Im Zauber der Stille - Silke Ziegler - E-Book

Im Zauber der Stille E-Book

Silke Ziegler

0,0

Beschreibung

Drogen, Morde, Menschenhandel: Aufruhr in Montpelliers Unterwelt Unter dem Deckmantel seiner Hotel- und Casinokette betreibt Rémy Beauvolet Drogen- und Menschenhandel im großen Stil. Seine Ehefrau Fleur erträgt die Situation nicht länger und plant, ihn zu verlassen. Dafür ist sie bereit, gegen ihren Mann auszusagen, und wird mit der Hilfe von Capitaine Kylian Plevantier, der seit Jahren gegen Rémy ermittelt, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Aber die Dinge laufe anders als geplant: Rémy sieht seine Chance gekommen, sich nicht nur seiner untreuen Ehefrau, sondern auch seines verhassten Widersachers Kylian zu entledigen. Als Plevantier klar wird, dass auch Fleur ihm gegenüber nicht mit offenen Karten spielt, droht die Situation zu eskalieren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 570

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silke Ziegler

Im Zauber der Stille

Ein Südfrankreich-Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock.com/Picturereflex

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-98708-008-1

Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als ihr während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs die Idee für ihr erstes Buch kam. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist oder an einem ihrer Romanprojekte schreibt, geht sie gern wandern oder liest.

Prolog

Während ihr Blick über Rémys Gesicht wanderte, stellte sie sich vor, wie ihre Finger das Messer fester umklammerten. Wie dessen Klinge sich tief in den Körper ihres Mannes bohrte. Wie sie ganz langsam den Griff drehen würde … Hirngespinste, signalisierte ihr Verstand. Fantastereien, Wunschvorstellungen, die Fleur niemals fähig wäre umzusetzen.

Das einfallende Mondlicht tauchte Rémys Gestalt in einen beinahe mild wirkenden Schatten. Doch Fleur wusste es besser. Der fahle Schein, der der Silhouette ihres Mannes Verletzlichkeit und Sanftheit verlieh, konnte sie nicht mehr über die Wahrheit hinwegtäuschen. Nicht nach zehn Jahren Ehe mit dem leibhaftigen Teufel. Nicht nach zwölf Jahren Beziehung, die sich für Fleur zu einer Hölle auf Erden gewandelt hatte. Nichts, aber auch gar nichts an Rémy war verletzlich oder sanft. Und milde hatte er sich ihr gegenüber lediglich am Anfang ihres Kennenlernens gezeigt. Sie hörte noch einige Minuten auf sein gleichmäßiges Schnaufen, bevor sie ihre Decke anhob und geräuschlos aus dem Bett schlüpfte. Die dicken Läufer verschluckten ihre Schritte.

Während sie mit angehaltenem Atem die Türklinke hinunterdrückte, drehte sie sich nochmals um und musterte ihren schlafenden Ehemann. Hatte sein rechtes Auge gerade gezuckt? Fleur schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel. Ihr anfangs noch schwammiges Vorhaben formte sich schon seit Wochen zu einem immer konkreteren Plan, und sie wusste, dass sie endlich handeln sollte, bevor der Mut sie wieder verlassen würde. Fleur musste an ihre Töchter denken. Und an sich, an ihr Leben, ihre Zukunft. Wenn sie nichts unternähme, würde sie eines Tages daran zugrunde gehen. Nicht sofort und auch nicht in den nächsten Monaten oder Jahren. Nein, ihr Zerfall würde in winzig kleinen Schritten voranschreiten. Er würde erst von ihrer Seele Besitz ergreifen, dann von ihrem Verstand, ihrem Herzen. Er würde sich kaum merklich in jeder ihrer Zellen einnisten, würde ihren Körper in Geiselhaft nehmen und sie zu Dingen veranlassen, die sie in einem anderen Leben niemals auch nur ansatzweise erwogen hätte.

Fleur schloss die Augen, als sie auf den Flur hinaustrat. In einem anderen Leben! Wie lange lag dieses zurück? Hastig schluckte sie die aufwallende Verzweiflung hinunter. Auf Zehenspitzen schlich sie über die Holzdielen, vorbei an den Zimmern ihrer Töchter Virginie und Océane. Vor der Tür des jüngeren Kindes verharrte sie kurz. Fleurs Blick fiel auf die rosafarbenen Buchstaben, in denen der Name ihrer Zweitgeborenen auf dem weißen Holz prangte. Der älteren Virginie war die Farbe zu »babyhaft« gewesen, sie hatte sich vor drei Jahren für ein strahlendes Blau entschieden, was ihr Vater mit einem bekräftigenden Nicken quittiert hatte. Fleur legte eine Hand auf ihren Brustkorb und lauschte in die Stille. Aus den Kinderzimmern drang kein Laut zu ihr. Am liebsten hätte sie die Türen geöffnet, sich an die Betten der Mädchen gesetzt und ihre Töchter betrachtet. In welch ein Leben hatte Fleur die beiden nur hineingeboren? Wann genau hatte sie in ihrem Leben den falschen Abzweig genommen? Und wieso war sie viel zu spät zu der Erkenntnis gelangt, dass es in jeder Sackgasse an irgendeinem Punkt auch eine Umkehrmöglichkeit gab? Fleurs Augen begannen zu brennen. Sie presste die Hände auf ihr Gesicht und mahnte sich zur Disziplin.

Sie musste handeln! Nicht morgen, nächste Woche oder in einem halben Jahr. Nein, sie musste jetzt handeln. Jetzt sofort! Sie hatte bereits viel zu lange gewartet. Schweren Herzens ließ sie die Zimmer der Mädchen hinter sich und steuerte die ausladende Marmortreppe an, die ins Erdgeschoss der weitläufigen Villa führte. Der kalte Stein unter ihren nackten Fußsohlen ließ sie kurz zusammenzucken. Lautlos hastete sie die Stufen hinunter und durchquerte die Eingangshalle. Fleur war klar, dass sie sich durch ihr Vorhaben in größte Gefahr bringen konnte. Wenn Rémy aufwachte, würde sie eine verdammt gute Begründung für ihr Verhalten benötigen. Und wenn er ihr diese nicht abnahm, dann …

Lass das, Fleur, ermahnte sie sich sofort. Es war wenig zielführend, wenn sie sich in diesen Minuten mit irgendwelchen furchterregenden Konsequenzen beschäftigte, die im schlimmsten Fall auf sie zukommen konnten. Sie musste jetzt optimistisch bleiben und sich die Motivation für ihr Tun immer wieder ins Gedächtnis rufen. Ohne festen Willen, ohne Kraft, ohne ihre frühere Stärke würde sie es nicht schaffen, dessen war sich Fleur sicher. Einmal in ihrem Leben, ein einziges Mal, musste sie Rémy übertrumpfen, musste beweisen, dass sie gerissener und schlauer als er sein konnte.

Vor der Tür seines Arbeitszimmers hielt sie für einen letzten Moment inne, um sich erneut ihre Beweggründe vor Augen zu führen. Es waren zu viele, doch der über allem schwebende Wunsch, der Fleurs Denken dominierte, war der nach Freiheit. Fleur wollte endlich wieder frei sein. Und sie wollte, dass ihre Töchter als freie Menschen aufwachsen konnten. Sie mussten diesem gläsernen Gefängnis entkommen. Irgendwie.

Entschlossen öffnete sie die Tür und betrat Rémys Büro. Leise schlich sie zu dem breiten, blitzblank aufgeräumten Schreibtisch, während sie ihren Blick über die meterlangen Regale schweifen ließ, die die Wand dahinter bedeckten. Zu ihrer Rechten befand sich die bodentiefe Fensterfront, von der aus man die gesamte Südseite des parkähnlichen Gartens überblicken konnte. Das Anwesen verfügte über ein Grundstück von knapp fünftausend Quadratmetern. Vor den Toren von Aigues-Mortes hatte sich Rémy Beauvolet sein eigenes Refugium geschaffen. Der Garten war von zwei Meter hohen Mauern umgeben. Die Alarmanlage, die das Anwesen sicherte, hatte er in Amerika bei derselben Firma herstellen lassen, bei der auch internationale Geheimdienste ihre Ausrüstung bestellten. Fleur trat an eines der Fenster und legte ihre rechte Hand auf die kühle Scheibe. Vor der weitläufigen überdachten Terrasse erstreckte sich ein fünfundzwanzig Meter langer Swimmingpool.

Wie viele Frauen beneideten sie um ihre Lebensverhältnisse, dachte sie wehmütig. Schillernde Gartenpartys, exklusive Weinverkostungen und mondäne Grillfeste erschienen vor Fleurs geistigem Auge. Es fehlte ihr an nichts, ihr Gatte las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, trug sie auf Händen, betete sie an. Ja, Fleur präsentierte nach außen hin die glückliche Frau eines reichen Unternehmers. Eines Mannes, der sein Umfeld zu blenden wusste. Der sein Imperium perfekt auf einem versteckt darunterliegenden Netzwerk aus illegalen Geschäften, wie Drogen- und Menschenhandel, aufgebaut hatte. Ein auf die Gesellschaft sauber und integer wirkender Macher, dem die südfranzösische Polizei bis heute keine Verbindung zu irgendwelchen schmutzigen Geschäften hatte nachweisen können. Rémys Netzwerk war weitreichend und beinahe unerschöpflich, niemand kam an ihn heran, stets war er den Gesetzeshütern einen Schritt voraus.

Fleur atmete tief durch und rief sich ihre Aufgabe ins Bewusstsein. Sie trat hinter den Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl. Nachdenklich ließ sie eine Hand über die gewienerte Fläche aus schwerem Eichenholz gleiten. Nacheinander öffnete sie leise die sich darunter befindenden Schubladen. Im Halbdunkel des hereinfallenden Mondlichts erkannte sie mehrere Notizblöcke, drei Ordner mit Kontoauszügen, ein kleines Telefonbuch und mindestens ein Dutzend Mappen mit Bauunterlagen, Grundrissen und Wohnflächenberechnungen. Ohne lange nachzudenken, holte sie das Telefonbuch hervor und legte es vor sich auf die Schreibtischplatte.

Während sie die Seiten umblätterte, machte sich Enttäuschung in ihr breit. Die Blätter waren eng beschrieben, doch sie entdeckte keinerlei Namen, Rémy hatte lediglich Initialen eingetragen. Wer waren all diese Menschen? Gab es für Fleur eine Möglichkeit, herauszufinden, wer hinter den Buchstaben steckte? Sie brauchte dringend Informationen. So viele sie nur sammeln konnte. Anhaltspunkte, an denen sie anknüpfen konnte. Rémys offizielle Geschäftspartner waren mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die richtigen Adressaten für Fleur. Gedankenverloren durchblätterte sie die Kontoauszugsmappen in der Schublade. Von den horrenden Summen, die zum Teil als Abgänge, zum Teil als Zugänge die Konten passierten, wurde es Fleur fast schwindlig. War das vielleicht eine Möglichkeit? Sie musste alle Optionen in Erwägung ziehen.

Erneut schlug sie das Telefonbuch auf und überflog die Eintragungen. Bei einigen Initialen waren mit Bleistift Daten neben der Telefonnummer vermerkt. Was hatte das zu bedeuten? Fleur nahm sich vor, in den nächsten Tagen die Seiten abzufotografieren. Auch wenn die Notizen auf den ersten Blick harmlos und unverfänglich erschienen und sie nicht abschätzen konnte, ob und wie brisant die Unterlagen waren, die sich offen zugänglich in Rémys Schreibtisch befanden, würde es nicht schaden, die Daten jederzeit wieder abrufen zu können und dadurch möglicherweise doch eine Verbindung zu dem schmutzigen Netzwerk ihres Mannes zu entdecken. Sie legte die Akten zurück und erhob sich.

Als sie sich dem Regal hinter ihr zuwenden wollte, wurde das Deckenlicht eingeschaltet. Fleur begann zu frösteln. Obwohl sie mit dem Rücken zur Tür stand, war ihr augenblicklich klar, dass sie verloren hatte. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und blickte direkt in Rémys kalte Augen.

»Hältst du mich wirklich für so dämlich, chérie?«

1

Fünf Tage später

»Ich will noch schlafen«, brummte Virginie, als Fleur die bodentiefen Klappläden vor den beiden Fenstern öffnete.

»Die Schule ruft.« Lächelnd trat sie an das Bett ihrer zehnjährigen Tochter und betrachtete deren müdes Gesicht. »Was magst du zum Frühstück?«

»Ein Croissant«, erklärte Virginie mit düsterer Stimme, bevor sie sich die Decke über den Kopf zog.

Fleur musste lachen. »Zieh dich in Ruhe an. Ich schaue nach deiner Schwester.«

Während Virginie etwas Unverständliches vor sich hin murmelte, verließ Fleur das Zimmer und steuerte den Nachbarraum an.

»Bonjour, Océane.«

Ein tiefes Seufzen erklang vom Bett her.

Fleur ließ auch hier die Morgensonne herein und ging vor dem Bett ihrer jüngeren Tochter in die Hocke. Zärtlich strich sie dem kleinen Mädchen über dessen Locken.

»Muss ich schon aufstehen?« Océane blinzelte und verzog ihren kleinen Mund.

Fleur schmunzelte. »Habt ihr euch abgesprochen?« Als sie den fragenden Blick ihrer Tochter auffing, hauchte sie ihr einen Kuss auf die Wange und winkte ab. »Virginie quält sich auch gerade aus dem Bett.« Sie erhob sich wieder. »Was steht denn heute im Kindergarten auf dem Programm?«

»Gustave kommt doch und liest uns vor«, begann Océane zu plappern und warf ihre Decke zurück. »Wir sind beim letzten Mal nicht mit der Hasengeschichte fertig geworden.«

Fleur erinnerte sich an die überschäumende Begeisterung, mit der Océane ihr von dem Studenten berichtet hatte, der im Rahmen eines universitären Projekts einen Tag pro Woche im Kindergarten verbrachte und sich dort ausgiebig mit den Kindern beschäftigte. »Stimmt, dein neuer Freund«, erwiderte sie amüsiert.

Océane stellte sich an den verspiegelten Kleiderschrank und schob vorsichtig die Tür auf. »Gustave ist so lieb. Er kennt total viele Witze. Und er hat uns letzte Woche versprochen, dass er heute mit uns kochen möchte.«

Fleur hob die Brauen. »Kochen?« Sie nahm das rosa T-Shirt mit dem aufgedruckten Tweety aus dem Schrank. »Da habt ihr ja einiges vor.«

Océane riss die Arme in die Luft und sprang auf und ab. »Ja! Ich freue mich so.«

Die ungezügelte Freude ihrer Tochter versetzte Fleur einen leichten Stich. Tat sie wirklich das Richtige? Oder sollte sie ihr Vorhaben nochmals überdenken?

Océane strich sich eine Strähne aus der Stirn und starrte ihr Spiegelbild an.

Ging es ihren Töchtern nicht wesentlich besser als vielen anderen Kindern? War es nicht vielmehr so, dass Fleurs Plan auf ihrer eigenen Unzufriedenheit fußte? Verhielt sie sich egoistisch angesichts der Chancen, die ihren Töchtern in die Wiege gelegt worden waren? Frustriert wandte Fleur sich ab. Sie drehte sich im Kreis.

»Warum brüllt Océane denn so rum?«, nuschelte Virginie vom Flur her, bevor ihr verwuscheltes Haar im Türrahmen erschien.

»Gustave kommt heute!«

»Sie freut sich auf den Kindergarten«, erklärte Fleur ihrer Ältesten, während sie sie an sich zog.

»Pah.«

»Na, komm. Lass ihr den Spaß.« Dann schob sie Virginie mit sanftem Druck in das gegenüberliegende Badezimmer. »Mach dich fertig.«

»Wo ist mein weißer Rock?«, schwatzte Océane weiter. »Und ich möchte heute ein Baguette mit Käse mitnehmen. Und eine Flasche Apfelsaft. Emily bringt Kirschen mit. Wir wollen nämlich ein Picknick machen in der Frühstückspause.«

Kopfschüttelnd kramte Fleur das gewünschte Kleidungsstück hervor und legte es aufs Bett. »Schaffst du das allein?« Sie platzierte eine hellrosa Unterhose daneben.

»Ich bin doch schon groß, Maman«, empörte sich Océane und stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften. »Virginie fragst du auch nicht, ob du ihr helfen sollst.«

Fleur zählte stumm bis drei und nickte dann. »Okay. Dann lasse ich dich allein und bereite das Frühstück vor. Was möchtest du?«

»Kannst du mir vielleicht ein Omelett machen?« Océane riss ihre Augen auf. »Mit Käse und Tomaten?«

»Zu Befehl, Mademoiselle.« Fleur verließ das Zimmer und eilte die Stufen hinunter.

Aus dem Augenwinkel registrierte sie, wie Rémy mit dem Smartphone am Ohr in seinem Arbeitszimmer auf und ab lief, während sie die Küche ansteuerte.

Bevor sie die Schranktüren öffnete, um das Geschirr zu entnehmen, hielt sie kurz inne und konzentrierte sich auf seine Stimme.

»Nein, du weißt, was ich gesagt habe. Wir bleiben bei unserem Vorhaben … Lass es! … Ich kann jetzt nicht länger reden … Nein, verflucht!«

Fleur atmete tief durch und holte eine Pfanne aus dem Schrank. Steckte Rémy etwa in Schwierigkeiten? Zumindest klang er verärgert. War das ein gutes Zeichen?

»Maman, ich habe Hunger«, ertönte Océanes Stimme von der Treppe her.

»Ich kann nicht zaubern«, erklärte Fleur geduldig, während sie Butter in die Pfanne gab. »Einen kleinen Moment musst du dich noch gedulden.«

Ihre jüngere Tochter trat in die Küche. »Wie sehe ich aus?«

Fleur wandte sich um und verfolgte mit einem Schmunzeln, wie Océane sich um die eigene Achse drehte. Der Rock plusterte sich leicht auf. Das Mädchen kicherte.

»Du siehst sehr hübsch aus, mein Schatz«, bekannte Fleur und lächelte. »Ich fürchte nur, der Rock wird nicht allzu lange seine Farbe behalten.«

»Ich passe auf«, entgegnete Océane umgehend. »Ich bin ganz vorsichtig. Und wenn Gustave uns vorliest, sitzen wir doch sowieso auf den Kissen in der Ruhe-Ecke. Da ist es ganz sauber.«

Fleur bezweifelte, dass der Student den Kindern viel länger als eine Stunde vorlesen würde, doch sie behielt ihre Gedanken für sich.

»Bonjour«, erklang hinter ihr die Stimme ihres Mannes.

»Papa«, krähte Océane los und begann sofort, auch ihm von ihrem heutigen Tagesprogramm zu erzählen.

Während Fleur die Eier verquirlte und Käse und Tomatenstückchen dazugab, musste sie an den nächtlichen Zwischenfall vor fünf Tagen denken. Ihr war bewusst, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Nachts machte sie kaum noch ein Auge zu, da ihre Sorge mit jedem Tag wuchs. War sie gerade im Begriff, einen großen Fehler zu begehen? Einen Fehler, der ihre Zukunft nachhaltig zerstören konnte? Einen Fehler, der sie …

»Fleur?«

Sie drehte sich um und erblickte Rémys fragende Miene. »Entschuldige bitte.« Sie schluckte. »Was hast du gesagt?«

Seine Lippen verzogen sich zu einem weichen Lächeln. »Wo bist du nur schon wieder mit deinen Gedanken, chérie?«

Sie musterte sein Gesicht. Während ihre Tochter ihn von der Seite ansah und unbeeindruckt weiterplapperte, erkannte Fleur hinter der Fassade die Kälte in seinen Augen. »Ich …« Sie fasste sich an die Kehle. »Ich habe …«

»Ist ja auch egal.« Er wandte sein Gesicht ab. »Ich wollte nur wissen, was ihr heute Nachmittag vorhabt.«

Fleur schloss kurz die Augen. »Schuhe kaufen.«

»Schuhe kaufen?« Rémys Stimme klang misstrauisch.

»Ja!«, krähte Océane neben ihm los. »Ich möchte neue Sandalen.«

Fleur nickte. »Die alten sind etwas zu klein. Auch Virginie benötigt eine neue Größe.«

»Dann gehen meine Damen also auf Shoppingtour«, wiederholte ihr Mann mit einem ironischen Unterton.

»Wenn du nichts dagegen hast«, setzte Fleur fast flehend an.

Er lachte. »Was sollte ich dagegen haben?« Dann trat er neben Fleur. »Das duftet himmlisch.«

»Aber das ist mein Omelett«, meldete Océane sich aus dem Hintergrund.

»Ich weiß, meine Süße.«

Bei seinem Tonfall gefror Fleur fast das Blut in den Adern. Als er seinen Arm um ihre Taille schlang, hielt sie den Atem an.

»Machst du deinem treu sorgenden Ehemann ebenfalls eins?«

»Wenn du möchtest.« Sie räusperte sich.

Während er im nächsten Moment seine Lippen an ihrem Hals entlangwandern ließ, schloss sie die Augen und rang um Fassung.

»Wer weiß, wie lange du noch die Gelegenheit dazu hast …«

Er hatte die Worte so leise ausgesprochen, dass nur Fleur sie hören konnte. Eine kalte Hand legte sich um ihr Herz.

»Wo ist mein Croissant?«

Als Virginies Stimme ertönte, nahm Rémy seine Hand von Fleur und drehte sich um. »Guten Morgen, mein Sonnenschein! Hast du gut geschlafen?«

2

Capitaine Kylian Plevantier spürte bereits beim Aufwachen, dass der Tag nichts Gutes für ihn bereithalten würde. Es war wie diese Vorahnung, die einen überfiel, wenn man auf eine komplizierte Festnahme hinfieberte und zugleich wusste, dass der bisherige Verlauf der Dinge zu glatt gegangen war. Wenn es den Anschein hatte, dass das Zielobjekt es einem viel zu einfach machte. Wenn man instinktiv ahnte, dass etwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte.

Als Kylians Blick auf sein Smartphone fiel, sprang er wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett und fluchte lautstark. Er hatte sich zwei Stunden hinlegen wollen, nachdem ihn Rashida Démilliers, seine Vorgesetzte bei der Police Nationale von Montpellier, nach einer von mehreren Doppelschichten geprägten Woche nach Hause geschickt hatte. Obwohl der Abschluss ihrer Ermittlungen unmittelbar bevorgestanden hatte, hatte Démilliers’ Ton keine Widerrede geduldet. Widerwillig hatte sich Kylian ihrer Anweisung gefügt und war nach Hause gefahren. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, sich nur eine Stunde oder auch zwei auszuruhen, hatte die Erschöpfung der letzten Tage letztlich ihren Tribut gefordert. Kylian hatte mehr als fünf Stunden geschlafen.

Während er sich seiner Shorts entledigte und diese achtlos auf den Boden fallen ließ, hastete er bereits in das kleine Badezimmer und stellte die Dusche an. Bevor er sich unter den kalten Strahl stellte, warf er einen Blick in den Spiegel. »Du siehst richtig scheiße aus«, murmelte er, als er die tiefen Schatten unter seinen Augen registrierte. Sein Haar benötigte dringend einen neuen Schnitt, seine Gesichtszüge wirkten angespannt und müde. Die letzten Monate waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Kylian war noch keine vierzig, fühlte sich in diesem Moment aber mindestens zwanzig Jahre älter.

Was würde ihn gleich erwarten? Er betrat die Dusche und biss die Zähne zusammen, als das Wasser auf seinen Körper hinabprasselte. Die kalte Dusche gehörte genauso zu seinem Morgenritual wie die große Tasse schwarzen Kaffees, ohne die er das Haus grundsätzlich nicht verließ. Er fuhr sich durchs Haar und strich die langen Strähnen aus der Stirn. Kurz genoss er den frischen Duft der Minze, während er sich mit dem Duschgel einschäumte, bevor seine Gedanken zu den aktuellen Ermittlungen zurückkehrten. War sein persönlicher Albtraum endlich überwunden? Konnten sich seine inneren Dämonen verabschieden und zur Ruhe setzen?

Kylian glaubte noch nicht daran. Fünf Jahre harte Arbeit lagen hinter ihm, drei bittere Verluste. Vier, korrigierte er sich sofort. Er wusste, dass er es verdient hätte, einen gelungenen Abschluss zu finden. Und er wusste ebenfalls, dass Démilliers klar war, dass er der Einzige war, der diesen Fall zu einem erfolgreichen Ende bringen konnte. Und doch … Die Zweifel saßen tief.

Vor fünf Jahren hatten sie schon einmal kurz vor dem Durchbruch gestanden. Bevor sich all ihre Bemühungen in Luft aufgelöst hatten … Nachdem Kylian die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte. Er war nicht sicher, wie er auf einen zweiten Rückschlag reagieren würde. Tausende Arbeitsstunden, unzählige Besprechungen und Undercoveraktionen … Auch nach fünfzehn Jahren Polizeiarbeit glaubte Kylian nach wie vor an das Gute in der Gesellschaft. Anders als viele Kollegen wollte er sich nicht damit abfinden, dass manche Fälle aussichtslos zu sein schienen, wollte sich nicht der Desillusion hingeben, die so viele von ihnen früher oder später ergriff.

Er war Polizist geworden, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Um denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen konnten. Und um diejenigen zu stoppen, die meinten, die Gesetze gälten nicht für sie, schlimmer noch, die der Ansicht waren, sie seien das Gesetz. Nach wie vor weigerte sich Kylian, zu akzeptieren, dass sie nicht alle schützen konnten. Dass sie eine hohe Aufklärungsrate anstrebten, die jedoch niemals hundert Prozent erreichen konnte.

Er stellte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Während er sich abtrocknete, stieg seine Anspannung. Was würde ihn gleich erwarten? Unablässig geisterte die Frage in seinem Kopf herum. Wieder entwich ihm ein Fluch. Warum bloß hatte er sich von Démilliers nach Hause schicken lassen? Ausgerechnet jetzt! Vor der alles entscheidenden Phase. Zähneknirschend zog er Jeans und T-Shirt über und verließ das Badezimmer. Für eine ordentliche Rasur reichte die Zeit nicht mehr. Er stellte die Kaffeemaschine an und wartete. Sein Magen begann zu knurren. Wann hatte er gestern zuletzt etwas gegessen?

Kylian ließ den vergangenen Tag vor seinem geistigen Auge abspulen. Am späten Vormittag hatten sie einen kleinen Happen vom Chinesen bestellt. Das war mehr als zwanzig Stunden her. Er öffnete den Kühlschrank und inspizierte den Inhalt. Eine Flasche Milch, zwei Flaschen Bier, ein Stück Käse, das wenig appetitlich aussah, und eine angebrochene Salami. Darunter lagen ein verwelkter Salatkopf, zwei braune Bananen und drei eingedellte, verrunzelte Pfirsiche. Kylian musste dringend einkaufen gehen. Er musste sich dringend um sein Leben kümmern. Die letzten Monate war er nur zwischen seiner Wohnung und dem Polizeirevier hin- und hergependelt. Seine Überstunden hatte er nicht mehr gezählt, nachdem diese die Zahl Dreihundert überschritten hatten. Wenn die Sache überstanden wäre, sollte er sich einen langen Urlaub gönnen. Er nahm die Salami aus dem Kühlschrank und stellte sich ans Fenster. Während er auf der zähen Wurst herumkaute, schüttelte er den Kopf. Wohin sollte er schon in Urlaub fahren? Und mit wem? Kylian wüsste nicht einmal, was er mit der erzwungenen freien Zeit anfangen sollte. War es wirklich schon so weit mit ihm gekommen?

Auf der Straße vor seiner Wohnung war der Berufsverkehr bereits in vollem Gange. Kylian konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so spät zur Arbeit aufgebrochen war. Für gewöhnlich war er einer der Ersten auf dem Revier. Und einer der Letzten, der Feierabend machte, setzte er voller Bitterkeit nach. Er musste endlich etwas ändern. Sosehr er seinen Job liebte, so ehrgeizig er jeden einzelnen Fall, der über seinen Schreibtisch wanderte, anging, gab es nicht noch etwas anderes im Leben? War er damit zufrieden? Kylian kannte die Antwort und ärgerte sich sogleich über sein viel zu tiefsinniges Reflektieren. Es war dieser verfluchte Fall, der ihn so sentimental und nachdenklich werden ließ.

Es fehlte ihm doch an nichts. Er hatte ein gutes Auskommen, auch wenn er mit seinem Beamtengehalt niemals größere Sprünge würde machen können. Verglichen jedoch mit seinen Ausgangschancen konnte er mit dem Verlauf seines Lebens mehr als zufrieden sein. Als Kylian an die Frau dachte, die einen Großteil der Verantwortung für diese Entwicklung trug, wurde ihm warm ums Herz. Sie hatte ihm nichts durchgehen lassen, hatte ihn ein ums andere Mal an die wahren Werte im Leben erinnert. Ohne sie wäre er längst am Abgrund gelandet. Im schlimmsten Fall sogar einen Schritt weiter.

Als der Kaffee durchgelaufen war, schaltete Kylian die Maschine aus und schenkte sich einen großen Becher ein. Gedankenverloren knabberte er weiter an seiner Salami. Warum meldete sich niemand? Er sah auf seine Uhr. Die Aktion müsste längst gelaufen sein! Stand es ihm nicht zu, dass man ihn zeitnah über den erfolgreichen Abschluss der Ermittlungen informierte?

Das ungute Gefühl, das ihn bereits beim Aufwachen überkommen hatte, kehrte zurück. War die Sache schiefgelaufen? Er schloss die Augen. Nein, das konnte nicht sein. Die Informationen, die ihnen zugespielt worden waren, waren stichhaltig und belastbar gewesen. Niemand hatte ernsthaft an ihrem Wahrheitsgehalt gezweifelt. Alles hatte gepasst. Kylian raufte sich die Haare. Genervt warf er die restliche Wurst in den Mülleimer. Er würde sich auf dem Weg ins Revier ein vernünftiges Frühstück besorgen. Ein Zipfel Salami zu schwarzem Kaffee … Was für eine Kombination! Fast hätte er aufgelacht.

Eine Meise setzte sich auf das Geländer vor dem Küchenfenster. Kylian fixierte den kleinen Vogel und trank einen Schluck. Die Meise verdrehte ihren Hals und sah in das Wohnungsinnere. Kylian verharrte reglos, um sie nicht zu verscheuchen.

Als sein Handy im Flur klingelte, zuckte er zusammen. War das Démilliers, um ihm mitzuteilen, dass ihre Ermittlungen zielführend gewesen waren? Ohne weiter auf den Vogel zu achten, eilte er aus der Küche und griff nach dem Telefon. Seine Vorahnung bestätigte sich. Der Anruf kam von seiner Vorgesetzten.

»Plevantier, bewegen Sie schnellstmöglich Ihren Arsch hierher! Die angekündigte Lieferung ist nicht eingetroffen. Wir stehen wieder bei null!«

3

Genüsslich legte Rémy seinen Kopf zurück, schloss die Augen und gab sich einen Moment ganz der wohligen Entspannung hin, die seinen Körper durchströmte.

»Zufrieden?«, erklang Madeleine Rinauts Stimme.

Er öffnete seine Augen wieder und verfolgte, wie die rothaarige Prostituierte gerade ihren BH schloss. Während sie sich räusperte, zog sie ihre Bluse über und knöpfte sie zu.

»Hast du jemals auf dein Geld warten müssen?« Ungeduldig öffnete er die untere Schublade an seinem Schreibtisch und holte ein Bündel Scheine hervor. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Rémy zwei Fünfziger heraus und warf sie achtlos auf die Holzplatte. »Und jetzt dalli!« Unwirsch wedelte er mit der Hand. »Ich habe gleich eine wichtige geschäftliche Besprechung.«

»Du meldest dich, Rémy?« Madeleines Stimme gurrte, während sie seinen Namen aussprach.

»Ja, ja«, erwiderte er abwesend und scheuchte sie ungeduldig hinaus.

Als er aufstand, um die Tür hinter ihr zu schließen, hob Madeleine ihre Hand und warf ihm mit übertriebener Geste eine Kusshand zu.

»Au revoir, chéri!«

Rémy erwiderte nichts, sondern knallte schweigend die Tür hinter ihr zu. Warum war er derart gereizt? Momentan lief es doch hervorragend für ihn. Glücklicherweise war Marie-Louise Vannaire, seine Sekretärin, noch nicht im Haus. Obwohl Rémy Fleur gegenüber keinerlei Gewissensbisse verspürte, wenn er sich mit anderen Frauen traf, achtete er stets äußerst gewissenhaft darauf, dass seine knapp sechzigjährige Angestellte nichts von seinen sexuellen Eskapaden mitbekam. Es gab kaum einen besseren Leumund als eine biedere, unauffällige Assistentin, die ihren Chef jederzeit in den höchsten Tönen lobte, wenn die Bullen aus lauter Verzweiflung wieder einmal ihre Deckung verließen und auf dem direkten Weg versuchten, ihm ans Bein zu pinkeln. Amouröse Verwicklungen mit einer gar zu attraktiven Sekretärin konnten ihn in seiner Lage nur in Schwierigkeiten bringen.

Rémy kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und rief seine Mails auf. Das Postfach diente lediglich der geschäftlichen Abwicklung seiner Hotels und Casinos. Daher erwartete er wenig Überraschendes, als er den Posteingang überflog. Und er behielt recht. Drei Anfragen von Sportvereinen nach Sponsoringmöglichkeiten durch die Beauvolet Hotel und Casino Group, zwei Interviewwünsche überregionaler Tageszeitungen und eine ganze Armada von Angestelltenmails. Mitteilungen über anstehende Reparaturen, Bitten um persönliche Gespräche beim Chef sowie Reklamationen bezüglich diverser Arbeitsvorgänge.

Rémy klickte sein Postfach weg. Er würde Marie-Louise mit der Bearbeitung beauftragen. Das Tagesgeschäft langweilte ihn zusehends. Lappalien, unwichtige Vorkommnisse. Die Läden mussten laufen, alles andere interessierte ihn nicht. Vielleicht sollte er jemanden einstellen, der sich nur um die Bewirtschaftung der Hotels kümmerte. Die- oder derjenige könnte Rémys Häuser abfahren und öfter mal nach dem Rechten sehen. Immer wieder war in letzter Zeit der Verdacht in ihm aufgekeimt, dass seine dauerhafte Abwesenheit vor Ort dazu führte, dass die Angestellten es mit einigen Anweisungen nicht mehr allzu genau nahmen. Wenn die Katze aus dem Haus ist …, schoss es Rémy durch den Kopf. Ein Kontrolleur, der den Mitarbeitern in seinem Auftrag ein wenig Dampf machte, konnte mit Sicherheit nicht schaden.

Er stand auf, schob die Hände in die Hosentaschen und stellte sich ans Fenster. Musste er sich wegen Fleur Sorgen machen? Sie waren seit mehr als zehn Jahren zusammen. Bisher hatte sie nie auch nur den leisesten Anschein erweckt, dass sie mit dem Leben, das er ihr bot, nicht zufrieden wäre. Andererseits …

Seine Miene verfinsterte sich. Schon einmal war sie ihren eigenen Weg gegangen. Hatte sie etwa bereits vergessen, dass sie es nur seinem Großmut zu verdanken hatte, dass ihr Fehlverhalten keine schwerwiegenderen Konsequenzen nach sich gezogen hatte? Nun, er hatte ihr in den letzten Tagen mehrfach verdeutlicht, wer für ihre Existenz, für alles, was sie ausmachte, verantwortlich war. Ein selbstgefälliges Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Konnte er ihr noch trauen?

Es klopfte an der Tür.

»Ja!«

Jean-Luc Laucan und Fréderic Moux traten ein. Die beiden waren Rémys engste Mitarbeiter und wussten alles über seine Geschäfte. Nicht über seine Hotels und Casinos, nein, für diese Unternehmen brauchte es erfahrenes Fachpersonal. Jean-Luc und Fréderic kümmerten sich ums Grobe, um den Handel, der unter dem Radar abgewickelt wurde. Um den Bereich, für den sich die Bullen unglücklicherweise so brennend interessierten.

»Und?« Rémy musterte den narbengesichtigen Fréderic. Der Dreißigjährige arbeitete seit mehr als zehn Jahren für Rémy, nachdem dieser ihn nach einem Betrugsversuch in einem seiner Casinos vor dem Knast bewahrt hatte.

Fréderic begann zu grinsen. »Auftrag erfüllt!«

»Dein Instinkt hat dich nicht getrogen, Rémy«, ergänzte Jean-Luc mit verschlagener Miene. Er war zwölf Jahre älter als Rémy. Die beiden kannten sich ein halbes Leben lang. Jean-Luc war von der ersten Stunde an Rémys rechte Hand gewesen. Er hatte seinen Aufstieg begleitet, jede Krise mit ihm umschifft und stets loyal zu seinem Chef gestanden. Mehrfach hatte Rémy im Gegenzug seinem älteren Mitarbeiter zur Seite gestanden, sowohl bei unbedeutenden kleineren Delikten als auch bei privaten Problemen, in die Jean-Lucs drogenabhängiger Sohn immer wieder schlitterte.

»Soll ich mich darüber freuen?« Rémy schüttelte den Kopf. »Wie viele werden noch folgen?«

»Sie lassen nicht locker, haben sich an dir festgebissen. Damit hatten wir aber doch gerechnet«, versuchte Fréderic, die Situation zu retten.

Rémy ballte seine rechte Hand zu einer Faust und schlug gegen die Fensterscheibe. »Verflucht!«

»Es ist nichts passiert«, bemühte sich nun auch Jean-Luc um Beschwichtigung. »Die Lieferung konnte wie geplant abgewickelt werden. Die Bullen waren drei Stunden zu spät dran.« Er ließ ein dreckiges Lachen erklingen.

»Keinerlei Zwischenfälle?« Rémy kniff seine Augen zusammen und starrte auf die belebte Straße.

»Null«, erklärte Jean-Luc stolz. »Alles ist dort, wo es sein soll.«

»Was machen wir mit Yann?« Die Frage war rhetorisch gemeint, doch Fréderic reagierte trotzdem.

»Wir haben keinerlei Verwendung mehr für ihn.«

Rémy nickte. »Vielleicht sollten wir vorher herausfinden, was Plevantier als Nächstes plant.«

Fréderic runzelte die Stirn. »Ich bezweifle, dass Yann uns in der Hinsicht helfen kann. Die Bullen müssten mittlerweile wissen, dass wir ihn auf die Probe gestellt haben, dass er aufgeflogen ist.«

»Dann sollten wir uns beeilen«, presste Rémy grimmig hervor. »Bevor seine Kollegen ihn informieren und er auf Nimmerwiedersehen verschwindet.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihn noch nicht kontaktieren konnten«, erklärte Jean-Luc und kratzte sich an der Wange. »Das heißt, er weiß noch nicht, dass wir ihn getestet haben.«

»Er hat drei Jahre für mich gearbeitet«, murmelte Rémy abwesend, während er verfolgte, wie eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern die Straße überquerte. »Ich dachte …« Er ließ den Satz unbeendet, schnaufte tief durch.

»Er ist ein Verräter«, beschwor Fréderic ihn. »Ein Bullenspitzel!«

Rémy nickte. »Ich mochte ihn wirklich.« Dann drehte er sich zu seinen zwei Mitarbeitern um. »Aber unter diesen Umständen gibt es natürlich keine andere Option. Wir müssen ihn beseitigen.«

»Wir bereiten alles vor«, entgegnete Jean-Luc und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Kehle. »Ist sonst noch etwas, Rémy?«

Er zögerte. »Nein, ja, ich weiß es nicht.«

»Rémy?«, hakte nun auch Fréderic nach.

»Es geht um Fleur«, setzte Rémy gedehnt an.

»Fleur?«, wiederholte Jean-Luc überrascht.

Weder er noch Fréderic wussten von Fleurs Fehlverhalten. Rémy überlegte, ob dies der richtige Zeitpunkt war, um ihnen reinen Wein einzuschenken.

»Sie benimmt sich … merkwürdig.«

»Was meinst du damit?« Jean-Lucs Stimme nahm einen skeptischen Ton an.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Sollen wir etwas unternehmen?«, bot Fréderic grinsend an.

Rémy schüttelte den Kopf. »Ich habe schon einen Plan. Vielleicht werde ich auf diese Weise auch gleich dieses Arschloch Plevantier los.«

»Du sprichst in Rätseln, Chef«, erwiderte Jean-Luc. »Aber wenn du Hilfe benötigst …«

»Danke euch! Ich muss mir das noch mal genau durch den Kopf gehen lassen. Aber es könnte tatsächlich sein, dass ich schon sehr bald auf euer Angebot zurückkomme.« Er knirschte mit den Zähnen. »Aber kümmern wir uns zuerst um Yann.«

4

Fleur bemühte sich, ihre Freude im Zaum zu halten. Noch war sie weit von ihrem eigentlichen Ziel entfernt. Dass ihre Abhöraktion nicht aufgeflogen war, bedeutete lediglich einen ersten kleinen Schritt in die richtige Richtung. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger, setzte sie gedanklich nach. Sie hatte etwas unternommen, war endlich aktiv geworden. Und sie war nicht entdeckt worden. Als Rémy mit Jean-Luc und Fréderic sein Büro verlassen hatte, war es für sie ein Leichtes gewesen, unbemerkt die Daten seines Computers auf einen USB-Stick zu ziehen. Alles war reibungslos gelaufen. Nachdem sie die Mädchen zu Schule und Kindergarten gebracht hatte, hatte sie es geschafft, den Firmensitz noch vor Rémy zu erreichen. Die junge Frau, die kurz nach seinem Eintreffen eine halbe Stunde in seinem Büro war, interessierte sie nicht. Und auch wenn er seinen beiden engsten Mitarbeitern gegenüber Zweifel an Fleurs Loyalität geäußert hatte, war sie davon überzeugt, dass er sie nach wie vor unterschätzte. Er vermutete nicht einmal ansatzweise, welchen Plan sie ersonnen hatte. Und er hatte keine Ahnung, dass sie im Nebenraum seines Büros jedes Wort klar und deutlich hatte mit anhören können.

Als Fleur das Gebäude verlassen hatte, war von Marie-Louise glücklicherweise noch nichts zu sehen gewesen. Von ihrem Mann wusste sie, dass die Sekretärin selten vor neun Uhr ins Büro kam. Nicht auszudenken, wenn diese ausgerechnet heute früher auf der Arbeit erschienen und Fleur begegnet wäre. Um nichts in der Welt hätte es sich die ältere Frau nehmen lassen, ihren Chef zu fragen, was seine Frau in der Firma suchte. Doch nichts dergleichen war geschehen.

Fleur umklammerte das Lenkrad fester und konzentrierte sich auf den Verkehr. Sie musste weiterhin höllisch aufpassen. Auch wenn ihr Mann ihr sein Vorhaben schlüssig dargelegt hatte, war sie sich sicher, dass sie nur die halbe Wahrheit kannte. Doch sie durfte sich jetzt nicht beirren lassen. Vielleicht war es ihre letzte Chance auf einen Neuanfang, ein neues Leben. Die letzte Möglichkeit, ihren Kindern eine sichere und geschützte Zukunft zu bieten. Es stand nicht weniger auf dem Spiel als ihre Freiheit – und möglicherweise ihr Leben.

Tief in Gedanken versunken bog sie kurz darauf auf den Parkplatz des Pflegeheims ein, in dem ihr Vater seit mehr als zehn Jahren lebte. Lebte, wiederholte Fleur traurig. Leben konnte man seinen Zustand wirklich nicht nennen. Seit einem schweren Autounfall vegetierte der mittlerweile Fünfundsechzigjährige im Wachkoma dahin.

Fleur konnte sich noch genau daran erinnern, als sie der Anruf erreichte. Es war nachts um zwei Uhr gewesen. Ihr Vater hatte sich auf dem Rückweg von einem wichtigen Geschäftsessen befunden, als sein Wagen von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte. Paul Farron war seitdem nicht mehr ansprechbar, ein Pflegefall, der auf keinerlei äußere Reize mehr reagierte.

Fleur nahm ihre Handtasche, verstaute den USB-Stick in der Seitentasche und stieg aus dem Wagen. Es war Rémy gewesen, der das Heim in der Nähe von Saint-Gilles ausfindig gemacht hatte. In dieser Einrichtung waren sie auf Wachkomapatienten spezialisiert, und Fleur hatte die Entscheidung noch keinen Tag bereut. Man behandelte ihren Vater stets, als sei er bei Bewusstsein. Immer wieder berührte Fleur die behutsame und sanfte Art der Pflegerinnen.

In der Eingangshalle wurde sie von einer wohltuenden Kühle empfangen. Der Platz am Empfangstresen war unbesetzt. Fleur entschied sich, die Treppe zu nehmen, und wandte sich den Stufen zu. Während sie ins zweite Stockwerk hinaufstieg, wanderten ihre Gedanken erneut zu Virginie und Océane. Ihre Töchter könnten unterschiedlicher kaum sein, die introvertierte Virginie, die mit einer fast schon obsessiven Besessenheit an ihrem Vater hing. Fleur machte sich deshalb große Sorgen, wie ihre Älteste auf die Veränderungen in den nächsten Tagen reagieren würde. Océane hingegen trug ihr Herz auf der Zunge. Die Vierjährige plapperte heraus, was ihr gerade in den Sinn kam. Trotz ihres jungen Alters war sich Fleur sicher, dass sie mit dem Vorhaben ihrer Mutter weit weniger Probleme haben würde als ihre Schwester.

Als sie den Treppenabsatz erreichte, wandte sie sich nach links und steuerte auf das Einzelzimmer ihres Vaters zu. Rémy hatte von Beginn an erklärt, dass sie sich keinerlei Sorgen um die Heimkosten machen müsse. Paul Farron sollte nur die beste Behandlung zukommen. Fleur seufzte. Was würde in Zukunft geschehen? Die Unterbringung ihres Vaters verschlang jeden Monat eine hohe vierstellige Summe. Geld, das sie nicht besaß. Ein Betrag, den sie niemals allein würde aufbringen können. Ohne Ausbildung. Ohne Qualifikation. Alles, was sie gelernt hatte, war, gut auszusehen, sich in von Kunden gewünschten Posen zu räkeln und in die Kameras der Fotografen zu lächeln. Fleur war klar, dass sie mit Mitte dreißig und nach der Geburt zweier Kinder nie wieder zur ersten Riege der Models gehören würde, die von potenziellen Kunden geordert würden. Nein, sie musste sich dringend ein neues Standbein suchen. Aber ein Schritt nach dem anderen, mahnte sie sich, als sie am Zimmer ihres Vaters anlangte.

Nachdem sie kurz geklopft hatte, drückte sie die Klinke hinunter und trat ein. »Guten Morgen, Papa!«

Ihr Vater lag in seinem erhöhten Krankenbett und starrte mit offenen Augen an die Decke.

Die bodentiefen Fenster, die auf eine kleine Parkanlage hinausgingen, waren weit geöffnet. Ein sachter Windhauch wehte durchs Zimmer.

»Heute ist wundervolles Wetter«, setzte Fleur an und verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, während sie ans Bett trat. Sie beugte sich über ihren Vater und küsste ihn auf die Wange. »Wie geht es dir?« Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und umfasste Paul Farrons rechte Hand. »Du hast ja ganz kalte Finger.« Sie zog die Decke etwas weiter über seinen Brustkorb. »Ich muss dir etwas erzählen«, begann sie zögernd und musterte das Gesicht ihres Vaters. »Ich wünschte mir so sehr, du könntest mir helfen, Papa. Ich könnte momentan wirklich deine Unterstützung gebrauchen.« Sie schloss kurz die Augen. »Und ich weiß ganz sicher, dass du mir helfen würdest, wenn du dazu in der Lage wärst.«

Ihr Blick wanderte zum Fenster. Die weißen, hauchdünnen Gardinen blähten sich durch die hereinströmende Luft auf, und fast schien es, als vollführten sie einen kleinen übermütigen Tanz. Fleur nahm all ihren Mut zusammen und setzte an, ihrem Vater ihr Herz auszuschütten. Sie begann mit dem Vorfall vor fünf Tagen, berichtete ihm von den Gedanken, die ihr schon so lange durch den Kopf schwirrten, von ihren Ängsten und Sorgen und beendete ihren Monolog mit ihrer heutigen Aktion.

»Was denkst du darüber?«

Fleur betrachtete die bleiche, gefleckte Haut auf dem Handrücken ihres Vaters. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern darüber. Würde er jemals wieder in der Lage sein, ihre Berührung zu erwidern? Die Ärzte hatten ihr wenig Hoffnung gemacht, auch wenn es immer wieder Fälle gab, bei denen Patienten nach vielen Jahren im Koma plötzlich doch erwachten. Fleur war klar, dass solche Verläufe die Ausnahme bildeten. Nach zehn Jahren hatte sie tief in ihrem Inneren die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder ein Wort mit ihrem Vater wechseln zu können.

»Ach, Papa!«, seufzte sie nachdenklich. »Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll. Ja, ich habe einen Plan«, fuhr sie fort. »Und er klingt durchführbar. Aber Rémy …« Sie fröstelte trotz der Wärme im Zimmer. »Du hast von Anfang an recht gehabt. Ich …« Ihre Stimme versagte. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. »Ich habe einen großen Fehler gemacht.« Fleur schluckte. »Wenn die Kinder nicht wären …«

Stille breitete sich im Raum aus. Auf dem Flur waren leise Schritte zu hören, die erst näher kamen und sich dann wieder entfernten. Vor dem Fenster zwitscherte eine Grauammer. Fleur lehnte sich zurück und konzentrierte sich auf die Ruhe und die Geräusche der Natur. Ihr Puls verlangsamte sich, die Anspannung in ihr löste sich allmählich.

»Ich könnte ewig hier mit dir sitzen«, unterbrach sie das Schweigen nach einigen Minuten. »Und ich vermisse unsere Gespräche so sehr, Papa.«

Ihre Mutter war früh verstorben, Fleur konnte sich kaum an sie erinnern. Ihr Vater war ihr Leben lang ihre Bezugsperson gewesen. Sein Unfall hatte Fleur damals völlig aus der Bahn geworfen. Von einem auf den anderen Moment war ihre Familie zerstört worden. Plötzlich war da niemand mehr gewesen, der ihr bei größeren und kleineren Entscheidungen stets mit gutem Rat zur Seite gestanden hatte. Und auch wenn er ihren Entschluss, Model zu werden, alles andere als gutgeheißen hatte, hatte ihr Vater sie immer auf ihrem Weg begleitet und unterstützt.

»Du fehlst mir«, bekannte Fleur leise. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Wie wird es nur weitergehen? Aber egal, was passiert, ich werde dafür sorgen, dass es dir auch zukünftig an nichts fehlt. Das verspreche ich dir. So, wie du immer für mich da warst, lasse auch ich dich nicht im Stich!« Sie nickte entschlossen. »Ich finde eine Lösung. Irgendwie!«

5

»Was ist passiert?« Kylian bemühte sich, seine Ungeduld zu zügeln, als er den Besprechungsraum betrat, in dem sich bereits Mathis Faundant und Sébastien Caustache befanden, die ihm mit finsteren Mienen entgegenblickten. Frustriert ließ er sich auf einen der Stühle fallen und schleuderte die Akte auf den Tisch. »Wir haben nichts?«, wollte er zähneknirschend wissen.

»Beauvolet muss einen Tipp bekommen haben«, erwiderte Sébastien gepresst. »Wieder einmal!« Der blonde Lieutenant, der Kylian seit fünf Jahren bei den Ermittlungen gegen den schwerreichen Hotel- und Casinobetreiber Rémy Beauvolet zur Seite stand, war vor zwei Monaten fünfzig geworden.

Kylian fühlte sich in diesem Moment mindestens zwanzig Jahre älter als sein Mitarbeiter. Er schnaufte. »Verfluchtes Arschloch! Das darf doch nicht wahr sein!«

»Als wir an dem vereinbarten Ort ankamen, haben wir gleich gemerkt, dass da irgendetwas nicht stimmen kann«, begann Mathis, der das Team erst seit einem Jahr unterstützte, zu erzählen. »Es war kein Liefereingang am Hafen angekündigt zu dem Zeitpunkt, den Yann Sauvillon uns genannt hatte. Kein Mensch war zu sehen, die Hallen waren abgeschlossen.«

Kylian schlug mit einer Faust auf die Tischplatte und fluchte erneut. Dann öffnete er die Akte und blätterte in den Seiten. »Er war sich doch so sicher«, überlegte er laut, als er die gesuchte Stelle fand. »Was ist da, verdammt noch mal, schiefgelaufen?«

»Ich fürchte, Yann ist aufgeflogen«, bekannte Sébastien mit ernster Stimme. »Wir können ihn seit Stunden nicht erreichen.«

»Scheiße!«, entfuhr es Kylian.

Eine Mischung aus Wut und Enttäuschung machte sich in ihm breit. Sie hatten fünf Jahre Arbeit investiert. Yann Sauvillon ermittelte seit mehr als drei Jahren verdeckt im engeren Umfeld von Rémy Beauvolet. Kylian hätte schreien können, so tief saß sein Hass.

»Das kannst du laut sagen«, entgegnete Mathis ernst.

»Wenn Yann enttarnt wurde, befindet er sich in größter Lebensgefahr«, sagte Kylian. »Beauvolet fackelt in solchen Fällen nicht lang, wie wir ja alle wissen.«

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Bevor Yann Sauvillon als Undercoverermittler in Beauvolets Netzwerk eingeschleust worden war, hatte die Police Nationale bereits zwei andere Beamte eingesetzt, die beide jeweils nach kürzester Zeit aufgeflogen und von Beauvolets Leuten liquidiert worden waren. Umso vorsichtiger waren sie bei Yanns Rekrutierung vorgegangen. Nicht nur seine vergleichsweise lange Einsatzzeit zeugte letztlich von ihrer Umsichtigkeit. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass er nach dieser ganzen Zeit aufgeflogen war? Kylian musste an Yanns Ehefrau denken, der er bei mehreren Sommerfesten über den Weg gelaufen war. Eine sympathische Schwarzhaarige, die Yanns Kollegen mit ihrem ansteckenden Lachen sofort für sich hatte einnehmen können. Und Emmy, Yanns dreijährige Tochter. Kylians Magen krampfte sich zusammen.

»Wir müssen dringend versuchen, irgendwie Kontakt zu Yann herzustellen.«

Sébastien schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir sind zu …« Er schluckte.

»Nein!«, fuhr Kylian ihn an. »Solange uns nichts anderes bekannt ist, müssen wir versuchen, ihn da rauszuholen. Er ist unser Kollege!«

»Und was ist, wenn Yann gar nicht das Problem ist?« Mathis’ Stimme klang besorgt. »Angenommen, er wurde nicht enttarnt. Dann würde unsere Aktion ihn erst recht in Gefahr bringen.«

Kylian überlegte einen Moment. »Yann hat uns Ort und Zeit der Übergabe genannt. Beides war offensichtlich falsch! Es gibt keine andere vernünftige Erklärung.« Er stützte den Kopf in seine Hände. »Sie haben ihn bewusst mit Falschinformationen versorgt und danach seelenruhig mit angesehen, wie ihr dort angerückt seid. Beauvolets Falle ist wieder einmal zuverlässig zugeschnappt!«

»Démilliers ist stinksauer«, sagte Sébastien leise. »Du hättest sie in ihrem Büro toben sehen sollen. Ich glaube, sie hatte auch das Innenministerium am Telefon.«

»Das Innenministerium interessiert mich im Moment einen Scheißdreck«, entfuhr es Kylian. »Hier steht das Leben eines Polizisten auf dem Spiel!«

Es klopfte an der Tür.

»Ja!«

Rashida Démilliers betrat den Raum. »Capitaine, haben Sie eine Minute für mich?« Ihre Stimme klang verärgert.

»Wir sind gleich fertig, ich melde mich …«

»Jetzt!«, unterbrach sie ihn ungehalten.

Kylian zählte stumm bis fünf. »Gut. Sébastien, Mathis, ihr wisst Bescheid. Kümmert euch um Yann! Wir sprechen später weiter.«

Seine beiden Mitarbeiter erhoben sich und verließen ohne ein weiteres Wort den Raum.

Démilliers schloss die Tür hinter ihnen, bevor sie sich wieder Kylian zuwandte. »Und jetzt?«

»Lieutenant Sauvillon befindet sich in Lebensgefahr.«

»Das ist mir durchaus bewusst«, erwiderte sie kühl. »Was ist mit Beauvolet?« Sie trat auf ihren High Heels um den Tisch herum und baute sich vor Kylian auf. »Sie wollten ihn zur Strecke bringen, Plevantier!«

»Daran hat sich auch nichts geändert.« Er musste sich zusammenreißen.

»Die gelieferten Informationen waren unzuverlässig.«

Er nickte. »Wir werden genau analysieren müssen, was da schiefgegangen ist. Aber momentan steht die Rettung von Sauvillons Leben im Vordergrund.«

»Fünf Jahre!« Sie hob eine Hand und streckte alle Finger aus. »Fünf, Plevantier!« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollen nicht wissen, wer heute früh alles bei mir angerufen und mir die Hölle heißgemacht hat. Wir sind blamiert. Sie und vor allen Dingen ich!« Die Absätze ihrer Schuhe klackerten über den Boden, während sie durch den Raum tigerte. »Es war Ihre zweite Chance. Nachdem die erste Taktik nicht funktionierte, hatten Sie mir versprochen, dass Sie ihn diesmal überführen. Montpellier und die Region werden von seinen dreckigen Drogen geradezu überschwemmt. Wir müssen endlich einen Erfolg vorweisen!«

Kylian atmete tief durch. »Ich überlege mir etwas. Es ist ja nicht so, dass wir wieder ganz am Anfang stehen. Yann, Lieutenant Sauvillon, hat uns in den letzten Jahren viele wertvolle Informationen bezüglich Beauvolets Netzwerk geliefert. An diese könnten wir bei einem weiteren Einsatz anknüpfen.«

Démilliers fuhr sich über die Stirn. »Wie lange?«

»Ich weiß es nicht«, musste er zugeben.

»Ist Ihnen der Ernst der Lage bewusst?«

Fast hätte er aufgelacht. »Ja, der ist mir durchaus klar.«

»Besprechen Sie sich mit Ihrem Team und geben Sie mir dann umgehend Bescheid!«

Er nickte.

Sie stolzierte zur Tür, drehte sich aber noch mal zu ihm um. »Sie waren einer meiner Besten, Plevantier. Im Moment weiß ich allerdings nicht, wie lange ich Sie noch schützen kann, nachdem bereits Ihr erster Versuch so katastrophal schiefgegangen ist.«

Nachdem sie den Raum verlassen hatte, hatte Kylian das Gefühl, die Temperatur sei um mehrere Grad gesunken. Frustriert schlug er die Akte zu und starrte auf den Deckel. Er war seit Jahren für die Ermittlungen um Beauvolet zuständig. Zum Teil konnte er den Ärger seiner Vorgesetzten natürlich nachvollziehen, doch nicht alles lag in seiner Macht. Wenn er gekonnt hätte, hätte er Rémy Beauvolet schon vor Jahren zur Strecke gebracht. Dieser Drecksack war ihnen immer eine Nasenlänge voraus.

Bevor seine Wut ihn erneut überrollen konnte, klingelte sein Smartphone. Ein Blick aufs Display riss Kylian aus seinen finsteren Gedanken.

»Maman.«

»Kylian, störe ich?«, erklang Lynelle Rossiers Stimme.

»Du störst doch nie.« Er musste lächeln.

»Ich wollte dich auch gar nicht lange unterbrechen. Aber wir haben uns schon so lange nicht gesehen, und ich dachte, ich frage mal nach, ob du die nächsten Tage irgendwann zum Essen kommen magst.«

Lynelle Rossier war nicht Kylians leibliche Mutter. Aber nach allem, was sie für ihn getan hatte, könnte seine Liebe zu seiner Adoptivmutter nicht größer sein. Kylian kannte seine Eltern nicht, hatte sie nie kennengelernt. Er vermutete, dass es sich um Junkies gehandelt hatte, die nicht in der Lage oder willens gewesen waren, ihn großzuziehen. Die ersten zwei Jahre seines Lebens hatte er in einem Kinderheim in der Nähe von Nîmes verbracht, bis Lynelle Rossier eines Tages in der Einrichtung erschienen war und ihn zu sich genommen hatte. Zuerst als Pflegekind, später, als Kylian knapp zehn Jahre alt gewesen war, hatte sie ihn adoptiert. Das gütige Gesicht der Siebzigjährigen tauchte vor seinem geistigen Auge auf.

»Liebend gern«, erklärte er ihr jetzt. »Aber momentan arbeiten wir an einem sehr komplizierten Fall, und ich weiß nicht …«

»Tust du das nicht immer, Kylian?«, unterbrach sie ihn sanft.

Er musste schmunzeln. »Du hast recht. Ich schaue mal in meinen Dienstplan und melde mich die nächsten Tage bei dir.« Er machte eine Pause. »Eine kleine Auszeit in Saint-Guilhem-le-Désert würde mir mit Sicherheit nicht schaden.«

»Meine Rede.« Lynelle lachte. »Ich erwarte deinen Anruf, Junge. Und jetzt will ich dich nicht länger stören.«

6

»Es geht ihm unverändert«, berichtete Fleur, während sie verfolgte, wie Virginie ein Paar weiße Sandalen anprobierte.

»Schrecklich«, bekannte Justine Larran.

Fleur und sie kannten sich seit knapp dreißig Jahren. Ihre Freundschaft hatte sie während sämtlicher Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitet. Justine arbeitete als Psychotherapeutin in Nîmes. Fleurs Aufstieg als Model hatte sie mehr als kritisch beäugt, war ihrer Freundin aber trotzdem jederzeit eine enorme Unterstützung gewesen. Auch als Fleur Rémy kennengelernt hatte, war es Justine gewesen, die ihr immer wieder ins Gewissen geredet hatte, ob dieser Mann wirklich die richtige Wahl für sie darstellte.

»Das Schlimme ist«, setzte Fleur an, während sie ihre Gedanken an Justines Zweifel hinsichtlich Rémy verdrängte, »dass ich mich immer wieder frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er bei dem Unfall …« Sie schluckte, da ihre Stimme brach. »Wenn er es nicht überlebt hätte.« Gedankenverloren strich sie über einen hochhackigen Pumps.

»Maman! Der ist ja potthässlich«, rief Océane neben ihr.

Fleur drehte sich zu ihrer Tochter um. »Denkst du nicht, er würde mir stehen?«, fragte sie lächelnd.

Océane schürzte die Lippen. »Die sind hässlich!«, wiederholte sie.

Fleur wechselte einen amüsierten Blick mit Justine.

»Ich muss dir recht geben, Océane«, erklärte diese mit ernstem Gesicht. »Deine Maman hat manchmal einen … nun, sagen wir mal, zweifelhaften Geschmack.« Sie zwinkerte dem kleinen Mädchen zu.

Fleur ließ einen tiefen Seufzer verlauten. »Okay, ich beuge mich eurem Urteil. Ich nehme sie nicht.« Scheinbar empört schob sie den Schuh ein Stück zur Seite, bevor sie ihre Lippen zu einem Grinsen verzog.

»Wie findest du die?« Océane hob ihren rechten Fuß, an dem ein Hausschuh in Hasenform prangte.

»Etwas heiß für den Sommer, oder nicht?«

»Fluffy würde denken, es sei eine Freundin für sie.« Fleurs Tochter kicherte. Fluffy war ihr drei Monate altes Zwergkaninchen, das Rémy und Fleur ihr zu ihrem vierten Geburtstag geschenkt hatten. »Bitte, Maman! Darf ich sie haben?«

»Wir wollten doch Sandalen kaufen«, erinnerte Fleur sie an ihr eigentliches Anliegen.

»Dann gucke ich gleich noch nach Sandalen, okay? Aber die Hasen darf ich auch mitnehmen.«

Fleur verdrehte die Augen. »Meinetwegen.«

Nachdem sie wenig später ihre Einkäufe erledigt hatten, fuhren sie gemeinsam mit Justine nach Aigues-Mortes zurück. Es war ein warmer, sonniger Nachmittag im Juni. Der Himmel zeigte sich von seiner schönsten Seite. Anstatt gleich nach Hause zurückzukehren, entschieden sie sich dazu, in der Altstadt, die von einer langen und stattlichen Steinmauer umgeben war, noch einen Kaffee trinken zu gehen. Da noch keine Hauptsaison in dem bei Touristen ausgesprochen beliebten Örtchen herrschte, waren nur wenige Menschen in den engen Gassen, in denen sich kleine Geschäfte, Souvenirläden, Galerien und Bistros dicht an dicht aneinanderreihten, unterwegs.

Die Mädchen plantschten am Brunnen, der sich in der Mitte der Place Saint-Louis befand, und waren außer Hörweite. Nachdem Justine ihnen in einem der zahlreichen bekannten Süßigkeitenläden eine Tüte mit einer Mischung der ausgefallensten Gummibärchen gekauft hatte, kauten die beiden vergnügt auf bunten Gelatineschlangen herum.

»Du siehst müde aus«, setzte Justine an. »Es geht dir nicht gut, oder?«

Fleur überlegte einen Moment lang, ihre Freundin in ihr Vorhaben einzuweihen. Dann verwarf sie die Idee jedoch, da es ihr zu gefährlich erschien. »Es läuft nicht allzu gut zwischen Rémy und mir«, erwiderte sie daher nur.

Justine schnaufte verächtlich und schüttelte den Kopf. »Du bist meine beste Freundin, Fleur, und wir kennen uns eine halbe Ewigkeit, aber das Thema Rémy …« Sie stöhnte. »Verlass ihn endlich!«

Fleur beobachtete, wie Océane eine Hand unter den Wasserschwall des Brunnens hielt. Als ihr Gesicht nass wurde, kreischte sie laut auf. Die sichtliche Lebensfreude des Mädchens versetzte ihrem Herzen einen leichten Stich.

»Du weißt, dass das nicht so einfach wäre.«

»Fleur, sieh dich doch an! Dieser Mann tut dir nicht gut. Wenn ich daran denke, wie du früher … Wie viel Energie in dir gesteckt hat, wie offen du auf Leute zugegangen bist. Dieser Mistkerl hat dir alles genommen. Er hat dich verändert. Und nicht zum Positiven.« Justine klang verärgert.

Fleur nickte. Justine hatte recht. Ihre Entschlossenheit wuchs. »Ich möchte nur das Beste für die Mädchen«, murmelte sie abwesend.

Virginie stellte sich gerade hinter ihre kleinere Schwester und half ihr vorsichtig, einen der nassen Steine zu berühren. Die beiden Kinder waren Fleurs Ein und Alles. Vor der Geburt ihrer älteren Tochter hätte sich Fleur niemals vorstellen können, dass eine derart bedingungslose und tiefe Liebe überhaupt möglich war. Sie war bei Virginies Geburt noch jung gewesen, Mitte zwanzig. Andere Models, die sie damals gekannt hatte, verbrachten den Großteil ihrer Wochenenden zu jener Zeit auf schillernden Partys und anderen pressewirksamen Veranstaltungen. Fleurs Leben hingegen hatte sich mit Virginies Geburt komplett gewandelt. Plötzlich hatte sie eine echte Aufgabe. Kein Fototermin der Welt, kein Modeljob, und wäre er noch so gut bezahlt gewesen, konnte mehr mit dem Gefühl mithalten, das Fleur jedes Mal empfand, wenn sie ihrer kleinen Tochter in deren warme Augen blickte. Dieses kleine wunderschöne Gesichtchen, das ihr jeden Morgen aus dem Kinderbett entgegensah. Die Erinnerungen an frühere Zeiten zauberten Fleur ein Lächeln auf die Lippen.

»Träumst du?«, wollte Justine grinsend von ihr wissen.

»Ich musste gerade an Virginie denken. Als sie noch ein Baby war.«

Justine griff über den Tisch und fasste nach Fleurs Hand. »Rede mit mir! Was ist da bei euch los?«

Fleur biss sich auf die Unterlippe. Wäre es nicht so viel einfacher, eine Verbündete zu haben? Sie senkte ihren Blick. »Ich kann nicht«, bekannte sie leise. »Es wäre zu gefährlich.«

Justine kniff ihre Augen zusammen. »Hat Rémy dich … geschlagen?«

Fleur zögerte. »Das würde er nie tun.«

»Dann verstehe ich es nicht. Was ist gefährlich?« Ihr Griff um Fleurs Hand verstärkte sich. »Verdammt, Fleur! Ich bin es. Hast du vergessen, dass ich auf deiner Seite stehe?«

Fleur atmete tief durch. »Rémy ist gefährlich.«

»Was soll das heißen?«

Als die Bedienung kam und nach ihren weiteren Wünschen fragte, verneinten sie. Nachdem sie wieder allein waren, entzog Fleur Justine ihre Hand. Sie verschränkte ihre Finger ineinander.

»Ich kann dir nichts sagen, da ich dich nicht in Gefahr bringen möchte. Aber wenn ich Rémy verlassen würde …« Sie machte eine Pause. »Ich glaube, dann würde er mich töten.«

»Bist du verrückt geworden?«, brauste Justine auf.

Beunruhigt sah Fleur sich um. »Nicht so laut, bitte!«

Justine stützte ihre Ellbogen auf dem Tisch ab und beugte sich vor. »Du willst mir doch nicht etwa ernsthaft weismachen, dass dein Mann dich bei einer möglichen Trennung umbringen würde?«

»Nicht er selbst«, korrigierte Fleur leise. »Aber er würde mich töten lassen. Da bin ich mir fast sicher.«

»Ist dir klar, was du da sagst? Das sind schwerwiegende Anschuldigungen! Wie kommst du denn auf so etwas?«

Fleur zögerte. »Rémy ist nicht der, der er vorgibt zu sein.«

»Fleur, du machst mir Angst«, entgegnete Justine, während sie unruhig auf ihrem Stuhl herumrutschte.

»Das wollte ich nicht. Entschuldige bitte. Ich wollte dir damit nur zeigen, dass …« Sie wandte ihren Blick ab. »… dass die Situation nicht so einfach ist.«

Justine lachte auf, doch es klang freudlos. »Nicht einfach? Du sprichst hier von Mord!«

»Ich hätte nichts sagen sollen.« Fleur wurde klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Die Andeutungen beunruhigten Justine nur weiter. Warum hatte sie sich überhaupt hinreißen lassen? Seit mehr als zehn Jahren wahrte sie die Fassade des glücklichen Ehepaars. Warum musste sie die von ihr so sorgsam errichtete Mauer ausgerechnet jetzt bröckeln lassen? »Bitte vergiss es, Justine. Verzeih mir.«

»Keines von deinen Worten werde ich vergessen, Fleur«, widersprach Justine bestimmt. »Ich habe keine Ahnung, von was du sprichst, aber ganz bestimmt werde ich nicht zulassen, dass du mit den Mädchen zu diesem Mistkerl zurückgehst, wenn du Todesangst vor ihm hast.«

»Ich habe keine …«, wollte Fleur richtigstellen, doch sie wurde sofort wieder unterbrochen.

»Doch, die hast du, Süße!«, beharrte Justine. »Genau das ist es, was ich in deinem Gesicht erkenne. Ich konnte es die ganze Zeit nicht genau benennen, was deine Miene so … leblos wirken ließ. Aber nach deinen Andeutungen … Fleur, du bist gelähmt vor Angst. Angst, die du um dich selbst hast, aber vor allem Angst, die du um die Mädchen verspürst!«

7

Kylian Plevantier hatte nie Polizist werden wollen. In seiner Kindheit standen stets Berufswünsche wie Tiefseetaucher, Fischer oder auch Weinbauer auf seinem Plan. Und wenn Lynelle Rossier nicht gewesen wäre, wäre Kylian mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann sogar auf der anderen Seite des Gesetzes gelandet. Als er vierzehn Jahre alt war, hatte er sich einer Clique gelangweilter Klassenkameraden angeschlossen, die ihre triste Jugendphase durch immer waghalsigere Aktionen mit Spannung und Nervenkitzel anzureichern versuchten.

Begonnen hatte es mit dem fast harmlos erscheinenden Aufstechen von Autoreifen in den wohlhabenderen Vierteln Montpelliers. Später steigerten sie die Adrenalinschübe mit dem Demolieren und Stehlen diverser Luxuskarossen. Obwohl Kylian immer gespürt hatte, dass all dies nicht seine Welt darstellte, dass er diese Taten im Geheimen nicht gutheißen konnte, hatte er seine Kumpels weder davon abgehalten noch ihnen gegenüber seine Bedenken geäußert. Er war ein Mitläufer gewesen, keiner, der sich in die erste Reihe drängte, der jedoch das Gemeinschaftsgefühl genossen und auch gebraucht hatte, um sein eigenes Selbstwertgefühl aufzupolieren. Ein Junge ohne Eltern, der in einem kleinen Dorf abgeschieden von der Großstadt aufgewachsen war, hatte nicht allzu viele Optionen, im Leben weiterzukommen. So hatte Kylian damals gedacht. Die Gruppe hatte ihm Kraft gegeben, er wurde nach seiner Meinung gefragt, war endlich jemand.

Bis einer der Wiederholungstäter geschnappt worden war, der sie alle verraten hatte. Kylian konnte sich noch genau an das Vernehmungszimmer erinnern, in das man ihn vor mehr als zwanzig Jahren gebracht hatte. Lynelle war ihm in der ganzen Zeit nicht eine Sekunde von der Seite gewichen. Noch heute hatte er ihren von Enttäuschung, Verzweiflung und Verärgerung geprägten Gesichtsausdruck mehr als deutlich vor Augen.

Und dann war da Raymond Béllions gewesen. Der Polizist hatte Kylian in aller Deutlichkeit aufgezeigt, was ihn erwartete, wenn er von seinem eingeschlagenen Weg nicht abkäme. Die Stimme des älteren Beamten hatte weder oberlehrerhaft noch vorwurfsvoll geklungen. Béllions hatte mit Kylian gesprochen wie ein Vater mit seinem Sohn. Zumindest hatte Kylian angenommen, dass ein Vater auf diese Art mit seinem Kind reden würde. Und der Polizist hatte es tatsächlich geschafft. Tagelang hatte er sich eingehend mit Kylian beschäftigt.

Später, viele Jahre danach, hatte Raymond ihm erklärt, dass er in Kylian etwas gesehen hatte, was den meisten Außenstehenden wohl verborgen geblieben wäre. Ihn hatten Gewissensbisse geplagt! Kylian war schon immer ein mitfühlender und gerechtigkeitsliebender Mensch gewesen. Als Raymond während der Vernehmung die Opfer ihrer Aktionen erwähnt hatte, hatte er Kylians Reaktion genau richtig gedeutet. Der Jugendliche hatte Mitleid empfunden, er hatte gewusst, dass ihre Taten großes Leid verursachten, dass sie falsch waren. Die beste Voraussetzung, um auf den Pfad der Legalität zurückzukehren.

Lynelle hatte ihm dann vorgeschlagen, die Schule zu wechseln und neu anzufangen. Und Kylian hatte damals beschlossen, in Raymond Béllions’ Fußstapfen zu treten. Béllions war vor sieben Jahren verstorben, doch bis kurz vor seinem Tod hatten Lynelle und Kylian in regelmäßigem Kontakt mit dem betagten Ex-Polizisten gestanden. Es gab wenig Menschen, die Kylian so nachhaltig geprägt hatten. Raymond war im Laufe der Zeit fast zu einer Art Vaterfigur für ihn geworden.

Kylian verdrängte die Erinnerungen an vergangene Zeiten und konzentrierte sich wieder auf die anstehenden Aufgaben. Er nahm den Telefonhörer auf und wählte die Nummer der Kollegen in Béziers.

»Runot!«

Kylian berichtete kurz, was in der vergangenen Nacht geschehen war.

»Verfluchte Scheiße!«

»Das kannst du laut sagen«, pflichtete Kylian dem Lieutenant bei. »Ich muss den Beamten dringend abziehen – wenn es nicht bereits zu spät ist.«

»Und wie soll es weitergehen?«

Kylian zögerte. »Ihr seid doch an diesem Dealer dran, den Beauvolet nach den uns vorliegenden Informationen beliefert.«

»Du meinst Morreau? Ja, den haben wir nach wie vor im Auge.«

»Was ist mit dessen Frau?«, wollte Kylian wissen.

»Ich verstehe nicht …«