Böse Stimmen. Ein Fall für Sina Engel - Silke Ziegler - E-Book

Böse Stimmen. Ein Fall für Sina Engel E-Book

Silke Ziegler

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Beschreibung

Mörderische Rache im beschaulichen Weinheim Hauptkommissarin Sina Engel erhält einen anonymen Brief mit der rätselhaften Botschaft »Das Spiel beginnt«. Als kurz darauf ein Doppelmord geschieht, wird ihr klar, dass der Absender einen perfiden Plan geschmiedet hat. Und er ist noch längst nicht an seinem Ziel. Weitere Briefe treffen ein, weitere Menschen müssen sterben, und wer das nächste Opfer wird, liegt in Sinas Hand. Fieberhaft versucht sie, die Schritte des Täters vorauszuahnen. Wird sie es rechtzeitig schaffen, die stetig näher rückende Katastrophe abzuwenden?

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Silke Ziegler

Böse Stimmen

Ein Fall für Sina Engel

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung der Motive von shutterstock.com/Lev Levin; artprintsadee

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-98708-013-5

Silke Ziegler

Prolog

Sina Engel. Ein Name wie ein Versprechen, wie eine süße Verheißung. Fast zärtlich fuhr er über das Zeitungspapier, das auf seinen Oberschenkeln raschelte. Das schimmernde blonde Haar, die intensiven blauen Augen, die scharf geschnittenen Konturen ihres Gesichts. Hass wallte in ihm auf. Tief sitzender, nachhaltiger Hass. Das attraktive Äußere der Kommissarin vermochte es erfolgreich, die Hinterhältigkeit und Verschlagenheit zu verbergen, mit der sie ihre Karriere vorantrieb. Mit der sie buchstäblich über Leichen ging, um sich selbst in glänzendes Licht zu setzen. Sacht streichelte er das Foto, das laut dem Artikel daneben bei einer Pressekonferenz vor drei Tagen aufgenommen worden war. Als diese Hexe sich erneut im Lichte einer ihrer angeblich unzähligen Ermittlungserfolge sonnte.

Angespannt fuhr er mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen. Dann faltete er das Papier um das Bild herum mehrmals nach vorn und nach hinten, um es leichter aus der Seite herauslösen zu können. Das abgetrennte Foto legte er sorgfältig auf den kleinen Beistelltisch mit der abgewetzten Platte, die restliche Zeitung knüllte er zusammen und warf sie achtlos auf den Boden neben seinem Bett. Er stand auf und trat ans Fenster.

Während er in den wolkenverhangenen Himmel starrte, keimte der Ansatz einer Idee in ihm auf. Er drehte sich um und fixierte ein weiteres Mal das Foto der Polizistin. Sina Engel. Sie würde für das, was sie ihm angetan hatte, büßen. All die Jahre hatte er dem Moment entgegengefiebert, da er die Möglichkeit bekäme, es dieser dummen Fotze heimzuzahlen. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche. Immer wieder hatte es Augenblicke gegeben, da war ihm sein Vorhaben sinnlos und entbehrlich vorgekommen. Doch schon in der nächsten Sekunde hatte er begriffen, dass es an ihm war, das Nötige zu unternehmen. Dass er allein dazu auserkoren war, das Ungleichgewicht zu beenden. Wenn nur diese unbeschreibliche Wut ihn nicht wieder und wieder von seinem Vorhaben abhalten würde. Der Zorn ergriff ihn oft ohne Vorwarnung und hinderte ihn daran, einen verlässlichen und gut durchdachten Plan zu entwerfen. Es war diese unsägliche Raserei, die ihn wie eine eiserne Faust umklammerte und ihm fast die Luft abdrückte, wenn er sich nicht unter immenser Anstrengung aus diesem unsichtbaren Gefängnis befreite. Er musste seine Gefühle endlich in den Griff bekommen.

Die Zeit war reif. Er spürte es. Allein bei dem bloßen Gedanken an die blonde Hure begann seine Haut zu kribbeln. Seine Finger zuckten, seine Muskeln spannten sich an. Er musste handeln. Viel zu viel Zeit war bereits vergangen. Die Hexe musste endlich leiden. Sie sollte fühlen, was er gefühlt hatte. Sollte durch die Hölle gehen, wie sie ihn durch die Hölle hatte gehen lassen.

Er drehte sich um und nahm das Bild wieder auf. Mit dem Daumen fuhr er über ihr Gesicht. Sie wirkte zufrieden, stolz, ja regelrecht selbstgefällig. Speichel sammelte sich in seiner Mundhöhle. Voller Verachtung spuckte er auf den Boden. Seine freie Hand ballte sich zu einer Faust. Wieder legte sich zügelloser Hass über seine Gedanken, erstickte jegliche Überlegung, bevor sie überhaupt nur die Chance dazu gehabt hatte, den kleinsten Ansatz eines Plans zu entwickeln.

Er setzte sich wieder und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der laute Knall ließ ihn zusammenzucken. Sein Blick wanderte zur Tür, doch als nach einigen Sekunden keine Reaktion erfolgte, ließ er seinen Kopf in den Nacken fallen und starrte an die mit Rissen übersäte Decke. Er schloss die Augen und versuchte, seine Umgebung völlig auszublenden.

Bald, ganz bald würde er wieder Herr über sein Leben sein. Keine festen Essenszeiten mehr, keine organisierten Hofgänge, durchgeplanten Tagesabläufe, hinterhältigen Wärter und vorgekauten Fernsehprogramme mehr. Nein, dann würde einzig er wieder entscheiden, was er wann und wo täte.

An seinem ersten Tag in Freiheit würde er sich die nächstbeste Schlampe schnappen, um sie einen Tag lang durchzuvögeln. Mindestens. Sein Nachholbedarf war immens. Und erst wenn sein Hormonhaushalt wieder ausgeglichen wäre, würde er sich um Kriminalhauptkommissarin Sina Engel kümmern. Ein rauchiges Lachen entlud sich in seiner Kehle. Oh ja, um dieser Frau die verdienten Qualen zuzufügen, benötigte er dringend einen klaren Verstand. Und er würde ihr Leiden genießen, würde den Schmerz, den er in ihr entfachen würde, auskosten und wie einen süßen Duft inhalieren. Allein der Gedanke daran hob seine Stimmung. Momentan gab es in seinem Alltag nicht allzu viel, was ihn erfreuen konnte.

Es klopfte an seiner Tür. »Besuch! Dein Anwalt«, bellte eine Stimme vom Flur her.

Er verdrehte die Augen. Was wollte der schon wieder hier? Die letzten Euro aus ihm herauspressen? Sein Entlassungstermin stand seit Wochen fest, von seiner Seite aus gab es nichts mehr zu sagen. Dieser Versager hatte nichts für ihn herausholen können. Absolut gar nichts. Vielleicht sollte er ihn ebenfalls … Doch nein, zu viele Nebenbaustellen würden seinen Plan nur weiter hinauszögern und verwässern. Plan, ermahnte er sich sofort. Noch hatte er überhaupt keinen Plan.

»Hast du gehört?«

»Ja, bin gleich so weit«, gab er zurück und schnalzte mit der Zunge. »Fünf Minuten.«

Der Justizbeamte vor der Tür lachte.

Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe? Noch einhundertsiebenundsiebzig Tage. Er zählte jeden einzelnen davon herunter. Er wollte kein Anwaltsgesülze mehr hören, für mindestens hundertfünfzig Euro die Stunde. Plus Mehrwertsteuer. Plus Fahrtkosten. Er schüttelte den Kopf. Nein, er würde nichts sagen. Er würde seine restliche Zeit absitzen, sich weiter unauffällig verhalten und sich vor allem von all jenen Insassen fernhalten, die schon auf hundert Meter Sichtweite Ärger bedeuteten. Unvorhergesehene Zwischenfälle konnte er nicht brauchen. Wieder wanderte sein Blick zum Fenster. Er wollte hier endlich raus. Dieses Eingesperrtsein tat ihm alles andere als gut. Mehr als einmal wäre er am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Hätte gegen die Mauern getreten, mit den Fäusten gegen die Tür getrommelt, um seiner Wut ein Ventil zu bieten.

Nein, ganz bald wieder würde er seine eigenen Entscheidungen treffen. Seine … Er stockte. Entscheidungen … Er fasste sich an die Schläfe. Entscheidungen.

Entscheiden Sie sich.

Selbst nach so vielen Jahren meinte er, Sina Engels Stimme in seinem Ohr zu vernehmen. Entscheiden Sie selbst. Entscheiden. Ein triumphierendes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Wie hatte er das Offensichtliche bloß so lange übersehen können? Ein Hauch von Zufriedenheit durchströmte ihn.

Wie du leiden wirst, schoss es ihm durch den Kopf. Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Wie hatte er nur so blind sein können? Seine Laune stieg augenblicklich. Er musste ein fröhliches Pfeifen unterdrücken, als er das Bild der Kommissarin auf den Tisch zurücklegte, zur Tür ging und an den Stahl klopfte.

Sofort wurde seine Zelle geöffnet. »Reichlich unhöflich, deinen Rechtsverdreher so lange warten zu lassen.«

Er verkniff sich jeglichen Kommentar und folgte dem Justizbeamten schweigend durch die Gänge. Sollte der Idiot doch denken, was er wollte! Dieser Ort würde bald Vergangenheit sein. Und mit Sicherheit hatte er nicht vor, jemals hierher zurückzukehren. Nein, diesmal war er schlauer.

»Guten Morgen, wie geht es Ihnen?«

Dieser elende Schlappschwanz! Trug wieder den grauen, schlecht sitzenden Anzug, den er bereits vor Jahren bei der Gerichtsverhandlung anhatte.

Doch er verzog keine Miene. »Gut, und Ihnen?«

Sein Anwalt zog die Brauen hoch. »Auch gut, danke der Nachfrage.«

Sie rückten die Stühle zurecht und setzten sich.

»Ich habe das Schreiben mit dem Datum Ihrer Haftentlassung bekommen«, setzte der Jurist an.

Seine Gedanken schweiften ab. Nur mit einem Ohr vernahm er, wie sein Rechtsbeistand ihm erklärte, was die kommenden Monate zu regeln und zu organisieren wäre. Er ließ sich seine eben aufgekeimte Idee durch den Kopf gehen, die immer gezieltere Formen annahm. Er musste sich regelrecht zusammenreißen, um sich nicht die Hände zu reiben. Auf keinen Fall durfte er jetzt Argwohn oder Misstrauen erwecken. Noch war seine Zeit nicht gekommen. Auch wenn die Genugtuung schon fast zum Greifen nahe schien, wären Übermut und Siegessicherheit die schlechtesten Ratgeber für sein Vorhaben. Nein, er musste Geduld und Umsicht walten lassen. Musste kooperativ und einsichtig auftreten.

Und wenn er all diese Speichellecker nicht mehr brauchte, dann, erst dann konnte er mit seinem Spiel beginnen. Einem Spiel, das Sina Engel aufs Bitterste quälen und leiden lassen würde. Einem Spiel, das Sina Engel zerstören würde. Einem Spiel, das nur er allein gewinnen würde.

1

Montag, 13.November

Als Sina Engel die Treppe zu ihrem Büro auf dem Polizeirevier in Weinheim hinaufhastete, vernahm sie bereits die Stimmen ihrer beiden Mitarbeiter, Polizeiobermeister Gerhard Runz und Polizeiobermeister Marc Fornack. Sie war viel zu spät dran. Ihre vierzehn Monate alte Tochter Clara, die seit drei Wochen in der Kindertagesstätte eingewöhnt wurde, hatte Sina heute nicht gehen lassen wollen.

Wieder überkam sie ein schlechtes Gewissen. War es ein Fehler gewesen, Clara nicht mehr von ihren Eltern betreuen zu lassen? Sina seufzte. Obwohl sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater ihr immer wieder versichert hatten, dass sie sich gern weiterhin um ihre jüngste Enkelin kümmern wollten, hatte Sinas Gefühl ihr immer stärker signalisiert, dass der Zeitpunkt der richtige war, um Clara zunehmend auch die Gesellschaft anderer Kinder zu ermöglichen. Wenn Sina abends oder am Wochenende Dienst hatte, was sich als Leiterin der Weinheimer Kriminalpolizei nicht gänzlich vermeiden ließ, nahm sie das Angebot ihrer Eltern natürlich weiterhin gern in Anspruch. Doch sie war auch der Ansicht, dass ihre Eltern ein Recht darauf hatten, nach einem Jahr fast täglicher Kleinkindbetreuung wieder ihre eigenen Pläne schmieden und ihr Leben als Rentner genießen zu können.

Als Sina am oberen Treppenabsatz ankam, sah Marc ihr mit ernster Miene entgegen.

»Guten Morgen.« Sina fuhr sich durchs Haar. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Clara war heute früh besonders … verschmust.« Sie lächelte mild.

»Guten Morgen, Chefin.« Gerhard erhob sich und steuerte auf die Kaffeemaschine zu. »Magst du auch eine Tasse?«

»Oh ja, sehr gern.« Sina schloss die Tür zu ihrem Büro auf und schaltete das Licht an. Dann legte sie ihre Handtasche in eine Schublade ihres Schreibtischs und fuhr den Computer hoch.

»Sina?«

Sie hob den Kopf und blickte zu Marc, der in der Tür stand. »Hm?«

»Watzlawski hat vorhin angerufen. Er kommt gegen halb zehn vorbei.«

Sina starrte ihn einen Moment lang ungläubig an. »Watzlawski kommt? Was will der denn hier?«

Frank Watzlawski war der Nachfolger von Dezernatsleiter Rudolf Mattner, der für die Direktion Heidelberg zuständig gewesen war, bis er sich vor mehr als anderthalb Jahren das Leben genommen hatte. Übergangsweise hatte der Kriminalrat die Funktion übernommen. Klaus-Peter Gans hatte zwar ebenfalls seine Eigenheiten, doch fachlich und zwischenmenschlich war Sina immer gut mit ihm klargekommen. Gerade in der Zeit, nachdem ihr Lebensgefährte und Claras Vater Carlo Reinhardt ermordet worden war, hatte Gans sich ihr gegenüber stets korrekt verhalten. Anders als der neue Dezernatsleiter, der seinen Mitarbeitern schon in den ersten Tagen nach Amtsantritt nachdrücklich vermittelt hatte, dass er Alleingänge der einzelnen Abteilungen nicht schätzte und zu jeder Zeit über alles auf dem Laufenden gehalten zu werden wünschte. Seine Art war bei den Mitarbeitern nicht als sympathisch angekommen, darüber waren sich die meisten einig gewesen.

Marc zuckte mit den Achseln. »Er hat sich nicht dazu geäußert.«

Sina schnaubte. Sie war Watzlawski erst zweimal über den Weg gelaufen: bei seiner Amtseinführung, als er sich ein persönliches Bild der einzelnen Reviere gemacht hatte, und als sie eine komplizierte Festnahme mit ihm besprechen musste. Bei jedem der Treffen hatte sie das Gefühl beschlichen, dass er sie in erster Linie nicht als Beamtin wahrnahm, sondern als Frau. Ob er ein Problem mit dem weiblichen Geschlecht an sich hatte oder ob sein Verhalten ihr gegenüber von einem Interesse geprägt war, welches nichts mit ihrer Arbeitsbeziehung zu tun hatte, konnte sie noch nicht sagen. Dafür kannte sie ihn zu wenig. Jedes der Gespräche zwischen ihnen hatte jedoch einen schalen Nachgeschmack bei ihr hinterlassen. Matthias hatte sie nichts davon erzählt, da außer Gerhard und Marc niemand der Kollegen von ihrer Beziehung zu dem Kriminalkommissar aus Heidelberg wusste, und Sina fürchtete, dass Matthias sich möglicherweise hinreißen lassen würde und etwas Unüberlegtes zu Watzlawski sagen könnte, wenn er von ihrem Eindruck erfuhr.

Als ihr Blick auf die Uhr fiel, erschrak sie. Es war fünf Minuten vor halb zehn.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du heute später kommst, hätte ich ihn auf einen anderen Zeitpunkt vertröstet«, erklärte Marc, der ihrem Blick gefolgt war. »Tut mir leid.«

Sina winkte ab. »Muss es nicht. Um was auch immer es geht, ich werde schon irgendwie mit ihm fertig.«

Marc grinste. »Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«

Als er die rechte Hand hob, erkannte Sina überrascht, dass er einen Handschuh trug, mit dem er einen weißen Briefumschlag hielt.

»Das war heute Morgen im Briefkasten. An dich adressiert.«

Sie verengte die Augen. »Fanpost?«

Er verzog die Mundwinkel. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall anonym.«

»Deshalb der Handschuh«, folgerte sie und erhob sich wieder von ihrem Stuhl. »Leg ihn bitte auf den Schreibtisch. Ich schaue ihn mir gleich an.«

»Sina?« Gerhard erschien hinter Marc mit einer Tasse Kaffee in der Hand. »Watzlawski ist da.«

Sie verdrehte die Augen, nickte jedoch. »Alles klar.« Dann nahm sie Gerhard dankend die Tasse ab und stellte diese auf ihren Schreibtisch. Anschließend folgte sie ihren Mitarbeitern zurück ins Großraumbüro, wo der neue Dezernatsleiter an Gerhards Schreibtisch wartete.

»Guten Morgen, Herr Watzlawski.« Sina streckte ihm ihre Hand entgegen. »Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie ebenfalls einen Kaffee?«

»Morgen, Frau Engel. Nein, danke. Ich hatte schon drei Tassen.« Er erwiderte den Handschlag und folgte ihr ins Büro.

Während der Bezirksleiter sich setzte, musterte Sina ihn verstohlen. Watzlawski war Anfang vierzig, geschieden und vor drei Jahren in den Rhein-Neckar-Kreis gezogen. Ursprünglich kam er aus dem Ruhrgebiet. Er war nicht unattraktiv mit seinem brünetten lockigen Haar und den stechend blauen Augen. Doch erneut fühlte sich Sina in seiner Gegenwart unwohl.

»Frau Engel«, setzte er an und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Ich dachte, ich schaue mal bei Ihnen vorbei und frage nach, wie es im Fall Rudolf aussieht.«

Sina erwiderte überrascht seinen Blick. Sie hatten Leon Rudolf letzte Woche bei einem Drogengeschäft gefasst und es bisher nicht geschafft, ihn davon zu überzeugen, die Hintermänner zu benennen, die ihn in größerem Stil belieferten. Rudolf selbst war ein unbedeutender Dealer, die Kripo hatte jedoch ein großes Interesse daran, endlich die Drahtzieher dahinter festzusetzen, die seit mehreren Monaten den Rhein-Neckar-Kreis mit ihrem Dreck versorgten. »Deshalb kommen Sie persönlich her?«, rutschte es Sina heraus. Sie biss sich auf die Unterlippe.

Er lächelte. »Nicht nur, Frau Engel.« Sein Blick wurde intensiver. »Ich wollte noch mal allein mit Ihnen unter vier Augen sprechen.«

»Weswegen?« Sinas Magen begann zu kribbeln.

»Ich hatte ja schon mehrfach betont, wie sehr mir an einem guten Miteinander unter den Kollegen und zwischen den einzelnen Dienststellen gelegen ist …«, begann er gedehnt.

Sina verstand nicht, worauf er hinauswollte.

»Nun, es gibt sehr viele Beamte … leider …«, fuhr Watzlawski fort, »die ein Problem damit haben, dass eine Frau eine Führungsposition innehat.«

Sina runzelte die Stirn.

Er räusperte sich. »Ich gehöre selbstverständlich nicht dazu, Frau Engel. Sie haben in den letzten Jahren hervorragende Arbeit geleistet. Erwähnenswert wären hier zum Beispiel die brutalen Kerwemorde. Daher wollte ich Ihnen nochmals persönlich sagen, dass ich Ihnen jederzeit den Rücken stärke, sollte es zu irgendwelchen Anfeindungen oder Ähnlichem kommen.«

»Ich verstehe nicht ganz«, gab Sina unumwunden zu. »Die Zusammenarbeit mit meinen Mitarbeitern als auch mit Kollegen anderer Dienststellen hat in der Vergangenheit immer reibungslos funktioniert.«

Er nickte bedächtig und verschränkte seine Finger ineinander. »Es sind die Zwischentöne, Frau Engel, die mir ein wenig Sorge bereiten.« Frank Watzlawski sah sie einige Sekunden lang schweigend an. »Für Frauen ist es in unserem Beruf noch immer schwieriger als für Männer.«

Sina entspannte sich etwas. »Das ist wohl wahr.«

»Daher dachte ich, es wäre vielleicht von Vorteil, wenn wir beide uns … wenn wir vielleicht mal gemeinsam essen gehen könnten. In einem privateren Rahmen spricht es sich doch noch mal offener. Gerade wenn ich mitbekomme, dass es möglicherweise Kollegen gibt, die es auf Ihren Job abgesehen haben.« Er setzte eine beschwichtigende Miene auf. »Kein Grund zur Sorge natürlich, aber … Vorsicht ist besser als Nachsicht, nicht wahr?«

Sina überlief eine Gänsehaut. Drohte er ihr etwa unterschwellig? Seine Worte ließen diesmal keinerlei Zweifel an seinen Absichten. Was sollte sie tun? Watzlawski war ihr Vorgesetzter. Wenn er es darauf anlegte, konnte er ihr das Leben zur Hölle machen.

»Danke für Ihre offenen Worte«, begann sie langsam, um Zeit zu gewinnen. »Diese … Ambitionen von Kollegen sind mir bisher nicht zu Ohren gekommen, daher …« Sie atmete tief durch. »Daher sehe ich momentan keinen Anlass, das Thema anderweitig näher zu vertiefen.« Sie schluckte und wartete auf seine Reaktion.

Seinem Gesichtsausdruck konnte sie förmlich ansehen, wie es in ihm arbeitete. Nach einem kurzen Zögern nickte er. »Wie Sie meinen«, presste er zwischen seinen Lippen hervor. »Es war ein Angebot, Frau Engel. Ein sehr gut gemeintes, wohlwollendes Angebot.« Er fuhr sich durch seine Locken. »Sollten Sie es nicht schaffen, Rudolf weitere Namen zu entlocken …« Er wiegte seinen Kopf. »Nun, es bleibt abzuwarten, wie lange ich Sie unterstützen kann.« Er erhob sich, bedeutete ihr aber gleichzeitig, sitzen zu bleiben. »Ich finde allein hinaus, Frau Engel. Guten Tag.«

Erst nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wagte Sina wieder zu atmen. Was war denn das gewesen? Sie fasste sich an die Schläfen und dachte nach. Watzlawski hatte sie ganz offen bedroht. Entweder zeigte sie sich gefügig, oder er würde jede Gelegenheit nutzen, ihr Schwierigkeiten zu bereiten. Was sollte sie tun?

Als es an ihrer Bürotür klopfte, befürchtete sie erst, der Dezernatsleiter wäre noch einmal zurückgekehrt. »Ja?«

Marc öffnete die Tür und trat ein. »Alles klar?«

Sina verharrte kurz, bevor sie nickte. »Ja, alles in Ordnung.«

»Was wollte Watzlawski?« Marc kam näher.

Sie winkte ab. »Es ging um Rudolf und um … einige allgemeine Sachen.«

Marc blieb schweigend vor ihr stehen.

»Was?«

»Du weißt, dass du mit uns reden kannst, wenn es Probleme gibt.«

Die Wärme in seiner Stimme ließ sie einen Moment lang schwanken. Dann nickte sie erneut. »Danke, aber es ist alles gut.«

»Okay.« Er zeigte auf den Umschlag, der noch immer auf ihrem Schreibtisch lag. »Was ist damit?«

Wegen ihres Ärgers über Watzlawski hatte Sina das an sie adressierte Kuvert ganz vergessen. Sie holte zwei Handschuhe aus ihrer Schublade und machte sich mit grimmiger Miene daran, den Umschlag vorsichtig zu öffnen.

»Für eine Bombe ist es zu klein«, merkte Marc an, während er ihre Handbewegungen verfolgte.

»Na, du machst mir Spaß«, gab sie mit düsterer Stimme zurück, als sie es endlich geschafft hatte, den Brief zu öffnen, ohne ihn zu beschädigen. Sie holte ein weißes Papier heraus, das sich darin befand, und faltete es auseinander. »Das Spiel beginnt«, las sie irritiert vor und blickte auf. »Was soll das bedeuten?«

Marc hob die Brauen. »Keine Ahnung. Sollen wir es auf Fingerabdrücke untersuchen lassen?«

»Kann nicht schaden«, stimmte Sina zu. »Das Spiel beginnt«, wiederholte sie nachdenklich und sah zum Fenster. »Welches Spiel?«

»Der Kollege, der ihn enttarnt hat, ist sich ganz sicher, dass da noch jemand war«, erklärte Sina an Gerhard gewandt, während sie Richtung Vernehmungszimmer gingen. »Rudolf muss uns den Namen nennen. Der Kollege ist davon überzeugt, dass Rudolf zuvor eingewiesen wurde.«

Gerhard seufzte. »Bisher war der Gute leider nicht sehr redselig.«

»Watzlawski hat …«, setzte Sina an, brach dann aber ab.

»Was hat Watzlawski?« Gerhard warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu.

»Nichts«, wiegelte Sina ab. »Er hat mich noch mal daran erinnert, dass wir die Namen der Hintermänner aus Rudolf herauskitzeln sollen.«

»Er hat dich daran erinnert?« Gerhards Stimme triefte vor Sarkasmus. »Gut, dass er das getan hat, sonst hätten wir es doch glatt vergessen.« Er machte eine Pause. »Er hat dich unter Druck gesetzt.« Es war keine Frage.

Sina schnaubte. »Watzlawski ist … gewöhnungsbedürftig.«

»Hm, so kann man es auch nennen.«

Vor der Tür sah Sina ihren älteren Mitarbeiter an. »Bereit?«

»Aber immer doch.« Er lachte.

Sina öffnete die Tür und bedeutete dem anwesenden Schutzbeamten, dass er gehen konnte.

Leon Rudolf saß zusammengesunken auf einem der unbequemen Holzstühle, die Beine weit von sich gestreckt. Das schwarze Haar hing ihm strähnig in die Stirn, seine Gesichtshaut wirkte blass und ungesund. Leon Rudolf war vor zehn Jahren mit seinen Eltern von Hamburg nach Weinheim gezogen, wo er ein Jahr später seinen Realschulabschluss absolviert hatte. Nach einer abgebrochenen Ausbildung zum Schlosser arbeitete er mittlerweile aushilfsweise in einem Schriesheimer Supermarkt.

»Guten Morgen, Herr Rudolf.« Sina und Gerhard setzten sich dem jungen Mann gegenüber. Sina legte ihre Akten auf den Tisch und wartete auf eine Reaktion.

Doch Rudolf erwiderte nichts, sondern starrte nur stumm zur Tür.

»Herr Rudolf, haben Sie über unser Angebot nachgedacht?«, durchbrach Sina die Stille und musterte den jungen Mann.

Rudolf schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Möchten Sie vielleicht jetzt einen Anwalt?«, schaltete sich Gerhard ein. »Ein Rechtsbeistand könnte Ihnen aufzeigen, wie Ihre Chancen stehen. Einmal, wenn Sie mit uns kooperieren, und einmal, wenn Sie uns weiterhin vorgaukeln, Sie wüssten nichts.«

Rudolf hob die Hände und ließ sie antriebslos auf den Tisch fallen. »Aber ich weiß nichts«, zischte er leise.

»Wir glauben Ihnen nicht, Herr Rudolf«, erwiderte Sina mit ruhiger Stimme. »Der Beamte, der Sie überführt hat, hat deutlich einen zweiten Mann gesehen, der sich bei dem Deal im Hintergrund hielt. Wir gehen weiterhin davon aus, dass Sie bei einem Ihrer ersten Deals aufgeflogen sind. Dass Sie eine neue Geldquelle aufgetan hatten und gerade erst an das Geschäft herangeführt wurden.« Sie beobachtete seine Reaktion. Bei ihren Worten war er unruhig auf seinem Stuhl herumgerutscht. Sina war davon überzeugt, dass ihre Theorie stimmte. Doch der junge Mann hatte Angst. »Wenn Sie uns sagen, von wem Sie den Stoff bekommen haben, können wir Sie schützen.«

»Aber nur dann«, ergänzte Gerhard mit ernster Stimme. »Ohne Deal keinen Schutz.«

»Und wer weiß, was Ihre Auftraggeber sich ausmalen, was Sie hier gerade mit uns besprechen. Es muss nicht zum tatsächlichen Verrat kommen, um in die Schusslinie zu geraten.« Sina tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die Akte. »Sie haben einen kleinen Sohn, Herr Rudolf.«

Die linke Augenbraue des Mannes zuckte.

»Was wollen Sie Ihrem Kind erzählen? Soll es Sie in den nächsten Jahren stundenweise im Gefängnis besuchen? Möchten Sie ihm ein mahnendes Vorbild sein, wie es sein Leben nicht gestalten soll? Oder wollen Sie bei der Einschulung des Kleinen dabei sein? Möchten Sie sehen, wie er mit einer großen Schultüte und einem noch größeren Grinsen im Gesicht seinen ersten Schultag erlebt?« Sie fuhr sich übers Kinn. »Herr Rudolf, Ihr Sohn braucht Sie. Jetzt. Nicht in ein paar Jahren, wenn Sie Ihre Strafe abgesessen haben. Und was ist mit Ihrer Lebensgefährtin? Haben Sie mit ihr abgesprochen, dass Sie die nächsten Jahre für die Erziehung Ihres gemeinsamen Kindes nicht zur Verfügung stehen werden? Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie Ihre momentane Entscheidung billigen würde.«

Rudolfs Blick huschte zwischen der Tür und Sina hin und her.

Gerhard sah sie aufmunternd an. Wir haben ihn gleich, sollte das wohl heißen.

»Hören Sie auf«, herrschte Leon Rudolf sie an. »Sie wissen gar nichts.«

Sina nickte ungerührt. »Sie haben recht. Wir wissen nichts. Genau deshalb möchten wir ja, dass Sie mit uns reden.«

»Mann, mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen. Die haben von Anfang an klargestellt, was mit … denen passiert, die ihr Maul nicht halten können.«

»Wer garantiert Ihnen, dass Ihnen das nicht trotzdem passiert?« Gerhard beugte sich vor. »Wie gesagt, die wissen nicht, was wir hier drinnen besprechen. Die wissen aber ganz genau, dass Sie von uns erwischt wurden.«

Rudolf stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und legte seinen Kopf in die Hände. »So eine verfickte Scheiße!«

Sina wechselte einen mahnenden Blick mit Gerhard.

»Mann!«

»Herr Rudolf, Sie sind kein Drogendealer«, merkte Sina in beschwichtigendem Ton an. »Sie haben keinerlei Vorstrafen in diese Richtung. Wenn Sie zugeben, dass Sie da etwas ausprobieren wollten, was sich letztlich als falsch erwiesen hat, wenn Sie uns sagen, wer Sie dazu angestiftet hat … Dann können wir Ihnen helfen.«

»Es könnte auf eine Bewährung hinauslaufen, wenn Sie Reue zeigen«, fügte Gerhard an.

Rudolf verharrte einige Sekunden lang stumm. »Kann ich mit Silvia sprechen?«

Silvia Baumann war seine Lebensgefährtin, die Mutter seines Sohnes.

»Das geht leider nicht, Herr Rudolf.« Sina strich über die noch immer geschlossene Akte. »Aber überlegen Sie doch bitte, was sie Ihnen in dieser Situation raten würde. Denken Sie, Ihre Freundin möchte, dass Sie für viele Jahre hinter Gitter wandern? Oder meinen Sie, sie würde Sie gern wieder an ihrer Seite wissen?«

»Scheiße«, stöhnte Rudolf schmerzerfüllt. »Das darf doch alles nicht wahr sein.«

Sina bedeutete Gerhard, dem jungen Mann einen Augenblick Bedenkzeit zu geben. Es nutzte nichts, weiter auf ihn einzureden. Er sollte in Ruhe darüber nachdenken, wie die Konsequenzen seines Verhaltens sich auf sein weiteres Leben auswirken würden.

Kurze Zeit später hob er den Kopf wieder. »Sie könnten mich beschützen? Und Silvia und den Kleinen?«

Gerhard zuckte mit den Achseln. »Das kommt darauf an, was Sie uns zu sagen haben.«

Der junge Mann schüttelte seinen Kopf. »Wie würde das dann ablaufen mit dem Zeugenschutzprogramm?«

Sina unterdrückte ein Lächeln. »Herr Rudolf, so weit sind wir noch lange nicht. Was wir Ihnen hier und jetzt aber versprechen können, ist, dass sich ein Geständnis und vollumfängliche Kooperation mit uns mildernd auf Ihre Strafe auswirken würden. Weiter würde geprüft werden, wie sich die Informationen, die Sie uns … möglicherweise zur Verfügung stellen, auf ein eventuelles Gefahrenpotenzial für Sie auswirken könnten. Als Zeuge der Anklage stünde Ihnen Polizeischutz in noch zu ermittelndem Rahmen zu. Ihnen und Ihrer Familie.«

Rudolf nickte langsam. »Okay, ich rede.«

Sina schlug die Akte auf und überflog erneut die Notizen des Kollegen, der Rudolf überführt hatte. »Sie haben sich richtig entschieden.«

»Das wird sich zeigen«, entgegnete er mit wenig Überzeugung.

»Wir leiten unverzüglich alles in die Wege, damit Sie sicher unterkommen«, erklärte Gerhard mit Nachdruck. »Die Zusammenarbeit mit uns ist für Sie der einzige Weg, annähernd unbeschadet aus diesem ganzen Schlamassel herauszukommen, in den Sie sich da hineinmanövriert haben.«

Leon Rudolf nahm seinen Kopf in beide Hände und schüttelte ihn leicht. »So eine Scheiße!« Er schluckte, dann ließ er seine Hände wieder sinken. »Was genau wollen Sie von mir wissen?«

2

Erschöpft sah Sina auf die Uhr, bevor sie das Revier verließ. Nachdem Leon Rudolf sich dazu entschlossen hatte auszupacken, war sein Redefluss nicht mehr zu stoppen gewesen. Er hatte ihnen volle zwei Stunden erklärt, wie er zu dem Job als Drogendealer gekommen war. Außerdem hatte er jedes Detail wiedergegeben, das ihm zu den Personen einfiel, die ihn zu Anfang kontaktiert und im weiteren Verlauf eingewiesen hatten.

Nachdem Sina und Gerhard den Verhörraum verlassen hatten, hatten sie sich angesehen und aus einem Impuls heraus abgeklatscht.

Jetzt musste Sina an Watzlawskis Worte von vorhin denken, an seine unterschwellige Drohung. Die erste Hürde hatte sie genommen. Wenn er jedoch weiter versuchen würde, sie derart unter Druck zu setzen, wüsste Sina nicht, wie sie mit ihrem neuen Vorgesetzten zukünftig umgehen sollte. Sie verdrängte den Gedanken und steuerte auf das Café neben dem Bahnhof zu, in dem sie mit ihrer Schwester zu einem kleinen Mittagssnack verabredet war.

Als sie an die Glastür trat, entdeckte sie Natascha in der hinteren Ecke. Sina winkte, stieß die Tür auf und ging auf ihre Schwester zu. Lächelnd rutschte sie auf die Eckbank und schälte sich aus Jacke und Schal. »Hi, tut mir leid, dass ich zu spät bin.«

»Haben dich die Bösen wieder in Beschlag genommen?« Natascha rührte in ihrem Kaffee. »Ich habe mir schon etwas bestellt.«

Sina nickte. »Kein Problem.« Sie signalisierte der Bedienung, dass sie ihr ebenfalls einen Kaffee bringen solle. »Ein Verhör hat länger gedauert als erwartet.«

»Ist das gut oder schlecht?« Natascha legte den Löffel auf die Untertasse.

»In diesem Fall gut«, erwiderte Sina. »In Hinblick auf meinen neuen Vorgesetzten sogar sehr gut.«

»Das verstehe ich nicht.« Natascha blickte sie fragend an.

In kurzen Sätzen berichtete Sina ihr von ihrem Gespräch vor wenigen Stunden.

»Was für ein Idiot!«, erboste sich ihre Schwester. »Was sagt Matthias denn dazu?«

Sina überlegte. »Ich habe ihm noch nichts davon erzählt. Erst war es ja nur ein Gefühl … Und jetzt … Ich habe Angst, dass er meint, mich verteidigen zu müssen.«

»Sina, du musst mit ihm reden!«, beschwor Natascha sie eindringlich. »Wenn dieser Watzlawski dir blöd kommt, brauchst du jede Unterstützung, die du nur kriegen kannst.«

Sina zuckte mit den Achseln. »Mal sehen. Ich denke darüber nach. Vielleicht warte ich aber auch erst ab, wie er sich weiter verhält.«

Die Bedienung kam, brachte Sinas Kaffee und nahm ihre Essensbestellung auf. Beide hatten sich für ein Käsesandwich entschieden.

»Aber jetzt zu dir, Süße«, wechselte Sina das Thema, als sie wieder allein waren. »Was macht die Jobsuche?«

Natascha verzog den Mund.

»Was? Hast du etwa immer noch nicht mit Jochen geredet?« Sina konnte es nicht glauben. Seit dem Vorfall im Juni zögerte ihre Schwester von Woche zu Woche das klärende Gespräch mit ihrem Ehemann hinaus. »Und sonst hast du auch noch nichts gesagt«, folgerte sie ernüchtert. »Natascha! Wie lange willst du denn noch warten? Jochen ist seit fünf Monaten wieder daheim.«

»Er ist … nicht mehr der Alte«, begann Natascha gedehnt. »Du weißt, dass er nie mit seiner Meinung hinter dem Berg gehalten hat. Wenn wir mit den Kindern beim Abendessen saßen, hat er immer etwas zu sagen gewusst, hat von seinem Tag erzählt, hat eine Anekdote aus seiner Kindheit zum Besten gegeben. Aber jetzt … Er sitzt zwar dabei, aber ich habe das Gefühl, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Dass er uns gar nicht mehr richtig wahrnimmt. Wie kann ich ihm da mit meinem Jobwunsch kommen?« Hilfesuchend sah sie Sina an.

»Vielleicht sollte er sich psychologische Hilfe suchen. Ein solcher Vorfall kann durchaus sehr einschneidend und beängstigend sein. Wenn er nicht allein darüber hinwegkommt, kann ihm ein Experte möglicherweise ein paar hilfreiche Hinweise geben.«

»Jochen und ein Psychologe«, entgegnete Natascha in verächtlichem Ton. »Das glaubst du doch wohl selbst nicht, dass er freiwillig zu einem Seelenklempner geht.«

Sina fasste nach der Hand ihrer Schwester. »Es geht auch um dich, um euch, um eure Familie. Um die Kinder.«

Natascha schloss kurz die Augen. »Seit … Juni, seit dem Vorfall haben wir nicht mehr …« Sie zog eine Grimasse. »Na, du weißt schon. Er berührt mich nicht mehr.«

Sina verdrängte die aufkeimende Verlegenheit. »Tut mir leid, Schwesterherz. Du solltest wirklich dringend mit ihm reden. Vielleicht braucht ihr beide Hilfe.«

»Eine Paartherapie? Niemals«, entgegnete Natascha bestimmt.

»Aber wie soll es denn dann weitergehen?«

Natascha schnaufte genervt. »Ich weiß es nicht. Ehrlich. Ich fühle mich so … hilflos. Einsam.«

Die Bedienung brachte die Sandwiches.

Sina und Natascha bedankten sich und begannen zu essen.

»Wenn ich ihm beichte, dass ich mit einem anderen … dass ich eine Affäre hatte …«, begann Natascha, nachdem sie fertig waren, »… das würde Jochen mir niemals verzeihen.«

»Wenn du es ihm weiter verschweigst, wird es immer zwischen euch stehen«, widersprach Sina. »Vielleicht solltet ihr aber wirklich erst wieder zueinanderfinden, bevor du … es ihm sagst. Und mit deinem Job … Wie lange hält diese Diskussion nun schon an, Natascha?«

Ihre Schwester blickte betroffen auf die Tischplatte. »Ich weiß. Es kommt gerade alles zusammen. Ich habe das Gefühl, dass unsere Beziehung noch nie so zerbrechlich war.« Sie sah wieder auf und Sina direkt in die Augen. »Ich weiß nicht einmal, ob Jochen mich noch wirklich liebt.«

Sina schluckte. Sie war seit zehn Monaten mit Matthias zusammen. Er lebte quasi bei ihr und Clara, und doch hatte er Sina noch nie gesagt, dass er sie liebte.

»Was ist?« Natascha schien ihr anzumerken, dass sie etwas beschäftigte. »Stimmt etwas mit Matthias nicht?«

Sina kaute auf ihrer Unterlippe, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, alles in Ordnung.«

Natascha legte den Kopf schief und betrachtete sie mit prüfender Miene. »Wirklich?«

»Ja, alles gut.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich muss gleich wieder zurück.«

»Lass uns zahlen. Ich begleite dich noch über die Straße.« Natascha verdrehte die Augen. »Als nichtarbeitende Mutter habe ich ja alle Zeit der Welt.«

»Natascha«, mahnte Sina sanft.

»Schon gut«, beschwichtigte ihre Schwester. »Manchmal hilft nur noch Ironie.«

Doch Sina wusste, dass die zunehmende Untätigkeit Natascha mehr und mehr zermürbte. Ihre Schwester war eine brillante Ärztin und sollte schnellstmöglich wieder in ihren Beruf zurückkehren. Als Hausfrau und Mutter war Natascha vollkommen unterfordert.

Als sie aus dem warmen Café auf den Bahnhofsvorplatz traten, wehte ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht. Sina schlang ihren Schal enger um ihr Kinn. Beim Überqueren der Straße hakte sich Natascha bei ihr unter.

»Bitte sprich mit Jochen«, beschwor Sina sie ernst. »Ich möchte, dass du endlich wieder glücklich bist.«

Natascha schenkte ihr ein bemühtes Lächeln. »Glücklich. Ja, das wäre schon etwas.«

Vor dem Eingang des Polizeireviers zog Sina ihre Schwester an sich und drückte sie. »Es wird alles gut.«

Als sie sich voneinander lösten, schimmerte es verdächtig in Nataschas Augen. Sina strich ihr über die rechte Wange. »Du schaffst das.«

Ihre Schwester nickte. »Grüß Matthias und Clara von mir.«

»Du auch. Gib Jonas und Nele einen dicken Kuss von ihrer Tante.«

Natascha drehte sich um und lief denselben Weg zurück, den sie eben gekommen waren.

Als Sina die Tür zum Revier öffnen wollte, bemerkte sie im Augenwinkel, wie sich ihr eine dunkelhaarige Frau im Rollstuhl näherte.

»Frau Engel? Sina Engel?«

Sina wandte sich überrascht um und begegnete dem Blick der Frau. »Ja?«

»Hallo«, setzte diese an. »Ich bin Nathalie Reuter.«

Matthias’ Ex-Freundin, schoss es Sina durch den Kopf. Matthias’ Ex-Verlobte, korrigierte sie sich sofort. Sie schätzte die Frau auf Ende dreißig. Das ebenmäßige Gesicht mit der schmalen Nase und den dunklen Augen passte gut zu Matthias’ Äußerem. Gereizt verdrängte sie den absurden Gedanken. Sina war mittlerweile seine Freundin, von Nathalie hatte er sich bereits vor Ewigkeiten getrennt.

»An Ihrer Reaktion erkenne ich, dass Sie wissen, wer ich bin.« Nathalie Reuter trug eine weiße Wollmütze zu einem weinroten Wintermantel. Schal und Handschuhe passten farblich zur Kopfbedeckung.

»Was wollen Sie?«, fuhr Sina sie ungehalten an.

Die Frau hob ihre Hände. »Ich möchte nur mit Ihnen reden. Sie sind doch jetzt mit Matthias zusammen, nicht wahr?«

Sina zählte stumm bis zehn. »Was wollen Sie von mir? Wenn Sie etwas mit Matthias zu klären haben, rufen Sie ihn bitte direkt an. Ich habe offen gesagt keine Lust auf ein Gespräch mit Ihnen.«

Sina biss sich auf die Zunge. Dass sie jemanden derart abbügelte, war gewöhnlich nicht ihre Art, aber zu oft schon hatte sie sich in den letzten Monaten über Matthias’ Ex-Verlobte geärgert, die immer wieder in den unpassendsten Augenblicken anrief, obwohl Matthias ihr hundertmal erklärt hatte, dass er keinen Kontakt zu ihr wünschte.

»Er redet nicht mit mir«, entgegnete Nathalie Reuter leise.

Ein Hauch von Mitleid wallte in Sina auf. »Dann kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen.« Erneut machte sie sich an der Tür zu schaffen.

»Bitte«, setzte Nathalie Reuter ein weiteres Mal an. »Vielleicht können Sie mit ihm sprechen. Es wäre mir wirklich wichtig, dass er mich anhört.«

Sina atmete tief durch und bemühte sich um Gelassenheit, obwohl ihr das Herz bis zum Hals pochte. »Tut mir leid, Sie reden mit der Falschen. Einen schönen Tag noch.«

Sie stieß die Tür auf und betrat fluchtartig das Innere des Gebäudes. Hilfesuchend fasste sie sich an die Kehle und bemühte sich um Ruhe. Was sollte sie tun? Was wollte diese Frau von Matthias? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm erzählte, dass Nathalie sie abgepasst hatte? Als sich ihr Puls wieder einigermaßen beruhigt hatte, stieg sie Stufe um Stufe die Treppe hinauf. Mit einem Schlag hatte sie das Gefühl, um Jahre gealtert zu sein.

Gereizt legte Sina das Handy auf den Schreibtisch zurück. Seit zwei Stunden versuchte sie vergebens, Matthias zu erreichen. Noch immer beschleunigte sich ihr Herzschlag, wenn sie nur an die Begegnung mit dieser Nathalie Reuter dachte. Was wollte die Frau hier? Tipps von Sina, wie sie ihren Ex-Verlobten zurückerobern konnte? Mach dich nicht lächerlich, ermahnte Sina sich im nächsten Moment. Matthias war mit ihr zusammen, sie waren glücklich, kümmerten sich gleichberechtigt um Sinas Tochter Clara. Woher kam also schon wieder diese Unsicherheit, die Sina eigentlich für überwunden gehalten hatte? Sie versuchte, die unangenehmen Gedanken abzuschütteln, und lenkte ihre Konzentration zurück zu dem Bericht, den sie über das Verhör von Leon Rudolf verfassen musste. Während sie auf die Buchstaben starrte, begann sich ihr Gedankenkarussell allerdings erneut zu drehen. Ein kurzer Blick auf die Uhrzeit zeigte ihr, dass ihr Arbeitstag nicht mehr allzu lange dauern würde. Sie sah zu dem Foto, das auf der Ecke des Schreibtischs stand. Darauf lachte ihr die damals knapp einjährige Clara an einem südfranzösischen Strand in der Nähe von Montpellier entgegen. Sina fuhr zärtlich mit den Fingern über das Bild. Ihre Tochter war das Wichtigste in ihrem Leben. Mit Dankbarkeit dachte sie an den dreiwöchigen Urlaub im September zurück, den sie mit Matthias und Clara in der Heimat seiner Mutter verbracht hatte. Es war Sinas erster Aufenthalt in Südfrankreich gewesen, und sie hatte die Region sofort in ihr Herz geschlossen. Die endlosen breiten Sandstrände, das vorzügliche Essen, die wunderbar bunten Märkte mit den verführerischen Düften, die beschaulichen Dörfchen im Landesinneren mit den verwinkelten Gässchen …

Ein Klopfen an der Tür riss Sina aus ihren Tagträumen. Sie fuhr sich über die Augen. »Ja?«

Marc trat ein. »Störe ich?«

Sina schüttelte den Kopf. »Ich hänge gerade an dem Bericht zu Rudolf und komme einfach nicht weiter. Mir geht so vieles durch den Kopf.«

Er runzelte die Stirn. »Gibt es Probleme?«

Sie schnaubte. »Nein, nein. Nicht wirklich.«

Er reckte ein Kuvert in die Höhe.

Sina hob die Brauen. »Was ist das?«

»Ein weiterer anonymer Brief«, erwiderte Marc in ernstem Ton.

»Nicht schon wieder«, stöhnte Sina genervt. »Für diesen Kindergarten habe ich jetzt wirklich überhaupt keine Zeit.«

»Soll ich mich darum kümmern?«, bot Marc sofort an. »Gerhard musste früher gehen, da er noch einen Arzttermin hat.«

Sina zögerte. »Eigentlich müsste ich diesen Bericht endlich fertigstellen.« Sie überlegte. »Ist er wieder an mich gerichtet?«

Marc drehte das Kuvert so, dass Sina ihren Namen darauf erkennen konnte. Seufzend bedeutete sie Marc, sich zu setzen. Routiniert zog sie erneut Handschuhe über und nahm den Umschlag entgegen. Vorsichtig löste sie die Klebekante und schlug die Lasche um.

»Mal sehen, um was es diesmal geht.« Sie zog das Papier hervor und faltete es auseinander. »›Mann oder Frau? Entscheide dich und hänge deine Antwort gut sichtbar ans Fenster. Du hast zwei Stunden.‹« Sinas Blick wanderte zu ihrem Bürofenster, das Richtung Bahnhof hinausging. »Was soll dieser Quatsch? Mann oder Frau? Was soll ich entscheiden?«

»Sollten wir besser Watzlawski informieren?«

Sina atmete tief aus. »Wozu? Um ihm diesen Kinderkram zu zeigen? Was will der Absender?«

Marc zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«

»Mann, ich habe keine Nerven für irgendwelche Kinkerlitzchen.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Haben wir schon ein Ergebnis wegen des ersten Briefs?«

Marc verneinte. »So schnell geht das nicht. Ich wusste auch nicht, dass es Priorität hat. Sonst hätte ich den Kollegen einen entsprechenden Hinweis gegeben.«

»Es hat keine Priorität«, bestätigte Sina. »Wäre ja noch schöner, wenn wir uns durch einen solchen Mist von unserer eigentlichen Arbeit abhalten ließen.«

Marc angelte sich den Briefbogen zurück und überflog ihn ebenfalls. »Wir müssen davon ausgehen, dass der Absender dich kennt, oder?«

Sina hielt inne. »Ich weiß es nicht. Es dürfte aber kein Geheimnis sein, wer hier arbeitet. Dazu benötigt es einen einzigen Anruf auf dem Revier.« Sie unterbrach sich. »Und was soll das mit den zwei Stunden?« Sie sah erneut auf die Uhr. »Kommt der Absender dann hier vorbei und sieht nach, ob meine Antwort am Fenster hängt?« Sie tippte sich an die Stirn. »Ich habe keinen Schimmer, was er damit bezweckt.«

»Sollen wir dieses Schreiben ebenfalls untersuchen lassen?« Marc deutete mit dem Kinn auf das Papier.

»Auf jeden Fall«, erwiderte Sina bestimmt. »Sicher ist sicher. Wer weiß, ob er uns in den nächsten Tagen nicht noch weitere Liebesbriefe schickt.« Sie lächelte schwach, obwohl sie sich absolut keinen Reim auf die Aktion machen konnte. »Sollte er uns weiter behelligen, werde ich Watzlawski informieren. Fürs Erste hoffe ich aber mal, dass das nur ein Scherz von Jugendlichen ist. Warten wir ab, ob sie sich erneut melden.«

»Alles klar.« Marc erhob sich. »Ich schicke es nach Heidelberg.«

»Danke dir, Marc.« Sina sah ihn an. »Ich muss jetzt unbedingt noch diesen Bericht fertig schreiben. Wenn du magst, kannst du dann Feierabend machen. Sicherlich hast du auch genug Überstunden angehäuft.«

Er grinste schief. »Frag nicht, Chefin.«

»Doch, ich frage«, widersprach sie ernst. »Geh nach Hause.«

»Danke. Schönen Feierabend.«

»Den wünsche ich dir auch.«

Nachdem sie wieder allein war, versuchte Sina ein weiteres Mal, Matthias zu erreichen. Doch wieder sprang nur die Mailbox an. Genervt begann sie, ihren Bericht fortzusetzen.

Als sie eine halbe Stunde später endlich fertig war, musste sie erneut an das anonyme Schreiben denken. Sina stand auf und trat ans Fenster. Draußen war die Dämmerung bereits hereingebrochen. Der Bahnhof sowie die angrenzenden Geschäfte und Cafés waren hell erleuchtet. Mindestens zwei Dutzend Menschen hielten sich vor dem Gebäude auf. Am Busbahnhof warteten unzählige Passanten darauf, nach Hause zu fahren. Befand sich der Briefeschreiber irgendwo dort unten unter ihnen?

Bei dem Gedanken daran, dass er sie möglicherweise just in diesem Moment beobachtete, überkroch Sina eine Gänsehaut. Hatte sie die Schreiben vielleicht zu Unrecht abgetan? Doch was hätte sie tun sollen? Keinesfalls durfte sie sich auf irgendwelche möglichen Psychospielchen irgendeines Verrückten einlassen. Noch immer ging sie grundsätzlich davon aus, dass es sich lediglich um eine Kinderei handelte. Eventuell auch um eine dumme Mutprobe oder einen Test, wie weit sich die Polizei manipulieren ließ. Ein ungutes Gefühl blieb jedoch bei der ganzen Sache zurück. Sina würde morgen früh noch mal mit Gerhard und Marc sprechen. Wenn die beiden der Meinung waren, Watzlawski müsse davon Kenntnis erlangen, würde sie in den sauren Apfel beißen und ihren Vorgesetzten informieren.

Heute Abend würde sie mit Matthias reden. Er musste Nathalie ein für alle Mal klarmachen, dass diese keinen Platz mehr in seinem Leben hatte. Und dass sie Sina ebenfalls in Ruhe lassen sollte.

Jetzt würde sie aber erst einmal Clara von der Kita abholen und kurz bei ihren Eltern vorbeifahren, da die sie um einen Besuch gebeten hatten, weil sie etwas mit ihr besprechen wollten. Wahrscheinlich ging es darum, dass sie nach wie vor der Meinung waren, sie sähen ihre Enkeltochter zu selten, seit Clara Oma und Opa nicht mehr täglich mit ihrer Anwesenheit beglückte. Irgendwie mussten sie eine Lösung finden, die alle zufriedenstellte. Da Sina Vollzeit arbeitete, konnte sie ihren Eltern auch nicht anbieten, Clara an den Wochenenden öfter zu beaufsichtigen. Die Stunden mit ihrer Tochter waren sowieso schon sehr rar gesät. Umso mehr genoss sie die gemeinsame freie Zeit mit Clara und Matthias. Vielleicht sollte sie sich nicht so viele Gedanken machen, ermahnte sie sich selbst. Entschlossen kehrte sie zum Schreibtisch zurück, fuhr den Computer herunter und holte ihre Tasche aus der Schublade.

Bevor Sina ihr Büro verließ, wanderte ihr Blick von der Uhr erneut zum Fenster. Wartete da draußen jetzt tatsächlich jemand auf eine Nachricht von ihr? Sie schob den Gedanken von sich, nahm ihre Tasche auf und schloss das Büro ab.

3

Als Sina die Kita betrat, spielte Clara mit einem anderen Mädchen in der Puppenküche. Lächelnd betrachtete sie ihre Tochter für einen Moment.

»Sie hat sich heute früh sehr schnell beruhigt, nachdem Sie weg waren.« Frau Nielsen, eine der Erzieherinnen, stellte sich neben Sina und folgte deren Blick. »Sie macht das ganz prima.«

»Das freut mich«, erwiderte Sina erleichtert. »Irgendwie ist es schon ein merkwürdiges Gefühl, sein Kind allein zurückzulassen, wenn es so unglücklich ist. Am liebsten würde ich sie dann wieder mitnehmen.«

Frau Nielsen nickte. »So geht es im Prinzip allen Eltern. Das ist auch ganz natürlich. Aber Clara fühlt sich hier wohl. Sie ist schon gut in der Gruppe integriert und fasst auch immer mehr Vertrauen zu uns Erzieherinnen.«

»Da fällt mir wirklich ein Stein vom Herzen«, bekannte Sina ehrlich und winkte ihrer Tochter, die gerade den Kopf hob und in ihre Richtung sah. Sinas Handy begann zu klingeln. Hastig zog sie es hervor und warf einen kurzen Blick aufs Display. Matthias! Sie schaltete den Ton stumm und steckte es wieder weg. Jetzt war beileibe nicht der richtige Zeitpunkt, um mit ihm über Nathalies Auftritt zu reden.

»Mama!«, rief Clara mit ihrer glockenhellen Stimme und stürmte auf ihre Mutter zu.

Sina ging in die Hocke und breitete die Arme aus. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Dankbar umarmte sie ihre kleine Tochter und sog den süßen Duft ihres weichen Haars ein. »Na, mein Schatz. War es schön?«

Clara sah mit großen Augen zu Frau Nielsen und nickte.

»Wir haben heute Schneeflocken gebastelt«, erklärte die Erzieherin und strich Clara übers Haar. »Morgen hängen wir sie dann auf. Du hilfst uns doch wieder, nicht wahr?«

Wieder nickte Clara eifrig und fuhr mit ihrer Zungenspitze über die Lippen.

»Das klingt aber spannend.« Sina erhob sich und nahm Claras Jacke vom Haken. Das kleine Mädchen streckte seine Arme aus und blieb ruhig stehen, bis Sina ihr Schal und Mütze angezogen hatte. »Dann sagen wir jetzt Tschüss und bis morgen.« Sie hob die Hand und schenkte Frau Nielsen ein dankbares Lächeln.

»Schüü…«

»Tschüss, Clara. Bis morgen. Einen schönen Abend für Sie, Frau Engel.« Die Erzieherin nickte ihnen noch einmal zu und kehrte dann in den Gruppenraum zurück.

Fünf Minuten später parkte Sina ihren Wagen vor dem Grundstück ihrer Eltern und drehte sich zu Clara um. »Wir gehen kurz zu Oma und Opa, ja?«

»Oma«, wiederholte Clara eifrig und klatschte in die Hände.

Lachend schnallte Sina sie ab und stellte sie auf den Fußweg. Dann schloss sie die Autotür, während sie mit der anderen Hand Claras linke umfasste.

»Sina.« Marion Engel schien ihre Tochter und Enkelin bereits gehört zu haben und trat aus der Haustür.

»Hallo, Mama.« Sina umarmte ihre Mutter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Da ist ja mein kleiner Schatz.« Marion Engel nahm Clara hoch und drückte sie fest an sich. »Wie war es denn in der Kita?«

»Neeflock.«

Marion Engel sah stirnrunzelnd zu Sina.

»Sie haben Schneeflocken gebastelt«, erläuterte diese lachend.

»Toll«, wandte sich ihre Mutter wieder an Clara. »Mal sehen, wann wir echte Schneeflocken bekommen.« Sie hob eine Hand hoch. »Die fallen dann vom Himmel herunter.«

»Unter«, brabbelte Clara fröhlich.

Sinas Mutter nickte. »Genau. Vom Himmel herunter.«

Sina folgte den beiden ins Haus und schälte sich aus ihrer Jacke, während ihre Mutter Clara auszog.

»Sina, Clara.« Hans Engel erschien in der Esszimmertür.

»Hallo, Papa.« Sina begrüßte ihren Vater und betrat hinter ihm die Wohnräume. »Ihr habt mich ganz schön neugierig gemacht.« Als sie den Blick registrierte, den ihre Eltern miteinander wechselten, zog sich ihr Magen zusammen. »Ist etwas passiert?«

Ihr Vater zeigte auf die Esszimmerstühle. »Setzen wir uns doch erst mal.«

»Ich dachte eigentlich, es ginge um Clara«, erwiderte Sina. Ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal rau und trocken an.

»Clara?« Ihre Mutter zog den Stuhl neben Sina hervor, setzte sich und platzierte Clara auf ihrem Schoß. »Warum um Clara? Was ist denn mit ihr?«

»Nichts«, beeilte sich Sina zu sagen. »Ich dachte nur …« Sie unterbrach sich. »Vergesst es. Was ist denn jetzt?«

Wieder sahen sich ihre Eltern an. Dann erhob sich Sinas Vater und schlurfte in die Küche. Nur Sekunden später kehrte er mit einer Schüssel mit einer klein geschnittenen Banane zurück. »Die habe ich gerade für dich vorbereitet, Clara.«

Der Mund ihrer Tochter verzog sich zu einem freudigen Lächeln. Sina streichelte kurz über ihre Schulter.

»Ich war letzte Woche beim Arzt«, setzte ihre Mutter nach einem kurzen Moment der Stille an. »Bei meiner Frauenärztin. Und sie hat …« Marion Engel schluckte.

»Was hat sie?«, warf Sina ungeduldig ein.

»Sie hat etwas in meiner Brust gefunden.«

Sina zog es den Boden unter den Füßen weg. »Was genau hat sie gefunden?«, presste sie leise hervor.

»Es kann ganz harmlos sein«, merkte ihr Vater an.

»Dann würdet ihr es mir nicht erzählen, oder?« Sina spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Krampfhaft kämpfte sie gegen den Drang an, in Tränen auszubrechen.

»Ich dachte, du solltest es wissen, Sina.« Ihre Mutter sah sie entschuldigend an. »Ich möchte dich nicht belasten, aber … Aktuell ist es noch zu früh, um etwas Verlässliches zu sagen. Bald weiß ich mehr.«