Dori - Johanna Spyri - E-Book

Dori E-Book

Johanna Spyri

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Vaters ziehen Dori und ihre Mutter fort aus Cavandone. In Schuls in Graubünden, der Heimat der Mutter, richten sie sich in der Nähe von Verwandten ein. Die Familie hat wenig Verständnis für Doris Wissbegier und Freude am Lernen. Freunde findet das Mädchen in dem alten Gärtner Melchior und dem freundlichen Dr. Strahl. Trotz allem Drängen der Verwandtschaft lehnt Dori den Heiratsantrag ihres Vetters ab und beschließt, ihren eigenen Weg zu gehen: Mit der Mutter kehrt sie in die alte Heimat zurück und beginnt, Pflegekinder aufzunehmen. Dort trifft sie Dr. Strahl wieder, der nach dem Tod seiner Frau seine Söhne in ihre Obhut gibt. Mit den Jungen verbindet Dori bald ein inniges Verhältnis, und auch der Doktor ist immer noch tief beeindruckt von der intelligenten jungen Frau.

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DORI

von

Johanna Spyri

Doris Freud und Leid

Ein Menschenkind, das alle froh macht

Inhalt:

Nun wird alles anders

Der neue Gast

Frohe Stunden

Eine schwierige Entscheidung

Dori gewinnt ein Kinderherz

Endlich wieder im Süden!

Wenn Dori nicht wäre…

Der fremde Vetter

Ein gutes Zwiegespräch

Dori findet ihr Glück

Nun wird alles anders

Von Cavandone, dem kleinen Dorf, das sich an den waldbewachsenen Monte Rosso schmiegt, führt an alten Kastanienbäumen und rauschenden Bergwassern entlang der Weg nach Suna hinunter. Auf halber Höhe steht ein weißes Kirchlein, von dem aus man einen herrlichen Blick über den blauen See genießt.

Dort stand an einem sonnigen Morgen der deutsche Maler Maurizius und schaute schweigend auf das dunkelblaue Wasser.

„Willst du denn gar nicht malen heute?“, fragte die kleine Dori den Vater verwundert.

Der Maler wandte sich einen Augenblick ab, packte seine Geräte zusammen und sagte dann zu Dori: „Komm, wir gehen zur Mutter. Ich muss mit ihr sprechen.“

Der Maler eilte mit seinem Kind den Berg hinan, als müsste er schnell ausführen, was er sich vorgenommen hatte. Auf der Terrasse des kleinen Hauses, das auf einem Felsvorsprung erbaut war, saß die Frau des Malers bei ihrer Arbeit.

Eben kam der Vater mit Dori heran. „Erwin“, rief seine Frau entsetzt, „wie siehst du aus! Oh, du bist krank!“

„Mir ist nicht recht wohl“, entgegnete der Maler. „Du musst dich aber nicht so aufregen, liebe Dorothea. Ich werde mich ein wenig hinlegen, dann wird’s besser werden.“

Kurze Zeit später saß Frau Dorothea am Bett ihres Mannes. Es ließ sich nicht mehr verbergen, dass ihr Mann viel kränker war, als er selbst zugeben wollte. Dori musste fortgeschickt werden, den Arzt aus Suna zu holen.

Aber der Doktor konnte nicht mehr helfen. Als der Abendschein in die stille Stube hineinglänzte, kniete Frau Dorothea am Bett ihres Mannes und hatte ihren Kopf auf seine gefalteten Hände gelegt Das Kind neben ihr weinte, denn es verstand wohl, dass der Vater für immer seine Augen geschlossen hatte.

Eine Woche war dahingegangen, seit in dem kleinen Haus die große Trauer eingekehrt war. Die Mutter saß auf der Terrasse und nähte. Von Zeit zu Zeit wischte sie eine Träne fort Dori saß neben ihr und strickte. Voller Sorge fragte nun das Kind: „Mutter, kannst du nie mehr zu weinen aufhören?“

„Ach, Kind“, entgegnete sie verzagt, „wir sind ja nun ganz und gar verlassen.“

„Aber es geht uns nicht allein so“, meinte die Kleine verständig. „Gewiss geht es vielen Menschen noch viel schlechter ab uns. Denk nur an die Nachbarin! Gleich will ich hinlaufen! Vielleicht kann ich ihr ein wenig helfen.“

Die Mutter hatte nichts dagegen, dass Dori zu der alten Maja gehen wollte. Und das Kind rannte davon.

Bei der Alten musste heute etwas Besonderes vorgehen. Sonst war es immer so still um das kleine Haus herum. Jetzt hörte Dori schon von weitem einen fürchterlichen Lärm. Das Mädchen machte die Tür auf. Am Herd stand die alte Maja. Auf der einen Seite hing ihr ein blasser Junge am Rock. Auf der anderen Seite blies ein kleiner stämmiger Kerl so gewaltig ins Feuer, dass die Funken flogen und als schwarze Asche ins Essen niederfielen. Daneben hockte schreiend ein kleines Mädchen.

„Warum hast du alle Kinder bei dir?“, fragte Dori.

„Ach, du weißt noch nichts“, jammerte die Alte, „ihr habt ja selbst genug Kummer! Meine Tochter Maria ist gestorben. Und da hat es der Beppo nicht mehr aushalten können. Er hat mir die Kinder gebracht und ist fortgelaufen. Er sagte, er könne da nicht mehr leben, wo die Maria gestorben ist.“

„Kann man denn da gar nichts machen?“, erkundigte sich Dori ernsthaft.

„Ich weiß es nicht“, sagte Maja erschöpft „Da ist der Giacomo, der steht mir ständig im Wege und ist ganz verstockt. Der Benedetto richtet lauter Schaden an, und die Kieme hat gar keine Vernunft Sie ist so schnell wie ein Wiesel und läuft mir ständig davon, oder aber sie schreit weil die Brüder sie ärgern.“

Dori berichtete zu Hause der Mutter. Frau Dorothea seufzte und meinte: „Mich wundert nur, dass auf dieser Welt überhaupt noch ein Mensch fröhlich sein kann.“

„Aber Mutter, du warst doch früher auch fröhlich mit uns!“ erinnerte Dori.

„Das ist für immer vorbei“, entgegnete sie mutlos.

Dori überlegte Tag und Nacht. Dann hatte sie einen Einfall. Der Vater hatte sie selbst unterrichtet, und sie hatte viel gelernt, viel mehr als die Kinder bei dem alten Lehrer dort unten in Suna, dem die langen Ferien im Sommer das Wichtigste waren. Im Winter ließ er die Schule außerdem oft ausfallen, denn bei dem hohen Schnee kamen die Kinder von den verstreut liegenden Dörfchen doch nicht durch. Und wenn die Eltern ihre Kinder im Frühjahr und im Herbst in ihren Weingärten zur Arbeit brauchten, fiel es gar nicht weiter auf, wenn eins nie einen richtigen Unterricht genoss.

Den meisten Kindern bereitete dieser Umstand gewiss keinen Kummer. Aber Dori konnte gar nicht begreifen, dass es Menschen geben sollte, die nicht in der Lage waren, die vielen schönen Bücher zu lesen, die der Vater besaß, dass Leute nichts von dem lieben Gott und nichts von der schönen und bunten weiten Welt erfahren würden.

Nun konnte die alte Maja die Kinder in den Ferien ohnehin nicht in die Schule schicken, um sie für ein paar Stunden des Tages loszuwerden. Und was im Herbst werden würde, wusste noch niemand. Warum sollte Dori den Enkelkindern der alten Maja also nicht das beibringen können, was sie selbst von ihrem Vater gelernt hatte? Die Großmutter würde ihre Ruhe haben, und die Kinder hätten auch noch einen Gewinn.

Frau Dorothea fand diesen Vorschlag gut, weil sie wusste, dass auch ihr Mann ihn gutgeheißen hätte. Die alte Maja war hocherfreut, nicht so die Kinder selbst.

Die erste Unterrichtsstunde fing nicht so an, wie Dori es sich gedacht hatte. Giacomo stellte sich in eine Ecke und schaute Dori mit finsteren schwarzen Augen an, rührte sich aber nicht von der Stelle. Detto machte Purzelbäume, statt sich an den Tisch zu setzen, und Marietta schoss wie ein Kreisel hin und her.

Dori sah ein, dass Schiefertafel und Griffel die drei nicht anzulocken vermochten. So versuchte sie es zuerst einmal mit einer Geschichte. Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Enkel der Maja freiwillig herbei. Und als Dori ihnen die schönen Bilder in dem großen alten Buch zeigte, waren sie sogar bereit, sich artig an den Tisch zu setzen.

Dori erzählte eine zweite Geschichte. Aber da begann Giacomo zu schluchzen: „Die hat uns die Mutter auch immer erzählt.“

„Oh, du armer Giacomo“, sagte Dori und fasste den Jungen um. „Ich weiß schon, wie dir zu Mute ist. Mein Vater kommt auch nie wieder…“ Und nun brach das Mädchen ebenfalls in Weinen aus. Giacomo hatte Doris Hand erfasst und hielt sie fest. Nun hatte er jemanden gefunden, der wusste, wie ihm ums Herz war. Zum ersten Mal seit dem schrecklichen Tag, da die Mutter die Augen geschlossen hatte, fühlte Giacomo das schwere Gewicht, das auf seinem Herzen lag, etwas leichter werden.

Sobald Dori am nächsten Tag in Sicht war, kam Giacomo ihr entgegengelaufen. Aber auch Detto und Marietta kamen freiwillig herbei. Es dauerte gar nicht lange, da fanden die beiden Buben doch Gefallen daran, etwas zu lernen. Die fünfjährige Marietta brauchte noch keine Buchstaben zu schreiben und Wörter zu lesen. Dafür konnte sie bald mit Buntstiften und vor allem mit Nadel und Faden umgehen.

Die Großmutter war zufrieden wie lange nicht mehr. Endlich konnte sie wieder einer Arbeit nachgehen und wirklich etwas schaffen.

Dori war so erfüllt von ihren Erfolgen, dass sie die Mutter durch ihren Eifer richtig mitriss. Zum ersten Mal, seit Dorothea ihren Mann verloren hatte, lächelte sie wieder und ließ Anteilnahme erkennen, die sie sonst für nichts mehr gezeigt hatte. Sie willigte auch ein, dass die drei Schüler zum Unterricht in ihr Haus kommen durften, weil es bei der alten Maja gar zu eng war.

Und so klang durch das still gewordene Haus wieder fröhliches Lachen.

*

Die Zeit ging dahin. Schon mehrmals waren Briefe an Dorothea aus ihrer Heimat gekommen, bald von der einen, bald von der anderen Base. Jedes Mal wurde sie aufgefordert, nun wieder zu den Verwandten in der Heimat zurückzukehren und nicht mit dem Kind allein im Ausland zu bleiben. Noch hatte Frau Dorothea sich nicht entschließen können, den Ort zu verlassen, wo sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Dori hatte erst recht nichts vom Weggehen wissen wollen, denn ihre Heimat war ja das Haus in Cavandone.

Aber eines Tages, als wieder ein Brief gekommen war, sagte die Mutter zu ihrer Tochter: „Ich habe mich immer vor diesem Augenblick gefürchtet, den ich schon lange kommen sah. Ach, seit dein Vater nicht mehr da ist, wird es mir so schwer, etwas zu entscheiden. Er wusste immer gleich, was zu tun war. Wenn du wüsstest, wie schwer mir das Herz ist, Dori. Doch ich glaube, wir müssen zurück in die Schweiz. Ich habe oft daran gedacht, dass du nun Religionsunterricht haben und konfirmiert werden müsstest, wie die Basen schreiben. Und was sie von dem Erbteil erwähnen, ist auch zu beachten. So, wie es jetzt ist, geht es nicht weiter. Ich habe aufgebraucht, was noch da war. Und es wird mir weniger schwer, wenn ich daran denke, dass dein Vater ebenfalls meinte, du müsstest auch meine Heimat kennenlernen.“

„Hat denn Vater deine Heimat und deine Verwandten gekannt?“, wollte Dori wissen.

„Ja, Kind, unsere Berge liebte er wohl und auch den Urgroßvater, der vor kurzem gestorben ist. Er konnte stundenlange Gespräche mit ihm führen. Die Basen allerdings mochte er weniger leiden.“

„Mutter, meinst du, wir müssten für immer hier fortgehen?“, fragte Dori nach einer Weile.

„Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nicht, wie alles noch kommen wird. Es kann ja sein, dass es dir in meiner Heimat gefällt, dass du am liebsten dableiben willst“, meinte die Mutter.

„Und wenn in unser Haus hier andere Leute hineinwollen?“, fragte Dori ängstlich.

„Gewiss müssen wir das Haus dem Besitzer abgeben und ihm überlassen, was er damit tun will. Es gehört ja nicht uns.“

„Oh, Mutter, wenn wir aber doch wieder zurückkommen, und hier auf der Terrasse und drinnen im Haus wären überall fremde Menschen. Und wir dürften nicht mehr hinein! Wir sind doch hier daheim…“

„Ja, Dori, ich dachte mir schon, wie du es aufnehmen würdest“, sagte die Mutter nun völlig verzagt

Dori kannte diesen Ton. Wie oft hatte er ihr in der ersten Zeit nach dem Tode des Vaters so ins Herz geschnitten, dass sie alles darangegeben hätte, um wieder einmal die fröhlich klingende Stimme der Mutter aus den Kindertagen zu hören. Jetzt suchte die Mutter bei ihr Hilfe, und sie ließ sie so verzagen.

Die Tochter zwang die Tränen zurück. „Nein, Mutter, wir wollen in deine Heimat zurückkehren. Wir werden gleich alles zusammenpacken, so dass man an nichts anderes mehr denken kann.“

„Ist es dir ernst damit, Dori?“, fragte Frau Dorothea ungläubig. „Kannst du auf einmal so fest entschlossen ein?“

„Ja, Mutter, ich weiß, was ich will. Du wirst gewiss noch einmal ganz jung und froh, wenn du deine alte Heimat wiedersiehst.“

Frau Dorothea war mit allem einverstanden. Vor allem musste nun der Entschluss der alten Maja mitgeteilt werden. Sie war ja mit ihren Enkelkindern die Nächste des Hauses.

Maja konnte es gar nicht fassen, dass von einem langen Abschied und vielleicht gar von einer Trennung für immer die Rede war. Sie jammerte wohl und meinte, es sei das Schwerste, das sie treffen könne, wenn sie und die Kinder Dori und ihre Mutter eine Zeitlang entbehren müssten. Aber sie sprach gleich davon, wie es sein werde, wenn sie zurückkämen.

Dori hatte nicht das Herz, der alten Maja die Sicherheit zu nehmen. Die alte Frau konnte die Trennung nur überstellen, wenn ihr die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen blieb.

Detto und Marietta taten so, als würde schon in allernächster Zeit ein großes Fest zu Ehren von Doris Wiederkehr gefeiert. Nur Giacomo sagte kein Wort. In seinen Augen war wieder der finstere Ausdruck, der damals darin war, als seine Mutter starb. Dori sah es wohl, und es schnürte ihr das Herz zusammen. Und sie dachte, für ihn wie für sie selbst sei es wohl am besten, wenn sie sich beide zusammen in die Arbeit stürzten, die der Umzug von Mutter und Tochter mit sich brachte.

Kaum waren vierzehn Tage vergangen, da standen die Kisten fertig da, und die Zimmer waren kahl und leer. Am frühen Morgen des anderen Tages sollte aufgebrochen werden. Dori machte einen letzten Abendspaziergang. Als die Glocken der kleinen Kapelle am Hang zu läuten begannen, musste sich das Mädchen schnell die Tränen wegwischen.

Der neue Gast

Eine milde Herbstsonne schien auf die steinerne Treppe am alten Doppelhaus, das mit seinen festen Giebeln zu der hölzernen Brücke hinüberschaute, die über den rauschenden Inn führte.

Zu beiden Seiten der Haupttür befanden sich steinerne Bänke, auf denen die Bewohner in der Abendkühle zu sitzen und die wichtigsten Ereignisse des Tages zu besprechen pflegten.

Zur Herbstzeit wurden auch die Sonntagnachmittage dort zugebracht, da die Sonne nicht mehr so heiß, sondern angenehm wärmend auf die Steinsitze niederschien.

So saß die Familie wieder einmal beisammen. Während die Männer schweigend ihre Pfeifen rauchten, hatten die Frauen ein wichtiges Gesprächsthema: die baldige Ankunft der Base Dorothea mit ihrer Tochter Dori.

Besonderes Interesse an dem Gesagten zeigte Niki Sami, der Urenkel der alten Nonna. Eigentlich hieß der junge Mann Nikolaus Samuel wie sein verstorbener Vater, aber man gab ihm immer noch den Namen aus den Kindertagen. Und tatsächlich hatte der groß- gewachsene Niki mit seinen blauen Kugelaugen auch etwas durchaus Kindliches an sich. Da er ein großes Vermögen ererbt und nicht viel mehr zu tun hatte, als regelmäßig sein Geld zu zählen, wartete er stets gespannt auf etwas Neues, das sich ereignen könnte.

Allerdings galt sein Interesse nicht so sehr der ihm noch völlig unbekannten Base Dorothea als vielmehr deren Tochter. „Wie alt ist sie? Ist sie hübsch? Ist sie auch lustig?“, wollte er wissen.