem Kopf fester ins trockene Gras. Unerträgliche Schmerzen durchfuhren ihren Körper. Rücksichtslos behielt er seinen Rhythmus bei, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich von ihr abließ. Ohne Vorwarnung gab er ihre Hände frei und ordnete in aller Ruhe sein Haar.

Reglos lag sie vor ihm und fixierte fassungslos den Stern über sich, der weiterhin strahlte und funkelte, als sei in den letzten zehn Minuten nicht ihr gesamtes bisheriges Leben zerstört worden. Sie hob ihren dröhnenden Kopf und sah an sich hinunter. Ihr Kleid war zerrissen und verschmutzt. Behutsam tastete sie ihr Gesicht ab. Außer der offenen Stelle an ihrer Lippe entdeckte sie eine dicke Beule an ihrer rechten Wange, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, dass er sie dort ebenfalls getroffen hatte. Doch wenn sie ehrlich war, wusste sie auch nicht mehr, wann er ihr das Kleid zerrissen hatte. Wahrscheinlich hatte sich ihr Verstand in jenem Augenblick verabschiedet, als der Mann, den sie für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte, völlig ausgerastet war.

Warum genau war die Situation eskaliert? Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte doch nur ihr süßes Geheimnis mit ihm teilen wollen. Wollte mit ihm Zukunftspläne schmieden und sich gemeinsam mit ihm dem Glück werdender Eltern hingeben. Doch statt sich mit ihr über die freudige Nachricht zu freuen, hatte sich seine Miene voller Wut verzerrt. Er hatte ihr seine Faust ins Gesicht gerammt, sodass ihre Lippe aufgeplatzt war. Hatte sie zu Boden gestoßen, um wie ein wildes Tier besinnungslos über sie herzufallen.

Vorsichtig blickte sie zu ihm hoch. Mittlerweile hatte er seine Hose hochgezogen und sah wieder aus wie ein gewöhnlicher Partygast, der den lauen Sommerabend in der Gesellschaft kultivierter Menschen verbringen würde. Doch sie wusste es jetzt besser. Nun kannte sie sein wahres Naturell. Ein hässliches, brutales Gesicht, verborgen hinter der Fassade eines nach außen hin liebevoll und charmant wirkenden Mannes. Eines Mannes, der gesellschaftlich anerkannt und bewundert wurde. Ein Mann, der aufgrund seines Berufes oft in der Öffentlichkeit stand und allseits geachtet wurde. Wie wollte er diesen Zwischenfall erklären?

Als sie versuchte aufzustehen, gehorchten ihre Beine nicht. Simone erwartete, dass er ihr aufhelfen würde. Doch erneut sah sie in seinem Blick nichts als Hass und Verachtung. Die sonst so sanften Augen wirkten im fahlen Mondlicht der Nacht kalt und gefährlich.

Von der Terrasse schallte Gelächter zu ihnen herüber. Die Feier war in vollem Gange. Niemand schien bemerkt zu haben, dass sie im Unterholz verschwunden waren. Wie sollte sie nur ihre ramponierte Erscheinung verbergen?

»Könntest du mir vielleicht unauffällig ein neues Kleid aus meinem Zimmer besorgen?«, bat Simone mit schwacher Stimme und blickte ihn hilfesuchend an. »Bitte.«

Sein Lachen ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. »Wie kann man nur so naiv sein? Denkst du tatsächlich, ich lasse mir von dir meine ganze Zukunft zerstören? Jahrelang habe ich schwer geschuftet, um mir meinen guten Ruf zu erarbeiten. Für eine dahergelaufene Hure wie dich werde ich bestimmt nicht alles aufgeben.«

Bei seinen Worten musste sie schwer schlucken. Sie versuchte erneut, sich aufzurichten, doch er stieß sie brutal zurück zu Boden. Angsterfüllt krallte sie ihre schmerzenden Finger in den trockenen Untergrund.

»Wie soll ich denn in diesem Aufzug unbemerkt ins Haus gelangen?«

Erneut lachte er auf und fuhr sich durchs Haar, dem man die vorherige Anstrengung nicht mehr ansah. »Denkst du wirklich, ich lasse dich jetzt zurück zu der Feier gehen, damit du allen brühwarm Lügen über mich erzählen kannst?«

Simone begann am ganzen Körper zu zittern. »Hör zu, ich erzähle niemandem etwas. Die Sache kann unter uns bleiben. Ich warte hier, bis alle Gäste gegangen sind.« Sie erkannte selbst, wie verzweifelt ihre Stimme klang.

»Du scheinst wirklich noch dümmer zu sein, als ich gedacht habe.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Dieses Ding«, er zeigte mit der Hand auf ihren Bauch, »zwingt mich leider zu drastischeren Maßnahmen. Du weißt, dass ich nie Kinder wollte.« Er machte einen Schritt auf sie zu. Der Mond schien hinter ihm hoch oben am Himmel und ließ seine dunkle Silhouette groß und bedrohlich erscheinen.

Simone wich zurück. Sie konnte kaum glauben, was hier gerade passierte. Drohte er ihr tatsächlich, sie umzubringen? »Nein, bitte. Ich schwöre dir, von mir erfährt niemand etwas. Es ist doch auch dein Kind. Das kann dir doch nicht gleichgültig sein«, setzte sie wimmernd zu einem letzten Versuch an. Ihre Stimme klang heiser, sie konnte sich selbst kaum noch hören.

Er näherte sich einen weiteren Schritt. »Tut mir leid, Simone, das Risiko ist zu groß. Ich habe zu hart gearbeitet, um mir von dir alles kaputtmachen zu lassen.« Im selben Moment beugte er sich zu ihr hinab und drückte mit beiden Händen auf ihren Kehlkopf.

Als sie den weichen Stoff ihres Seidenschals an ihrer Haut spürte, war es bereits zu spät. Sie konnte nicht schreien, da die Schlinge um ihren Hals ihr die Luft abschnitt. Panisch versuchte sie, ihn mit ihren Händen von sich zu stoßen. Doch er war stärker, sie hatte keine Chance. Reflexartig schlugen ihre Beine auf den harten Boden. Sie spürte, wie ihr schwindlig wurde. Unaufhaltsam verließen die Lebensgeister ihren Körper.

Der letzte Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor, galt ihrem ungeborenen Kind, das sie nicht hatte retten können. Das von seinem eigenen Vater eiskalt zum Tode verurteilt worden war.

1

Frankfurt, fünf Jahre später

»Verdammter Mistkerl!«

Wütend warf Milla Seifert ihr Handy auf den Schreibtisch und ließ keine zwei Sekunden später ihre dunkelbraune Umhängetasche folgen. Elke Rank, ihre Kollegin beim Mainkurier, blickte hinter dem Bildschirm hervor und betrachtete Milla stirnrunzelnd.

»Sebastian?«

Milla ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie nahm ihre Brille von der Nase und legte sie vor sich auf den Tisch. Mit geschlossenen Augen stützte sie den Kopf in die Hände und verharrte einige Sekunden in dieser Position.

Elke hakte nicht weiter nach. Die beiden Frauen bildeten seit einem Jahr ein Team und arbeiteten eng zusammen. Inzwischen kannten sie sich auch privat sehr gut, und Elke wusste von Millas gescheiterter Ehe mit Sebastian Kampert, einem notorischen Fremdgeher. Meistens war er der Grund für Millas schlechte Laune, da sich die Scheidung bereits seit drei Jahren hinzog und dadurch immer wieder an Millas Nerven zerrte.

»Mein Vater schafft es zum wiederholten Mal nicht, mit seiner Tochter Weihnachten zu feiern. Dank Cynthia.« Milla spuckte den Namen aus, als handele es sich um eine todbringende Krankheit, während sie hastig nach ihrer Brille griff und sie wieder aufsetzte. Aufgebracht nestelte sie an ihrem dunkelbraunen Haar herum und schob einige Strähnen hinters Ohr, nur damit diese sich sofort wieder verabschieden konnten, um Milla erneut an der Wange zu kitzeln.

Elke rollte mit ihrem Stuhl ein Stück nach vorn, um Milla ansehen zu können. Die Schreibtische der beiden Frauen standen sich Kante auf Kante gegenüber.

»Wer ist Cynthia?«

Milla verzog ihren Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Cynthia Berger. Seit sechs Monaten die Auserwählte meines Vaters. Dreiunddreißig Jahre alt. Meine Stiefmutter in spe ist zwei Jahre jünger als ich. Ist das nicht grandios?«

Elke schwieg.

Millas Mutter war sehr früh gestorben. Seit ihrem Tod hatte Gerd Seifert es auf drei neue Ehen und ebenso viele Scheidungen gebracht.

»Cynthia.« Milla lachte bitter, bevor sie fortfuhr: »Die Dame möchte dieses Jahr an Weihnachten in der Sonne liegen, da sie keine Lust auf den Stress hier in Deutschland hat. Also lieber Cocktails am Strand als Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt.« Resigniert schaute sie zu ihrer Kollegin, die sie noch immer schweigend musterte. »Ziehe ich diese Schlappschwänze irgendwie an? Mein eigener Vater bevorzugt es seit fünfzehn Jahren, das Fest der Liebe mit seinen jungen Gespielinnen zu verbringen, anstatt die Feiertage auch nur ein einziges Mal dazu zu nutzen, seiner Tochter einen Besuch abzustatten. Bin ich denn so unwichtig?«

Milla spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Krampfhaft blickte sie zur Decke, um zu verhindern, dass sich ihre grenzenlose Enttäuschung einen Weg bahnen konnte, der in Tränen endete.

Elke stand auf und kam auf sie zu. »Vergiss ihn. Eine Tochter wie dich hat er doch gar nicht verdient.« Behutsam ging sie neben Milla in die Hocke und legte ihre Hand auf deren Unterarm. »Warum kommst du Weihnachten nicht zu uns? Rüdiger würde sich auch freuen. Wir haben ein paar Freunde eingeladen. Wir stellen zwar keinen Baum auf, aber Plätzchen, Geschenke und gute Laune gibt es bei uns garantiert im Überfluss.«

Dankbar blickte Milla ihre Kollegin an. »Das ist sehr lieb von dir, Elke. Vielen Dank für dein Angebot. Ich überlege es mir auf jeden Fall. Vielleicht fahre ich aber auch einfach ein paar Tage allein weg, da ich mit Weihnachten sowieso kaum noch schöne Erinnerungen verbinden kann. Es wäre einfach eine gute Gelegenheit gewesen, etwas Zeit mit meinem Vater zu verbringen, da wir uns doch eh so selten sehen.«

Elke erhob sich seufzend und kehrte an ihren Platz zurück. »Meiner Meinung nach wird Weihnachten sowieso überbewertet. Wo gibt es denn noch die Vorzeige-heile-Welt-Familie, die selig lächelnd unter dem Baum sitzt und selbst gebackene Plätzchen vertilgt? Ganz ehrlich, ich kenne keine einzige.« Milla nickte zustimmend, während Elke fortfuhr: »Eigentlich sollte man den Abend so gestalten, dass jeder sich wohlfühlt. Egal, in welcher Konstellation. Unter Freunden, in der Kneipe, wie auch immer. Du kennst ja den Spruch mit der Familie, die man sich nicht aussuchen kann.«

»Ganz schwach kann ich mich an einige schöne Feste erinnern, als meine Mutter noch lebte«, erwiderte Milla. »Aber das ist jetzt beinahe dreißig Jahre her. Vielleicht sind es tatsächlich diese verklärten, unerreichbaren Kindheitserinnerungen, die uns vorgaukeln, dass wir auch als Erwachsene aus Weihnachten den schönsten Tag des Jahres machen müssen. Dadurch setzen wir uns noch mehr unter Druck, und der Frust steigt ins Grenzenlose.« Sie schwieg einen Moment und überlegte. »Vielleicht hat mein Vater sogar recht. In die Sonne zu fliegen und Weihnachten ausfallen zu lassen ist vielleicht gar keine so schlechte Idee, um diese Zeit einigermaßen unbeschadet zu überstehen.« Mit diesen Worten aktivierte sie ihren Computer und räumte die Tasche, die noch immer auf ihrem Schreibtisch lag, zur Seite. »Wie weit bist du mit den Recherchen zu unserem neuen Bürgermeisterkandidaten?«, wandte sie sich dann an Elke.

Ganz überraschend hatte sich kurz vor Schluss der Bewerbungsfrist ein parteiloser Kandidat für die nächste Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt aufstellen lassen. Elke und Milla hatten vor drei Tagen die Aufgabe bekommen, den Mann näher zu durchleuchten und einen Artikel über ihn zu verfassen. Da Milla lieber emotionalere Themen bearbeitete, hielt sich ihre Begeisterung für diesen Job in Grenzen. Doch sie war nun einmal Journalistin und musste flexibel sein. Seit Langem schon wartete sie sehnsüchtig auf das eine große Thema, das ihr endlich zum Durchbruch verhelfen würde.

Elke seufzte. »Lars Schmitt. Der Name ist bei dem Mann Programm. Unscheinbar, langweilig, unauffällig. Ich frage mich, wie wir eine halbe Seite füllen sollen, wenn der Mann so nichtssagend wie ein mausgrauer Finanzbeamter ist, der noch nie über den eigenen Tellerrand hinausgesehen hat.«

Milla blickte aus dem Fenster. Die Büros des Mainkuriers befanden sich im zweiten Stock in einem der vielen Wolkenkratzer »Mainhattans«. Auf dem Fußweg eilten Passanten mit hochgeschlagenen Mantelkragen und versteinerten Mienen vorüber. Es war ein grauer, trüber Novembertag. Das Thermometer zeigte Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt an. Milla hasste diese Jahreszeit. Als sie noch mit Sebastian zusammengelebt hatte, war es anders gewesen. Nach der Arbeit hatten sie ihre Abende oft zu Hause verbracht, hatten sich vor ihren Kachelofen gesetzt, Tee getrunken und sich von ihrem Tag erzählt. Diese harmonische, gemütliche Zweisamkeit konnte nur an kalten, düsteren Tagen wie heute entstehen.

Nachdenklich legte Milla den Kopf schief. Warum musste sie ausgerechnet jetzt an diese wenigen Momente des Glücks denken? War ihre gemeinsame Zeit mit Sebastian nicht vor allem von Lügen, Tränen und Einsamkeit geprägt gewesen? Wie oft hatte er abends angerufen und sich entschuldigt, er habe noch eine Sitzung oder er müsse zu einem dringenden Geschäftsessen? Wie oft hatte sie ihn dabei ertappt, dass er nicht wie behauptet in der Bank war, obwohl er ihr hoch und heilig versprochen hatte, es käme nie wieder vor? Nein, harmonisch war ihre Beziehung selten gewesen. Doch es waren diese kurzen Augenblicke der Vertrautheit, die Milla schmerzlich vermisste.

Inzwischen war sie seit drei Jahren allein, doch die kalte Jahreszeit machte ihr immer wieder aufs Neue zu schaffen. Natürlich, sie hatte gute Freunde, teilweise noch aus Kindheitstagen. Aber eine Familie konnten auch sie nicht ersetzen. Schon immer hatte Milla sich eine große Familie gewünscht. Vater, Mutter und eine Horde Kinder. Sie selbst hatte keine Geschwister, und der frühe Tod ihrer Mutter war sehr traumatisch für sie gewesen, da diese immer ihre wichtigste Bezugsperson gewesen war. Es hatte lange gedauert, bis ihr Leben wieder einigermaßen in normalen Bahnen verlaufen war. Ihr Vater musste arbeiten, sodass es bei den Großeltern gelegen hatte, sich um Milla zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie eine möglichst unbeschwerte Kindheit genießen konnte. Milla liebte ihre Großeltern und war ihnen unendlich dankbar für alles, was sie für sie getan hatten. Doch ihre Mutter hatte ihr trotz der Fürsorge von Oma und Opa immer gefehlt.

Jetzt war Milla selbst Mitte dreißig, kinderlos und stand kurz vor ihrer Scheidung. Nicht gerade das, was sie für sich in diesem Alter erhofft hatte.

Frustriert blickte sie zurück auf ihren Bildschirm und betrachtete den Mann, der ihr entgegensah. Graublondes Haar, blasse Hautfarbe, stechend helle Augen. Nein, wahrlich nicht der Typ Mensch, den sie sich als neuen OB vorstellen konnte.

»Milla?«

»Hm?«, erwiderte sie abwesend.

»Bevor ich es vergesse: Als du weg warst, war Karsten hier und hat nach dir gefragt.«

Karsten Maler war der Chefredakteur beim Mainkurier. Milla runzelte die Stirn. »Was wollte er denn?«

Elke zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hatte aber den Eindruck, es ginge um etwas Wichtiges. Am besten rufst du ihn gleich an und teilst ihm mit, dass du wieder im Haus bist.«

Milla drückte die Kurzwahltaste, während sie mit der anderen Hand unruhig ihre Brille zurechtrückte.

»Milla, bist du wieder zurück?«, ertönte die Stimme ihres Chefs am anderen Ende der Leitung.

»Ja, ich war nur kurz etwas essen. Du hast mich gesucht?«

Karsten räusperte sich. »Ja, hör zu. Ich würde gerne etwas mit dir besprechen. Könntest du bei mir vorbeikommen?«

Normalerweise war ihr Vorgesetzter ein Freund der klaren Worte. Diese Geheimnistuerei sah ihm überhaupt nicht ähnlich.

»Ja, klar. Jetzt gleich?«

»Wenn es geht, ja, bitte.«

Milla legte auf. Karstens Worte hatten ihre Neugier geweckt.

»Und? Was wollte er?«, fragte Elke.

»Keine Ahnung. Er hat nichts gesagt, nur dass ich gleich zu ihm kommen soll. Seltsam, oder?«

Normalerweise sahen sie Karsten zweimal die Woche bei den Redaktionssitzungen. Wenn es Probleme gab, konnten sie sich selbstverständlich jederzeit an ihn wenden. Doch es geschah äußerst selten, dass er seine Mitarbeiter zu Einzelgesprächen in sein Büro zitierte.

»Vielleicht bekommst du ja eine Beförderung«, mutmaßte Elke.

Milla grinste. »Ja, klar, zur Tippse des Monats, oder was?«

Elke lachte ebenfalls.

Milla stand auf und zupfte nervös an ihrer Bluse herum.

»Du siehst gut aus. Los, geh schon. Ich platze vor Neugier«, raunte Elke ihr zu.

»Herein!«

Zaghaft öffnete Milla die Tür und trat in das Büro ihres Chefs ein. Karsten saß im selben Stockwerk wie sie, auf der dem Main zugewandten Seite.

Bei Millas Anblick erhob Karsten sich eilig von seinem Schreibtischstuhl und kam lächelnd auf sie zu. »Milla, schön, dass du da bist.«

Misstrauisch sah sie sich in dem Raum um, an dessen Wänden Titelseiten der letzten Jahre hingen. Der Mainkurier erschien alle zwei Wochen und verstand sich selbst als Informationsjournal für Frankfurt und Umgebung. Inoffiziell sprach Karsten oft vom »Frankfurter Stern«. Insgeheim bezweifelte Milla jedoch, dass der Stern diesen Vergleich gutheißen würde. Dafür waren sie ihrer Meinung nach doch eine Nummer zu klein.

Karsten zeigte mit der Hand auf die einladende schwarze Ledersitzgruppe, die sich vor dem Fenster befand. »Bitte setz dich doch. Möchtest du etwas trinken?«

Milla wurde es mulmig zumute, die Situation behagte ihr ganz und gar nicht. Sie verneinte, während sie sich instinktiv für die Zweisitzer-Couch entschied, die ihr aus unerklärlichem Grund sicherer erschien als der einzeln stehende Sessel. Als sie saß, konnte sie gerade noch das entfernte Ufer des Mains erkennen. Karsten nahm ihr gegenüber im Sessel Platz und folgte ihrem Blick.

»Eine schöne Aussicht, nicht wahr?«

Milla nickte langsam. »Selbst bei diesem Wetter ist der Blick unglaublich.«

Karsten setzte sich bequemer zurecht und schlug die Beine übereinander.

Milla wartete auf eine Äußerung ihres Chefs.

»Wie lang bist du jetzt bei uns, Milla?«

Überrascht von der Frage kniff sie die Augen zusammen. Hatte er sie zu sich einbestellt, um Small Talk zu führen?

»Etwas länger als ein Jahr«, antwortete sie und sah Karsten offen an. An seiner Miene konnte sie nicht erkennen, was er im Schilde führte.

»Es gefällt dir bei uns, oder?«

Nervös strich sich Milla eine Strähne hinters Ohr. Worum ging es hier? Wollte er sie etwa feuern? Entschlossen entschied sie, in die Offensive zu gehen. Angriff war in diesem Fall hoffentlich die beste Verteidigung.

»Warum bin ich hier, Karsten?«

Ihr Vorgesetzter schien zu überlegen, wie er anfangen sollte. Er zögerte kurz, bevor seine nächste Frage Milla völlig unvorbereitet traf. »Kennst du Robert Hoffmann?«

Karsten stellte sein linkes Bein zurück auf den Boden und beugte sich abwartend mit dem Oberkörper nach vorn.

Milla sah ihn überrascht an.

»Sagt dir der Name Robert Hoffmann etwas? Der ehemalige Enthüllungsjournalist«, wiederholte Karsten seine Frage.

Immer noch verwundert nickte sie. Robert Hoffmann. Wie lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht? Doch ganz vergessen hatte sie ihn auch nicht. Wie lange war ihre Begegnung her? Milla überlegte. Damals war sie noch nicht mit Sebastian verheiratet gewesen. Bis heute war sein letzter Satz, den er ihr damals zum Abschied gesagt hatte, in ihrem Gedächtnis eingebrannt. »Dein Verlobter muss ein sehr glücklicher Mann sein.«

Ja, dachte sie jetzt bitter, so glücklich, dass er sie ohne Gewissensbisse mit seinen Sekretärinnen, Kolleginnen und Gott weiß wie vielen anderen Frauen betrogen hatte.

Robert Hoffmann, der Abend in Paris. Der Journalistenkongress. Ja, sie kannte Robert Hoffmann.

»Milla, hast du mich verstanden?«

Karstens Worte rissen sie aus ihrem Grübeln. »Tut mir leid, Karsten. Mir war gerade etwas eingefallen. Du hattest Robert Hoffmann erwähnt?«

Karsten sah sie stirnrunzelnd an. »Ich habe dich gefragt, ob du ihn kennst.«

»Ja, ich kenne ihn«, bestätigte sie zögernd.

»Du weißt, dass er in Frankreich im Gefängnis sitzt?«

»Er soll vor einigen Jahren seine Freundin ermordet haben.«

Karstens Augen verengten sich. »Er wurde wegen Vergewaltigung und Mordes an seiner Verlobten zu lebenslanger Haft verurteilt.«

Milla schloss kurz die Augen. Mord, Vergewaltigung. Erneut dachte sie an den Mann, dem sie vor neun Jahren in der Lobby des Pariser Hotels begegnet war. Nach wie vor konnte sie keine Verbindung herstellen zwischen dem gut aussehenden, charmanten Journalisten, der ihr damals unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn interessierte, und diesem abscheulichen Verbrechen, das vor fünf Jahren ganz Frankreich zutiefst schockiert hatte.

Sie riss sich zusammen. »Was ist mit ihm?«

»Wir möchten einen Artikel über ihn veröffentlichen. Einen Leitartikel, der über das damalige Verbrechen und über den Häftling Robert Hoffmann berichtet. Wie es ihm mittlerweile geht. Was er fünf Jahre danach zu der Tat zu sagen hat. Eventuell auch Interviews mit Familienangehörigen des Opfers und des Täters sowie mit Zeugen von damals.«

Was hatte Milla damit zu tun? »Soll ich die Koordination der Termine übernehmen? Der Artikel über Lars Schmitt ist beinahe fertig. Unglücklicherweise gibt es über den Mann nicht allzu viel zu berichten.«

»Dafür umso mehr über Robert Hoffmann. Du sollst nicht die Koordination übernehmen, Milla. Du sollst den Artikel schreiben«, erklärte Karsten nachdrücklich.

Milla glaubte, sich verhört zu haben. »Wie meinst du das? Ich soll den Artikel schreiben? Ich bin doch erst seit einem Jahr bei euch. Hier arbeiten wesentlich erfahrenere Kollegen. Soll ich etwa ins Gefängnis spazieren und Hoffmann dort befragen?«

Grinsend stand Karsten aus seinem Sessel auf und ging auf Milla zu. Während er sich neben sie setzte, sah er sie prüfend an. »Genau das wirst du machen, meine Liebe. Der Gefängnisdirektor, übrigens ein überaus kompetenter Mann, ist bereits über dein Kommen informiert.«

Milla war sprachlos. Ein Leitartikel über das schlimmste Verbrechen der letzten Jahre mit Hintergrundinformationen und Interviews mit dem prominenten Täter. Hatte sie nicht all die Jahre auf solch eine Chance gewartet? Gut, sie hätte sich vielleicht ein etwas weniger brutales Thema gewünscht. Aber möglicherweise lag genau in dieser Thematik ihre Chance. Sie konnte versuchen, den Menschen zu zeigen, der sich hinter der Maske des brutalen Mörders verbarg, die Emotionen herausarbeiten, die zweifelsfrei bei allen Beteiligten bis heute vorhanden waren. Ihres Wissens hatte Hoffmann bis zum Schluss seine Unschuld beteuert. Vielleicht war es sogar von Vorteil, dass sie Robert Hoffmann bereits vor diesem furchtbaren Verbrechen in einem unverfänglichen Umfeld kennengelernt hatte. Gedankenverloren wiederholte sie: »Ich kenne Robert Hoffmann.«

»Das sagtest du bereits.«

»Nein, ich meine, ich kenne ihn persönlich. Ich bin ihm vor vielen Jahren einmal auf einem Journalistenkongress in Paris begegnet.«

Karsten horchte auf. »Tatsächlich?«

»Ja.« Millas Blick schweifte über das trübe Wasser des Mains, das gemächlich seinem nie endenden Weg folgte. »Er stand damals noch ganz am Anfang seiner Karriere. Hatte erst ein oder zwei seiner berüchtigten Artikel herausgebracht. Kurz darauf ging es mit ihm steil bergauf.«

»Ja, der Mann hatte eine wirklich beachtliche Laufbahn hingelegt, bevor er sich durch seinen Ausraster ins Aus katapultierte.« Karsten kratzte sich am Kinn und sah Milla aufmerksam an.

Sie erwiderte seinen Blick. Er war nur fünf Jahre älter als sie, wirkte durch seine kurz geschorenen grauen Haare allerdings um einiges älter. Ihres Wissens war er verheiratet und hatte ein kleines Kind.

»Warum ich, Karsten?«

Er rückte ein Stück von ihr ab und zögerte kurz. »Markus hat dich vorgeschlagen. Er meinte, du hättest eine Chance verdient.«

Unsicher schob Milla die Brille auf der Nase ein Stück höher. Markus Bischoff war der Eigentümer des Mainkuriers, den sie bei ihrem Bewerbungsgespräch kennengelernt und seitdem vielleicht noch dreimal persönlich gesehen hatte, einmal davon auf der letzten Weihnachtsfeier. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Bischoff sich in irgendeiner Art mit Themen, die seine Zeitung betrafen, beschäftigte. Für sie war er bisher der Chef im Hintergrund, den nur Umsatz und Gewinn interessierten. Anscheinend hatte sie sich getäuscht. »Markus Bischoff hat mich namentlich für einen Leitartikel vorgeschlagen?« Sie konnte es kaum glauben.

Karsten streckte seine langen Beine aus und blickte nach draußen, wo es bereits dämmerte. »Warum wundert dich das? Er war sehr angetan von deinem Artikel über den leukämiekranken Jungen.« Er machte eine Pause. »Hoffmann hat den Interviews übrigens nur unter der Bedingung zugestimmt, dass man ihn nicht als mordendes Monster darstellt.«

Schweigend folgte Milla Karstens Blick und entdeckte einen einsamen Kanuten, der sich mit den immer gleichen monotonen Armbewegungen auf dem Wasser vorwärtsbewegte.

»Ich habe keine Zweifel daran, dass du das schaffst.«

Milla nickte langsam. »Wann?«

»Sofort. Es sei denn, du brauchst noch Bedenkzeit.«

»Nein, Elke kann den Artikel über Schmitt allein fertigstellen. Andere Aufträge habe ich momentan nicht. Ich könnte morgen in Paris sein«, erwiderte sie schnell.

»Bitte reserviere dir ein Hotelzimmer. Wenn möglich, nicht das Ritz. Die Kosten bekommst du selbstverständlich als Spesen nach deiner Reise erstattet.«

»Eine Kollegin aus Montpellier wohnt in Paris. Ich werde sie gleich anrufen. Vielleicht könnte ich bei ihr unterkommen.«

Milla hasste Hotels. Die unpersönlich eingerichteten Zimmer lösten seit jeher ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit in ihr aus. Sobald sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, würde sie versuchen, Sandrine zu erreichen.

Karsten erhob sich und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. »Natürlich kannst du auch bei deiner Bekannten übernachten, wenn dir das lieber ist. Du musst nur bedenken, dass Hoffmann in Fresnes sitzt. Das ist ein Stück von Paris entfernt. Leider gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, die eine Anbindung an das Gefängnis haben.« Er nahm eine Mappe in die Hand und kehrte zu Milla zurück. »Nicht, dass das die Insassen stören dürfte. Für ihre Überführung in den Knast sorgt der Staat, und nach Hause würden sie zur Not auch laufen.« Er schlug die Mappe auf. »Hierin sind alle relevanten Informationen enthalten. Alte Artikel über den Fall, Adressen und Kontaktdaten der Angehörigen. Die Namen der Polizeibeamten, die den Fall damals bearbeitet haben. Sieh dir alles in Ruhe an. Wenn du noch Fragen hast, wendest du dich direkt an mich.«

Milla nahm die Mappe und betrachtete sie.

»Milla?«

Sie drehte sich zu Karsten. »Ja?«

»Wir überlassen es dir, wie du den Artikel aufziehst. Vielleicht verschaffst du dir vor Ort erst mal einen Überblick von den Ereignissen damals und überlegst dir, was relevant ist und welche Blickwinkel du wiedergeben möchtest.«

»Ich danke dir«, erwiderte Milla ernst, da sie fest entschlossen war, diese Chance zu nutzen und den besten Artikel ihrer Karriere zu schreiben.

»Du hast es verdient. Mach was draus. Und Milla? Im Gefängnis muss Französisch gesprochen werden, da du mit Hoffmann nicht allein sein wirst und das Personal dem Gespräch folgen können muss.«

Milla nickte. »Kein Problem, das habe ich mir schon gedacht.«

»Viel Erfolg und gute Reise.«

Als sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, hatte sie immer noch nicht ganz realisiert, was gerade geschehen war.

Elke blickte ihr neugierig entgegen. »Und?«

In kurzen Sätzen berichtete Milla von dem Gespräch mit Karsten.

Beeindruckt zog Elke ihre Augenbrauen hoch. »Paris? Das ist ja der Wahnsinn. Robert Hoffmann ist natürlich ein anderes Kaliber als unser blasser Herr Schmitt.«

Milla kramte in der Handtasche nach ihrem Telefon, in dem sie Sandrine Marcons Nummer abgespeichert hatte. Sie hielten in unregelmäßigen Abständen telefonischen Kontakt, seit sie nicht mehr zusammen in Montpellier arbeiteten. Seit knapp zwei Jahren war Sandrine bei einem Pariser Modejournal angestellt, während Milla bereits zwei Jahre zuvor mit Sebastian von Montpellier nach Deutschland zurückgekehrt war, da er damals das verlockende Angebot bekommen hatte, bei einer deutschen Großbank in den Vorstand zu wechseln.

Nach dem dritten Klingeln hob Sandrine ab. »Oui?«

Ein Gefühl der Nähe durchströmte Milla, als sie die vertraute Stimme ihrer langjährigen Freundin vernahm. »Sandrine? Hier ist Milla. Wie geht es dir?« Problemlos wechselte sie in die französische Sprache.

»Milla! Wie schön, von dir zu hören. Die letzten Tage habe ich öfter an dich denken müssen. Rate mal, wo ich gerade bin.«

Milla stutzte. »Du bist nicht in Paris?«

»Mon Dieu, nein. Paris im November. Gibt es etwas Schlimmeres?« Sandrines helles Lachen ertönte.

Ja, Frankfurt im November, erwiderte Milla stumm.

»Ich kann fast das Meer sehen«, fuhr Sandrine fröhlich fort.

»Du bist in Südfrankreich?«

Am anderen Ende der Leitung vernahm Milla erneut das ausgelassene Lachen. »Chérie, ich bin in Montpellier. Ist das nicht herrlich? Ich begleite eine Fotoserie, da ich mich hier ja doch recht gut auskenne, wie du weißt.«

Nun musste Milla schmunzeln. Wahrscheinlich gab es in ganz Montpellier niemanden, der diese Stadt so liebte wie Sandrine. Deshalb hatte Sandrine auch lange mit sich gehadert, ob sie das Angebot aus Paris wirklich annehmen sollte. Doch der finanzielle Aspekt hatte sie schließlich überzeugt. Mit dem Ergebnis, dass sie jeden Urlaub, den sie seitdem genommen hatte, ausnahmslos in ihrer Lieblingsstadt im Süden des Landes verbrachte.

»Milla, wie geht es dir? Ich rede mal wieder nur von mir«, bemerkte Sandrine in diesem Moment, doch Milla konnte ihr nicht böse sein. Sogar durchs Telefon verströmte diese Frau eine Lebensfreude und Quirligkeit, die Milla so schmerzlich vermisste, seit sie Hunderte von Kilometern voneinander entfernt wohnten.

»Es geht mir gut, danke. Ich habe einen Auftrag in Paris zu erledigen und hatte gehofft, dass wir uns vielleicht sehen könnten. Aber da du nun …«

»Du kommst nach Paris? Das ist toll. Wann?«, unterbrach Sandrine sie hörbar aufgeregt.

»Mein Chef ist der Meinung, je schneller, desto besser.«

»Hör zu, du kannst auf jeden Fall bei mir wohnen. In ein paar Tagen bin ich auch zurück. Die meisten Aufnahmen haben wir bereits im Kasten. Spätestens drei oder vier Tage, dann komme ich nach Hause.«

Milla fühlte sich unbehaglich. Sollte sie in einer fremden Stadt allein in einer fremden Wohnung schlafen? Andererseits, ein Hotel wäre noch schlimmer.

»Was ist? Komm schon, Milla«, flehte Sandrine.

»Ich möchte dir nicht zur Last fallen.«

»Du fällst mir nicht zur Last. Ich freue mich so. Dann lernst du gleich meinen neuen Mitbewohner kennen. Anfangs ist er etwas zurückhaltend. Aber wenn er erst mal merkt, dass du es gut mit ihm meinst, taut er auf.«

Irritiert schob Milla ihre Brille zurecht. Eigentlich war Sandrine gar nicht der Typ für eine WG. Doch auch wenn sie selbst lange nicht mehr in Paris gewesen war, so kannte sie doch die schwindelerregend hohen Mieten in Frankreichs Hauptstadt.

»Hör zu, Milla. Meine Nachbarin Madame Sullah hat den Schlüssel zu meiner Wohnung. Sie kümmert sich während meiner Abwesenheit um Minou. Aber ich werde sie gleich anrufen und ihr sagen, dass du diese Aufgabe ab sofort übernimmst«, erklärte ihr Sandrine bestimmt.

Milla schluckte. Sie musste in Paris arbeiten. Wie sollte sie sich da noch um den verstockten Mitbewohner von Sandrine kümmern? Doch sie schwieg.

»Was für einen Auftrag hast du denn von deinem Chef bekommen?« Ihre beiden Karrieren hatten sich nach dem Weggang aus Montpellier in verschiedene Richtungen entwickelt. Sandrine beschäftigte sich vorwiegend mit Frauenthemen im Allgemeinen, wozu auch Reiseberichte und Städtebesichtigungen gehörten, da sie seit ihrem Umzug nach Paris für La Belle, eine große Frauenzeitschrift, arbeitete. Milla hingegen hatte sich auf zwischenmenschliche Themen mit ernsterem Hintergrund spezialisiert.

Sie zögerte kurz, bevor sie ihrer Freundin antwortete. »Ein Leitartikel über Robert Hoffmann.« Sie sprach den Namen französisch aus, verschluckte das t des Vornamens und das h des Nachnamens.

»Hoffmann?« Milla konnte Sandrines Empörung durch das Telefon hindurch hören. »Was gibt es über dieses Schwein noch zu schreiben, was nicht jeder schon weiß?«

»Sandrine, bitte. Es geht um das Porträt eines Mannes, dessen Leben in dieser Tragödie gipfelte. Mit Interviews der Beteiligten über die furchtbare Tat, den Fakten des Verbrechens und natürlich mit Hoffmanns Stellungnahme«, erklärte sie geduldig.

»Welche Stellungnahme? Willst du ihn etwa im Gefängnis befragen?« Bevor Milla antworten konnte, fuhr Sandrine mit ihrer Schimpftirade fort: »Hoffmann gibt keine Interviews mehr, seit er im Gefängnis sitzt. Was denkst du, wer schon alles bei ihm angefragt hat? Milla, vergiss es. Er wird sich ganz bestimmt nicht mit dir treffen.«

Milla schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wie kommst du darauf, dass er keine Interviews gibt?«

Sandrine lachte bitter auf. »Süße, ich lebe in Paris. Es gibt keine einzige französische Zeitung, die noch nicht bei ihm angefragt hat. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass er jeden hat abblitzen lassen.« Sie machte eine kurze Pause. »Wie heißt dein Arbeitgeber eigentlich?«

»Mainkurier.«

Erneut lachte Sandrine auf. »Mainkurier. Sei mir nicht böse, Milla. Aber kein Mensch in Frankreich hat je von dieser Zeitung gehört. Ich denke wirklich, du kannst dir die Fahrt hierher sparen. Hoffmann wird mit Sicherheit nicht mit dir reden.«

»Es ist bereits alles arrangiert, Sandrine. Er wird mit mir sprechen«, erwiderte Milla trotzig.

Sandrine schwieg am anderen Ende der Leitung. Nach einigen Sekunden hörte Milla sie laut ausatmen. »Was habt ihr ihm geboten? Ich glaube es einfach nicht! Bisher hat er ausnahmslos alle Anfragen abgelehnt.«

Verunsicherung machte sich in Milla breit. Tatsächlich hatte sie noch keine Sekunde darüber nachgedacht, warum Robert Hoffmann ausgerechnet mit einem kleinen Regionalmagazin wie dem Mainkurier zusammenarbeiten wollte. War es vielleicht doch noch nicht sicher, dass er mit ihr reden würde? Wollte Karsten sie nur in Sicherheit wiegen? Vielleicht war es gar ein Test, der zeigen sollte, ob sie in der Lage war, unüberwindbare Hürden zu meistern.

»Ich fahre morgen nach Paris. Dann werden wir ja sehen, ob Hoffmann redet.« Milla würde sich nicht abwimmeln lassen. Sie hatte einen Auftrag bekommen, vielleicht den wichtigsten ihrer Karriere, und sie würde ihn ausführen. Koste es, was es wolle. Kurz ließ sie sich von Sandrine noch erklären, wie sie zu deren Wohnung gelangte, bevor sie das Telefonat beendete.

Nachdem Milla Elke über Sandrines Bedenken informiert hatte, winkte diese ab. »Hör zu, Milla, warum er sich auf das Interview eingelassen hat, kann dir doch egal sein. Dieser Auftrag ist deine Chance! Wenn du sie nutzt, kann das dein Durchbruch sein. Was auch immer sein Motiv ist, im Grunde ist es für dich unerheblich.«

2

Paris

Siebenundzwanzig Stunden später stieg Milla am Gare de l’Est aus dem TGV. Entschlossen umfasste sie den Griff ihrer Reisetasche, atmete tief durch und ließ das geschäftige Treiben um sich herum einen Moment auf sich wirken. Ein gewöhnlicher Donnerstag Ende November in Paris. Die meisten Leute waren auf dem Weg nach Hause.

Während Milla auf den Ausgang zusteuerte, suchte sie einen Fahrkartenautomaten. Die hundert Jahre alte Untergrundbahn war in der französischen Hauptstadt nach wie vor das Verkehrsmittel Nummer eins.

Nachdem sie das Wochenticket gelöst hatte, trat sie auf den Vorplatz hinaus. Eisige Kälte schlug ihr entgegen. Milla schätzte, dass es hier mindestens fünf Grad kälter war als in Frankfurt. Bevor sie sich auf den Weg zur Métrostation machte, drehte sie sich um und betrachtete kurz das alte Bahnhofsgebäude, das vor ihr in den Himmel ragte. Die geschwungenen Rundbögen, die in langen Säulen endeten, das große kreisförmige Fenster über dem Haupteingang. Milla war schon Dutzende Male hier angekommen, doch diesmal war es anders. Diesmal hatte sie einen Auftrag zu erledigen. Einen Auftrag, der ihr ganzes Leben verändern konnte.

Voller Zuversicht dachte sie an die Unmengen von Zeitungsartikeln, die sie während der mehrstündigen Zugfahrt durchforstet hatte. Viele Details waren ihr bisher nicht bekannt gewesen. Milla war regelrecht erschrocken, welche Wellen der Mordfall geschlagen hatte. Simone Dubois, das Opfer, war eine beliebte Schauspielerin gewesen, der ganz Frankreich zu Füßen gelegen hatte. Immer wieder hatte Milla während ihrer Recherchen in das makellose Gesicht der attraktiven Blondine geschaut, bevor sie mit Grauen die Artikel neben den Fotos gelesen hatte. Sie bezweifelte ernsthaft, ob es ihr gelingen würde, Robert Hoffmann unvoreingenommen gegenüberzutreten, ohne den brutalen Killer vor Augen zu haben, den die Zeitungen in sämtlichen Facetten beschrieben hatten.

Auch Hoffmanns Foto war mehrmals in den Artikeln aufgetaucht. Bei seiner Verhaftung hatte er noch genauso ausgesehen, wie Milla ihn in Erinnerung hatte. Groß, attraktiv, hellblondes dichtes Haar, der intensive Blick aus diesen unverschämt grünen Augen. Nein, selbst wenn sie wollte, sie konnte sich Robert Hoffmann nach wie vor nicht als brutalen Frauenmörder vorstellen. Andererseits gab es mehr als genug Beweise, die sein Anwalt vor Gericht nicht glaubwürdig hatte widerlegen können. Hoffmann war schuldig, daran bestand nicht der geringste Zweifel.

Der grausamste Aspekt an der ganzen Geschichte war Milla bis heute überhaupt nicht bekannt gewesen. Simone Dubois war bei ihrer Ermordung im vierten Monat schwanger, dies hatte sich allerdings erst bei der Autopsie herausgestellt. Niemand in ihrem Umfeld hatte von der Schwangerschaft gewusst. Auch Hoffmann behauptete bis heute, dass Simone ihm nichts von dem Kind erzählt hatte.

Milla schloss kurz die Augen. Irgendwo in ihrem Hinterkopf bahnte sich ein unangenehmer Schmerz seinen Weg. Genervt hängte sie sich den Gurt der Laptoptasche um den Hals, umschloss die Reisetasche fester und stieg die Treppe zur Métro hinab.

Wie erwartet war der ankommende Zug so voll, dass Milla sich nur unter größter Anstrengung einen Stehplatz direkt an der Tür erkämpfen konnte. Sie musste zweimal umsteigen, bis sie in der richtigen Bahn saß, die sie nach Joinville-le-Pont bringen würde. Sandrine wohnte in einer kleinen Seitenstraße des Vorortes, der südöstlich von Paris lag.

Als Milla in der Schnellbahn endlich einen Sitzplatz ergattert hatte, lehnte sie sich erschöpft zurück. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, der ununterbrochen auf seinem Handy herumtippte. Fasziniert beobachtete sie, wie seine Finger über die Tasten flogen. Ob schon einmal jemand auf die Idee gekommen war, die Geschwindigkeit zu messen, mit der junge Leute heutzutage ihre Nachrichten in die Welt hinausschickten? In diesem Moment fühlte Milla sich mindestens fünfzig Jahre älter, als sie tatsächlich war.

Als ihr Handy klingelte, schaute sie überrascht aufs Display. Irene. Milla seufzte leise. Ihre Noch-Schwiegermutter rief mal wieder im ungünstigsten Moment an. Doch wenn sie jetzt nicht dranging, würde Sebastians Mutter es den ganzen Abend weiter versuchen. Irene Kampert konnte sehr hartnäckig sein, wenn es darum ging, Milla davon zu überzeugen, es noch einmal mit ihrem Sohn zu versuchen. Unwillig nahm sie das Gespräch an. »Hallo, Irene, wie geht es dir?«

»Milla, wo bist du? Ich habe bereits in der Redaktion angerufen. Doch deine Kollegin sagte, du seist momentan beruflich unterwegs. Ich störe doch nicht?«

Milla verdrehte die Augen, während der junge Mann ihr gegenüber sie unverhohlen anstarrte. »Irene, ich sitze gerade in der Métro. Ich habe einen großen Auftrag bekommen und werde einige Zeit nicht in Frankfurt sein«, erklärte sie geduldig.

»In der Métro? Du meinst, du bist in Paris?« Irene klang wenig begeistert.

Milla nickte. »Ja, ich bin auf dem Weg zu Sandrine, da ich einige Tage bei ihr wohnen werde.«

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein zufriedenes Geräusch. »Das ist gut. Dann bist du nicht allein in der Großstadt.« Irene schwieg für einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Was ist das denn für ein Job? Ich dachte, ihr seid ein Regionalmagazin.«

Ja, das dachte ich eigentlich auch, stimmte Milla ihr stumm zu, doch stattdessen erwiderte sie: »Hör zu, ich muss gleich aussteigen. Am besten, ich erzähle dir alles, wenn ich wieder zu Hause bin.«

»Weiß Sebastian auch, wo du bist?« Ihre Schwiegermutter konnte es nicht lassen.

»Sebastian und ich haben uns vor drei Jahren getrennt. Daher geht es ihn überhaupt nichts mehr an, was ich wo mache. Wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, dann sag deinem Sohn, dass er endlich die Scheidungspapiere unterschreiben soll«, antwortete Milla gereizt.

Irene seufzte. »Ach, Milla, vielleicht solltet ihr einfach noch mal miteinander sprechen. Ihr wart ein so tolles Paar.«

»Das hat dein Sohn leider anders gesehen. Vielleicht erinnerst du dich, dass er es war, der mich immer wieder betrogen und belogen hat«, entgegnete sie mit sarkastischem Unterton.

»Ich weiß doch. Der Junge war einfach noch nicht reif für die Ehe. Aber glaub mir, er liebt dich noch immer. Er bestätigt es mir jedes Mal, wenn wir über dich reden.«

Milla schnaufte, während sie weiter den Blick ihres Sitznachbarn auf sich spürte. Zum Glück konnte er sie nicht verstehen.

»Diese Diskussion bringt nichts. Sebastian ist schon lange kein Teil meines Lebens mehr. Bitte akzeptiere das.« Sie machte eine Pause. »Ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Ich melde mich, wenn ich wieder in Frankfurt bin.« Mit diesen Worten verabschiedete Milla sich von ihrer Schwiegermutter, die jedoch darauf bestand, sie in den nächsten Tagen erneut anzurufen, um zu hören, dass alles in Ordnung war.

Angespannt steckte Milla ihr Telefon weg und blickte in die Finsternis, die draußen vor dem Zugfenster herrschte. Irene Kampert war die Mutterfigur für Milla, die sie selbst so früh verloren hatte. Leider hatte sie einen Fehler: Sie war die Mutter von Sebastian. Seit sie sich kannten, hatte sich Irene immer liebevoll um Milla gekümmert. Auch nach dem Scheitern der Ehe hielten die beiden Frauen weiter Kontakt. Irene Kampert war früh Witwe geworden. Am Anfang ihrer Beziehung hatte Milla die Tatsache, dass Sebastian ebenfalls Halbwaise war, als Schicksalsfügung gesehen, die sie beide miteinander verband. Mittlerweile war ihr klar, dass eine gute Beziehung durch andere Faktoren geprägt wurde als durch zufällige Gemeinsamkeiten im Lebenslauf. Sie mochte Irene von Herzen gern, doch deren ständige Versuche, sie wieder mit Sebastian zusammenzubringen, gingen ihr gewaltig auf die Nerven. Daheim würde sie ein ernstes Wort mit ihr reden müssen.

Wenige Minuten später fiel wieder Tageslicht in das Abteil, da der Zug nun oberirdisch fuhr. Bei der nächsten Haltestelle musste Milla aussteigen. Sie nahm ihre Reisetasche und erhob sich, als der junge Mann ihr unvermittelt zuzwinkerte und sie verschmitzt anlächelte.

Milla sah ihn fragend an.

»Ciao, schöne Frau.«

Überrascht hob sie die Brauen und drehte sich zur Tür. Der Kerl war Deutscher, genau wie sie. Er hatte jedes Wort ihres Telefonats verstanden. Das fing ja gut an!

Als der Bahnhof von Joinville-le-Pont in ihrem Blickfeld auftauchte, schob sie kurz ihre Brille zurecht.

»Nogent-sur-Marne«, ertönte die Stimme vom Band, bevor die Bahn zum Stehen kam.

Zehn Minuten später hielt das Taxi, das Milla am Bahnhof genommen hatte, vor einem weitläufigen Grundstück, das von einer mannshohen Mauer umgeben war. Am Telefon hatte Sandrine von ihrer Wohnung gesprochen. Hatte der Fahrer sich etwa in der Adresse geirrt? Sicherheitshalber wiederholte sie sie erneut. Der Mann nickte.

Sie ging die Mauer entlang, am Nachbaranwesen vorbei und bog links in einen schmalen Weg ein. Als sie am Ende auf eine kleine Parallelstraße stieß, wurde sie endlich fündig. Eilig stieg sie die drei Stufen zur Haustür hinauf. Sandrine Bonnet. Hier war sie richtig. Erleichtert steuerte Milla auf das Nebenhaus zu. Hier musste Madame Sullah, die Nachbarin, wohnen. Milla klingelte und wartete.

»Oui?« Eine Frau in einem orangefarbenen Sari öffnete die Tür. Sie hatte schwarzes langes Haar und dunkle Augen. Auf ihrer Stirn leuchtete ein roter Punkt. Milla schätzte die Frau auf Anfang sechzig.

»Bonjour, Madame. Mein Name ist Milla Seifert. Ich bin eine Freundin von Sandrine.«

Die Frau verzog ihren faltigen Mund zu einem freundlichen Lächeln. »Bonjour, Madame. Kommen Sie doch bitte herein. Sandrine hat mir Ihr Kommen bereits angekündigt.«

Sie trat einen Schritt zur Seite. Milla folgte der älteren Dame durch einen knallgelb gestrichenen Flur ins Wohnzimmer.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Madame Sullah zeigte auf eine rote Plüschcouch. Vorsichtig setzte Milla sich ans Ende des Sofas und stellte ihre Reisetasche auf den Boden.

»Moment. Ich hole Sandrines Schlüssel. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«

»Nein, danke«, lehnte Milla höflich ab.

Nachdem die ältere Frau den Raum verlassen hatte, wusste Milla nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Das Zimmer war ein Gesamtkunstwerk indischer Einrichtungskultur: die schweren dunklen Holzmöbel, die dicken farbenfrohen Teppiche und die Unmengen kitschiger Bollywood-Bilder an den Wänden. Hier wurden sämtliche Klischees bedient, die sie je über Indien gehört hatte.

Kurz darauf kehrte Madame Sullah zurück und gab ihr den Schlüssel. »Nehmen Sie sich vor Minou in Acht. Er kann ganz schön verschlagen sein. Lassen Sie sich bloß nicht von seinem harmlosen Aussehen täuschen. Er hat es faustdick hinter den Ohren.« Ihre Stimme klang eindringlich.

Milla nickte genervt. Was war nur mit Sandrines Mitbewohner los?

Sie kehrte zu Sandrines Haus zurück und schloss die Tür auf. »Hallo?« Soweit sie erkennen konnte, befand sie sich in einem kleinen, dunklen Flur.

Vorsichtig tastete sie mit der Hand die Wand ab, bis sie endlich den Lichtschalter fand. Als der Raum hell erleuchtet wurde, musste sie schmunzeln. Der schmale Gang des Hauses trug unverkennbar die Handschrift ihrer Freundin. Über eine der Wände erstreckte sich ein riesiges Holzregal, in dem Unmengen von Schuhen nach Farben sortiert in Reih und Glied standen. Sandrine war schon immer eine Ordnungsfanatikerin gewesen. Müde stellte Milla ihre Reisetasche auf den Boden und legte ihren Laptop daneben.

»Hallo?«, rief sie, diesmal lauter. Doch wieder bekam sie keine Antwort. Vielleicht war Minou nicht zu Hause.

Erleichtert atmete sie aus und betrat das Wohnzimmer. Die gleiche akkurate Ordnung wie im Flur. Sofa, Schränke, Tisch, nirgends lag eine Zeitschrift oder auch nur ein Notizblock herum, der dort nicht hingehörte. Milla seufzte. Sie würde sich zusammenreißen müssen, um das Haus nicht in einen Chaoshaufen zu verwandeln, da sie selbst es eigentlich lieber ungezwungen mochte und nicht allzu aufgeräumt, was für sie gleichbedeutend war mit gemütlich und pflegeleicht. Der Kamin in der Ecke entlockte ihr ein Lächeln. Nun ja, gemütlich konnte sie es sich hier machen.

Als sie ein leises Geräusch aus dem Nebenzimmer hörte, erstarrte sie. War dieser ominöse Mitbewohner doch zu Hause? Aber warum hatte er dann nicht geantwortet, als sie sich bemerkbar gemacht hatte? Nervös schob sie ihre Brille zurecht und straffte ihre Schultern. Erhobenen Hauptes steuerte sie auf den Raum zu, aus dem das Geräusch gekommen war.

»Minou? Hallo?«, versuchte sie es ein letztes Mal.

Als sie durch die Tür in die Küche trat, wich sie erschrocken zurück. Der ganze Fliesenboden war mit kleinen braunen Kügelchen übersät.

»Was ist denn das?« Milla bückte sich und hob eines der runden Gebilde auf. Argwöhnisch betrachtete sie das unförmige Etwas in ihrer Handfläche und runzelte die Stirn. Als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Arbeitsfläche wahrnahm, fuhr sie hastig herum und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Auf dem Herd saß eine weiße Katze und starrte sie reglos an.

»Ich vermute mal, du bist Minou?« Milla schmunzelte. Also kein verschrobener Mitbewohner, sondern nur ein randalierender Kater. Jetzt entdeckte sie auch die umgefallene Verpackung des Trockenfutters, neben der Minou thronte.

»Du hast wohl Hunger gehabt. Wenn dein Frauchen diese Unordnung hier sehen könnte …« Milla öffnete nacheinander mehrere Schubladen, bis sie schließlich einen kleinen Kehrbesen mit Schaufel fand. Sie seufzte und begann, das Katzenfutter zusammenzufegen. Als sie sich kurz umdrehte, um nach dem Kater zu sehen, starrte dieser sie noch immer aus schmalen Augen an. Milla schüttete das Futter zurück in die Packung und verstaute sie in einem der Küchenschränke.

»Ich hoffe, Türen öffnen gehört nicht zu deinen Spezialitäten.«

Vorsichtig näherte sie sich dem Kater und betrachtete ihn eingehend. Das Fell des Tieres leuchtete weiß wie Schnee, und die stahlblauen Augen blickten Milla unverwandt an. Obwohl sie sich mit Katzen nicht auskannte, war sie sich doch sicher, dass es sich bei diesem Vertreter um ein außergewöhnlich hübsches Exemplar handelte. Sie streckte ihre Hand aus und wartete geduldig ab, wie Minou reagieren würde. Der Kater saß weiter teilnahmslos auf seinem Platz und musterte sie. Als sie ihn leicht berührte, fühlte sich das Fell weich und glatt wie Seide an. Ermutigt durch sein Stillhalten strich sie ihm behutsam über seinen Rücken. Als sie seinen Kopf berührte, schmiegte der Kater sich enger an ihre Hand.

»Na, du bist doch ein ganz Lieber. Ich wurde nämlich mehrfach vor dir gewarnt.« Milla schüttelte den Kopf. Jetzt unterhielt sie sich schon mit einer Katze. Musste sie sich langsam Sorgen machen? Sebastian hätte sicher nur Spott für sie übrig, wenn er sie so sehen könnte.

Sebastian. Wen interessierte eigentlich, was dieser Mistkerl dachte?

Nachdem Milla sich mit den nötigsten Lebensmitteln versorgt hatte und frisch geduscht auf Sandrines Couch saß, schaute sie erneut ihre Unterlagen durch und griff zum Telefon. Angespannt wählte sie die Nummer der Haftanstalt in Fresnes. Umgehend meldete sich eine freundliche Tonbandstimme und begrüßte Milla, als ob sie die Nummer eines Fünf-Sterne-Hotels gewählt hätte. Genervt legte sie auf. Zu gern hätte sie noch heute abgeklärt, ob das Treffen mit Robert Hoffmann morgen früh auch wirklich stattfinden würde. Während sie auf ihre Uhr sah, überlegte sie. Kurz nach sechs. Der Directeur des Gefängnisses schien früh Feierabend zu machen.

Gestern hatte Karsten ihr noch versichert, dass der Termin mit Monsieur Zodaine persönlich abgeklärt worden sei. Sie musste ihrem Chef also wohl oder übel vertrauen. Milla fuhr ihren Laptop hoch. Es dauerte nicht lange, bis der weiße Kater sich langsam an sie heranschlich. »Na, Minou, Lust auf ein bisschen Gesellschaft?«

Bei Millas Worten sprang das Tier auf ihren Schoß und rollte sich zusammen. Während sie seinen weichen Bauch streichelte, blickte sie auf den Bildschirm vor sich, auf dem sie eine blonde Frau anlächelte. Corinne Mercier, Robert Hoffmanns Ex-Freundin, die nach seiner Verhaftung behauptet hatte, dass er sie ebenfalls vergewaltigt habe. Der Artikel war vor fünf Jahren in einem großen französischen Boulevardmagazin erschienen. Vielleicht wäre es interessant, sich mit dieser Dame zu unterhalten. Milla notierte sich den Namen. Während ihrer Recherchen hatte sie bereits einige andere vielversprechende Interviewpartner entdeckt: die Schwester des Opfers, Roberts bester Freund, der ebenfalls am Tatabend auf der Party von Simone Dubois’ Eltern gewesen war, Roberts Eltern. Als Milla sich einem Artikel über den Vater des Opfers, Roger Dubois, ein hohes Tier im französischen Außenministerium, zuwenden wollte, klingelte ihr Telefon.

»Ja?«

»Milla? Ich bin’s, Sandrine.«

»Bonsoir, Sandrine«, begrüßte sie ihre Freundin.

»Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut? Wie benimmt sich Minou?«

Typisch Sandrine. Sie hatte wieder einmal keine Zeit zum Luftholen. »Es ist alles in Ordnung. Dein Haus ist toll. Ein richtiger kleiner Palast. Minou liegt gerade auf meinem Schoß und genießt ein paar Streicheleinheiten.«

Milla hörte ihre Freundin laut ins Telefon schnaufen.

»Minou macht was? Ich glaube, ich habe mich verhört.«

Unsicher blickte Milla den Kater an. »Er liegt hier und lässt es sich gut gehen.«

»Minou lässt sich von niemandem anfassen außer von mir. Bist du sicher, dass du dich im richtigen Haus befindest?«

Milla starrte das Fellbündel auf ihren Oberschenkeln an. »Er liegt hier und schläft«, bestätigte sie erneut.

Am anderen Ende der Leitung machte Sandrine ein undefinierbares Geräusch. »Minou ist das scheueste Katzenvieh in ganz Paris, ach, was sage ich, in ganz Frankreich. Wenn er dich gleich am ersten Tag in sein Herz geschlossen hat, kommt das einem kleinen Wunder gleich.«

Milla hatte selbst noch nie Haustiere besessen, hatte sich noch nie dafür interessiert. Daher verwunderte sie Sandrines Bemerkung.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen«, setzte Sandrine an.

»Warum entschuldigen?«

»Wegen gestern. Ich habe etwas ungehalten auf deinen Auftrag reagiert. Aber schließlich ist das unser Job. Ein Leitartikel, mon Dieu. Das ist eine Riesenchance, die du auf jeden Fall nutzen musst. Man kann es sich schließlich nicht aussuchen, über was man schreibt.«

»Danke, Sandrine. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Ehrlich gesagt hätte auch ich mir ein anderes Thema gewünscht. Aber ich möchte auf jeden Fall versuchen, auch mit den Angehörigen des Opfers zu sprechen, damit der Artikel nicht zu einseitig ausfällt. Ich hoffe nur, dass sie auch mit mir reden wollen.«

»Ich kenne Marie Dubois, die Schwester von Simone. Ich habe vor ein paar Monaten eine Fotostrecke mit ihr gemacht, da sie als Model arbeitet. Wenn du magst, kann ich sie für dich anrufen und nachfragen.«

»Super! Danke, das wäre wirklich nett. Weißt du denn schon, wann du in Montpellier fertig bist?«

»Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort noch ein paar Tage dranhängen. Du weißt ja, hier ist die Heimat meines Herzens. Aber ich denke, in zwei, drei Tagen bin ich zurück. Wir sind fast fertig.«

Milla freute sich, da sie Sandrine seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen hatte. Am anderen Ende der Leitung hörte sie Stimmen im Hintergrund.

»Hör zu, meine Crew wartet. Fühl dich ganz wie zu Hause bei mir. Ich melde mich morgen wieder.« Sandrine machte eine kurze Pause. »Und Milla?«

»Ja?«

»Nimm dich vor Hoffmann in Acht. Er ist ein brutaler Mörder, der andere Menschen ohne Skrupel für seine Zwecke manipuliert. Lass dich bloß nicht von ihm einwickeln.«

Milla schluckte. »Ich werde aufpassen, Sandrine. Ich verspreche es dir.«

3

Am nächsten Morgen wachte Milla sehr früh auf. Sie blickte vom Bett aus dem Fenster und starrte in die Dunkelheit. Die roten Ziffern auf dem Wecker zeigten zehn Minuten nach sechs an. Unruhig drehte sie sich auf die Seite und zog die Decke über sich. Was würde sie heute erwarten?

Gestern Abend hatte sie noch einige Daten zu Fresnes herausgesucht. Drittgrößtes Gefängnis Frankreichs, genauso hoffnungslos überbelegt wie alle anderen Haftanstalten in diesem Land. Das Gefängnis war Ende des 19. Jahrhunderts erbaut und während des Zweiten Weltkriegs von der Gestapo für Vernehmungen und Folterungen französischer Widerstandskämpfer benutzt worden. Ein Ort, mit dem man nur Negatives verbinden konnte, ein Ort des Bösen.

Milla fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Sie hatte schlecht geschlafen, war immer wieder hochgeschreckt. Als Minou gegen zwei Uhr meinte, er müsse zu ihr aufs Bett springen, um es sich in ihrer Kniekehle gemütlich zu machen, war es mit der Nachtruhe vollends vorbei gewesen. Der Kater hatte so laut geschnauft, dass Milla sich genervt ihr Kissen auf die Ohren gedrückt hatte. Doch auch diese Maßnahme hatte das laute Atmen nicht dämpfen können. Sie war es einfach nicht mehr gewohnt, Geräusche eines anderen Lebewesens neben sich im Bett zu hören. Und wenn es nur das Schnaufen eines Katers war.

Milla hob den Kopf und blickte hinter sich. Da lag der Übeltäter, friedlich eingerollt mit geschlossenen Augen, und drückte sich an ihre Waden. Na, immerhin schien er ihre Gegenwart zu genießen. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett. Der Kater zuckte nur kurz, legte sich auf die Seite und streckte alle viere von sich. Trotz ihrer Müdigkeit musste Milla beim Anblick des kleinen Kerlchens schmunzeln. Süß war er ja schon.

Nachdem sie geduscht hatte, überlegte sie, was sie anziehen sollte. Schließlich wollte sie Robert Hoffmann den Eindruck einer seriösen und kompetenten Journalistin vermitteln. Sie entschied sich für eine schmal geschnittene beige Hose und eine weiße Bluse, über der sie einen dunkelbraunen Blazer tragen würde. Prüfend blickte sie in den Spiegel und musterte ihr Gesicht. Vorsichtig berührte sie die dunklen Ringe unter ihren Augen. Dann schminkte sie sich und setzte ihre Brille auf.

Als Milla in die Küche kam, erblickte sie Minou, der um seinen Futternapf schlich.

»Guten Morgen, Langschläfer. Hast du Hunger?«

Während sie die Tüte mit dem Trockenfutter aus dem Schrank holte und eine großzügige Portion in die Schüssel schüttete, beobachtete Minou sie ununterbrochen aus seinen schmalen blauen Augen.

»Guten Appetit.«

Milla lehnte sich gegen den Küchenschrank und wartete, bis der Kaffee fertig war. Während sie hörte, wie der Kater geräuschvoll sein Futter fraß, überdachte sie nochmals ihre Strategie. Sie würde bei Hoffman nicht mit der Tür ins Haus fallen, da sie ihn auf keinen Fall verärgern wollte. Milla war fest entschlossen, diese Chance zu nutzen, um endlich zu zeigen, was in ihr steckte. Vor allem musste sie ihn wie jeden anderen Interviewpartner behandeln. Das Verbrechen, das er begangen hatte, sollte sie versuchen auszublenden. Sonst würde sie es wahrscheinlich nicht schaffen, sich auf einer neutralen Ebene mit ihm auseinanderzusetzen. Erst später würde sie ihn dann auf seine Tat ansprechen.

Hoffentlich ging ihr Plan auf. Da sie in ihrer bisherigen Laufbahn bereits Artikel zu unzähligen unterschiedlichen Themen verfasst hatte, war sie in ihrer Denk- und Arbeitsweise flexibel. Doch noch nie war sie mit einem derart brutalen Gewaltverbrechen konfrontiert worden. Daher hoffte sie, dass ihre übliche Taktik, das Thema von seiner emotionalen Seite aufzuziehen, auch in diesem Fall von Erfolg gekrönt sein würde.

4

Zwei Stunden später stieg Milla aus dem Taxi und ließ das riesige Backsteingebäude, das sich vor ihr erstreckte, für einen kurzen Moment auf sich wirken. Auf dem weitläufigen Gelände standen vier große Komplexe parallel zueinander. Milla meinte sich zu erinnern, dass in einem der Gebäude ausschließlich weibliche Häftlinge untergebracht waren. Die anderen drei unterteilten die männlichen Insassen nach der Schwere ihrer Straftaten. Milla vermutete, dass Hoffmann bei den besonders schweren Jungs untergebracht war. Zumindest konnte sie sich kein abscheulicheres Verbrechen vorstellen als jenes, das er begangen hatte. Langsamen Schrittes ging sie auf ein großes, ausladendes Tor zu, wo sie den Haupteingang vermutete. An der Pforte saß ein Justizbeamter in dunkelgrauer Uniform und musterte sie unverhohlen.

»Bonjour, Monsieur, mein Name ist Milla Seifert. Ich bin eine deutsche Journalistin. Robert Hoffmann erwartet mich.«

Der Beamte grinste verächtlich. »Hoffmann ist ganz bestimmt nicht in der Position, jemanden zu erwarten. Außerdem bin ich nicht seine Empfangsdame.«

Verunsichert umklammerte Milla den Riemen ihrer Handtasche fester, fing sich dann aber rasch wieder und blickte den Mann voller Entschlossenheit an. »Monsieur Maler vom Mainkurier hat mein Kommen angekündigt. Bitte klären Sie das mit Ihrem Vorgesetzten.« Sie bemühte sich um eine feste Stimme.

Der Beamte brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Milla sah ihm an, dass er nicht begeistert war, sich von ihr Befehle erteilen lassen zu müssen. Trotzdem griff er zum Telefon und wählte.

Als der Beamte auflegte, wandte er sich ihr wieder zu. »Directeur Zodaine erwartet Sie in seinem Büro. Ich mache Ihnen jetzt auf. Wenn Sie sich immer geradeaus halten, kommen Sie direkt zum Hauptgebäude. Ich gebe dem diensthabenden Kollegen dort Bescheid. Er wird Sie dann zum Chef bringen.«

Milla bedankte sich und ging durch die Tür, die der Beamte mit einem Knopfdruck öffnete.

Hinter der Mauer erstreckte sich ein riesiges Freigelände, das durch mehrere Zäune in unzählige Gänge und Räume, die großen Käfigen glichen, aufgeteilt war. Der Anweisung des Beamten folgend steuerte sie geradewegs auf ein ausladendes Gebäude zu, vor dem ein weiterer Wärter stand, der gerade in ein Funkgerät sprach. Als sie sich dem Mann näherte, beendete dieser sein Gespräch. Der Beamte trug die gleiche Uniform wie der Mann an der Pforte. Im Gegensatz zu seinem Kollegen war er schwer bewaffnet, wie Milla auffiel.

»Madame Seifert?«

Sie nickte und grüßte zurück.

»Bitte folgen Sie mir. Directeur Zodaine wurde über Ihre Ankunft informiert und erwartet Sie bereits.«

Nachdem der Beamte die Sicherheitstür aus Stahl durch die Eingabe eines Codes geöffnet hatte, folgte ihm Milla in das Hauptgebäude hinein. Sie befanden sich in einem langen schmalen Gang, von dem rechts und links Türen abgingen. Vor einer davon blieb der Beamte stehen, drehte sich zu ihr um und nickte.

Milla bedankte sich bei ihm und klopfte an.

»Oui?«, ertönte eine männliche Stimme.

Milla öffnete die Tür und betrat den Raum. Der Directeur saß hinter einem breiten überladenen Schreibtisch. Bei ihrem Eintreten erhob er sich hastig und steuerte auf sie zu. Henri Zodaine war nicht größer als Milla. Sein kleines rundes Gesicht wurde von einem dichten Bart umrahmt. Auf dem Kopf war er kahl, an den Seiten trug er sein graues Haar raspelkurz. Kluge Augen hinter einer dünnen Metallbrille musterten sie. Sie schätzte den Directeur auf etwa sechzig Jahre. Sie reichten sich die Hände.

»Bonjour, Madame Seifert. Ich hoffe, Sie haben gut zu uns gefunden. Wir liegen hier ja etwas abseits.«

»Bonjour, Directeur Zodaine. Ich bin mit dem Taxi gekommen. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es tatsächlich umständlich von Joinville aus«, erwiderte sie zustimmend.

Zodaine zeigte auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Madame.«

Milla setzte sich und wartete, bis auch er wieder auf seinem Stuhl saß.

»Madame Seifert. Ich möchte Ihnen vorab einige Informationen zu unserer Institution geben. So können Sie sich vielleicht ein besseres Bild von der Einrichtung machen. Außerdem wird Ihnen Hoffmann sicher auch Verschiedenes erzählen. Oft sind solche subjektiven Meinungsbilder ohne weitere Hintergrundinformationen aber schwer einzuordnen.«

Milla rutschte auf ihrem Stuhl etwas zur Seite. »Directeur Zodaine …«, setzte sie an.

»Monsieur Zodaine ist völlig ausreichend«, unterbrach er sie in freundlichem Ton.