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Eine Gewaltserie hält Weinheim in Atem! Eigentlich hat sich Kommissarin Sina Engel auf ein paar ruhige Bürotage eingestellt. Doch dann steht Weinheim plötzlich kopf: Zunächst verschwindet ein junges Mädchen aus gutem Haus, wenig später wird Sinas Schwager auf offener Straße zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt. Als kurz darauf auch noch ein Mord geschieht, haben Sina und ihr Kollege Matthias Sommer, mit dem sie inzwischen mehr als ein reines Arbeitsverhältnis verbindet, auf einmal drei Fälle zu lösen. Einzig eine Sechzehnjährige könnte Licht ins Dunkel bringen – doch da ist es schon fast zu spät …
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Seitenzahl: 356
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2022 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln
Internet: http://www.grafit.de
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Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von
Shutterstock/Tridsanu Thopet (Baum); AdobeStock/Sina Ettmer (Weinheim)
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-89425-784-2
Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Die gelernte Finanzassistentin arbeitet nach Anstellungen in diversen Kreditinstituten seit zwei Jahren an der Universität Heidelberg. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als ihr während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs die Idee für ihr erstes Buch kam. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist oder an einem ihrer Romanprojekte schreibt, geht sie gern wandern oder liest.
Für meine Kinder
Weinheim
Katinka schwebte auf einer Wolke. Ihr Körper fühlte sich federleicht an. Ihre Gedanken schwirrten orientierungslos ohne Ziel, ohne Kompass in ihrem Kopf herum. Emsig wie Tausende Ameisen, die den Weg zu ihrem Bau nicht mehr fanden. Was geschah mit ihr? Hörte sie da etwa Stimmen? Katinka wollte die Lider heben, doch obwohl die Schwerelosigkeit, in der sie sich augenscheinlich befand, anhielt, vermochte sie nicht, die Muskeln in ihrem Gesicht anzuspannen. Und was war mit ihren Händen los? Würde sie es schaffen, ihre Finger zu heben und an die Augen zu führen? Wer redete da? Wo war sie? Sie versuchte fieberhaft, ihre Kräfte zu bündeln. Doch je mehr sie sich anstrengte, ihre Wahrnehmung zu schärfen, desto ungehorsamer verhielten sich ihre Gehirnströme. Lief ihr Schweiß über die Stirn? Was geschah da auf ihrer Gesichtshaut? Verspürte sie eine Berührung? Oder einen Windhauch? Konzentrier dich, Katinka!
Der Nebel, der um ihre Gedanken zu wabern begann, verdichtete sich. Lange würde sie diesen Zustand nicht ertragen können. Was war denn nur passiert? Sie musste sich jetzt unbedingt anstrengen. Sie musste in jeden noch so kleinen Winkel ihres Körpers hineinhören, ob sich dort nicht doch eine winzige Kraftreserve versteckte, die sie mobilisieren konnte. Und obwohl sich der Zustand, der sie umgab, fast wohlig anfühlte, geschützt und weich, sträubte sich Katinkas Unterbewusstsein mit aller Macht gegen den Drang, loszulassen. Irgendetwas in ihrem sich im Stand-by-Modus befindlichen Gehirn löste einen nicht ignorierbaren Alarm aus. Wenn sie doch nur diesen Dunstschleier von ihren Gedanken nehmen könnte! Katinka spürte, dass sie sich in einer Situation befand, die ihr sehr gefährlich werden konnte.
Steh auf und lauf weg!, befahl ihr eine kaum wahrnehmbare Stimme aus ihrem tiefsten Inneren in diesem Moment. Katinka lachte stumm, bevor sie sofort zu frösteln begann. Wieso bewegte sich ihr Körper plötzlich? Die Gefahr, die sie umgab, wurde greifbarer, fühlbarer, konkreter. Wehr dich! Schrei! Öffne endlich die Augen! Steh auf!
Ja, ja!, wollte Katinka aus voller Brust rufen, doch auch die Lippenmuskulatur schien außer Gefecht gesetzt zu sein. Welche Verbindung funktionierte hier nicht mehr?
Keuchte da jemand? Die Härchen auf Katinkas Armen stellten sich auf. Nicht alle Körperreflexe waren also ausgeschaltet. War das ein gutes Zeichen?
Wieder Stimmen. Was redeten sie? Katinka versuchte, ihr Gehör zu schärfen. Doch das Geräuschwirrwarr überforderte ihre vernebelten Sinne. Aus welcher Richtung vernahm sie die Töne? Von rechts, links? Von oben? Ja, da war jemand über ihr. Wie konnte das sein? Aus dem Himmel?
Katinka, reiß dich zusammen! Du bist nicht gläubig. Da sitzt niemand in den Wolken und sieht auf dich hinab! Es musste eine andere Erklärung geben. Wenn sie doch nur ihre Augen öffnen könnte!
Da! Jetzt hörte sie es wieder. Da sprach jemand. Wirklich? Nein, es klang eher wie das Schnaufen eines Tieres. Was tat derjenige? Und warum sah er sie nicht? Er musste ihr doch helfen.
Ein Ruckeln durchfuhr ihren Körper. Steh auf und renn weg! Verzweiflung machte sich in Katinka breit. Was konnte sie tun? Ihre Hilflosigkeit wuchs. Obwohl sie die Situation nicht einordnen konnte, obwohl sie nicht wusste, was mit ihr geschah, spürte sie die schwelende Gefahr.
Die Geräusche um sie herum wurden lauter. Am liebsten hätte sie die Hände gehoben und auf ihre Ohren gepresst. Woher kamen die Geräusche? Sie verstand den Zusammenhang nicht, aber ihre Angst wurde größer. Wenn nur diese undurchlässige Suppe in ihrem Kopf sich lichten würde …
War es möglich, dass man sie nicht sehen konnte? Hielt sie sich etwa versteckt? Wenn sich Menschen in ihrer Nähe befanden, würden die ihr doch helfen. Oder nicht? Sie mussten doch erkennen, dass sich Katinka in einer unpässlichen Situation befand. Unpässlich. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie über diesen Ausdruck den Kopf geschüttelt. Sie war hilfloser als ein neugeborenes Baby. Kraftlos ließ sie sich in den Nebel zurücksacken. Die Fokussierung ihrer Gedanken strengte sie immens an.
Einen Moment lang musste sie sich ausruhen, bevor sie erneut ihre Kräfte mobilisieren konnte. Hör auf zu denken, befahl sie sich stumm. Lass dich treiben. Nutz die Atempause, um wieder Energie zu sammeln.
Das Stimmengemisch schwoll erneut an. Was war da los? Wie gern hätte sie in diesem Moment losgeschluchzt, ihren Tränen freien Lauf gelassen, ihrer Qual ein Ventil zum Ausbrechen gegeben. Doch nichts davon war möglich.
Alles in ihrem Kopf drehte sich plötzlich. Nichts schien auf einmal mehr zusammenzupassen. Was passierte mit ihren Beinen? Ihrem Oberkörper? Katinka kam sich vor wie auf einem Schiff bei starkem Seegang. Ihr wurde übel, ihre Kehle fühlte sich trocken und rau an. Sie versuchte zu schlucken. Lange konnte sie dieses Schaukeln nicht ertragen. Würde sie es schaffen, sich zu übergeben, wenn der Würgereiz sich weiter verstärkte? Oder reichte ihre Kraft nicht einmal mehr dafür? Katinka wollte nach Luft schnappen, als im nächsten Augenblick ein stechender Schmerz durch ihren Körper schoss. Nein, es war nicht ihr Körper, es war ihr Kopf.
Die Verzweiflung ließ sämtliche Dämme in ihr brechen. Sie spürte etwas Hartes an ihrer Hüfte. Wieder durchfuhr ein Ruckeln ihre Arme und Beine. Wenn sie doch nur wüsste, was mit ihr geschah! Die Nebelschwaden wichen einer dunklen Wand, die sich bedrohlich und angsteinflößend vor ihr aufbaute. Sie konnte die Veränderung fühlen, spürte den kalten Hauch, der über sie hinwegwehte. Erneut probierte sie, ihre Gedanken zu bündeln, ihre Energie wiederzuerwecken, doch diesmal schien es noch auswegloser. Das Einzige, was Katinka noch wahrnehmen konnte, war diese Mauer, die sie mehr und mehr von ihrem Denken, ihrem Fühlen, ihrem Inneren trennte.
War das der Schlussstrich? Fühlte sich so der Tod an?
Dienstag, 6. Juni
Sina schaltete die Kaffeemaschine aus und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Als sie den Kühlschrank öffnen wollte, umschlang ein Arm ihre Taille.
»Guten Morgen, meine Süße«, hauchte Matthias ihr ins Ohr.
Sina drehte sich um und drückte ihrer Tochter Clara, die stolz auf Matthias’ Arm thronte, einen Kuss aufs Haar. »Gut geschlafen, mein Schatz?«
Clara brabbelte vor sich hin und streckte eine Hand nach Sina aus.
Liebevoll strich sie über die Wange des Kleinkinds, bevor sie sich Matthias zuwandte, sein Gesicht mit beiden Händen umfasste und ihn küsste. »Guten Morgen.«
»Hast du auch gut geschlafen?«
Sie nickte.
»Clara ist ausgehfertig.«
Sina lächelte. »Du bist der Beste.«
»Du weißt, was sie mir bedeutet.«
»Und darüber bin ich sehr glücklich.« Sina musterte den hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann, der sich im Laufe der letzten Monate mehr und mehr in ihr Herz geschlichen hatte.
Nachdem sie im Februar letzten Jahres ihren Lebensgefährten und Claras Vater Carlo verloren hatte, hatte sie sich lange nicht vorstellen können, sich jemals wieder in dieser Intensität auf einen Mann einlassen zu können. Und Carlos ehemaliger Partner Matthias Sommer wäre ihr mit Sicherheit zuletzt eingefallen, wenn man sie nach einer potenziellen Beziehung gefragt hätte. Carlos Erzählungen über Matthias’ unzählige Affären hatten ihr stets den Eindruck eines sprunghaften und unzuverlässigen Weiberhelden vermittelt, der sich von einem Abenteuer ins nächste stürzte. Doch ihre Zusammenarbeit während des letzten Jahres hatte sie ihre Meinung ändern lassen. Sina musste schmunzeln.
»Was?« Matthias’ Blick wirkte irritiert.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Wollen wir frühstücken?«
Matthias setzte Clara in den Hochstuhl, während Sina den Tisch deckte.
»Was steht diese Woche bei euch an?«
Sina legte Clara einen Zwieback auf den Teller und verfolgte, wie ihre Tochter erst dreimal auf das Gebäck schlug, bevor sie es hochhob und in den Mund steckte. Kopfschüttelnd blickte sie zu Matthias. »Schreibkram, Schreibkram und noch mal Schreibkram.« Sie verzog ihre Mundwinkel. »Ach, und habe ich erwähnt, dass sehr viel Schreibkram auf mich wartet?«
Matthias lachte. »Wären dir ein paar Tote lieber?«
»Das fragst du nicht ernsthaft«, entgegnete Sina und nippte an ihrem Kaffee.
»Nein, war nur ein Spaß! Sei froh, dass sich die Weinheimer momentan so gut benehmen.«
»Ich hasse Berichte schreiben«, brummte Sina. »Was habt ihr vor?«
Er schnaufte.
»Matthias?«
»Ich denke, wir werden Söldner einen Besuch abstatten.«
»Heute?« Sie merkte, dass ihre Stimme zitterte.
»Sina, ich gehe da nicht allein hin.« Matthias griff über den Tisch und umfasste ihre Finger. »Du musst keine Angst haben.«
Ferdinand Söldner betrieb in Heidelberg und Umgebung vordergründig vier große Fitnessstudios. Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass er seit Jahren über sein Unternehmen Geldwäsche in großem Stil betrieb. Den Ermittlern lagen Hinweise auf Zwangsprostitution, Menschenschmuggel, vornehmlich aus Osteuropa, und Drogenhandel vor. Vor vier Wochen war ein Undercoverbeamter, der für Matthias’ Team gearbeitet hatte, brutal ermordet worden, bevor er wichtige Unterlagen an seine Kollegen hatte übergeben können. Sina wusste, dass Söldner mit allen Wassern gewaschen war. Und sie hatte Angst. Angst, erneut den Mann zu verlieren, der ihr alles bedeutete.
»Bitte sei vorsichtig«, flüsterte sie und kam sich klein und hilflos vor.
»Ich bin nicht Carlo«, konstatierte Matthias. Er streckte eine Hand aus und strich Clara, die noch immer hoch konzentriert an ihrem Zwieback knabberte, übers Haar. »Ich lasse euch nicht allein.«
Sina hielt beim Kauen inne. »Ich weiß nicht, ob ich das ein zweites Mal …«
»Bitte vertrau mir«, erwiderte er in eindringlichem Ton.
»Ich weiß ja, dass du ein hervorragender Polizist bist«, versuchte sie sich an einer Erklärung für ihre zwiespältigen Gefühle. »Aber warum kannst du nicht einfach … Schlosser sein? Oder Lehrer? Busfahrer? Irgendetwas Ungefährliches?«
Matthias kniff seine Augen zusammen. »Ich liebe meinen Beruf genauso sehr wie du, Sina. Wir haben schon einige brenzlige Situationen zusammen durchgestanden. Aber für nichts auf der Welt würde ich etwas anderes tun wollen.« Er zögerte. »Bis auf …« Sein Blick intensivierte sich, als er ihr in die Augen sah.
Sina wusste, woran er dachte. »Ich weiß«, murmelte sie. »Keine Ahnung, was mit mir los ist. Du bist verdammt gut in dem, was du tust.«
»So?« Sein Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an. »Bin ich das? Gern darfst du das etwas näher ausführen.«
Sina sah von Clara zu Matthias. »Nicht vor Minderjährigen.« Sie lachte.
»Schon besser.«
»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Dass du …«
»Sina«, unterbrach er sie. »So schnell wirst du mich nicht los. Zumindest nicht, wenn du es nicht möchtest.«
»Ich bin … unmöglich.«
Clara klopfte mit dem angeknabberten Zwieback auf die Fläche vor dem Hochstuhl und gluckste.
»Nein, bist du nicht«, widersprach Matthias sanft, während er Claras Hand umfasste und sie an ihre Lippen führte. »Der Zwieback ist zum Essen da, Clara, nicht zum Spielen.«
Das Kleinkind zog eine Grimasse.
Sina musste lachen.
»Du machst dir Sorgen um mich«, fuhr Matthias fort, als Clara weiteraß. »Wir haben nun mal keinen Bürojob. Die Gefahr begleitet uns mehr oder weniger auf jedem unserer Einsätze. Aber damit müssen wir leben. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, keine Angst um dich zu haben. Aber ich weiß, dass du«, er grinste, »ebenso wie ich, verdammt gut in dem bist, was du tust. Daher vertraue ich darauf, dass du jeden Abend wohlbehalten zu mir zurückkommst.« Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf die Innenfläche. »Das war jetzt richtig kitschig, was ich da gesagt habe.«
»Nein.« Sina lächelte. »Das war sehr schön.« Sie erhob sich. »Aber ich glaube, wir sollten los. Ich muss Clara noch zu meinen Eltern bringen.«
Auch Matthias stand auf und räumte das Geschirr zusammen. »Geh dich fertig machen, ich räume ab.«
»Danke.« Sie warf ihm eine Kusshand zu, während sie das Esszimmer verließ.
Im Bad hörte sie, wie er leise mit dem kleinen Mädchen redete. Niemals hätte Sina sich vorstellen können, dass ein Mann wie Matthias zum Vorzeigepapa mutierte, insbesondere vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit und der Tatsache, dass Clara nicht seine leibliche Tochter war. Während Sina ihre Zähne putzte, betrachtete sie sich im Spiegel. Sah man ihr an, wie glücklich sie war? Sie fuhr mit ihren Fingern über die dünne Haut unter den Augen.
»Sina, Telefon!«
Hastig legte sie die Zahnbürste beiseite und spülte sich den Mund aus. »Wer ist es denn?«
Als sie auf den Flur trat, saß Clara auf der Kommode und Matthias zog ihr gerade die weichen hellblauen Lederschuhe an, die sie vor zwei Wochen in Heidelberg gekauft hatten.
»Natascha«, erklärte er mit ernster Stimme. Und leiser: »Ich glaube, sie weint.«
Sina verdrehte die Augen, als sie das Telefon aufnahm. Hatte sich ihre Schwester wieder mit Jochen gestritten? In regelmäßigen Abständen musste Sina Natascha Beistand leisten, wenn diese mit ihrem Ehemann aneinandergeraten war, der seit der Geburt der beiden gemeinsamen Kinder Jonas und Nele strikt dagegen war, dass seine Frau in ihren Beruf als Ärztin zurückkehrte. Bis heute verstand Sina nicht, wie ihre emanzipierte Schwester sich immer wieder den konservativen und völlig überholten Vorstellungen ihres Gatten beugen konnte. Umso schwerer fiel es ihr oft, Nataschas Jammerattacken mit dem nötigen Verständnis zu begegnen. Mehr als einmal hätte sie ihr am liebsten geraten, diesen uneinsichtigen, von seinen eigenen Ansichten schon fast krankhaft überzeugten Mann zu verlassen.
»Natascha.« Sina seufzte. »Guten Morgen. Was gibt es denn so früh?« Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es kurz vor sieben war.
»Jochen ist nicht daheim.« Ihre Schwester schluchzte am anderen Ende auf.
»Was soll das heißen?« Sina sah zu Matthias und zuckte mit den Achseln.
»Er ist gestern nicht heimgekommen.«
»Nach der Arbeit, meinst du?«
»Ich weiß es nicht.« Natascha putzte sich lautstark die Nase.
»Okay, Natascha.« Sina bemühte sich um Ruhe. »Bitte beruhige dich jetzt erst mal. Und dann erzähl mir, was mit Jochen ist.«
Einige Sekunden lang wimmerte Natascha leise vor sich hin, bevor sie sich räusperte. »Ich bin gestern Abend gegen halb zehn ins Bett gegangen. Nachmittags waren wir auf dem Spielplatz, und ich war todmüde.«
»Und zu diesem Zeitpunkt war Jochen noch nicht daheim?«, hakte Sina, nun ganz Polizistin, nach.
»Nein, war er nicht«, bestätigte Natascha. »Allerdings hat er öfter abends Termine. Es war also nicht außergewöhnlich, dass er um diese Uhrzeit noch nicht zu Hause war.« Sie verstummte.
Sina wartete geduldig.
»Als ich vor einer Viertelstunde aufgewacht bin, dachte ich im ersten Moment, er sei vielleicht schon ins Büro gegangen. Aber sein Bett ist unberührt. Es sieht noch genauso aus wie gestern Abend. Und nirgends liegen seine Klamotten herum. Sein Schlafanzug befand sich ordentlich zusammengelegt in seinem Bett.«
»Hast du versucht, ihn anzurufen?«
»Natürlich!«, empörte sich Natascha. »Was denkst du denn?«
Sina seufzte stumm und wechselte erneut einen Blick mit Matthias. Menschen verhielten sich in Schreckmomenten nicht immer rational, allerdings verkniff sie sich vor ihrer Schwester eine Bemerkung in dieser Hinsicht. »Und?«
»Er geht nicht dran.«
Sina überlegte. »Gut, hör zu! Ich bringe Clara jetzt zu Mama und Papa. Am besten kommst du zu mir aufs Revier, sobald die Kinder im Kindergarten sind. Dann überlegen wir, wo wir Jochen suchen können beziehungsweise was passiert sein könnte.«
»Du denkst auch, ihm ist etwas passiert«, schluchzte Natascha erneut auf.
»Momentan denke ich gar nichts, Süße«, versuchte Sina, ihre Schwester zu beruhigen. »Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung für sein Wegbleiben.«
»Du denkst, er ist bei einer anderen …«
»Natascha«, stöhnte Sina leise. »Bring die Kinder weg und komm dann zu mir.«
Als Sina eine halbe Stunde später die Treppen ins Obergeschoss des Polizeireviers hinaufeilte, drängten sich für einen kurzen Moment die Eindrücke der vergangenen drei Tage des Pfingstwochenendes in ihr Bewusstsein. Matthias, Clara und sie beim Spazierengehen im Odenwald, beim gemütlichen Abendessen zu Hause, beim anschließenden Weißwein, den sie auf dem weitläufigen Balkon ihrer Wohnung gemeinsam getrunken hatten, als Clara schon schlief.
»Wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute, muss dein langes Wochenende bombastisch gewesen sein.«
Die Stimme von Polizeiobermeister Marc Fornack riss Sina aus ihren Gedanken, als sie das Großraumbüro betrat.
»Was?«
»Na, dein seliges Lächeln.« Marc drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl um und sah zu seinem älteren Kollegen, Polizeiobermeister Gerhard Runz.
»Ist die Chefin gut drauf, profitieren auch die Mitarbeiter davon«, frotzelte Gerhard.
Sina schüttelte den Kopf. »Guten Morgen erst mal! Und ja, mein Wochenende war sehr schön, danke der Nachfrage. Und ihr so?« Sie zog die Brauen hoch, während sie ihren Blick zwischen den beiden Männern hin- und herwandern ließ.
Marc grinste. »Kann nicht klagen.«
»Was macht denn die kleine Prinzessin?« Gerhard erhob sich und kam auf Sina zu.
»Wächst und gedeiht«, erwiderte sie lächelnd. »Und sie fängt an zu brabbeln.«
»Das wird ein gescheites Kind«, witzelte Marc von seinem Stuhl.
»Clara ist ein gescheites Kind«, verbesserte Sina ihn tadelnd.
Ihr jüngerer Mitarbeiter hob die Hände wie zum Schutz und lachte.
»Mütter sind wie Löwinnen«, erklärte Gerhard in Marcs Richtung. »Und unsere Sina ist die Rudelführerin.«
Sina schnalzte mit der Zunge. »Hat sich meine Schwester schon gemeldet?«
Marc zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Sie sitzt seit zwanzig Minuten in deinem Büro. Ich habe ihr angeboten, dass sie auch mit uns sprechen kann, aber …«
Sina nickte zögernd. »Ihr Mann ist verschwunden.«
»Was?« Gerhard runzelte die Stirn. »Seit wann?«
Sina zuckte mit den Achseln. »Wir haben vorhin nur kurz telefoniert. Ich weiß noch nichts Genaues. Anscheinend ist er gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«
»Oha!« Marc hob die Arme und verschränkte seine Finger im Nacken.
»Ich gehe mal zu ihr und hake nach. Danach überlegen wir, was zu tun ist«, erklärte Sina mit gedämpfter Stimme und steuerte auf ihr Büro zu. Marc schien die Tür hinter Natascha geschlossen zu haben, daher klopfte sie kurz an, bevor sie die Klinke hinunterdrückte.
Als sie den Raum betrat, sprang Natascha, ein Taschentuch vor den Mund gepresst, umgehend auf und eilte auf ihre Schwester zu. »Sina!«
Sie nahm Natascha in die Arme und drückte sie an sich, während sie dem leisen Weinen lauschte. Als Natascha sich etwas beruhigt hatte, schob Sina sie sanft zu dem Besucherstuhl zurück, umrundete ihren Schreibtisch und setzte sich. Während sie den Computer anschaltete, legte sie ihre Tasche in eine Schublade und holte eine Flasche Wasser aus dem Schreibtisch.
»Ein Wasser? Oder lieber einen Kaffee?«
Natascha lehnte ab.
»Sind Nele und Jonas im Kindergarten?«
»Ja«, hauchte ihre Schwester und fuhr sich über die Stirn.
»Was ist passiert?« Sina beugte sich nach vorn und blickte Natascha abwartend an.
Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen. An ihren Mundwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. Trotz des seit Wochen anhaltenden sonnigen Wetters wirkte Nataschas Gesicht bleich und eingefallen.
Ihre Schwester schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, presste sie hervor.
»Habt ihr euch gestritten?«
Natascha schnaufte. »Es läuft momentan nicht gut.«
Sina fluchte innerlich. Es lief seit Jahren nicht gut zwischen Natascha und ihrem Mann. Sie konnte die Treffen, bei denen sich ihre Schwester über ihre Ehe erboste, schon gar nicht mehr zählen. Doch sie verkniff sich einen Kommentar.
»Ich … Jochen ist so ein Idiot.«
Was sollte Sina auf diese Bemerkung erwidern? Ihr recht geben? Sie fragen, warum Natascha sich nicht schon längst getrennt hatte?
»Das höre ich nicht zum ersten Mal«, brachte Sina vorsichtig an. »Du denkst also, er ist aus freien Stücken nicht nach Hause gekommen?«
Natascha stützte ihre Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und legte ihren Kopf in die Hände. »Ich weiß es nicht, Sina.«
»Aber er geht weiter nicht ans Telefon?«, hakte sie nach.
»Nein, ich habe es vor zehn Minuten zum letzten Mal versucht. Er nimmt nicht ab.«
»Was ist mit Bekannten, Freunden? Könnte er bei einem von ihnen untergekommen sein? Oder bei seinen Eltern?«
»Soll ich da etwa anrufen und fragen, ob sie etwas von Jochen gehört haben?« Natascha verzog ihre Lippen. »Wie sieht das denn aus? Dann weiß doch jeder sofort, was bei uns daheim …« Sie schluchzte erneut auf.
»Natascha, dein Mann ist verschwunden. Du weißt nicht, wo er sich momentan aufhält. Ganz ehrlich: Da ist es doch erst mal völlig egal, was andere Leute sich auf irgendwelche Nachfragen zusammenreimen.«
Natascha schüttelte den Kopf. »Jochen flippt aus, wenn er erfährt, dass ich die halbe Welt verrückt gemacht habe.«
Sina lehnte sich weiter vor. »Jochen flippt aus?« Sie fixierte den Blick ihrer Schwester. »Jochen flippt aus?«, wiederholte sie mit leiser Stimme. »Ist das deine einzige Sorge?«
Natascha zuckte mit den Achseln. »Du weißt doch, wie er ist.«
»Allerdings«, entgegnete Sina, während sie voller Wut an ihren Schwager dachte.
»Denkst du, ihm ist etwas zugestoßen?«
Sina verdrehte die Augen. »Das weiß ich nicht, Schwesterherz. Deshalb bist du doch hier, oder? Was ich tun kann, ist, dass ich Marc und Gerhard beauftrage, die Krankenhäuser abzutelefonieren. Falls er einen Unfall hatte …«
»Er muss sein Handy bei sich haben und auch seine Brieftasche.«
»Gut! Also würde man ihn identifizieren können, sollte er schwer verletzt und nicht ansprechbar sein.«
Natascha nickte. »Kannst du ihn nicht vielleicht orten lassen?«
Sina überlegte. »Nein, dazu habe ich keine Befugnis. Dein Mann ist gerade einmal zwölf Stunden weg. Wann hast du denn das letzte Mal mit ihm gesprochen?«
Natascha legte den Kopf schief. »Gestern gegen … drei.«
»Und da hat er dir nicht gesagt, wann er vorhatte, abends nach Hause zu kommen?«
Nataschas Lippen bildeten eine schmale Linie. Stumm schüttelte sie den Kopf.
»Du machst es mir nicht gerade einfach.« Sina seufzte und erhob sich. »Ich gebe meinen Mitarbeitern Bescheid. Und du solltest es in eurem Umfeld versuchen. Wenn ich als Polizistin dort nachfrage, sieht es wohl noch dämlicher aus, oder?«
Anna drehte sich auf die Seite und blinzelte. Das unangenehme Gefühl in ihrer Kehle verstärkte sich. Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass sie in fünf Minuten aufstehen musste. Sie schloss die Augen und versuchte, die aufsteigende Übelkeit zu ignorieren. Obwohl sie gestern Abend früh zu Bett gegangen war, war sie noch immer müde und erschöpft. Anna vermied jede Bewegung, verharrte ruhig und regungslos unter ihrer Decke. Doch die Enge in ihrem Hals verschwand nicht. Was sollte sie tun? Heute stand eine wichtige Englischarbeit an. Ihre letzte Möglichkeit, die Fünf im Zeugnis zu verhindern. Sie musste unbedingt zur Schule gehen, möglicherweise stand ihre Versetzung auf dem Spiel. Verzweiflung stieg in ihr auf. Was war nur mit ihr los? Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Jeder Handgriff war ihr zu viel. Sie verspürte keinen Hunger mehr und hatte folglich kaum noch Kraft, den Alltag zu bewältigen.
Die Tür wurde geöffnet, und ihre Mutter erschien. »Bist du wach, Anna?«
»Ja.« Am liebsten hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen und alles um sich herum vergessen.
»Guten Morgen. Dann zieh dich bitte an, ich warte in der Küche.«
Anna knurrte etwas vor sich hin, was ihre Mutter anscheinend als Zustimmung verstand. Zumindest schloss sie die Tür hinter sich, bevor Anna hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. Es blieb ihr keine Wahl. Sie musste aufstehen. Herr Müllrath würde wenig erfreut sein, wenn sie nicht zur Klassenarbeit erschien. Stöhnend setzte sie sich auf, um ihre Entscheidung bereits im nächsten Moment zu bereuen. Der aufsteigende Schwindel zwang sie, sich wieder zurücksinken zu lassen. Sie schnaufte tief durch und legte eine Hand auf ihren Brustkorb. Wenn dieser Zustand noch länger anhielt, musste sie zu einem Arzt gehen.
Hunderte von Krankheitsszenarien schossen ihr durch den Kopf. Vielleicht hatte sie einen Hirntumor. Erst vor Kurzem hatte sie ein Buch gelesen, in dem ein Kind genau an dieser Diagnose gestorben war. Krebs konnte auch junge Leute treffen. Anna war unter dem Einfluss der Geschichte tagelang nicht in der Lage gewesen, neuen Lesestoff zu beginnen, da ihr das Schicksal dieses Kindes und dessen Familie so nahegegangen war. Was würde mit ihrer Mutter geschehen, wenn Anna stürbe? Ihre Eltern waren seit sieben Jahren geschieden. Ihr Vater lebte mit seiner neuen Familie in der Nähe von München. Sie hatte ihn das letzte Mal in den Sommerferien des vergangenen Jahres gesehen. Ihre Oma, die Mutter ihrer Mutter, lebte in Wald-Michelbach, einem Elftausend-Einwohner-Ort etwa zwanzig Kilometer von Weinheim entfernt. Ihr Opa war schon vor langer Zeit verstorben, Anna konnte sich überhaupt nicht mehr an ihn erinnern. Wer würde ihrer Mutter also bleiben? Geschwister hatte sie keine. Einmal die Woche traf sie sich mit ein paar anderen Frauen zum Bowlen. Bekannte. Freundinnen wäre keine zutreffende Beschreibung. Würden die ihrer Mutter Trost spenden?
»Anna? Wo bleibst du?« Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren abstrusen Gedanken.
Anna setzte sich ein weiteres Mal auf und schwang schwerfällig ihre Beine aus dem Bett. Nein, sie würde heute nirgendwo hingehen. Ihr Körper rebellierte, ihr Magen fühlte sich flau und elend an. Sie schluckte das unangenehme Brennen in ihrer Kehle herunter und erhob sich. Mit schleppenden Schritten verließ sie ihr Zimmer.
»Du bist ja noch gar nicht angezogen!« Senta Fromm blickte von ihrem Kaffee auf. »Was ist mit dir?«
»Es geht mir nicht gut«, murmelte Anna, während sie sich kraftlos auf einen Esszimmerstuhl fallen ließ.
»Schon wieder?«
Anna konnte die Besorgnis im Gesicht ihrer Mutter erkennen.
»Vielleicht habe ich etwas Falsches gegessen«, merkte sie leise an. Oder ich habe einen Gehirntumor, der schleichend das Leben aus meinem Körper haucht, setzte sie in Gedanken hinzu. Doch diese Vermutung behielt sie für sich.
»Soll ich Dr. Haller anrufen?«
Anna schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es bis morgen wieder besser.«
»Schreibst du heute nicht Englisch?«
Anna seufzte. »Ja, aber ich schaffe das nicht. Ich … ich fühle mich total schlapp und ausgepowert.«
»Du weißt, was auf dem Spiel steht«, mahnte ihre Mutter sie ernst. »Vielleicht liegt es an der Aufregung, dass dein Magen nervös reagiert.«
»Es ist nicht nur mein Magen.« Anna spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Sie blinzelte.
»Herr Müllrath hat gesagt …«, setzte ihre Mutter vorsichtig an.
»Ich weiß, was Herr Müllrath gesagt hat«, brauste Anna auf. »Und ich weiß auch, dass ich dann wohl sitzen bleibe.« Sie schloss die Augen, da die Übelkeit kaum noch auszuhalten war. »Vielleicht kann ich die Arbeit wann anders nachschreiben.«
»Vielleicht.« Ihre Mutter klang nicht überzeugt.
»Was soll ich denn tun?« Anna begann zu weinen. »Es geht mir nicht gut. Ich komme mir vor wie eine alte Frau. Allein der Gedanke an Essen …« Sie brach ab.
Ihre Mutter stand auf und stellte sich hinter sie. Sachte drückte sie Annas Kopf an ihren Bauch und streichelte ihr übers Haar.
»Es ist gut, Schatz. Ich rufe in der Schule an und gebe Bescheid, dass du heute nicht kommen kannst. Und wenn du nicht nachschreiben darfst, versuche ich, mit Herrn Müllrath zu sprechen. Sicher findet sich irgendwie eine Lösung.«
»Danke«, flüsterte Anna mit erstickter Stimme und genoss den Augenblick des Trosts.
»Am besten legst du dich gleich wieder ins Bett. Ich koche dir jetzt eine Kanne Kamillentee. Irgendwo müssten wir auch noch ein paar Stücke Zwieback haben. Vielleicht hast du Glück, und es geht dir bis heute Abend wieder besser.«
»Wie lange arbeitest du heute?«
»Ich versuche, gegen fünf daheim zu sein. Schaffst du es so lange ohne mich?« Ihre Mutter löste sich von Anna und stellte den Wasserkocher an.
»Klar, ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Aber du bist krank.« Senta Fromm lächelte. »Wenn etwas ist, rufst du mich bitte an, okay?«
Anna stand auf und stützte sich auf dem Tisch ab. »Ja, mache ich.«
Nachdem sie in ihr Bett zurückgekrochen war, nahm sie ihr Smartphone vom Nachttisch und schickte Lilli eine kurze Nachricht, dass sie heute nicht zur Schule käme und Lilli sie bei der Englischarbeit entschuldigen solle.
»Was ist mit dir? Du bleibst sitzen, wenn du nicht mitschreibst!« Dahinter fünf weinende Emojis.
»Ich weiß es nicht. Meine Mutter meint, ich hätte mir den Magen verdorben. Ich glaube allerdings, dass ich einen Hirntumor habe.« Anna blickte auf die Nachricht. Bevor sie sie abschickte, löschte sie den letzten Satz. Sie wollte nicht, dass Lilli sich unnötig Sorgen machte.
Der Abend vor sechs Wochen fiel ihr ein. Noch immer hallten die besorgten Vorwürfe ihrer Freundin in ihr nach. Nein, Lilli hatte es nicht verdient, dass sie ihr erneut einen Schrecken einjagte.
Keine zehn Sekunden nach dem Abschicken ihrer Nachricht erreichte sie auch schon die Antwort. »Ruh dich aus. Und drück mir die Daumen, dass die Arbeit nicht so hammerschwer wird. Gute Besserung! Muss jetzt los. Melde mich heute Mittag.«
Erschöpft legte Anna das Handy auf den Nachttisch zurück und kuschelte sich in ihre Bettdecke. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie in einen tiefen Schlaf versunken war.
Nachdem Sina Natascha nochmals versprochen hatte, alles zu tun, um Jochens Verbleib diskret nachzugehen, sprach sie kurz mit ihren beiden Mitarbeitern und gab ihnen die dürftigen Informationen weiter, die sie von ihrer Schwester bekommen hatte.
»Wir schauen, was wir herausfinden können«, sicherte Gerhard ihr zu, als in ihrem Büro das Telefon klingelte.
Sina eilte zurück in ihr Zimmer und nahm den Hörer ab. »Engel.«
»Guten Tag, hier spricht Mareike Lungwitz. Meine Tochter ist verschwunden.«
Sina ließ sich auf ihren Stuhl fallen und holte einen Kugelschreiber aus der Schublade. »Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Sechzehn.«
»Und seit wann vermissen Sie sie?«
Die Anruferin stockte. »Seit … heute Morgen.«
Sina schaute irritiert auf. »Wie meinen Sie das, seit heute Morgen? Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«
»Gestern.«
»Uhrzeit?« Sina schüttelte den Kopf.
»Gegen sechzehn Uhr.« Eine Pause entstand. »Glaube ich.«
Sina seufzte stumm. »Bitte geben Sie mir Ihre Adresse. Ich komme gleich mit einem Kollegen vorbei. Dann können wir den Sachverhalt persönlich klären.«
Die Familie, Mareike und Karsten Lungwitz mit ihrer halbwüchsigen Tochter Katinka, wohnte am Prankel, unterhalb der Weinheimer Stadtmitte. Sina verabschiedete sich und verließ hastig das Büro.
»Wir haben ein vermisstes Mädchen.« War es tatsächlich erst heute Morgen gewesen, als sie zu Matthias gesagt hatte, ihr stünde eine eintönige Woche mit viel Schreibkram bevor? »Marc, würdest du mich bitte zu den Eltern begleiten?«
»Dein Schwager liegt schwer verletzt im Weinheimer Krankenhaus«, verkündete Gerhard mit ernstem Gesicht.
Sina erstarrte. »Hatte er einen Unfall?«
Gerhard schüttelte den Kopf. »Anscheinend ist er … zusammengeschlagen worden.«
»Was?« Sina konnte es nicht glauben. »Weiß Natascha es schon?«
»Nein, die Kollegen von der Streife haben mir eben gerade erzählt, dass sie zu einem schwer verletzten Mann gerufen wurden. Ich weiß noch keine Details.«
»Ist er ansprechbar?« Sinas Gedanken rasten. Was war passiert? Und wie würde Natascha reagieren?
Gerhard hob die Hände. »Ich kann im Krankenhaus vorbeifahren.«
Sina überlegte. »Ja, mach das. Sobald Marc und ich bei den Eltern fertig sind, komme ich nach. Und Gerhard? Ich rufe meine Schwester von unterwegs aus an und gebe ihr Bescheid. Wahrscheinlich triffst du sie dann im Krankenhaus.«
Marc pfiff durch die Zähne, als sie an der Adresse der Familie Lungwitz ausstiegen. »Nette Hütte.«
Sina verzog das Gesicht, doch ihr Mitarbeiter hatte recht. Die imposante Villa, die von einer hohen Mauer umgeben war, in die ein weißes Schiebetor eingelassen war, musste ein Vermögen wert sein.
»Wenn wir hier fertig sind, überprüfst du bitte den Hintergrund der Familie. Möglicherweise geht es um Entführung mit Lösegeldforderung.«
»Da könntest du recht haben«, stimmte Marc ihr zu.
Sie traten vor das Grundstück und klingelten. Keine drei Sekunden später öffnete sich das Tor und gab den Blick auf einen breit angelegten Fahr- und Gehweg frei, der zu einer eleganten weißen Eingangstür führte. Die Mauern der Villa waren gelb getüncht. Im Obergeschoss befanden sich hohe zweiflüglige Sprossenfenster, die von schwarzen Klappläden umrahmt wurden. Eine breite Marmortreppe führte zur Eingangstür, die in diesem Moment geöffnet wurde.
»Klotzen, nicht kleckern«, raunte Marc Sina zu, während eine schlanke blonde Frau auf der obersten Stufe erschien.
Sina reichte Katinkas Mutter die Hand und stellte Marc und sich vor.
»Bitte kommen Sie doch herein«, bat Frau Lungwitz mit tiefer Stimme.
Der Flur oder besser das Foyer hatte in etwa die Ausmaße von Sinas komplettem Wohnzimmer. Hochflorige weiße Teppiche bedeckten den grauen Marmor, der sich von der Außentreppe ins Innere des Hauses zog.
»Möchten Sie einen Kaffee oder ein Wasser?« Selbst in dieser Situation versuchte die Frau, die Fassung zu wahren.
Sina und Marc lehnten dankend ab.
Nachdem sie sich in einem Wohnzimmer, welches mit seinen antiken dunklen Möbeln eher einem Ballsaal denn einem gemütlichen Familientreffpunkt glich, auf eine weiche Ledercouchgarnitur gesetzt hatten, wandte sich Sina behutsam an Frau Lungwitz. »Bitte erzählen Sie uns noch einmal ganz genau, seit wann Ihre Tochter verschwunden ist.«
Katinkas Mutter schloss kurz die Augen und atmete tief aus. »Mein Mann hatte gestern eine Zwölf-Stunden-Schicht im Krankenhaus.« Sie blickte von Sina zu Marc. »Er ist Professor an der Uniklinik in Heidelberg. In der Kardiologie. Deshalb ist er jetzt auch nicht hier. Er hat einen wichtigen Patiententermin, den er unmöglich aufschieben konnte. Karsten hat Katinka gestern überhaupt nicht gesehen. Ich bin gegen sechzehn Uhr nach Hause gekommen.« Sie schluckte. »Ich bin Architektin.«
»Wo arbeiten Sie?«, hakte Sina ein.
»Mein Büro befindet sich in der Nordstadt.«
»Als Sie nach Hause kamen, war Katinka daheim?«, wollte Marc wissen.
Mareike Lungwitz nickte. »Sie macht gerade von der Schule aus ein Praktikum bei einem Malerbetrieb hier in Weinheim. Sie hat mir erzählt, dass sie seit einer halben Stunde daheim sei.«
»Und dann?«
Frau Lungwitz zögerte. »Ich war am frühen Abend mit einer Freundin zum Essen verabredet. Nachdem ich Katinka mitgeteilt habe, dass ich noch mal wegmüsste, habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Sie haben sie nach Ihrer Verabredung nicht mehr gesprochen?«
»Katinka hat einen eigenen Flügel im Haus, den sie bewohnt.« Die Lippen der Mutter bildeten eine schmale Linie. »Mit eigenem Eingang.«
Das Haus erschien zwar groß, aber Sina konnte sich kaum vorstellen, dass man sich innerhalb einer Familie derart aus dem Weg gehen konnte und nicht mitbekam, wann ein Angehöriger das Haus verließ oder zurückkam. Als sie in jüngeren Jahren noch bei ihren Eltern lebte, hatte sie stets gewusst, wenn ihre Eltern weggingen und wo sie sich aufhielten.
»Das heißt, Sie wissen nicht, ob Katinka gestern Abend noch einmal das Haus verlassen hat?«
»Doch. Ihr Bett ist unberührt. Frau Malchow hat es mir heute früh mitgeteilt.«
»Wer ist Frau Malchow?« Sina machte sich eine Notiz.
»Unsere … gute Perle, wenn Sie so wollen. Da mein Mann und ich beruflich sehr eingespannt sind, kümmert sich Frau Malchow um den Haushalt und teilweise auch um den Garten.«
»Ist sie jeden Tag bei Ihnen?« Marc musterte Mareike Lungwitz.
Sie nickte. »Von sieben bis zwölf. Sie kocht auch, damit Katinka etwas Warmes zu essen hat, wenn sie von der Schule kommt.«
»Das heißt, Ihre Tochter hat gestern am späten Nachmittag oder Abend das Haus verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt.«
Wieder nickte Frau Lungwitz.
»Hat sie Ihnen gegenüber denn erwähnt, dass sie noch vorhatte, wegzugehen? Mit sechzehn kann sie ja nicht einfach tun und lassen, was sie möchte.«
Frau Lungwitz verzog ihr Gesicht. »Wie gesagt, mein Mann und ich sind beruflich sehr engagiert. Es war uns schon immer sehr wichtig, unsere Tochter früh zu Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu erziehen.«
Eigenverantwortung und Selbstständigkeit, wiederholte Sina in Gedanken. Für sie klangen diese Worte eher nach Selbstverwirklichung der Mutter und Karrierestreben des Vaters. Sie räusperte sich. »Sie wissen also nichts von einem Treffen? Einem Termin, den Ihre Tochter noch wahrnehmen musste?«
Mareike Lungwitz schüttelte den Kopf. »Nein, darüber ist mir nichts bekannt.«
Die Frau hätte auch von einer Nachbarin oder einer Arbeitskollegin reden können. Doch Sina ließ die Aussage unkommentiert. »Wir benötigen die Klassenliste Ihrer Tochter. Wer sind ihre Freundinnen? Die Adresse des Malers, bei dem sie das Praktikum macht. Ich nehme an, dass Sie bei näheren Verwandten bereits nachgefragt haben?«
»Wir haben nicht viel Kontakt zu der weiteren Familie«, gab Frau Lungwitz kurz angebunden zurück. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Katinka jemanden von ihnen kontaktiert hat.«
Jemanden von ihnen. »Wir müssen dem trotzdem nachgehen«, erwiderte Sina sachlich und erhob sich. »Würden Sie uns jetzt bitte noch Katinkas … Zimmer zeigen?«
»Das Mädchen besitzt mehr Wohnfläche als ich in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung«, merkte Marc an, als sie zwanzig Minuten später wieder im Wagen saßen. »Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer …« Das letzte Wort kam voller Ironie aus seinem Mund.
»Wir haben es hier nicht mehr mit der Mittelschicht zu tun«, erklärte Sina, während sie den Motor startete. »Professor der Kardiologie. Was dieser Mann verdient, kannst du nicht mit unserem Polizistengehalt vergleichen.«
Marc lachte auf. »Nee, das kannst du sicher nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Und hast du die Möbel des Mädchens gesehen? Nur hochwertige Marken. Und dieser Fernseher …«
»Aber hast du auch gehört, wie Frau Lungwitz von ihrer Tochter geredet hat? Ich hatte den Eindruck, dass sie kaum etwas von ihr mitbekommt.« Als die Ampel vor ihr auf Rot schaltete, hielt Sina an. »Als Natascha und ich Teenies waren, wussten meine Eltern immer, was wir vorhatten und wo wir hinwollten. Und umgekehrt genauso. In diesem riesigen Haus fühlt man sich zu dritt doch vollkommen verloren.« Sie dachte an ihre eigene Tochter. »Nein, so wollte ich auf keinen Fall leben.«
»Das würde das Ehepaar Lungwitz wahrscheinlich auch über deine Wohnung sagen«, frotzelte Marc.
»Da könntest du recht haben. Was denkst du?«
»Über den Fall?«
Sie nickte.
»Sie könnte auch abgehauen sein.«
»Möglich. Der Gedanke kam mir auch, als ich die sterile Atmosphäre bemerkt habe. Aber wir müssen auf jeden Fall einen Suchaufruf machen. Wenn Katinka abgehauen ist, kommt sie wahrscheinlich von allein wieder zurück. Es ist warm, eine Nacht im Freien bringt sie mit Sicherheit nicht um.«
»Vielleicht ist sie bei einer Freundin untergekommen.«
»Unwahrscheinlich, wenn wir davon ausgehen, dass sich ihr Freundeskreis auf ihre Altersgruppe beschränkt. Aber vielleicht hat sie einen Freund, von dem die Eltern nichts wissen. Der könnte etwas älter sein und allein leben.« Sina dachte nach. »Ich setze dich am Revier ab, bevor ich ins Krankenhaus fahre. Bitte überprüf beide Elternteile und kümmere dich um ein Bewegungsprofil ihres Handys.«
»Das kann dauern«, merkte Marc vorsichtig an.
»Ich weiß, aber wir müssen wissen, wo sie sich in ihrer Freizeit üblicherweise aufhält. Ihre Mutter war in der Hinsicht ja keine große Hilfe. Und wir müssen dringend mit dem Vater sprechen, auch wenn ich nicht glaube, dass er uns wirklich weiterhelfen kann.«
»Wird erledigt, Chefin.«
»Quatschkopf!« Sina lachte.
Als sie drei Minuten später vor dem Revier anhielt, stieg Marc nicht sofort aus.
»Was ist?«
»Wegen deines Schwagers …«, setzte er zögernd an.
»Ja?«
»Du solltest mit Gans reden. Ich befürchte, dass er dich von dem Fall abziehen könnte, weil du … Na ja, weil ihr verwandt seid.«
»Du meinst, ich könnte befangen sein?« Sina blickte ihren Mitarbeiter von der Seite an.
»Ich meine das mit Sicherheit nicht«, widersprach Marc ernst. »Aber es ist nun mal deine Schwester, die mit ihm verheiratet ist.«
Sina beobachtete zwei Meisen, die über die Rasenfläche hüpften. »Du hast recht. Sobald ich weiß, was mit Jochen passiert ist, rufe ich den Kriminalrat an. Dann soll er entscheiden, wie wir weiter vorgehen.«
Fünf Minuten später stellte Sina ihren Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses ab. Am Empfang zückte sie ihren Ausweis und fragte nach Jochen Völker.
Als sie aus dem Aufzug stieg, hörte Sina schon das Weinen ihrer Schwester. Natascha stand mit einem älteren Ehepaar, das Sina als Jochens Eltern erkannte, vor einer breiten Glaswand. Ihre Schwiegermutter hatte einen Arm um Natascha gelegt und redete leise auf sie ein. Gerhard konnte sie nirgends entdecken. Sie näherte sich der kleinen Gruppe.
»Guten Morgen.« Sie nickte Jochens Eltern zu, bevor sie Natascha vorsichtig am Arm berührte. »Es tut mir sehr leid.« Sie blickte durch die Glasscheibe. Jochen lag allein in dem Zimmer. Die Decke war bis über seinen Oberkörper gezogen. Nur sein Kopf war erkennbar. Er hatte schwere Blutergüsse im Gesicht. Ein Auge war komplett zugeschwollen. Zwei Platzwunden prangten auf seiner Stirn. »Wie geht es ihm?«
»Nicht gut«, antwortete Marita Völker mit belegter Stimme. »Wer tut denn nur so etwas?«
»Das war sicher einer dieser Kriminellen«, erklärte ihr Mann, der sichtlich um seine Fassung rang.
»Wer das getan hat, hat definitiv eine Straftat begangen«, merkte Sina an, da sie die Aussage von Jochens Vater nicht verstand.
»Das meine ich nicht.« Richard Völker wedelte ungeduldig mit der Hand. »Das war bestimmt eines dieser … Subjekte, die Jochen verteidigt. Ich habe ihm schon immer gesagt, Strafrecht sei eine undankbare Wahl.«
»Du denkst, das war einer seiner Klienten?« Da Sina Nataschas Schwiegereltern von vergangenen Familienfeiern kannte, duzten sie sich schon sehr lange.
Die Miene des Mannes verfinsterte sich. »Wohl eher Ex-Klienten! Jochen kann nicht jedem helfen. Er ist Strafverteidiger, kein Zauberer. Aber viele denken, wenn sie sich einen Rechtsbeistand nehmen, dann kommen sie schon glimpflich davon.«
»Also Rache als Motiv?«, überlegte Sina laut.
»Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht?«, schluchzte Natascha in diesem Moment. »Sein Gesicht … die vielen Brüche …«
»Was sagen denn die Ärzte?«
»Er hat vier gebrochene Rippen, sein linker Unterarm ist mehrfach gebrochen, Blutergüsse am ganzen Körper, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und sein Gesicht …« Völkers Stimme versagte. »Na, das siehst du ja selbst.«
»Können sie schon etwas dazu sagen, wann er möglicherweise ansprechbar ist?«
»Ansprechbar?«, brauste Natascha auf. »Sieh ihn dir doch mal an! Niemand weiß, wann er wieder aufwacht.« Sie blinzelte. »Ob er überhaupt wieder aufwacht.«
»Natascha!«, mahnte Marita Völker ihre Schwiegertochter. »Jetzt reiß dich bitte zusammen. So etwas darfst du nicht sagen.«
»Weißt du etwa, wann er aufwacht?«, fuhr Natascha die Ältere an.
»Ich denke, das Wichtigste ist jetzt, dass wir Ruhe bewahren.« Sina zog ihre Schwester an sich und streichelte ihren Rücken. »Jochen ist jung und sportlich. Er weiß, dass er eine Familie hat. Er wird es schaffen. Schließlich will er seine Kinder aufwachsen sehen.«
Sie wechselte einen kurzen Blick mit Nataschas Schwiegermutter und nickte leicht.
In diesem Moment bog Gerhard um die Ecke und bedeutete Sina, dass er mit ihr allein reden wolle.
»Entschuldigt mich bitte einen Moment. Ich bin gleich wieder da.« Mit fragender Miene steuerte sie auf ihren Mitarbeiter zu. »Und?«
»Seine Brieftasche ist weg. Und sein Handy ebenfalls.«
»Hast du mit einem Arzt gesprochen?«
Er nickte. »Dein Schwager wurde brutal zusammengeschlagen. Wahrscheinlich hat man ihm noch Gewalt angetan, als er schon bewusstlos war.«
Sina fröstelte. »Warum?«
»Ein Raubüberfall?«
»Weiß man, wie viel Geld er bei sich hatte?«
Gerhard verneinte. »Deine Schwester konnte mir dazu keine Auskunft geben.«
»Jochen ist nicht der Typ, der mit Bündeln von Bargeld in der Tasche herumläuft.« Sina bezweifelte Gerhards Theorie. »Wir müssen mit seiner Sekretärin sprechen. Und wir müssen wissen, ob in letzter Zeit Straftäter freikamen, die Jochen erfolglos verteidigt hat.«
»Du meinst, es könnte sich um einen Racheakt handeln?«
»Wäre möglich. Wir sollten keine Option außer Acht lassen.« Sie verzog ihr Gesicht.
»Was ist?«
»Ich muss mit Gans telefonieren. Marc meinte, es könnte sein, dass er wegen mir Bedenken hat.«
»Weil das Opfer dein Schwager ist?«
Sie nickte.
»Schöner Mist!«
Heidelberg