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In ihrer unnachahmlichen Art beschreibt die Autorin kindliche Abenteuer in den Schweizer Alpen. In den dreissig Jahren von 1871 bis zu ihrem Tod veröffentlichte Spyri 31 Bücher, 27 Erzählbände und 4 Broschüren, insgesamt 48 Erzählungen.
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Seitenzahl: 245
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Kornelli wird erzogen
Johanna Spyri
Inhalt:
Johanna Spyri – Biografie und Bibliografie
Kornelli wird erzogen
Am rauschenden Illerbach
Im obersten Stock
Neue Erscheinungen in Illerbach
Es kommt, was keiner gewollt hatte
Eine Ankunft in Illerbach
Freundschaft
Neues Leid
Eine Mutter
Eine große Veränderung
Neues Leben in Illerbach
Kornelli wird erzogen J. Spyri
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN:9783849625092
www.jazzybee-verlag.de
Jugendschriftstellerin, geb. 12. Juni 1829 als die Tochter des Arztes Heusser und einer poetisch begabten Mutter in dem Dorf Hirzel bei Zürich, verheiratete sich 1852 mit dem Rechtsanwalt S. in Zürich und starb hier 7. Juli 1901. Sie veröffentlichte 1871 ihre früheste Erzählung: »Ein Blatt auf Vronys Grab« (4. Aufl., Brem. 1883), trat aber erst mehrere Jahre später, und nachdem eine Reihe ihrer »Geschichten für Kinder und auch solche, welche Kinder liebhaben« (Gotha 1879–89), Beifall in weitern Kreisen gefunden, mit ihrem Namen vor die Öffentlichkeit. Die Erzählungen Johanna Spyris, durch einen Hauch echter Frömmigkeit erwärmt, zeichnen sich durch Lebensfülle, seine Beobachtung und liebenswürdigen Humor vor der Mehrzahl der Erzählungen dieser Richtung aus. Sie führen die Einzeltitel: »Heimatlos«, »Aus Nah und Fern«, »Heidis Lehr- und Wanderjahre«, »Im Rhonetal«, »Aus unserm Lande«, »Ein Landaufenthalt bei Onkel Titus«, »Kurze Geschichten«, »Geschichten für Jung und Alt«, »Gritli«, »Verschollen, nicht vergessen«, »Artur und Squirrel«, »Aus den Schweizer Bergen«, »Die Stauffermühle« etc. und sind in vielen Auflagen erschienen, auch ins Französische, Englische und Italienische übersetzt.
Wichtige Werke:
· 1871: Ein Blatt auf Vrony's Grab
· 1872: Nach dem Vaterhause!
· 1873: Aus früheren Tagen.
· 1872: Ihrer Keines vergessen.
· 1872: Verirrt und gefunden
· 1878: Heimatlos.
· 1879: Aus Nah und Fern.
· 1879: Verschollen, nicht vergessen.
· 1880: Heidi's Lehr- und Wanderjahre.
· 1880: Im Rhonetal
· 1880: Aus unserem Lande.
· 1881: Am Sonntag
· 1881: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.
· 1881: Ein Landaufenthalt von Onkel Titus.
· 1883: Wo Gritlis Kinder hingekommen sind.
· 1884: Gritlis Kinder kommen weiter.
· 1886: Kurze Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben.
· 1887: Was soll denn aus ihr werden? Eine Erzählung für junge Mädchen
· 1888: Arthur und Squirrel.
· 1888: Aus den Schweizer Bergen.
· 1889: Was aus ihr geworden ist.
· 1890: Einer vom Hause Lesa.
· 1892: Schloss Wildenstein.
· 1901: Die Stauffer-Mühle
Die jungen Buchen grünten wieder am rauschenden Illerbach. Ein sausender Südwind schüttelte die leichten Wipfel hin und her und ließ das helle Grün einmal im Sonnenschein flimmern, dann schnell wieder von dunkeln Schatten überflogen werden; denn der mächtige Wind trieb alle Augenblicke die großen ziehenden Wolken über die Sonne hin. Durch das Wäldchen jagte, einmal vom Winde getrieben, einmal dem Wind entgegen, ein kleines Mädchen mit hochroten Wangen und fliegenden Haaren, die Augen voll Feuer und Lebenslust. Der runde Hut, der auf den Kopf gehörte, hing am Arme des Kindes und wurde in dem jähen Lauf so heftig auf- und niedergeschwungen, daß er jeden Augenblick von den Bändern reißen und ins Weite fliegen konnte. Jetzt sauste der Wind etwas ferner, unter den Bäumen wurde es stiller. Die Kleine stellte ihr Jagen ein und fing an zu singen:
»Schnee auf der Wiese Und Schnee auf der Diel, Schnee oben und Schnee unten. Nun wird's mir zuviel. Hoiheia, juheia. Nun wird's mir zuviel.
Oh, Sonne am Himmel, Oh, Kuckuck im Wald, Am Bach ihr Ranunkeln, Oh, kommt und kommt bald! Hoiheia, juheia, Oh, kommt und kommt bald!
Singt der Fink seine Lieder, Schwirrt die Schwalbe ums Dach, Schwirr ich mit und singe wieder. Freu mich hunderttausendfach. Hoiheia, juheia, Freu mich hunderttausendfach.«
Das Kind sang mit so kräftiger Stimme, daß es weithin durch den Wald schallte und alle Vögel in Aufregung brachte, so daß einer den andern überschmetterte. Das Kind lachte laut auf und sang noch einmal so kräftig:
»Hoiheia, juheia. Oh, kommt und kommt bald!«
und wetteifernd schallte es von allen Zweigen in allen Tönen wieder.
Am Saume des Waldes stand die alte Buche mit dem hohen, festen Stamme, in deren weitem Schatten das Kind schon oft nach dem heißen Jagen Kühlung gesucht hatte. Nun war es bei dem Baum angelangt. Eine Weile schaute es zu den hin- und herwogenden Ästen auf. Dort, wo der Wind wieder freieren Raum hatte, blies er mit Macht daher, und sein Schütteln und Tosen oben im Wipfel mußte dem Kinde besonderen Antrieb zu Kraftäußerungen geben. Plötzlich stürzte es dem entgegenwehenden Winde zu und kämpfte und stemmte sich und rannte gegen die Gewalt an. Dann machte es plötzlich kehrt; vom Winde gejagt, stürzte es den steilen Wiesenrain hinunter, dem Wege zu, der ins schmale Tal hineinführte. Nicht eher stellte das Kind sein Rennen ein, bis es, dem rauschenden Talwasser zueilend, bei einem kleinen hölzernen Hause angelangt war, das vom grünen Abhang auf das Wasser hinunterblickte. Ein schmales Treppchen führte von außen zur Eingangstür hinauf. Die offene Galerie vor der Tür trug ein breites Gesimse, auf dem die prächtigsten Nelkenstöcke standen und weithin dufteten.
Hier mußte das kleine wilde Mädchen wohl bekannt sein. In drei höhen Sprüngen, je zwei Stufen mit einem Satz überspringend, war es oben angelangt.
»Marthe! Marthe!« rief es durch die offenstehende Tür ins Haus hinein, »komm doch heraus! Hast du's schon gemerkt, wie lustig der Wind heut ist?«
Ein altes Frauchen mit grauen Haaren und einem fest anschließenden Häubchen darauf kam heraus. Sie war mit der äußersten Einfachheit, aber so ordentlich und reinlich angezogen, daß man hätte denken können, sie sitze den ganzen Tag im Sessel, um den saubern Anzug nicht zu verderben, wenn ihre zerarbeiteten Hände nicht eine andere Geschichte erzählt hätten.
»Oh, du solltest nur wissen, wie schön der Wind oben im Wald und auf dem Hügel bläst, Marthe!« rief das Kind der Heraustretenden entgegen, »er stürmt einem so furchtbar entgegen, daß man mit allen Kräften kämpfen muß, wenn man nicht auffliegen will wie die Vögel, und nachher den ganzen Berg hinabgeblasen wird, daß man gar nicht weiß wie und fast nicht mehr auf den Boden kommt. Du solltest es nur erfahren, wie lustig es draußen zugeht.«
»Das will ich doch lieber nicht erfahren«, sagte Marthe, die Hand des Kindes zum Willkomm schüttelnd; »ich meine, auch du bist in dem Wind ein klein wenig aus der Ordnung gekommen, Kornelli. Komm, wir machen's wieder zurecht.«
Die dichten schwarzen Haare waren völlig durcheinander geweht; was links von dem Scheitel gewachsen war, lag nach rechts, und von rechts war alles nach links geworfen. Die Schürze hing nicht mehr vorn, sondern an der Seite nieder; am Röckchen war die Schnur losgerissen und schleppte einige kleine Dornzweige und Waldblätter nach, die sich damit verwoben hatten. Marthe hatte erst die Haare auseinandergeordnet, dann die Schürze zurechtgezogen; dann hatte sie Nadel und Faden hervorgeholt und flickte nun die zerrissene Schnur am Kleide fest.
»Hör auf, Marthe, hör auf!« schrie Kornelli mit einemmal laut auf und riß das Röckchen an sich. »Du hast ja einen ganz zerstochenen Finger; er ist nur noch halb vor lauter Nadelstichen; jetzt kann ich es gut sehen.«
»Das macht gar nichts, gib nur dein Röckchen her«, entgegnete Marthe, ihre Arbeit fortsetzend. »Meine Finger habe ich auch gar nicht an solchem Zeug wie dein Röcklein zerstochen. Siehst du, das kommt von der Arbeit an den groben Hemden her, die ich für die Bauern und für die Arbeiter im Eisenwerk mache. Da muß ich ganz anders darauf losstechen. Dabei stech ich mir dann manchmal Stücklein vom Finger weg.«
»Das brauchst du nicht zu tun, Marthe; sie sollen nur ihre Hemden selber machen und ihre eigenen Finger zerstechen«, sagte Kornelli entrüstet.
»Nein, nein, Kornelli«, wehrte die Alte, »siehst du, ich bin froh und dankbar, daß ich die Arbeit bekommen habe und so mein tägliches Brot ohne Sorgen gewinnen kann. Ich habe nur zu danken für das viele Gute, das der liebe Gott mir schenkt, und vor allem dafür, daß ich noch immer arbeiten kann und meine Kräfte habe.«
Kornelli sah sich forschend in dem sehr bescheiden eingerichteten, aber in großer Sauberkeit gehaltenen Stübchen um.
»Er hat dir eigentlich nicht soviel geschenkt; es ist nur so gut aufgeräumt, und das machst du selbst«, bemerkte das Kind.
»Dafür habe ich ja auch dem lieben Gott zu danken, daß ich das so tun kann«, entgegnete Marthe; »siehst du, Kornelli, wenn mir nun der liebe Gott nicht die Gesundheit schenkte, daß ich noch so tun kann, wie ich will, wer würde mir das so machen, wie ich es gern habe? Und was ist doch das für ein großes Geschenk, daß ich alle Morgen hier an die schöne Sonne heraustreten, meine Nelken hinausbringen und meinem Gott fröhlich danken kann, daß ich wieder einen schönen Tag vor mir habe, an dem ich mich freuen darf. Oh, wieviele arme Leute gibt es, die müssen wieder zu Leiden und Tränen erwachen, die müssen die Tage auf ihrem Schmerzenslager zubringen und haben noch Sorgen und Kummer dazu. Siehst du es ein, Kornelli, wieviel ich dem lieben Gott zu danken habe, und wie ich froh sein kann, daß ich mir meine Finger zerstechen darf und nicht aufhören muß? So, nun bist du wieder, wie es sein muß. Ich glaube, es schellt drüben Feierabend für die Arbeiter, das wird wohl die Zeit zum Abendessen für den Herrn sein, du mußt wohl schnell hinüberrennen.«
Marthe wußte wohl, warum sie ihre kleine Freundin auf den Heimweg aufmerksam machte; nur zu oft war die Zeit schon vergessen worden, und der Vater hatte nach ihr ausschicken müssen. Jetzt rannte Kornelli die kleine Halde hinunter am rauschenden Wasser hin, bis zu den großen Gebäuden, in denen den ganzen Tag ein Prasseln von Feuer und Pochen und Hämmern zu hören war, das nur etwa von dem laut rauschenden Illerbach übertönt wurde. Das waren die Werkstätten der großen Eisengießerei, die rings im Lande wohlbekannt war; denn die meisten der Umwohnenden fanden da ihre Arbeit.
Kornelli guckte nach den großen Türen; sie waren schon geschlossen. Nun flog sie in hohen Sätzen vorüber, dem einzelnstehenden Hause zu, das, etwas erhöht über dem Wasser, von drei Seiten von blumenreichen Gärten umgeben stand. Es war das Wohnhaus des Eisenwerkbesitzers. Kornelli stürzte über den freien Platz hin, der nach der Vorderseite des Hauses lag, warf den Hut in eine Ecke und trat ins Wohnzimmer ein. Da saß der Papa am Tisch, eine große Zeitung vor sich haltend; er schaute nicht auf. Kornelli aß schnell ihre Suppe, die sie im Teller vorfand, und da der Vater sich hinter seiner Zeitung nicht rührte, bediente sie sich mit allem weiteren, das auf dem Tische stand. Jetzt schaute der Vater auf. Kornelli knabberte an einem Apfel herum.
»Aha, du hast mich überholt, so weit bin ich noch nicht«, sagte er; »du mußt aber nicht zu spät zu Tische kommen; das ist nicht in der Ordnung, wenn du auch nachher früher zu Ende kommst als ich. Nun, wenn du doch fertig bist, trag diesen Brief zur Post hinaus; es steht etwas darin, das dich angeht, du kannst dich freuen. Am Abend sag ich dir's, nun muß ich gleich fort.«
Kornelli ergriff den Brief, den der Vater ihr hinhielt, raffte die Stücke ihres Apfels auf dem Teller zusammen und lief hinaus. Nun ging es in Sprüngen der tosenden Iller entlang bis dahin, wo der schmale Talweg in die breite Landstraße einmündete. Hier stand das stattliche Wirtshaus, das zugleich Posthaus war. Unter der offenen Türe stand die behäbige Frau Wirtin und lächelte dem Kinde freundlich entgegen.
»Wie weit? Wie weit? So im Sturmschritt?« fragte sie.
»Nur bis zu Euch«, antwortete Kornelli, ein wenig außer Atem; »ich muß einen Brief einlegen.«
»So, so, gib nur her, den wollen wir schon besorgen«, sagte die Frau, des Kindes Hand festhaltend, die es ihr zum Gruß entgegengestreckt hatte. »Dir ist lange wohl, Kornelli, gelt? Du weißt nichts von Kummer.«
Das Kind schüttelte den Kopf.
»Ja, ich glaub's, warum solltest du auch? Es wird einem schon ganz wohl, wenn man deine lustigen Augen sieht. Komm öfter zu mir; es macht mir Freude, ein fröhliches Kind, wie du eins bist, zu sehen.«
Kornelli sagte, sie wolle gern wiederkommen, und es war ihr Ernst; denn die Frau sprach immer so freundlich zu ihr. Nun verabschiedete sie sich, und wie sie wieder in hohen Sprüngen davonrannte, schaute ihr die Frau Wirtin befriedigt nach und sagte halblaut: »Recht so, nur immer fröhlich. Besseres gibt's nicht.«
Der Inhalt des Briefes, den Kornelli eben abgegeben und den die Wirtin nun zur Weiterbeförderung bereitmachte, lautete also:
»Illerbach, den 28. April ...
Liebe Base!
Meine Reise nach Wien, die ich um ein Jahr lang hinausgeschoben habe, muß in nächster Zeit ausgeführt werden. Ich stelle nun die Bitte an Dich, Du möchtest hierher kommen und den Sommer da zubringen, um meinem Hause vorzustehen. Auf Deinen erzieherischen Einfluß auf das Kind lege ich natürlich den größten Wert, das arme Ding ist ja bis jetzt ohne alle wirkliche Erziehung aufgewachsen. Jungfer Mine, meine Wirtschafterin, tat ja ihr Bestes, und die brave Esther, die Küchenregentin, half mit, soviel sie konnte. Das Beste für das Gedeihen des Kindes hat wohl die alte Marthe, die Pflegerin meiner seligen Frau, getan; aber wirkliche Erziehung kann ich es nicht nennen. Mich selbst habe ich freilich dabei zuerst anzuklagen. Ich verstehe mich nicht auf Erziehung kleiner Mädchen. Dazu nehmen meine Geschäfte mich auch so sehr in Anspruch, daß ich das Kind kaum sehe. Ich kenne kein größeres Unglück für ein Kind, als den Verlust seiner Mutter und einer Mutter, wie meine Kornelia war; und mit drei Jahren schon mußte das arme Kind sie verlieren! Nimm Dir eine gute Freundin mit, damit Du nicht zu sehr unter der Einsamkeit leidest, und erfreue bald mit Deiner Ankunft
Deinen Vetter Friedrich Hellmut.«
Als an demselben Abend Direktor Hellmut mit seiner Tochter Kornelli wieder zu Tische saß, teilte er ihr mit, er dürfe hoffen, seine Base, Fräulein Kitti Dorner, werde nach Illerbach kommen und dableiben, bis er seine Reise nach Wien beendigt habe; Kornelli könne sich recht auf diese Aussicht freuen.
Nach einigen Tagen kam die Antwort der Base, sie lautete also:
»B ..., den 4. Mai ....
Lieber Vetter!
Um Dir eine Gefälligkeit zu erweisen, will ich mich so einrichten, daß ich den Sommer in Deinem Hause zubringen kann. Meine Freundin, Fräulein Grideelen, wird mit mir kommen. Ganz allein in Deinem Hause zu verweilen, wäre mir etwas zu eintönig, wie Du selbst fühlst. Über die Erziehung Deines Kindes brauchst Du Dir wirklich noch keine schweren Gedanken zu machen; da ist noch keine Zeit verloren. Man muß nicht meinen, daß die kleinen Wesen gleich die besten Kräfte zu ihrer Pflege brauchen, das ist erst notwendig, wenn man sie geistig beeinflussen kann. So kleine Geschöpfe vegetieren ja nur, und sie zu nähren und zu unterhalten, dazu ist Deine Jungfer Mine ganz die rechte Person. Auch Esther, die zuverlässig ist, hat ja mitgeholfen, das Kind zu besorgen, so wie es nötig ist. Später ist es dann etwas anderes mit der Erziehung. Jetzt mag die Zeit gekommen sein, wo das Kind wirklich eines rechten erzieherischen Einflusses bedarf. In der letzten Woche dieses Monats werden wir anlangen; vorher könnte ich nicht gut weggehen hier.
Mit besten Grüßen
Deine Base Kitti Dorner.«
»Die Base kommt, nun freu dich, Kornelli«, sagte der Vater, nachdem er am Abendtisch den Brief gelesen hatte, »und noch eine andere Dame kommt mit; nun wird ein ganz neues erfreuliches Leben für dich angehen.«
Kornelli, die bis jetzt von dieser Verwandten ihres Vaters nichts gewußt, empfand keine besondere Freude bei dieser Nachricht. Sie wußte nicht, worin das Erfreuliche des Besuches bestehen solle. Sie sah darin nur eine Veränderung im Haus, die sie nicht herbeiwünschte. Ihr war es am liebsten, wenn alles so blieb, wie es war; etwas anderes begehrte sie nicht. Das Kind sah seinen Vater fast nur bei den Mahlzeiten; die übrige Zeit brachte er drüben in den Geschäftsräumen und in den ausgedehnten Werkstätten zu. Das war aber für Kornelli kein Grund, sich einsam oder verlassen zu fühlen. Sie hatte immer soviel vor, daß sie keinen Augenblick hatte, den sie nicht anzuwenden wußte. Im Gegenteil war ihr die freie Zeit zwischen den Schulstunden immer zu kurz, und die Abende hatten für Kornelli gerade die Hälfte zu wenig Stunden für alle Streifzüge, die dann noch unternommen werden sollten. Der Vater hatte das Zimmer verlassen, und Kornelli war hinter ihm her auf den Weg hinausgerannt, um noch einmal auszuziehen, was gewöhnlich geschah, sobald der Vater das Haus verlassen hatte.
Eben kam die rüstige Esther vom Garten her mit dem großen Gemüsekorb am Arm; sie hatte vorsichtig für den folgenden Tag gesorgt. »Geh nicht mehr hinaus, Kornelli, es kann ein Gewitter kommen, es ist ganz grau überm Berg.«
»Oh, ich muß noch zur Marthe, ich muß ihr heut noch etwas sagen«, entgegnete Kornelli rasch; »es wird wohl nicht so bald kommen.«
»Ach was, noch lange nicht!« rief Jungfer Mine, die vom offenstehenden Zimmer aus die Warnung gehört hatte und nun heraustrat. »Geh du nur, Kornelli, noch gar Gewitter! Tu kommst noch ganz gut zur Marthe hinauf, lauf du nur zu.«
Das Kind schoß davon. Esther zuckte die Achseln und ging schweigend an der Jungfer Mine vorüber. So ging es immer und in allen Fällen, wenn Kornelli etwas im Sinn hatte. Meinte Jungfrau Mine, es sei nicht tunlich, so kam sicher Esther herbei und sagte, nichts Leichteres gäbe es, als das auszuführen; und fand sie, daß Kornelli etwas unterlassen sollte, so half Jungfer Mine gleich dazu, daß es ausgeführt werden könne. Das kam daher, daß jede der beiden Kornelli die liebere sein und des Kindes Gunst für sich haben wollte.
Kornelli kam am kleinen Haus der Marthe das Treppchen hinauf und ins Stübchen hineingestürzt: »Denk, Marthe, es kommen zwei ganz neue Personen in unser Haus, zwei Frauen; aus der Stadt kommen sie, und der Papa sagt, ich solle mich nur sehr freuen; aber ich freue mich gar kein bißchen, ich kenne sie nicht. Würdest du dich freuen, Marthe, wenn so zwei neue Leute bei dir ankämen?«
Kornelli mußte tief aufatmen, so schnell hatte sie gesprochen, nachdem der rasche Lauf ihr schon den Atem genommen.
»Setz dich ein wenig zu mir nieder, Kornelli«, sagte ruhig die Alte; »du mußt erst zu Atem kommen. Es kommt ja gewiß jemand, der deinem Papa lieb ist, daß er sagt, du könntest dich freuen, und dann wirst du's schon tun, wenn du sie kennst.«
»Ja, vielleicht; aber was willst du schreiben, Marthe? Ich habe dich noch nie schreiben gesehen«, sagte jetzt lebhaft das Kind, dessen Gedanken plötzlich eine andere Wendung genommen hatten.
»Ja, es wird mir auch schwer genug«, entgegnete Marthe, »das könntest du viel besser, als ich es kann; es ist so lange her, seit ich so etwas schrieb.«
»So gib nur, Marthe, ich will dir's schon schreiben, sag nur, was«, und Kornelli ergriff bereitwillig die Feder und tauchte sie bis auf den Grund des kleinen Tintenfasses ein.
»Ich will dir's erzählen, und dann schreibst du's, wie du meinst; du machst es gewiß besser als ich«, sagte Marthe erleichtert; denn sie hatte schon seit einiger Zeit mit der Feder in der Hand vor dem Papier gesessen und hatte den Anfang nicht finden können. »Siehst du, Kornelli, es ist mir so gut gegangen mit der Arbeit in der letzten Zeit, daß ich etwas tun konnte, was ich schon lange im Sinn gehabt hatte; ich habe ein Bett kaufen können. Einen Tisch und zwei Sessel und einen alten Schrank hatte ich schon, und nun habe ich das alles in meinem Stübchen droben schön aufgestellt; du mußt es dann noch beschauen. Jetzt könnte ich für den Sommer jemanden zu mir nehmen. Weißt du, aus der Stadt kommen etwa kränkliche Frauen oder zarte Kinder aufs Land, und ich könnte gut für sie sorgen. Ich bin ja immer daheim und könnte doch daneben arbeiten. Das wollte ich nun alles ins Blatt setzen; aber ich bringe es nicht heraus, wie man anfangen sollte.«
»Das will ich schon deutlich schreiben, daß gleich auf der Stelle jemand kommen kann«, sagte Kornelli eifrig; »aber zuerst wollen wir noch das Stübchen ansehen; ich bin sehr begierig, wie es aussieht.« Marthe war gleich bereit; sie ging voran die schmale Treppe hinauf und öffnete das kleine Zimmer. »Oh, wie nett! Oh, wie nett!« rief Kornelli aus und lief voller Bewunderung von einer Ecke in die andere. Marthe hatte wirklich ihr Stübchen so zierlich ausgerüstet, daß man seine Freude daran haben mußte. Aus einem dünnen weißen Stoff mit blauen Blümchen drin hatte sie Vorhänge genäht und die zwei kleinen Fenster damit umrahmt, was ganz schmuck aussah. Eine alte Holzkiste hatte sie umgestülpt und sie mit demselben geblümten Stoff umkleidet; die stand nun als zierlicher Waschtisch in der Ecke. Die zwei uralten Sessel trugen auch den hellen Blümchenüberzug, und das Bett in der Ecke bot denselben fröhlichen Anblick dar; es war mit demselben Blümchenstoff bedeckt. »Oh, hier ist es so schön«, rief Kornelli ein Mal über das andere aus; »wie hast du das so machen können, Marthe, hattest du auf einmal so furchtbar viel Geld?«
»O nein, o nein, nicht soviel, aber gerade genug für mein Bett und ein Stückchen Zeug; das bekam ich noch so billig, weil es der Rest vom Stück war. Aber gelt, es sieht nicht so übel aus? Glaubst du, daß jemand darin wohnen möchte?« Marthe schaute fragend und prüfend noch einmal auf jeden einzelnen Gegenstand, den sie so sorgfältig, jeden nach seinem Bedürfnis, überarbeitet hatte.
»Ja, freilich, ganz sicher, glaub's nur, Marthe«, versicherte Kornelli, »ich käme gleich und schrecklich gern, wenn ich nicht schon hier wohnte. Jetzt will ich gleich schreiben; ich weiß ganz gut, was.« Nun rannte Kornelli das Treppchen hinunter, tauchte aufs neue die Feder ein und begann mit großem Eifer die Anzeige aufzusetzen.
»Vergiß nicht zu sagen, daß es auf dem Lande ist und wie es heißt bei uns, daß sie mich auch finden«, erinnerte vorsichtig die Marthe, der es vorkam, es müßte eine gar schwierige Sache für Kornelli sein, so alles in die Anzeige zu bringen.
»Richtig, das muß ich noch sagen«, bemerkte Kornelli und schrieb den Schluß. »So, nun will ich dir's vorlesen, Marthe; dann kannst du sehen, daß ich alles gesagt habe.« Das Kind las: »Wenn jemand ein nettes Zimmer haben will, so kann er eins haben bei der Marthe Wolff. Für kränkliche Frauen und zarte Kinder will sie schon sorgen, daß sie es gut haben. Es ist sehr schön aufgeräumt und hat schöne neue weiß und blaue Überzüge an allem. Es ist auf dem Lande, in Illerbach, am Illerbach, wo die großen Eisenwerkstätten sind, nicht weit davon.«
Marthe war ganz zufrieden. »Du hast alles so deutlich gesagt; das kann man gut verstehen«, meinte sie. »Ich hätte es nicht so sagen dürfen; es klingt fast wie gerühmt. Wenn ich jetzt nur noch wüßte, wohin ich das Papier schicken muß; ich weiß nicht so recht, was ich als Anschrift setzen soll.«
»Ich weiß ganz gut, was man machen muß«, sagte Kornelli beruhigend, »ich trage dir schnell das Blatt ins Posthaus. Wenn ich Briefe dorthin trage, so kommen manchmal Leute und sagen zum Wirt: ›Das muß ins Blatt‹. Dann nimmt er's ab und sagt: ›Ich will's besorgen‹. So will ich es nun auch machen; gib mir nur das Blatt, Marthe.«
Diese hatte noch einmal durchgelesen, was da stand; es kam ihr so merkwürdig vor, daß ihr Name in der Zeitung stehen sollte; aber es war ja notwendig so. »Nein, nein, du gutes Kind«, sagte sie abwehrend, »du hast nun genug für mich getan; du hast mir so gut geholfen; ich will nicht, daß du noch für mich dort hinausläufst. Aber dein Rat ist gut; ich will das Blatt gleich selbst hinbringen.«
»O ja, komm mit«, sagte Kornelli erfreut; denn zu ihren besonderen Freuden gehörte es, einen Spaziergang mit der alten Marthe zu machen, die überall etwas Besonderes sah und Kornelli darauf aufmerksam machte, und immer gleich etwas davon zu erzählen wußte. Überall traf sie auch auf Stellen, wo ihr eine Erinnerung an Kornellis Mutter entgegentrat, die sie dem Kinde gleich mit Rührung schilderte. Nur von ihr hörte Kornelli von ihrer Mutter sprechen. Der Vater erzählte nie von ihr, und wenn sie zu Esther, die von Anfang an im Dienste des Hauses gestanden hatte, von der Mutter sprechen wollte, sagte diese gleich: »Schweig, schweig, das macht einen nur traurig; so etwas muß man nicht aufrütteln.«
»So willst du doch mitkommen?« sagte Marthe erfreut; denn auch ihr war ja nichts so lieb, als mit ihrer kleinen fröhlichen Gefährtin einen Gang zu machen. Kornelli hing sich an ihren Arm; so wanderten sie in den Abend hinaus. Die Gewitterwolken hatten sich verzogen; gegen Sonnenuntergang glühte der Himmel wie feuriges Gold.
»Glaubst du, meine Mutter sehe es drinnen auch so schön, wie wir draußen, Marthe?« fragte das Kind, auf den leuchtenden Himmel hinweisend.
»Ja, ja, Kornelli«, entgegnete sie eifrig, »denk einmal, wenn der liebe Gott seine Wohnung von außen so schön leuchten läßt, wie wird es erst drinnen sein, wo alle Seligen sind und sich freuen!«
»Warum freuen sie sich so?« wollte Kornelli wissen.
»Oh, weil sie nun von allem Leid und allem Schmerz erlöst sind«, sagte Marthe, »darüber können sie sich wohl freuen, und auch weil sie nun erkennen, daß alles Leid und aller Schmerz, der ihre Lieben trifft, die noch hier unten sind, ihnen nur dazu dienen, daß sie den anrufen, der sie allein in den Himmel einführen kann.«
»Hat ihn meine Mutter auch angerufen?« fragte Kornelli wieder.
»Ja, ja, Kornelli, da kannst du sicher sein«, bezeugte Marthe, »deine Mutter war eine so gute, fromme Frau, daß nur jeder darum beten sollte, dahin zu kommen, wo sie ist.«
Jetzt waren die beiden am Posthaus angekommen, und nachdem sie ihren Auftrag dem Wirt und Posthalter abgegeben, wanderten sie schnell den freundlichen Talweg zwischen den grünenden Wiesen zurück; denn die Dämmerung war hereingebrochen, und lange schon war die Feierabendglocke auf dem Turm verklungen.
Die enge Stadtgasse hinauf, deren Häuser so hoch waren, daß an von unten her die obersten Fenster kaum sehen konnte, weil man so nahe an den Häusern stand, wanderte, auf den dicken Stock mit goldenem Knopf sich stützend, am hellen Maimorgen ein gewichtiger Herr. Er mußte von Zeit zu Zeit stillstehen und Atem schöpfen; die Gasse stieg steil hinan. Dann las er von neuem die Hausnummern, soweit er sie erkennen konnte, und sagte wiederholt: »Immer noch nicht.« Dann stieg er weiter hinan. Endlich hatte er seine Nummer erreicht. Die Haustür stand offen; sechs Klingelzüge waren am Pfosten daneben angebracht. Der Herr las die Namen, die darauf standen, immer wieder den Kopf darüber schüttelnd, daß er nicht auf den gesuchten traf. »Ah, endlich, zu alleroberst«, sagte er jetzt mit einem Seufzer und trat in das Haus ein. Nun ging das Steigen erst recht an. Erst waren die Treppen, wenn auch hoch, doch hell und hatten ordentliche Stufen; dann wurden sie dunkler und schmaler, und zuletzt ging es auf abgelaufenen, ungleichen Stufen ganz steil einer engen Tür zu, vor der kein anderer Raum zum Stehen blieb, als die letzte schmale Treppenstufe. »Ist das ein Käfig!« sagte schwer atmend der Emporklimmende, indem er sich an der hölzernen Rampe festhielt; denn auf den dünnen, krachenden Stufen war das Auftreten recht unsicher. Er zog an dem einfachen Klingelschnürchen. Die Tür ging auf. Eine schwarz gekleidete Frau stand vor ihm.
»Oh, Herr Erziehungsrat, Sie sind es«, sagte sie überrascht. »Es tut mir leid, daß Sie die mühsamen Treppen hinaufsteigen mußten«, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, wie der wohlbeleibte Herr sich das Gesicht nach der großen Anstrengung trocknen mußte. »Ich wäre gern zu Ihnen gekommen, wenn Sie mich benachrichtigt hätten, daß Sie mich zu sprechen wünschen.« Die Frau hatte unterdessen ein Zimmer aufgemacht und den Herrn gebeten, einzutreten und sich zu setzen.
»Ihr Beistand muß Sie doch einmal aufsuchen«, entgegnete der Herr, der jetzt auf dem alten Sofa Platz genommen hatte und sich mit beiden Händen auf den dicken Stockknopf stützte; »das muß ich Ihnen gleich sagen, Frau Pfarrer, daß Sie meinen Rat nicht befolgten, auf dem Lande eine kleine Wohnung zu nehmen, wo Sie doch schon waren, sondern es vorzogen, hierher in die Stadt zu ziehen, wo Sie natürlich eine solche Mansardenwohnung nehmen mußten: das finde ich nicht praktisch und auch nicht einmal wünschenswert. Sie haben hier doch nicht die leiseste Bequemlichkeit. Für Sie selbst und für Ihre Kinder wäre die Landluft unbedingt besser gewesen.«
»An Bequemlichkeiten für mich hatte ich nicht zu denken, als ich meinen Mann verlor und unsere Pfarrwohnung verlassen mußte, Herr Erziehungsrat«, entgegnete die Frau mit einem matten Lächeln. »Gewiß wäre die Landluft für alle meine Kinder besser gewesen; aber der sie am meisten nötig hat, mein älterer Junge, mußte um der Schule willen nach der Stadt, und ihn von mir weggeben, so zart wie er ist, das hätte ich nicht tun können, auch -«