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Irgendwie hatte Andy sich das alles anders vorgestellt. Er lebt aus einem Koffer im Gästezimmer seines besten Freundes und wartet darauf, dass seine Karriere als Stand-up-Comedian endlich losgeht. Doch der Erfolg bleibt aus, seine Social-Media-Paranoia ist wenig hilfreich, sein Freundeskreis schwindet rapide und ihn beschleicht der Verdacht, dass er mit 35 Jahren längst viel weiter sein müsste. Vor allem aber ringt er darum, das dramatische Ende seiner Beziehung zu der einzigen Frau zu verarbeiten, die er je wirklich geliebt hat. Andy hat viel zu lernen, nicht zuletzt die Sicht seiner Ex-Freundin auf die Geschichte. Dolly Alderton erzählt warmherzig, witzig und klug vom Schmerz des Erwachsenwerdens, von den zwei Seiten einer jeden Geschichte, und davon, wie das, was uns am Ende doch nicht zerreißt, das werden kann, was uns zusammenhält. "So weise und anrührend und unglaublich witzig!" Lena Dunham
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Dolly Alderton
Am Ende ist es ein Anfang
Roman
Aus dem Englischen von Zoë Beck
Atlantik
Für Lauren Bensted, Königin meines Herzens
Verstreuen
Die Bilder hast du sicher schon gesehen: Wie Elefanten
die Knochen eines Artgenossen finden, am Wegesrand
und sauber abgepickt von Aasgeiern und
von der Sonne, dann dort gelassen, ohne Ordnung,
und wie sie dann beschließen, dagegen was zu tun.
Doch was genau? Natürlich können sie
die alte Elefantenpracht nicht mehr zusammenfügen,
nicht mal den Haufen besser ordnen können sie. Doch
mit dem Rüssel Knochen aufheben, das können sie, und
sie in diese, jene Richtung schleudern. Also tun sie es.
Und wirkt dieses Verstreuen nicht
wie ein Ritual mit Vorsatz, notwendig und uralt?
Schon ihre schiere Größe macht sie ja
zur Fleischwerdung des Kummers, während das Spiel der Rüssel
ihnen Sprezzatura schenkt.
Elefanten beim Enträtseln
des Anagramms der eigenen Anatomie,
Elefanten bei ihren abstrakten Klageliedern -
möge ihr Geist mich leiten, wenn ich meine eigenen
trüben Gedanken neu fasse: in hoffnungsvolle Arrangements.
Christopher Reid
Kann nicht tanzen. Hat überhaupt kein Rhythmusgefühl. Das fand ich anfangs noch hinreißend, bis ich gesehen habe, wie andere Leute über sie lachten, und ich sage es ungern, aber es war mir peinlich.
Einmal habe ich mitbekommen, wie sie zu meinem Cousin, der noch ein Teenager ist und Hilfe mit seinen Unibewerbungen brauchte, sagte: »Lass uns das demnächst mal bei ’nem Cappuccino besprechen.«
Ihre Ansichten darüber, was schick ist, sind generell ziemlich Neunziger, zum Beispiel Cocktails oder zwanzig Pfund für Tagliatelle in einem »netten kleinen Lokal« auszugeben.
Weigert sich, auch nur eine Minute früher als neunzig Minuten vor Abflug am Flughafen zu sein.
Muss sie nicht mehr davon überzeugen, unsere Wohngegend zu mögen.
Wenn sie abends laufen gehen wollte, kam sie vorher ins Wohnzimmer, machte vor dem Fernseher ihre Dehnübungen, fragte: »Was ist das?«, und ließ mich ihr erklären, was gerade lief, obwohl sie genau wusste, was es war, nur um mir unter die Nase zu reiben, dass sie Sport macht, während ich mir Hilfe, ich bin ein Messie! anschaue.
Sprach zu oft und zu selbstgefällig darüber, aus einer großen Familie zu kommen, als wäre es ihre Entscheidung gewesen, drei Geschwister zu haben.
Gab ständig damit an, dass sie wegen ihrer offensichtlich linken, antimonarchistischen Werte den britischen Verdienstorden ablehnen würde, wusste aber nie, warum man ihr den Orden laut ihrer Phantasie hätte verleihen sollen, wenn ich sie danach fragte.
Würde definitiv niemals den britischen Verdienstorden ablehnen, würde man ihn ihr anbieten.
Brauchte eine Stunde, um ins Bett zu gehen, ganz egal wann sie nach Hause kam, weil sie noch eine siebenstufige Hautpflegeroutine durchführte, sich durch Shopping-Apps scrollte und Podcasts hörte. Und trotzdem verließ sie morgens, nur zwanzig Minuten nachdem der Wecker geklingelt hatte, die Wohnung.
Kam bei mir immer zu spät, aber nie bei der Arbeit.
Kann nicht Auto fahren (kindisch).
Schaffte es irgendwie immer, den Plot von jedem Film, den wir uns ansahen, auf ihr eigenes Leben zu beziehen.
Ihre unerträgliche Schwester Miranda, die unsinnige, selbst gebastelte Schilder bei Demos hochhält, auf denen so etwas wie DIEGESCHICHTESIEHTUNSZU steht, und von der ich weiß, dass sie mich hasst, weil sie immer über »weiße Heteromänner« schimpfte, wenn sie zum Abendessen vorbeikam, ganz egal worum es ging. Lange Zeit sagte sie immer: »Sorry, Andy«, aber am Ende dann nicht mehr.
Ihre Freunde von der Arbeit: Langweilig und klüngelhaft, und weder sind sie lustig, noch hab ich Lust auf sie.
Das ganze Gerede, eine große Abenteurerin zu sein, was sie aber nie durchzog. Wollte ein Jahr freimachen, um zu reisen, weil sie nie ein Brückenjahr gemacht hatte (»nächstes Jahr«). Wollte nach Paris ziehen (»nicht der richtige Zeitpunkt«). Wollte sich einen Undercut schneiden lassen (»würden sie auf der Arbeit nicht gut finden«). Wollte zu einem Freiluft-Rave mit Sexmotto (»wenn mein Heuschnupfen besser ist«).
Geht jede Woche, seit sie neunundzwanzig ist, zur Therapie, wollte mir aber nie sagen, worüber sie dort sprechen, und ich habe nie bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmen würde.
Hatte eine zu enge Verbindung zu Hunden und redete mit ihnen, als wären sie Menschen.
Ihr unverschämter Vater.
Ihre seltsame Mutter.
Stammt aus einer Familie, die gern lange Rundwanderungen macht und Brettspiele spielt.
Auf nervige Art redselig und war zu Schulzeiten im Debattierclub, weshalb ich in vier Jahren keinen einzigen Streit gewonnen habe, obwohl ich ziemlich oft recht hatte.
Meckerte ständig an mir herum, weil ich Nägel kaue, an den Zehen herumknibbele, zu viele Nasen- und Arschhaare habe usw., obwohl sie selbst die ganze Zeit an ihrer Nagelhaut rumpickt.
Redet im Kino.
Tat so, als sei sie sich nicht sicher, ob sie Kinder will, weil sie sich um die Zukunft des Planeten sorgt, aber ich glaube, sie wollte einfach nur keine Kinder mit mir.
Sprach nie ernsthaft übers Kinderkriegen, obwohl sie weiß, wie sehr ich mir wünsche, Vater zu werden, aber sagte manchmal im Gespräch zu anderen Leuten: »Der steht auf der Liste meiner Babynamen.«
Zu den Babynamen gehörten: Noah, Blue (?) und Zebedee.
Snob. Sagte einmal, dass sie Leute, die auf dem Weg in den Sommerurlaub am Flughafen Strohhüte tragen, »provinziell« findet.
Blieb in Museen zu lange vor jedem Kunstobjekt oder Gemälde stehen und machte mich nieder, wenn ich zu schnell durch eine Ausstellung ging.
Einmal hab ich gesehen, wie sie im Britischen Museum ehrfürchtig einem WINZIGENJADELÖFFEL zunickte.
Sah sie nur ein paarmal in fast vier Jahren Beziehung weinen, und es war nicht, als wir uns trennten.
Einmal weinte sie, als wir eine Joni-Mitchell-Doku anschauten.
Hat mein Leben ruiniert.
An der Wäscheleine im Garten meiner Mutter hängen ein Pulli und ein Hemd, die so aussehen, als würden sie in der Brise Händchen halten. Ich stehe an meinem Schlafzimmerfenster und sehe dabei zu, wie sich ihr Zusammenspiel mit der Windrichtung verändert. Ich sehe bis genau 19:03 Uhr zu, dann nehme ich das Telefon und rufe die Frau an, die ich drei Jahre, zehn Monate und neunundzwanzig Tage lang geliebt habe und die mich vor acht Tagen und zweiundzwanzig Stunden verlassen und mein Herz wie eine widerspenstige Piñata zertrümmert hat.
Wir hatten verabredet, dass ich um sieben anrufe, aber ich warte bis drei Minuten nach, um ihr zu zeigen, dass nicht mehr sie die Ansagen macht. Ich scrolle zu ihrem Namen in meinem Adressbuch: Jen (Hammersmith). Das fanden wir lustig – meine auserwählte Lebenspartnerin, auf einen Stadtteil reduziert. Jetzt, da es seine Ironie verloren hat, ist es nicht mehr lustig. Es ist nur noch ein Fakt. Ich rufe Jen (Hammersmith) an, eine Frau, mit der ich wahrscheinlich niemals befreundet sein würde, die in einem Teil von London lebt, den ich nie aufsuchen würde.
»Hallo?«
»Hey«, sage ich, und meine Stimme bricht wie ein Dudelsack. »Hier ist Andy.«
»Ich weiß.«
»Hast du meine Nummer schon gelöscht?«
»Nein … Warum sollte ich deine Nummer löschen?«
»Ich weiß nicht, es ist nur, wie du dich gemeldet und ›Hallo?‹ gesagt hast, so förmlich, als würdest du in einer Zahnarztpraxis ans Telefon gehen.«
»Ich hab nicht ›Hallo?‹ gesagt, ich hab ›Hallo!‹ gesagt.«
»Nein, hast du nicht, du hast es wie eine Frage klingen lassen. Als wüsstest du nicht, wer anruft.«
»Ich wusste, wer anruft. Wir hatten eine Zeit ausgemacht.«
»Ich dachte nur, weil ich später als geplant angerufen habe …«
»Wir haben sieben gesagt«, sagt sie fröhlich. »Und ich kenne deine Nummer eh.«
»Warum?«
»Weil ich sie am Anfang immer wieder gelöscht habe, und dadurch habe ich sie zufällig auswendig gelernt.«
Ich denke an die Unterhaltung zurück, die wir in den ersten Monaten unserer Beziehung hatten, direkt nachdem wir einander zum ersten Mal gesagt hatten, dass wir uns lieben. Sie gab zu, meine Nummer jedes Mal zu löschen, nachdem ich ihr geschrieben hatte, damit sie nicht mehr meinen Namen auf ihrem Handy sehen und sich mit der Frage verrückt machen konnte, wann ich das nächste Mal schreiben würde. Wie machen sie das mit den Zeitreisen im Film? Ich würde alles tun. Mich aus großer Höhe hinabstürzen. Mir Stromschläge verpassen. In einen Schrank steigen und mich zehnmal um mich selbst drehen. Ich unterdrücke ein Schluchzen, und es klingt wie Schluckauf.
»Ach, Andy«, sagt sie.
»Mir geht’s gut«, sage ich und tröte wieder wie ein Dudelsack. »Wie ist es bei Miranda?«
»Schon okay. Im Gästezimmer ist jetzt das Baby, deshalb schlafe ich auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer, aber das ist in Ordnung.«
»Bist du von Protestschildern umgeben, auf denen ›Die Geschichte sieht uns zu‹ steht?«
»Nein«, sagt sie. Einer unserer Lieblingswitze, der zusammen mit unserer Beziehung erloschen ist. Wir durften ihn nur machen, als wir noch miteinander verbunden waren; als wir uns so nah waren, dass sich ihre Familie wie meine anfühlte, obwohl sie mich in den Wahnsinn trieb. Aber ich bin nicht mehr Teil von Jens Familie, wir spielen nicht mehr für dasselbe Team. Ich bin nur ein Mann aus den Midlands, der gemeine Sachen über ihre Schwester sagt und mit dem sie wahrscheinlich niemals befreundet sein würde.
»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragt sie.
»Es geht ihr gut, sie hasst dich, ihr Zumba-Kurs plant deinen Tod.« Eine weitere eisige Pause. »Sie ist offensichtlich am Boden zerstört.«
»Darf ich ihr einen Brief schreiben? Danach werde ich sie nicht mehr kontaktieren, versprochen. Ich will mich nur verabschieden.«
»Das würde ihr gefallen. Sie liebt dich über alles.«
»Ich habe nie eine Mutter wie deine Mutter kennengelernt.«
»Ich liebe dich über alles.« Noch mehr Stille. Ich nehme eine Zigarette aus der Schachtel und zünde sie an.
»Rauchst du?«
»Ja.«
»Tu’s nicht, Andy, du hast dir solche Mühe gegeben aufzuhören.«
»Mir doch egal«, blaffe ich und hoffe, wie ein romantischer Outlaw zu klingen. Ich inhaliere und spüre eine eigentümliche Behaglichkeit, als sich meine Lunge zusammenzieht.
»Ich habe auch wieder angefangen. Wenn du rauchst, kann ich ganz genauso gut eine rauchen.« Ich höre sie in ihrer Handtasche herumwühlen. »Schon seltsam, hier zu sein. Auf dem Boden zu schlafen. So viel zu rauchen und zu trinken, wie ich will. Niemanden zu treffen. Es fühlt sich an wie Weihnachten.«
»Wie Weihnachten?«
»Ja. Na ja, als würde meine Welt für eine Weile stehen bleiben.« Ich sage nichts. »Du weißt, was ich meine.«
»Nein, das weiß ich nicht. Weil es sich für mich wie das Gegenteil von Weihnachten anfühlt.«
»Was ist denn das Gegenteil von Weihnachten?«
»Keine Ahnung. Ostern? Der schlimmste Geburtstag, den ich je hatte? Meine eigene beschissene Beerdigung, nur dass ich dabei noch lebe?«
»Andy – können wir versuchen, die Hysterie zu vermeiden? Ich weiß, dass es schrecklich für dich ist, für mich ist es auch schrecklich. Aber es machen ständig Leute miteinander Schluss.«
»Hör auf, das zu sagen! Hör auf, dich auf ›Leute, die Schluss machen‹ zu beziehen, als wären wir eine YouGov-Umfrage oder ein Meinungsbeitrag.« Mein Stolz verbietet mir zu sagen, was ich eigentlich sagen will, nämlich dass »Ständig machen Leute Schluss« ein Gedanke ist, der nur diejenigen tröstet, die die Beziehung beendet haben. Sie sind nicht mehr verliebt und wollen sich deshalb nicht schlecht fühlen – ich weiß das, weil ich es selbst schon gesagt habe. Mir war nicht klar, wie sinnlos dieses Argument für die Person ist, die abgeschossen wurde.
»Meine Therapeutin hat etwas vorgeschlagen, was ich diese Woche machen werde, weil ich es hilfreich finde.«
»Deine Therapeutin hat vorgeschlagen, dass ich einen ›Brief an mein Ego‹ schreibe, also entschuldige, dass ich nicht darauf brenne, mir ihre Ratschläge anzuhören.«
»Willst du es hören oder nicht?«
»Sag.«
»Sie meinte, dass es am Ende einer Beziehung sinnvoll ist, eine Liste mit den Gründen zu erstellen, warum es gut ist, nicht mehr zusammen zu sein.«
»Ich kann so eine Liste nicht erstellen, weil ich will, dass wir zusammen sind.«
»Ich glaube nicht, dass du das willst.«
»Doch, das ist alles, was ich will.«
»Versuch doch wenigstens, diese Liste zu erstellen. Ich denke, es hilft dir dabei, deine Idee von uns von der Realität zu trennen, und ich glaube, tief in deinem Innersten weißt du auch, dass es nicht funktioniert hat.«
»Ich kann nicht glauben, dass du so abgebrüht bist«, sage ich. »So hab ich dich noch nie reden hören.«
»Ich versuche nur, uns beiden dabei zu helfen weiterzumachen.«
»Egal. Es hat keinen Zweck, weiter darüber zu reden.« Ich finde keinen festen Boden in dieser Unterhaltung. Ich schwanke zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit. Ich will, dass sie weiß, wie sehr ich sie liebe, und ich will gleichzeitig, dass sie denkt, mir würde unsere Beziehung nichts mehr bedeuten. Ich weiß nicht, welches Ergebnis ich mir wünsche. Hätte ich doch bloß nicht drei Bier getrunken. »Ich glaube, diese Telefonate bringen uns nicht weiter«, sage ich.
»Seh ich auch so.«
»Vielleicht sollten wir eine Weile nicht mehr miteinander reden.«
»Wenn es das ist, was du willst«, sagt sie.
»Es ist das, was ich will.«
»Okay«, sagt sie und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Hast du es Avi schon gesagt?«
»Nein.«
»Andy.«
»Ich sag es ihm, wenn ich so weit bin. Bitte. Ich hätte gern wenigstens ein winziges bisschen Mitspracherecht bei dieser Trennung.«
»Mit wem redest du?«
»Du bist die Einzige, mit der ich über diese Sache reden kann«, sage ich und fühle mich von der Unverblümtheit meiner eigenen Liebe abgestoßen. »Bitte sorge dafür, dass Jane es ihm nicht vor mir sagt.«
»Sie hat geschworen, dass sie es nicht tun wird, aber sehr viel länger kann sie nicht mehr durchhalten«, sagt sie. »Er ist dein bester Freund. Er kann dir helfen, es zu verarbeiten.«
»So funktionieren wir nicht, Jen, aber danke.« Es entsteht eine Pause, die ich abwarte, damit sie sie füllt. Was sie nicht tut. »Also dann, mach’s gut, ja?«, sage ich mit resignierter Fröhlichkeit. »Und wir schreiben einfach, wenn wir über Wohnungszeugs oder so was reden müssen.«
»Ja, klar«, sagt sie sanft. »Pass auf dich auf.«
»Ich liebe dich, Jen.« Ich kann hören, wie sie die Risiken abwägt, es ebenfalls zu mir zu sagen, während ihre Therapeutin auf ihrer Schulter hockt und etwas von Co-Abhängigkeit und Grenzen erzählt.
»Alles Liebe«, antwortet sie.
Ich lege auf.
Mum kommt mit zwei Bechern rein, und ich werfe meine Zigarette aus dem Fenster.
»Ich dachte, du rauchst nur, wenn du trinkst«, sagt sie, stellt einen Becher auf meinen Nachttisch und setzt sich auf die Bettkante, den anderen Becher in beiden Händen haltend.
»Ich habe schon drei Bier getrunken, und es ist nicht mal acht.«
»Das geht in Ordnung, unter diesen Umständen.«
Ich setze mich neben sie und nehme mir den Becher, den der Aufdruck Ich bin Aston-Villa-Fan, und alles, was ich bekomme, ist dieser lausige Becher! in weinroter Courier New schmückt.
»Der Tee schmeckt nach Marzipan.«
»Ich hab ein bisschen Disaronno reingetan«, sagt sie.
Ich lege den Arm um sie, und sie neigt sich zu mir und riecht an meinem T-Shirt.
»Stink ich nach Kippen?«
»Ja«, sagt sie und vergräbt ihr Gesicht in meiner Schulter. »Mein Gott, riecht das gut.«
»Jen will dir einen Brief schreiben. Ich habe ihr gesagt, dass sie das darf. Das war hoffentlich okay.«
Sie nickt. »Ich liebe Jen.«
»Mehr als mich?«
Sie denkt darüber nach. »Ein bisschen mehr als dich. Sie hat mir so wundervolle Kerzen geschenkt.«
»Na gut.«
Sie steht vom Bett auf und geht rüber zu dem silberblauen CD-Player, der vom jahrzehntelangen Gebrauch ganz zerkratzt ist. Sie öffnet eine Hülle und nimmt die CD raus.
»Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich hab dich gern um mich.«
»Danke, Mum.« Ein Klimpern und anschwellende Streicher wärmen den Raum. »Was hast du aufgelegt?«
»In the Wee Small Hours. Das beste Trennungsalbum aller Zeiten.« Sie setzt sich wieder zu mir. »Hör es dir jeden Tag an, bis es dir besser geht. Ich habe es pausenlos gehört, als dein Dad mich verlassen hat.«
Ich stelle mir vor, dass es meiner Mutter so ging, als ich gerade erst zur Welt gekommen war und ihr keinen Tee machen oder den Arm um sie legen oder ihr ein Album vorspielen konnte. Sie tätschelt mir den Rücken und hievt sich auf eine Art hoch, wie sie es immer tut, seit sie sechzig geworden ist. Die Stimme von Frank Sinatra, der Klang eines jeden Dezembers, tröstet mich sofort. Es ist eine Stimme, die einen an eine Parallelwelt voller Luxus und Eleganz und Romantik und Streichorchester glauben lässt.
»Es fühlt sich an wie Weihnachten«, sage ich.
»Gut!«, sagt sie fröhlich und schließt die Tür hinter sich.
Ich gehe zum Fenster und starre auf die Wäscheleine. Die Ärmel greifen abwechselnd nacheinander, während sie in der Luft tanzen. Alles ist ein Zeichen, seit sie weg ist. Alles ist ein weiterer Hinweis, der mir zu verstehen hilft, was geschieht.
Ich denke an unseren ersten Kuss vor ihrer Haustür.
Ich denke an unseren ersten Streit und unseren letzten Streit und jeden Streit dazwischen.
Ich denke an die ersten Geburtstagsgeschenke, die wir uns gekauft haben.
Ich denke an ihre Oberlippe und das Muttermal daneben und wie ihre Nase mit jedem Winkel, in den sie sich dreht, die Form zu verändern scheint.
Ich denke an die erste Nacht, die wir zusammen in unserer Wohnung verbracht haben: wie ich sie über die Schwelle geschleppt habe, die leeren Zimmer, thailändisches Essen, zu viel Rotwein, ein betrunkener Streit über die Notwendigkeit eines Zeitungsständers, wie wir kichernd auf dem Boden ficken.
Ich denke an die ersten sechs Monate, in denen wir ein gemeinsames Bett hatten, und wie sie auf meiner Brust in meinen Armen eingeschlafen ist und wir in exakt derselben Position aufgewacht sind.
Ich denke an die Form, die wir im Schlaf annahmen, wenn wir uns wohlfühlten. Rücken an Rücken, die Hintern berührten sich.
Ich denke an das erste Mal, dass ich sie zum Lachen brachte, und dass dieser Klang für mich auf ewig das beglückendste Geräusch der Welt sein wird, besser noch als das Lachen eines Publikums.
Ich denke an die Möglichkeit, dass ich sie nie wieder werde lachen hören, ihr nie wieder ein Geburtstagsgeschenk kaufen werde, nie mehr überlege, was ich ihr beim Lieferdienst bestelle, nie mehr ihre Geheimnisse höre oder ihre Augenlider küsse.
Ich mache mit dem Handy ein Foto von dem Pulli und dem Hemd, damit ich nicht vergesse, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden. Ich ziehe die Vorhänge zu und lege mich in das Bett, in dem ich schon als kleiner Junge geschlafen habe. Und dann weine ich und weine und weine und weine.
Einunddreißigste Geburtstage waren besser als dreißigste. Die dreißigsten waren symbolisch viel zu überladen. Symbolismus ist gut für eine Geschichte, aber schlecht für eine Party. Mit einunddreißig wussten wir, wo wir standen. Ein Kater pro Woche, Merinostrick, DIY, IPA – die frühen Dreißiger.
Es war der Geburtstag von Jane, der Freundin meines besten Freunds. Die beiden waren seit zwei Jahren zusammen, sie war schwanger mit ihrem ersten Baby, und ich war endlich offiziell zum Geburtstagsdrinksteilnehmer aufgestiegen. Der Pub lag im Zone-eins-Niemandsland – das Ergebnis des Versuchs, die Wohnorte und Anreisezeiten und Babysitter-Kosten von fünfundzwanzig Personen zu koordinieren. Man landet an einem Ort, an dem man sich üblicherweise niemals mit anderen treffen würde.
»ANDY!«, krähte Avi, als ich in den Pub kam, der nur von wenigen Leuten bevölkert war, die ich alle nicht kannte. »ÜBERBRINGERDERVIBES, BESITZERDERKIPPEN.«
»Alles gut, Kumpel?«, fragte ich.
»Kippen! Kippen! Kippen!«, skandierte er. Ich nahm eine Schachtel Marlboro Lights aus der Jackentasche und bemerkte die Frau zu seiner Rechten, die von seiner speziellen Fünf-Pint-Lockerheit stillschweigend amüsiert schien. »MEINBRUDER!«, plärrte er mir ins Ohr, hielt mein Gesicht in den Händen und küsste mir die Wange. »Was hab ich gesagt? Man kann sich immer drauf verlassen, dass Andy Kippen hat.« Er schnappte sich die Packung und zog eine raus.
»Darf ich?« Die Frau griff nach der Schachtel.
»Bitte«, sagte ich lächelnd. Sie trug Jeans und hohe Schuhe und Creolen. Ihr schulterlanges blondes Haar hatte sie hinter die Ohren geschoben. Ich wusste nicht mehr, ob Jeans und hohe Schuhe und Creolen schon immer meine Lieblingskombination an einer Frau gewesen waren oder ob es erst jetzt meine Lieblingskombination war.
»Oh, sorry«, sagte Avi. Sein Atem roch nach Bier. »Jen, das ist Andy, mein bester Freund. Andy, das ist Jen. Jen ist Janes beste Freundin.«
»Ach, wie nett«, sagte ich so daher. »Woher kennt ihr euch denn?«
»Von der Uni.«
»OXFORD!«, plärrte Avi. »Oxfordschnösel!«
»Ich kenne diese Laune, und sie ist deutlich zu früh«, sagte ich. »Du liegst in weniger als einer Stunde im Bett, wenn du jetzt nicht ein Glas Wasser trinkst.«
Avi verdrehte die Augen. »Andy ist ein Comedian.«
Jen schien ehrlich interessiert. »Ach wirkl–«
»Hey, was ist sogar noch unlustiger als ein Comedian?«, fuhr Avi fort.
Ich seufzte. »Keine Ahnung. Was ist unlustiger als ein Comedian?«
»Ein gescheiterter!«, sagte er, zeigte auf mich und schlug mir auf die Brust.
»Grandios«, sagte ich trocken.
Er ging mit der Zigarette in Richtung Tür, und Jen stand auf, um ihm zu folgen.
»Willst du was trinken?«, fragte ich sie.
Sie warf einen Blick auf ihr fast leeres Glas und zögerte. »Ähm …«
»Sag schon.«
»Na gut. Wodka Tonic, bitte. Danke.«
Während ich an der Bar auf die Getränke wartete, kam Jane mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
»Hey, herzlichen Glückwunsch!«
»Warum kann Avi nicht so groß sein?«, fragte sie und kuschelte sich an meine Brust. »Das passt so gut.«
»Weil Avi für immer volles Haar haben wird. Er kann nicht alles haben. Sonst wäre er noch nerviger.«
»Das stimmt«, sagte sie und trat zurück.
»Er wirkt etwas …«
»Oh, der ist dicht. Der liegt vor elf mit ’nem Döner im Bett. Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn sicher nicht nach Hause bringe. Wie geht’s dir?«
»Gut«, antwortete ich zerstreut. »Deine Freundin Jen.«
»Hast du sie schon kennengelernt?«
»Ja.«
»Sie ist die Beste.«
»Ist sie Single?«
»Immer. Für immer Single.«
»Echt?!«, sagte ich. »Das überrascht mich.«
»Warum?«
»Sie macht einen entzückenden Eindruck«, sagte ich.
»Du bist echt altmodisch, was?«, sagte sie mit einem Lächeln.
Avi trat durch die Tür, Jen folgte ihm.
»Av«, blaffte Jane. Wie ein gut abgerichteter Terrier wandte er sich ihr zu. »Komm mit, ich will dich wem vorstellen.«
»Wem? Ich kenn hier doch schon jeden beschissenen Langweiler«, lallte er und wedelte mit der Hand durch den Raum. Sie packte ihn am Arm und zerrte ihn weg. Jen setzte sich neben mich an die Bar.
»Danke«, sagte sie und griff nach ihrem Drink.
»Cheers«, sagte ich, nahm mein Pint und stieß mit ihr an, bereute aber sofort die förmliche Geste. Die Stille zwischen dem Anstoßen, dem ersten Schluck und dem Zurückstellen der Gläser wirkte unangenehm lang.
»Ich habe noch nie einen Comedian kennengelernt.«
»Einige meiner Kritiker würden behaupten, dass du das immer noch nicht hast«, antwortete ich.
»Also los, erzähl mir …«
»Sag es nicht.«
»Was?«
»Einen Witz. ›Erzähl mir einen Witz.‹«
»Das wollte ich nicht sagen!«
»Ach echt? Was wolltest du denn sagen?«
»Erzähl mir, wie du zur Comedy gekommen bist«, sagte sie.
Ich ließ sie bis ins letzte Detail auf mich wirken. Ihre riesigen, verträumten blauen Augen. Eine kleine Narbe zwischen ihren Brauen. Die goldblonden Nuancen, die ihr Haar durchzogen. Eine Nase, die mal klein, mal markant, mal gerade, mal leicht gebogen wirkte, je nachdem, wie sie den Kopf hielt.
»Was glaubst du, wie ich zur Comedy gekommen bin?«
»Hm«, sinnierte sie und nahm einen Schluck von ihrem Drink. »Du hast dich als Kind immer als Außenseiter gefühlt? Wusstest nicht, wer du wirklich bist? Hattest keine Ahnung, wie du dich mit anderen Jungs anfreundest oder Mädchen dazu bringst, dich zu mögen? Dann eines Tages dein Auftritt beim Krippenspiel, du hast allen die Show gestohlen und das gesamte Publikum zum Lachen gebracht. Und dann hast du gedacht: Ja! Aha! So bringe ich die Leute dazu, mich zu lieben.«
»Ich bin so ein Klischee, was?«, seufzte ich. »Was machst du?«
»Rate mal.«
»Tänzerin.«
Sie johlte vor Lachen. »Perversling.«
»Ich weiß, ich weiß, tut mir leid. Hm. PR.« Sie schüttelte den Kopf. »Publizistin.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Handtaschendesignerin.«
»Herrgott, das klingt, als hätte man einen Mann 1962 nach Jobs für Frauen gefragt. Katalogmodel? Make-up-Verkäuferin?«
»Du bist nun mal so …« Ich kam ins Stocken, als sie die Augenbrauen hochzog. »… schick.«
»Du kannst mich mal.«
»Gib mir ’nen Hinweis.«
»Okay, der Hinweis lautet …« Sie dachte ein paar Sekunden nach und trank dabei einen Schluck. »Ich bin überbezahlt.«
»Finanzen!«
Sie hob ihr Glas mit einem falschen Lächeln. »Versicherungen.«
»Wow.«
»Du musst nicht ›Wow‹ sagen«, sagte sie.
»Was versicherst du?«
»Schiffe.«
Ich nickte langsam, während ich es auf mich wirken ließ. »Dann bist du von der maritimen Sorte?«
»Nein.«
»Am Meer aufgewachsen?«
»Ealing.« Sie lachte. »Mein Vater hat dasselbe gemacht, ich vermute also, dass ich das Interesse von ihm habe.«
»Ah«, sagte ich. »Jemand wollte Dad beeindrucken.«
»Alle wollen ihren Dad beeindrucken«, sagte sie. »Das ist es doch, was all unsere Entscheidungen beeinflusst. Oder zumindest sagt das meine Therapeutin. Dein Job ist jedenfalls sehr viel interessanter!«, fügte sie mit neuem Schwung hinzu, vielleicht weil sie mein brodelndes Interesse daran spürte, worüber sie wohl in ihrer Therapie sprach.
»Mein Job ist gar nicht wirklich mein Job. Ich mache nur zweimal die Woche Stand-up.«
»Was machst du sonst?«
Ich atmete tief durch, um diesen kurzen Moment noch etwas auszukosten, in dem sie das Wort »Comedian« gehört und gedacht hatte, ich sei erfolgreich.
»Viele unterschiedliche Sachen. Ich moderiere Corporate Events. Ich leite Rollenspiele an Krankenhäusern. Ich verkleide mich als Jack the Ripper und mache historische Stadtführungen. Theaterworkshops an Schulen. Käse verkaufen am Marktstand eines Freundes. Zusammengenommen ergibt das ein erstaunlich annehmbares Einkommen.«
Sie sah mich prüfend an, suchte nach Sarkasmus oder Schwermut.
»Ich kenne niemanden wie dich«, sagte sie.
Der Abend ging noch ein paar Stunden so weiter. Wir gaben uns abwechselnd Drinks aus, gingen dabei aber nie auf ein halbes Pint oder einen Einfachen runter. Wir rückten die Barhocker immer enger zusammen. Wir fanden Gründe, uns zu berühren – sie schlug mir spielerisch auf den Arm, als ich sie aufzog, ich berührte ihren sanft, als sie über etwas Persönliches sprach. Sie wuschelte mir durchs Haar, als ich sagte, ich hätte Angst davor, eine Glatze zu bekommen; sie beugte sich zu mir, als ich ihr sagte, dass ich ihr Parfüm mochte, und an ihrem Hals roch (Armani She – sie hatte sich nie die Mühe gemacht, etwas anderes auszuprobieren, nachdem sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag eine Flasche geschenkt bekommen hatte). Wir wechselten binnen eines Satzes von zu großer Vertraulichkeit zu Neugier; mäanderten zwischen dem Gefühl alter Freundschaft und großer Fremdheit. Wir erzählten viel zu viel von uns und zogen uns dann zurück. Wir hatten Spaß an der Neuheit des anderen, überzeichneten uns zur gegenseitigen Belustigung (sie, die fauxhemian Konzernangestellte aus Westlondon; ich, der abgerissene Comedian, der nie genug Klopapier zu Hause hatte). Wir zogen unsere Unterschiede zu sehr ins Lächerliche und maßen den Gemeinsamkeiten zu viel Bedeutung bei. Wir flirteten uns in die Premier League. Wann immer jemand vorbeikam, um mit uns zu reden, fühlte es sich an, als würde unsere Partie unterbrochen. Ich wollte unbedingt meine ganze Aufmerksamkeit wieder auf sie lenken, und ich konnte spüren, dass es ihr genauso ging.
Wie erwartet saß Avi mit einem Kebab um halb elf in einem Uber nach Hause. Jen und ich schlichen uns kurz vor der letzten Runde davon, um uns ohne die anderen eine schreckliche Bar zu suchen. Zehn Pfund Eintritt, Stempel auf die Hand, Drinks aus weißen Plastikbechern, künstliche Orchideen auf dem Klo, minderjährige Mädchen, die zu Ja Rule tanzten, mittelalte Männer, die ihnen zusahen.
Wir saßen in einer Nische, das rote Kunstleder pellte sich von den Sitzen.
»WIE SIEHT BEI DIR DIE NÄCHSTE WOCHE AUS?«, schrie sie gegen Mambo No. 5 an.
»ICH FAHRE MORGEN NACH EDINBURGH«, plärrte ich zurück. »ICH TRETE DEN GESAMTEN AUGUST MIT EINER SHOW BEIM FRINGE FESTIVAL AUF.«
»WAS FÜR EINE SHOW?«
»SIE HEISSTNOHEAVYPETTING. ES GEHT UM MEINE ERFAHRUNGEN ALS BADEMEISTER IN EINEM FREIZEITCENTER.«
»HAT DIR DER JOB SPASS GEMACHT?«
»NICHT WIRKLICH, ICH HAB DAS NUR EIN PAAR MONATE LANG GEMACHT, UM ETWAS ZU HABEN, WORÜBER ICH DIESES JAHR FÜR EDINBURGH SCHREIBEN KANN.«
Sie konnte ihre Verwirrung nicht verbergen.
»WARSTDUSCHONMALDA?«
»SEITZEHNJAHRENJEDENSOMMER.«
»MACHTESSPASS?«
»NICHTWIRKLICH!«, rief ich, nippte an meinem Wodka Cola und tanzte im Sitzen, um mich von meinem Unbehagen abzulenken. »DIESES JAHR MACHE ICH DAS FREE FRINGE, WAS BEDEUTET, DASS ICH NICHTS FÜR DEN VERANSTALTUNGSORT BEZAHLEN MUSS, ABER ES BEDEUTET AUCH, DASS NIEMAND ZAHLEN MUSS, UM MICH ZU SEHEN. ICH MUSS NACH JEDEM AUFTRITT MIT EINEM EIMER HERUMLAUFEN UND UM SPENDEN BITTEN.« Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, und nickte unsicher. »ZIEMLICH PEINLICH FÜR EINEN EINUNDDREISSIGJÄHRIGEN MANN.«
»WARUM MACHST DU ES DANN IMMER NOCH?«
Ich wackelte mit dem Kopf hin und her und biss auf dem Strohhalm herum, während ich darüber nachdachte.
»LIEBE, DENKEICH«, rief ich schließlich, und meine Stimme überschlug sich, als Nellys Hot in Herre erklang. »UNERWIDERTE LIEBE.«
Sie warf mir einen sanften Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Mitleid? Erregung? Bewunderung? Belustigung? Abscheu? Alles zusammen?
»KOMM, WIRTANZEN«, sagte sie und schob ihren Hintern aus der Nische.
Sie konnte ums Verrecken nicht tanzen, und ich liebte es. Wäre Jen auch noch eine gute Tänzerin gewesen, hätte einfach zu viel für sie gesprochen. Ihre Selbstbeherrschung war schon genug; das schlechte Tanzen wirkte dem auf hinreißende Art entgegen. Die Kurven ihres Körpers und ihre stylische, lässige Kleidung ließen darauf schließen, sie hätte genauso viel Kontrolle über ihre Glieder und Hüften wie über Witz und Verstand, aber sie hatte absolut kein Rhythmusgefühl. Die Moves, die geschmeidig hätten sein sollen, waren holprig, und wenn sie im Takt hätte sein müssen, sah sie aus, als würde sie durch Sirup waten. Ich genoss den Umstand, dass es für einen Mann auf der Tanzfläche sehr viel leichter ist, die Gangschaltung auf neutral zu stellen, also trat ich von einem Bein aufs andere und bewegte Kopf und Schultern, als würde ich einen Knoten entwirren, hielt meinen Drink an die Brust und versuchte sehr angestrengt, nicht die Augen zu schließen oder ein sinnliches Gesicht zu machen, das den Eindruck erwecken könnte, ich würde mich in der Musik verlieren.
Das Grease-Medley und flackernde Oberlichter zeigten das Ende des Abends an, und ich scheuchte Jen aus der Bar, bevor sie die Schweißpfützen sehen konnte, die sich beunruhigenderweise um meinen Bauch herum auf meinem T-Shirt gebildet hatten.
»Wo wohnst du?«, fragte ich.
»Hammersmith.«
»Hammersmith? Krass.«
»›Hammersmith, krass‹«, gab sie zurück. »Wie aufmerksam. Von dir?«
»Ich wusste nicht, dass da Leute wohnen. Ich dachte, da gäb’s nur ’ne Autobahn und ein Theater.«
»Ein echter John Betjeman, das bist du.«
»Gib mir deine Nummer«, sagte ich. Ich gab ihr mein Handy, und sie tippte ihre Nummer ein. Ich speicherte sie unter »Jen (Hammersmith)«. »Wie kommst du nach Hause?«
»Bus.«
»Willst du Gesellschaft?«
»Wo wohnst du?«
»Tufnell Park.«
»Das ist meilenweit von mir entfernt.«
»Ich weiß. Ich schwöre, ich versuche nicht, mir eine Einladung in deine Wohnung zu erschleichen«, sagte ich. »Ich will nur weiter mit dir reden. Wenn du Lust dazu hast.«
»Okay«, sagte sie. »Ja, hab ich.«
Wir saßen auf dem Oberdeck und erzählten uns während der Fahrt Geschichten über Orte, an denen wir vorbeikamen. Pubs, in denen ich beim Open Mic gestorben bin, Bars, in denen sie schlechte Dates hatte. Jede Straße hielt eine weitere Adresse eines vergangenen schlechten Dates bereit. Ich versuchte, vom Ausmaß nicht überrascht zu wirken, aber insgeheim versuchte ich zu schätzen, wie viele Dates pro Woche diese junge Frau im letzten Jahrzehnt gehabt haben musste. Ich wollte wissen, wie und warum sie so lange allein war, aber ich wollte nicht voreingenommen oder langweilig erscheinen. Ganz egal, wie spät es wurde oder wie viel wir tranken, sie blieb so sicher und spielerisch und wortgewandt. Ich musste mir gewaltig Mühe geben, um mit ihr mitzuhalten. Mir war es peinlich, die betrunkenen Gedanken wie Scrabble-Steine aus meinem Mund purzeln zu sehen, und ich versuchte sie zu klugen Ausführungen zusammenzusetzen.
Wir gingen zu ihrer Wohnung und standen draußen auf den Stufen. Es war ein prachtvolles viktorianisches Gebäude mit Erkerfenstern und eigenem Tor und einer Hecke. Ihre Wohnung befand sich im ersten Stock und war, das betonte sie, die kleinste. Wir sprachen gedämpft und taten so, als würden wir nicht frieren. Nach ein paar Minuten herrschte zum ersten Mal an diesem Abend Stille zwischen uns.
»Hast du schon mal so lange gebraucht, bis du eine Frau geküsst hast?«, fragte sie.
»Nein, für mich ist das schnell. Ich habe manchmal Jahre gebraucht, um einen Annäherungsversuch einzuleiten.«
»Ah«, sagte sie und nickte. »Männer machen nicht mehr den ersten Schritt. Was ist mit ihnen geschehen?«
»Es liegt nicht an ihnen, es liegt an dir.«
»An mir?!«
»Ja, es ist deine Schuld, weil du so verdammt heiß und klug und witzig bist – wie sollte es da irgendjemand drauf anlegen, dich zu küssen, das wäre ja, als würde man versuchen … Tom Selleck zu küssen.« Sie hob die Augenbrauen. »Den jungen Tom Selleck«, korrigierte ich mich.
»Zwing mich nicht, es zuerst zu tun.«
»Werde ich nicht.«
»Ich will nicht den ersten Schritt machen müssen«, sagte sie.
»Wirst du nicht«, sagte ich.
Sie legte ihre Hände in meinen Nacken, zog mich an sich und küsste mich. Ich fühlte mich winzig und riesig zugleich. Als wäre ich ihr Spielzeug und ihr König.
»Zu spät«, sagte sie und küsste mich wieder.
Ich verspürte die euphorisierende Erleichterung, die sich einstellt, wenn man stundenlang seine besten Anekdoten präsentiert und die besten Witze gerissen hat, jedes Mal beim Gang aufs Klo an den Achselhöhlen gerochen und die Nasenhaare gecheckt hat und einem dann klar wird, dass es nicht umsonst war. Ich würde nicht die Pointe des Witzes sein, nicht heute Nacht. Ich hatte es nicht versaut. Sie stand auch auf mich.
»Ich wünschte, du könntest bleiben«, sagte sie.
»Ich kann bleiben.«
»Kannst du nicht«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Ähm …« Sie verzog ihr Gesicht, während sie nach einem Grund suchte.
»Du hast einen Freund«, sagte ich. »Einen riesigen … rudernden Hedgefonds-Manager. Namens Tristan. Er ist drinnen und schläft.«
»Nein«, sagte sie.
»Was dann?«
Sie seufzte. »Es gefällt mir gar nicht, dass ich das so deutlich sagen muss, Andy, aber ich will dich ganz dringend vögeln.«
»Aber?«
»Aber ich habe meine Tage.«
»Und?«, sagte ich. »Das ist mir egal. Ich finde alles an dir toll.«
»Du findest meine Periode toll.«
»Ich finde deine Periode toll«, wiederholte ich. »Überziehe mich damit, es stört mich nicht.«
»Du bist eklig.«
»Ich fahre also in sieben Stunden nach Edinburgh. Und ich muss einen ganzen Monat warten, um mit meiner Traumfrau was trinken zu gehen?«
»Ja«, sagte sie. »Bis dahin schreiben wir uns. Ich bin richtig gut im Schreiben.«
»Du musst eine Menge Zeit zum Schreiben haben, während du die ganzen Schiffe über Wasser hältst.«
»Du Blödmann.«
»Du Schöne.«
»Die Schöne und der Blödmann«, sagte sie. »Was für ein Märchen.« Wir küssten uns noch eine Weile.
»Ganz dringend, hast du gesagt?«
»Gute Nacht«, antwortete sie.
Ich hielt ihr Gesicht in meinen Händen und betrachtete es: der Blick getrübt, die Haut gerötet von zu viel Wodka, die Oberlippe rau und geschwollen, schwarze Make-up-Reste, die sich in den feinen Linien unter ihren Augen sammelten. Und doch so unfassbar hinreißend zu dieser späten Stunde.
»Sag mir ganz genau, wie dringend«, flüsterte ich und schob ihr sanft das Haar hinter die Ohren. »Ich glaube, ich muss es hören.«
»Gute Nacht«, wiederholte sie, drehte sich um und steckte den Schlüssel in ihre Tür.
Ich nahm zwei Nachtbusse nach Hause und lag um vier Uhr im Bett. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Bus nach Edinburgh zu meinem Monat beim Fringe. Die Show war scheiße. Irgendwie verlor ich Geld mit einem Programm, das nichts kosten sollte. Niemand kam, um es zu sehen. Alle, die es sahen, erkannten sofort die unglaubwürdige und dumpfe Prämisse. Die befreundeten Comedians, die es sich angesehen hatten, sagten: »Super, Kumpel«, und schauten in ihr Bier und wechselten das Thema, wenn ich sie hinterher in der Bar traf. In einer der Kritiken wurde verkündet: »Ich habe noch nie eine so beeindruckend schwache Comedystunde beim Fringe erlebt«, was ich für meine Flyer zu »Ich habe noch nie eine so beeindruckende … Comedystunde beim Fringe erlebt« verkürzte.
Jen und ich schrieben uns jeden Tag und telefonierten jeden Abend. Es war der glücklichste August, den ich je in Edinburgh hatte.
Schluchzen ist ein Beruhigungsmittel. Ich wache nach einem zehnstündigen traumlosen Schlaf auf, und ich benötige ein paar Sekunden weniger als gestern Morgen, um mich an meine neue Realität zu gewöhnen. Ich bin im Haus meiner Mutter, es ist nicht Weihnachten, Jen hat mit mir Schluss gemacht, praktischerweise genau vorm Erlöschen des Sonderkündigungsrechts in unserem Mietvertrag. Ihre Sachen sind weg und lagern in London ein. Mein gesamter Besitz ist jetzt ganz allein in unserer Wohnung. Mein Selbstmitleid geht sogar so weit, dass mir meine Zahnbürste und meine Plattensammlung und meine Hosen leidtun. Ganz allein in NW5, ohne die leiseste Ahnung. Sie wissen noch nicht, was ihnen blüht.
Instinktiv greife ich nach meinem Handy unter dem Kissen, um nachzusehen, ob mir Jen geschrieben oder mich angerufen hat. Hat sie nicht. Ich öffne Instagram, und der erste Kreis, der mir in den Storys angezeigt wird, ist Jen. Natürlich ist es Jen – dieses Handy kennt mich besser als jeder andere auf der Welt. Nie gab es einen schlimmeren Zeitpunkt dafür, dass all meine Algorithmen mein Innenleben besser verstehen als ich selbst.
Ich starre ein paar Sekunden lang auf den Kreis und wäge ab, ob ich mir die Story ansehen soll, rechne im Kopf den Verlust meiner Würde gegen das Erlangen neuer Informationen auf. In der Hoffnung, dass es sich bei der Instastory um einen Textblock auf Neonfarbverlauf handelt, in dem ihren vierhundertsiebenundsechzig Followern ganz genau erklärt wird, warum sie unsere Beziehung beendet hat, klicke ich sie an und verspüre eine Welle masochistischer Euphorie. Stattdessen ist es nur ein Foto von einem Park in der Nähe der Wohnung ihrer Schwester, gepostet um 06:47 Uhr morgens, einer Zeit, zu der sie, wie ich weiß, laufen geht. Ich sehe mir die Story viermal hintereinander an und koste den Umstand aus, dass es acht Uhr morgens ist und ich es schon versaut habe, weil sie weiß, dass ich aufgewacht bin und auf ihren Instagram-Account geschaut habe, also kann ich mich auch gleich in meiner eigenen Armseligkeit suhlen. Ich tippe mit dem Finger auf das Display, um die Story anzuhalten, und gehe ganz nah mit dem Gesicht an das Bild, um nach Indizien zu suchen. Sonnenschein auf dem Weg, ein blauer Himmel, ein bräunlich grüner Teich. Was kann ich daraus schließen? Welche Signale gibt es hier für mich? Warum hat Jen aufgehört, mich zu lieben?
Ich fahre mit einer Einkaufsliste von meiner Mutter in die Stadt. Ich glaube, sie hat die Nase voll davon, dass ich Trübsal blasend durchs Haus schleiche.
Während ich durch die Menge der Einkaufenden gehe, nehme ich Jen neben mir wahr, und mein Körper reagiert unwillkürlich. Schwindel, Herzrasen, Kurzatmigkeit. Armani She. Dafür, dass sie ein so weitverbreitetes Parfüm benutzt, soll sie in der Hölle schmoren. Warum hat sie mir das angetan? Jen, die ansonsten unglaublich pingelig bei jeder noch so winzigen ästhetischen Entscheidung oder einem Markendetail war. Jen, die im Auslandsurlaub nicht mal ein Panino am Flughafen kaufen würde, weil nur, was im Condé Nast Traveller empfohlen wurde, den Weg in unsere Münder fand. Jen, die unsere Wohnung mit Orientteppichen und Sandelholzzerstäubern und Gin mit Grapefruit-Aroma füllte. Die einzige Sache, bei der sie sich für Nachlässigkeit entschieden hatte, war die einzige Sache, die mich ewig verfolgen würde; die mich an ihre Haut und ihr Haar und ihre Kleider und ihr Bett erinnerte. Ich wende mich nach links, erwarte, sie dort zu sehen, aber da ist nur eine Fremde mit ihren Einkaufstüten, die in ihr Handy spricht und mich überhaupt nicht wahrnimmt.
Getrunken wird im Grand-Central-Einkaufszentrum in einer Prosecco-Bar. Normalerweise würde ich eher eine düstere Absteige mit Nischen und Barhockern und einem alten, bärtigen Barmann bevorzugen, der sich ein Handtuch über die Schulter geworfen hat und flüchtige Weisheiten übermittelt, aber es geht nicht anders. Ich sitze an einer beleuchteten runden Champagnerbar, umgeben von Mutter-Tochter-Dates und Freundinnen, die sich zu Shoppen und Schampus verabredet haben. Man sagt mir, dass es keinen Hauswein gibt, ich bestelle eine Flasche von dem billigsten Rotwein, den sie haben, und klinke mich wieder in einen Podcast über die KI-Apokalypse. Avi schreibt mir.
Alter. Wo zur Hölle bist du?
Die dritte in zehn Tagen, die ich ignoriere.
Ich kippe das erste Glas hinunter. Es schmeckt auf leeren Magen adstringierend und dann, nach der Hälfte des zweiten, ganz ausgezeichnet. Eine wohlbekannte schwarze Magie, die ihre Wirkung vom ersten Schluck an entfaltet. Und dann merke ich, wie ich in diesen anderen Daseinsbereich wechsle, diesen anderen Bewusstseinszustand: Ich fühle mich irgendwie ganz okay damit, dass es zwischen Jen und mir vorbei ist! Je mehr ich trinke, desto ruhiger werde ich. Ich finde mich mühelos mit den Fakten ab – mit Jen und mir hat es nicht geklappt. Na und? Wir sind doch ziemlich weit gekommen! Ich leere mein drittes Glas und schenke mir das vierte ein.
»Andy?« Ich drehe mich um und sehe Debbie, eine von Mums Freundinnen. Sie hat die Haare jetzt anders – weinrote kurze Igelstacheln. »Du bist es! Ach, mein Lieber. Sieh dich nur an. Deine Mum hat mir alles erzählt.«
»Hey, Deb«, sage ich und umarme sie. »Wie geht’s dir?«
»Wie geht’s DIR?«, fragt sie und packt mich am Arm. »Kümmere dich nicht um mich, wie geht es dir?«
»Gut. Es ist gerade alles etwas seltsam, aber mir geht’s gut. Ich komm damit klar.«
»Gut, dass du trinkst, ich freu mich, dich trinken zu sehen. Als Malcolm mich verlassen hat, hatte ich morgens um elf meinen ersten Drink. Wie schläfst du? Schläfst du schlecht?«
»Eigentlich ganz in Ordnung …«
»Ja, es ist ein Auf und Ab«, sagt sie. »Hör zu. Wenn ich dir eins sagen kann, dann das: Du musst sie WEGWISCHEN.« Sie macht eine energische Wegwischbewegung mit der Hand, als wische sie mit einem Lappen über ein Autofenster. »WEGWISCHEN. Das ist die einzige Möglichkeit, um darüber hinwegzukommen. Wisch sie aus deinem Leben, wisch sie aus deiner Erinnerung.«
Wir plaudern noch eine Weile, aber das wenigste davon bleibt bei mir hängen, weil ich eine Idee habe. Als wir uns verabschieden, habe ich wirklich den Eindruck, dass Debbie eine sehr enge Freundin ist, und ich nehme mir ganz fest vor, dass ich das nächste Mal, wenn ich nach Hause komme, mehr Zeit mit ihr allein verbringen werde.
Boots ist von Neonlicht geflutet, was meinen Rausch noch offensichtlicher macht. Ich werfe beim Eintreten einen Werbeständer für schnell einziehende Sonnencreme um, und als ich mich vorbeuge, um alles aufzuheben, verliere ich den Halt und stolpere über einen Einkaufskorb. Ich begebe mich direkt in die Parfüm-Abteilung, vorbei am Meal-Deal-Kühlregal, und ziehe die Aufmerksamkeit einer nett wirkenden Verkäuferin auf mich.
»Entschuldigung«, sage ich. Sie dreht sich um und schenkt mir ein warmes Lächeln. »Haben Sie vielleicht Armani She?«
»Ich kann nachsehen«, antwortet sie strahlend. »Kommen Sie mit.«
»Danke –«, ich werfe einen Blick auf ihr Namensschild, »Sally.«
»Sehr gern. Dann schauen wir mal. Hmmm.« Sie späht in den Glasschrank. »Ah, ja. Hier ist es. Armani She.« Sie reicht mir die zylindrische Flasche.
»Wie viele haben Sie davon?«
»Auf Lager?«
»Ja.«
»Moment.« Sie bückt sich, um eine Schublade zu öffnen, und zählt nach. »Wir haben hier vier Flaschen.«
»EINPACKEN!«, sage ich und schlage mit der Hand aus Spaß auf die Theke, was deutlich mehr Lärm macht, als ich erwartet habe. Sally zuckt überrascht zusammen.
»Sie wollen eine Geschenkverpackung?«
»Nein, tut mir leid, nur eine Tüte, bitte.«
»Wunderbar«, zwitschert sie, begibt sich hinter die Verkaufstheke und scannt die Flaschen ein. »Kaufen Sie die heute als Geschenk?«
»Ja.«
»Wunderbar. Für wen?«
»Freundin.«
»Vier Flaschen! Wie großzügig.«
»Es ist das einzige Parfüm, das sie benutzt.«
Sie scannt das Krabben-Majo-Sandwich ein. »Wissen Sie schon, dass dieses Essen und ein Getränk Teil des …«
»Meal-Deals sind, ja. Zwei Meal-Deals, bitte.«
»Wahnsinn, vier Flaschen Parfüm UND Meal-Deals!« Sie schmunzelt kunstvoll. »Kann ich Sie gegen meinen Ehemann eintauschen?! Ich habe zu Weihnachten dreißig Pfund in einem Umschlag bekommen, und letztes Jahr zum Valentinstag einen Oberschenkeltrainer!«
Ich lache jetzt auch mit. Ich lache und lache und lache und lache und bezahle 159,14 Pfund und frage mich, wer deprimierter ist, ich oder Sally.
Der Kanal ist dreckiger, als ich ihn in Erinnerung habe. Ich war nicht mehr hier, seit Avi und ich nach der Schule herkamen, um Joints zu rauchen. Ich warte, bis keine Leute mehr auf dem Treidelpfad sind, um den richtigen Song für eine ordentliche Zeremonienstimmung aufzulegen, aber irgendwie ist nichts ein echter Treffer. I Will Survive ist theoretisch filmreif, aber viel zu camp für diese Szene, als ich die ersten paar Sekunden spiele. Eminem verleiht dem Moment eine jugendliche Nostalgie, aber während ich mich durch jeden Track von The Marshall Mathers LP klicke, fühlt sich alles zu wütend an. Unerklärlicherweise entscheide ich mich für Sultans of Swing von den Dire Straits, zünde mir eine Zigarette an, nehme die erste Flasche aus meiner Tüte und werfe sie ins Wasser. Ich schließe die Augen und hebe das Gesicht zum Himmel, versuche mich an einer erleuchteten Erkenntnis oder wenigstens einer geglückten Metapher über das Aussenden von Dingen ins Wasser, auf dass sie auf ihre eigene Reise gehen, aber es kommt nichts. Ich höre Stimmen in der Ferne und entdecke zwei Gestalten, die in meine Richtung kommen, also stülpe ich die Plastiktüte um und kippe die drei übrigen Parfümflaschen in den Kanal. Im Weggehen versuche ich, ein Triumphgefühl heraufzubeschwören. Vier potenzielle Gelegenheiten weniger für mich, Jen zu riechen. Das war eine phantastische Idee.
Ich wusste gar nicht, dass das Sun and Lion morgens um zehn öffnet. Ich verlasse das Haus auf der Suche nach einem Café mit WLAN, als meine Mutter zur Arbeit geht, weil ich nicht noch einen Tag auf dem Sofa liegend zubringen kann, ein Auge auf dem Laptop, das andere auf dem Fernseher. Ich gehe an dem Pub vorbei und sehe, dass die Türen offen sind. KOMMDOCHREINAUFEINFRÜHSTÜCK steht auf dem Schild an der Tür. Warum nicht, denke ich. Warum verdammt noch mal nicht. Genau dort will ich sein – in dem warmen, gemütlichen Mantel der Vergangenheit. In Gesellschaft meines Teenager-Ichs, das mich an so etwas wie Hoffnung und Jugend erinnern kann und daran, wie es ist, wenn man weiß, dass man lauter neue Erfahrungen noch vor sich hat.
Ich verzichte auf das englische Frühstück und bestelle stattdessen Spiegeleier auf Toast, dazu Würstchen, Bacon, gebackene Bohnen und Pilze. Ich öffne den Laptop und lege die letzten Planungsdetails fest, damit ein Transporter mein ganzes Zeug am Wochenende aus der Wohnung holen und in das Lager bringen kann, das ich auf unbestimmte Zeit gemietet habe. Ich öffne WhatsApp und sehe mir die letzte Nachricht an, die mir Avi geschickt hat.
OMGHÖRAUF mich zu ignorieren ich seh doch dass du die ganze zeit online bist alter
Ich ignoriere sie und öffne meine Unterhaltung mit Jane.
Hi Lil J
Sie geht sofort online und fängt an zu tippen.
Hey Big A, wie geht’s dir? Xxx
Frühstücke im Pub, ich lass das mal so stehen. Wie geht’s dir?
Gut. Hast du schon mit Avi gesprochen?
Er versucht die ganze Zeit, dich zu erreichen.
Nein, noch nicht. Beste, ich muss dich um nen Gefallen bitten. Und du darfst nein sagen.
Ich höre?
Ich hebe den Blick zu der hohen holzgetäfelten Decke des Pubs. Würde nicht Cricket auf dem Flachbildschirm laufen und ein alter Mann mit einem Glas undefinierbarem braunem Hochprozentigen in der einen Hand und einem Pint Guinness in der anderen an der Bar sitzen, könnte man fast glauben, der Ort besäße Würde. Ich drücke die Augen fest zu und atme tief ein.
Wäre es irgendwie möglich, dass ich ne Weile bei dir und Av unterkomme?
Natürlich. Du kannst bleiben, so lange du willst.
Danke danke danke. Und ich kann auch mit den Jungs helfen, kein Problem.
Sag das nicht, du wirst es bereuen.
Pah. Hab dich lieb, Jane.
Ich dich auch.
Ich lege das Handy mit dem Display nach unten ab und räuspere mich. Eine weitere Entscheidung für das Begräbnis von Jens und meiner Beziehung ist gefallen. Ich konnte es noch eine Weile vor mir herschieben, während ich bei meiner Mutter war, aber jetzt kann ich nicht länger so tun, als würde es nicht geschehen. Transporter gebucht, Lagereinheit gebucht, vorübergehendes Zuhause gefunden. An einem einzigen Morgen hatte ich die Blumen, den Leichenwagen und die Beerdigung organisiert.
Eine junge blonde Frau bedient mich an der Bar.
»Was darf’s für dich sein?«, fragt sie.
Ich denke über die Konsequenzen nach, die es mit sich bringt, wenn ich meinen ersten Drink des Tages auf eine Zeit verlege, die definitiv nur als Vormittag bezeichnet werden kann.
»Na gut, ich nehme ein Pint Guinness«, antworte ich.
»Ein Pint Guinness?«, fragt sie unbeeindruckt.
»Ja.«
»Alles klar, kommt.« Ihr Lächeln zeigt keine Spur von Mitleid oder Sorge. Ihre grünen Augen sind hell und wach. Sie erinnert mich an jemanden, aber mein Hirn lässt mich nicht die Akten durchblättern, die mir verraten könnten, an wen.
Nach dem vierten Pint haben all meine Spotify-Playlists die Bedeutung verloren, die ich während der vorherigen Pints noch in ihnen sah.
Ich bin zu unkonzentriert, um noch weiter zu arbeiten oder zu organisieren. Ich gehe zu den offenen Tabs in meinem Handybrowser und hoffe, einen halb gelesenen Artikel aus dem New Yorker vorzufinden, aber stattdessen ist da:
Jennifer Bennett Facebook
Jennifer Bennett LinkedIn
Die 30 lustigsten Comedians aus UK
Jennifer Bennett Twitter
Billigste Lagerräume in London
Um seine Stirnglatze aufzuhalten, aß dieser Mann einen Monat lang nur Papaya. Du wirst schockiert sein, wenn du siehst, was dann geschah
Ich öffne den Verlauf mit Avis Nachrichten aus den letzten zwei Wochen, die ich alle nicht beantwortet habe. Ich tippe rasch etwas, und bevor ich es mir anders überlegen kann, sende ich es.
Hab dich lieb Alter
Ich bestelle ein großes Glas Rotwein, um das Hinscheiden dieses Tags zu begehen. Mein Handy macht ein Geräusch – eine neue Nachricht von Avi.
wtf was stimmt nicht mit dir hast du ne Diagnose im Endstadium oder was
nein warum?
erst ghostest du mich wochenlang und dann schreibst du dass du mich lieb hast wtf
Sorry ich trinke bier im sun and lion und da musste ich an unsdenken daas is tAlles
Warum bist du dort?? Mit wem??
Zu Hause bei Mum
OK aber mit wem im pub
Allein
wow krass. Wie lang bist du schon dort??
Eine Weile
OK ich kapier grad gar nix aber J sagt wir sehen dich am Wochenende?
Ja das wird schön
Ich warte darauf, dass er eine Antwort tippt, aber er geht offline. Die Barfrau mit den vertrauten Gesichtszügen kommt rüber, um mein leeres Glas abzuräumen.
»Nicky!«, jaule ich. »An sie erinnerst du mich!«
Sie schaut mich verständnislos an. »Wer ist Nicky?«
»Sorry, ich versuch schon die ganze Zeit drauf zu kommen. Du siehst vom Gesicht her fast genauso aus wie meine erste Freundin, Nicky. Sie war so alt wie du, als wir zusammen waren.«
»Ah, okay«, sagt sie höflich.
»Ich war natürlich auch so alt wie du!« Sie lacht mit. »Ich glaube, sie hat sogar hier gearbeitet! Ja genau!«, sage ich und befinde mich jetzt voll und ganz in einer Unterhaltung mit mir selbst. »Sie hatte hier einen Wochenend- und Sommerjob hinter der Bar! Wahrscheinlich erinnerst du mich deshalb an sie.«
»Ich glaube, ich hab einfach ein Allerweltsgesicht«, schlägt sie lächelnd vor.
Als ich gehe, prostet mir der alte Mann zu.
Nicola war die einzige gute Trennung, die ich je hatte. 2000–2002. In der Schule kennengelernt, unsere Jungfräulichkeit aneinander verloren, Schluss gemacht, bevor wir an die Uni gegangen sind, was Gott sei Dank das Jahr war, in dem O von Damien Rice rauskam, zu dem ich volle zwei Wochen geheult habe. Was ihre tatsächliche Zeitspanne betrifft, war es meine kürzeste Beziehung, aber sie fühlt sich immer noch dreimal so lange wie jede andere Beziehung an, die ich seitdem hatte.
Ich laufe ziellos herum und denke an Nicky. Es ist schon seltsam, wenn man bedenkt, dass wir alles, was wir über romantische Liebe und Sex wissen, zuerst voneinander gelernt haben und trotzdem nicht miteinander reden. Ich weiß, dass sie wieder hier wohnt, verheiratet ist und ein Kind hat. Wir liken gegenseitig unsere Fotos auf Instagram und gratulieren uns zum Geburtstag, wenn wir dran denken. Als ich sie auf Facebook suchen will, um ihr eine Nachricht zu schicken, stirbt mein Handy – an leerer Batterie und Erschöpfung, weil es den ganzen Tag lang mein einziger Begleiter war. Ich stehe an der Straße, überlege, wie ich sie kontaktieren kann, und stelle fest, wie erbärmlich nutzlos ich bin, wenn ich kein funktionierendes Smartphone habe.
Ich finde eine Telefonzelle, werfe Kleingeld ein und wähle Nickys alte Festnetznummer.
»5901?«, zwitschert eine weibliche Stimme.
»Hallo – MrsAinsley?«
»Am Apparat.«
»Hi, hier ist Andy.« Ich erlaube mir eine Pause, um die Bedeutung des Gesagten einsickern zu lassen.
»Andy …?«
»Andy Dawson.«
Ich warte auf eine Äußerung freudigen Wiedererkennens. Nichts.
»Entschuldigung, da müssen Sie mir helfen, der Name sagt mir gar nichts.« Sie kichert, obwohl ich nicht wüsste, was daran besonders lustig sein sollte. »Andy Dawson«, sagt sie und sinniert über meinen Namen, als wäre er ein Hinweis in einem Kreuzworträtsel.
»Ich war mit Ihrer Tochter Nicky zusammen. Ist schon länger her. Wir sind noch zur Schule gegangen.« Es vergehen einige Momente.
»Ach ja! Andy. Puh, das müssen jetzt, was, zwanzig Jahre sein?«
»Siebzehn, ja. Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut, vielen Dank. Sie rufen doch sicher wegen Nicky an?«
»Ja! Ich bin für eine Weile wieder zu Hause und wollte fragen, ob sie Lust hat, sich mit mir zu treffen, aber ich glaube, ich habe gar nicht ihre aktuelle Nummer.«
»Das würde sie sicher gern, soll ich ihr etwas ausrichten?«
»Könnten Sie sie bitten, mich anzurufen? Meine Nummer ist dieselbe wie damals.«
»Natürlich.«
»Ich danke Ihnen sehr, MrsAinsley.«
Als ich vorm Haus von Avis Eltern stehe, macht sich der Kater vom Tagsüber-Trinken bemerkbar, der immer am späten Nachmittag einsetzt und in den vergangenen Wochen zu einem wiederkehrenden Merkmal geworden ist. Ich will wirklich mit Avi reden, aber ich kann irgendwie nicht mit ihm reden, deshalb glaube ich, dass mir eine Tasse Tee mit seinen Eltern, die immer noch zwei Straßen von meiner Mutter entfernt wohnen, geben könnte, wonach ich mich sehne. Ich will einfach nur gemütlich mit Leuten zusammen sein, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne. Ich will, dass sie mir von ihrem Urlaub erzählen und vom Rasenmäher seines Dads und liebevoll über alles lachen, was Avi zu einem hoffnungslosen Fall macht.
Ich klingle, und nichts passiert. Ich versuche es noch einmal, aber wieder reagiert niemand. Ich klopfe sehr laut an die Tür, weil mir einfällt, dass seine Mutter nicht mehr so gut hört, aber es kommt keine Antwort. Ich kritzle etwas in mein Notizbuch, reiße die Seite aus und stecke sie in den Briefschlitz.
Als ich wieder im Haus meiner Mutter bin, gieße ich mir einen Gin ein, merke dann erst, dass wir kein Tonic haben, und mische ihn stattdessen mit einer Waldbeerenlimonade. Ich lade mein Handy im Wohnzimmer auf und schalte den Fernseher rechtzeitig für eine Gameshow ein, bei der Haustierbesitzer um einen Geldpreis wetteifern, indem sie raten, was ihr Haustier denkt, was von einer Tierpsychologin bestätigt oder verneint wird. Mein Handy klingelt – ich werfe mich quer über das Sofa und krabble über den Teppich, in der Hoffnung, Jens Namen zu sehen, aber stattdessen ist es eine unbekannte Nummer.
»Hallo?«
»Andy«, sagt eine klare weibliche Stimme. »Hier ist Nicky.«
»Hi, Nicky, hey! Wie geht es dir?«
»Gut, danke. Meine Mutter hat gesagt, du hättest versucht, mich zu erreichen?«
»Ähm, ja.«
»Wie …« Ich kann hören, wie sie nach der höflichsten Formulierung für Was zum Teufel willst du sucht. »Was gibt’s?«
»Oh, nichts. Kein Notfall oder so was, tut mir leid, wenn es so rüberkam.« Ich mache eine kleine Pause und warte, dass Nicky sie mit überschwänglichen Aussagen darüber füllt, was es doch für eine wunderbare Überraschung ist, von mir zu hören, und lustigerweise hat sie letztens erst an mich gedacht, aber nichts dergleichen kommt. »Tut mir leid, ich merke gerade, dass das Ganze ziemlich … überraschend wirken muss. Ich wohne im Moment für eine Weile bei meiner Mutter.«
»Ah, wie geht es ihr?«
»Gut! Sie wird älter, aber das werden wir ja alle.« Ich lache wissend.
»Grüß sie von mir, falls sie sich überhaupt noch an mich erinnert.«
»Natürlich erinnert sie sich an dich«, sage ich.
»Also, warum wolltest du mit mir reden?«
»Ich wollte fragen, ob du Lust hast, mich zu treffen, aber dann war mein Handy leer. Und ich wusste noch deine Festnetznummer auswendig. Nach so vielen Jahren. Ist das nicht verrückt?!«
»Es ist nicht mein Festnetz, sondern das von meinen Eltern.«
»Und wo wohnst du jetzt?«, frage ich und leite über zu nettem Geplauder.
»Nicht weit von ihnen. Mit meinem Ehemann und meinem Kind.«
»Ja, natürlich, tut mir leid. Ich bin natürlich nicht davon ausgegangen, dass du noch bei deinen Eltern wohnst! Wie auch immer«, ich trällere diese drei Wörter, »ich bin noch bis Samstag hier und dachte, wir könnten vielleicht Mittag essen oder Kaffee trinken oder sogar ein Glas Wein …«