Am Felsensprung - Johanna Spyri - E-Book

Am Felsensprung E-Book

Johanna Spyri

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Beschreibung

Feieli und ihr Bruder Jos verstehen sich sehr gut. Sie ist sehr zart und kränklich und er hilft ihr, wo er kann. Die Familie ist sehr arm, und so ist es klar, dass Jos keine Lehre machen kann. Feieli, das immer schwächer wird und weiss, dass es bald sterben muss, sieht plötzlich einen Weg, ihrem Bruder zu helfen...

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Johanna Spyri

 

Am Felsensprung

 

 

Erzählung für Kinder

vom Leben und Sterben

 

 

 

 

 

 

 

Basel, 2016

[email protected]

 

1. Beim Holzlesen

Der ›Schneerücken‹ heißt ein hoher Berggrat, der auf der einen Seite in ein liebliches Tal mit grünen Wiesen und reich belaubten Fruchtbäumen, auf der anderen Seite in tiefe, felsige Schluchten herabschaut, wo der schäumende Wetterbach durchrauscht. Er kommt von dem grauen Gletscher herunter, den man hoch zum Himmel ragen sieht. Und so wild und gewaltig stürzt dieses Bergwasser daher, daß es unten in der Schlucht an den Felsstücken, die ihm im Wege liegen, hoch aufspritzt und mit furchtbarem Tosen über die niedrigeren Steinblöcke hinwegfließt. Am lautesten tost und schäumt der wilde Fluß an einer Stelle, wo einst die gewaltigen Felstücke sich von dem hohen Berggestein losgemacht hatten und heruntergestürzt waren. Diese hemmen nun den Lauf des Wassers so sehr, daß es sich einmal schäumend zwischen ihnen durchzwingen und einmal hoch über sie hinwegfluten muß. Dieser Ort heißt: »Am Felsensprung«.

In diese einsame Bergschlucht hinein, wo kaum eine Menschenstimme vernommen werden kann wegen des unausgesetzten Tosens und Donnerns des wilden Wassers, hatten doch Menschen ihre Häuser gebaut. Hart an dem hohen Felsen stand ein Häuschen mit kleinen Fenstern und einem Schindeldach, auf dem große Steine die Schindeln festhalten mußten, damit der Wind sie nicht wegblase. Da wohnte Josef der Flößer mit seiner Familie. Seinen Zunamen hatte er von seinem Handwerk her. Er mußte die großen Holzstücke überwachen, die weiter oben in den Wetterbach geworfen wurden. Sie sollten abwärts schwimmen, bis sie beim großen Staatsgebäude, das unten im Tal lag, ans Land gezogen wurden.

Oft blieben die Blöcke hinter den hohen Steinen im Fluß hängen, oder sie wurden an das Land geschwemmt und blieben im Gesträuch liegen. Dann mußte der Flößer sie wieder flott machen, damit sie weiter schwimmen konnten. Am Ufer machte er das mit den Händen, wenn er sie dabei auch manchmal an den scharfen Felsen blutig rieb. Mußte er aber die Holzstücke mitten im wirbelnden Wasser freimachen, dann nahm er die lange Holzstange mit dem eisernen Haken zur Hand. Er sprang draußen im Fluß von einem Stein auf den anderen, und wo ein Stück Holz festsaß, wurde es von dem eisernen Haken ergriffen und weitergestoßen. Die Arbeit des Flößers war mühsam und manchmal auch recht gefährlich. Und was er dabei verdiente, war gerade so viel, daß er kümmerlich mit seiner Frau, der fleißigen Marthe, und seinen vier Kindern leben konnte.

Oberhalb des Flößerhauses, kaum hundert Schritte entfernt, war noch ein Häuschen. Das klebte wie ein Vogelnest am Felsen und war so klein, daß nicht mehr als zwei Personen darin wohnen konnten. Es lebte nur noch eine darin, die alte Mutter Silvia. Sie wurde von allen so genannt, die sie kannten und je gekannt hatten. Die Mutter Silvia saß fast immer in ihrem kleinen Stübchen und spann ihren Flachs. Hatte sie dann nach Tagen ihre Arbeit vollendet, so bereitete sie sich auf ihre große Reise vor. Sie mußte den hohen Schneerücken besteigen und auf der anderen Seite ins Tal hinabwandern bis zu dem großen Dorf, wo die schönen steinernen Häuser standen und der Kramladen war. Dorthin trug sie ihre schön gesponnenen Stränge und bekam ihr Geld dafür, von dem sie lebte. Woher der Flachs kam, den sie nachher spann, wußte man nicht, denn die Mutter Silvia hatte kein Feld, sie besaß nichts, als ihr Stübchen und ihr Kämmerlein. Aber irgendwoher kam der Flachs, denn die Mutter Silvia spann immer wieder.

Diese zwei Häuschen waren weit und breit die einzigen menschlichen Wohnungen. Zu den Häusern und der kleinen Kirche auf dem Schneerücken hatte man mehr als eine Stunde weit in die Höhe zu steigen. Der Herbst war gekommen und hatte früh schon rauhe Tage mitgebracht. Dort unten am Felsensprung war es auch immer früher kalt und rauh, als oben an den sonnigen Berghängen. Denn die Sonne ging früh hinter den hohen Felsen unter, dann wurde es gleich feucht und kalt in der Schlucht. Über den Felsen im Gehölz sauste der Wind durch die alten Tannen und Lärchenbäume und schüttelte ihnen die Blätter und Nadeln herunter.

Ein kräftiger Junge, der unter den Bäumen das dürre Holz zusammenlas, schaute von Zeit zu Zeit um sich, als müßte er jemand bewachen. In einiger Entfernung ging ein schmales, blasses Mädchen von Baum zu Baum und verrichtete dieselbe Arbeit. Jetzt ließ es die Zweige aus seiner Schürze auf den Boden fallen und lehnte sich, als ob es Schutz suchte, an einen Tannenbaum. Jetzt hob der Junge den Kopf.

»Feieli«, rief er hinüber, »fürchtest du dich, weil der Wind die Bäume so schüttelt?«

»Nein, nein«, rief das Mädchen zurück, »aber ich kann fast nicht atmen, der Wind läßt mich nicht und macht mich auch so müde.« Das Kind war noch bleicher geworden und setzte sich am Baum nieder.

»Laß nur alles liegen, Feieli, und tu gar nichts mehr, ich will schon alles selbst machen«, rief der Bruder nun in beschützendem Ton, »ich will schon genug zusammenbringen, damit die Mutter zufrieden ist, das sollst du jetzt gleich sehn.«

Und der Junge raffte nun mit solchem Eifer seine Holzstückchen unter allen Bäumen zusammen, daß er in kurzer Zeit einen ganzen Haufen aufgeschichtet hatte. Jetzt stand er neben dem sitzenden Feieli, aus dessen schmalem, farblosem Gesichtchen zwei große dunkle Augen voller Liebe zu ihm aufschauten, während er sich den Schweiß trocknete.

»Du mußt immer doppelt arbeiten, Jos, weil ich so wenig tue«, sagte das Kind wehmütig, »wenn ich nur bald stärker würde.«

»Das ist ganz gleich, und einmal wirst du schon stärker, wenn du groß bist«, tröstete der Bruder. »Aber komm, Feieli, jetzt habe ich Holz genug, wir wollen noch ein wenig dort sitzen, wo man das Wasser kommen sieht.« Damit zog Jos das Feieli vom Boden auf und hinter sich her bis zum Rand des Felsens, von wo man den schäumenden Wetterbach schon eine Strecke weit daherstürzen sah. Hier setzten sich die Kinder unter die verwitterte uralte Tanne, deren langen Äste über die Felswand niederhingen.

 

Jos und Feieli waren des Flößers älteste Kinder. Sie waren bald nacheinander zur Welt gekommen und wurden beide dem Vater nach benannt. Aber ihre Namen wurden so abgekürzt, wie sie jetzt gerufen werden. Der elfjährige Jos sah breit und kräftig aus und war gerade das Gegenteil von dem zehnjährigen, zartgebauten Schwesterchen. Ihr hätte man wohl drei Jahre weniger als dem stämmigen Bruder gegeben. Jos ging, so oft es die Arbeit des Vaters erlaubte, die er schon an manchen Tagen zu verrichten hatte, zur Schule auf den Schneerücken hinauf. Und dann freute er sich, denn er hatte viel Freude beim Lernen. Am liebsten hätte er alles [...]