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Dieser Erzählband enthält folgende Geschichten: Ein Blatt auf Vronys Grab. Ihrer Keines vergessen. Aus früheren Tagen. Daheim und in der Fremde Marie
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Seitenzahl: 226
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Aus dem Leben
Johanna Spyri
Inhalt:
Johanna Spyri – Biografie und Bibliografie
Aus dem Leben
Ein Blatt auf Vronys Grab.
Ihrer Keines vergessen.
Aus früheren Tagen.
Daheim und in der Fremde
Marie
Aus dem Leben, J. Spyri
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN:9783849625030
www.jazzybee-verlag.de
Jugendschriftstellerin, geb. 12. Juni 1829 als die Tochter des Arztes Heusser und einer poetisch begabten Mutter in dem Dorf Hirzel bei Zürich, verheiratete sich 1852 mit dem Rechtsanwalt S. in Zürich und starb hier 7. Juli 1901. Sie veröffentlichte 1871 ihre früheste Erzählung: »Ein Blatt auf Vronys Grab« (4. Aufl., Brem. 1883), trat aber erst mehrere Jahre später, und nachdem eine Reihe ihrer »Geschichten für Kinder und auch solche, welche Kinder liebhaben« (Gotha 1879–89), Beifall in weitern Kreisen gefunden, mit ihrem Namen vor die Öffentlichkeit. Die Erzählungen Johanna Spyris, durch einen Hauch echter Frömmigkeit erwärmt, zeichnen sich durch Lebensfülle, seine Beobachtung und liebenswürdigen Humor vor der Mehrzahl der Erzählungen dieser Richtung aus. Sie führen die Einzeltitel: »Heimatlos«, »Aus Nah und Fern«, »Heidis Lehr- und Wanderjahre«, »Im Rhonetal«, »Aus unserm Lande«, »Ein Landaufenthalt bei Onkel Titus«, »Kurze Geschichten«, »Geschichten für Jung und Alt«, »Gritli«, »Verschollen, nicht vergessen«, »Artur und Squirrel«, »Aus den Schweizer Bergen«, »Die Stauffermühle« etc. und sind in vielen Auflagen erschienen, auch ins Französische, Englische und Italienische übersetzt.
Wichtige Werke:
· 1871: Ein Blatt auf Vrony's Grab
· 1872: Nach dem Vaterhause!
· 1873: Aus früheren Tagen.
· 1872: Ihrer Keines vergessen.
· 1872: Verirrt und gefunden
· 1878: Heimathlos. (
· 1879: Aus Nah und Fern.
· 1879: Verschollen, nicht vergessen.
· 1880: Heidi's Lehr- und Wanderjahre.
· 1880: Im Rhonethal
· 1880: Aus unserem Lande.
· 1881: Am Sonntag
· 1881: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.
· 1881: Ein Landaufenthalt von Onkel Titus.
· 1883: Wo Gritlis Kinder hingekommen sind.
· 1884: Gritlis Kinder kommen weiter.
· 1886: Kurze Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben.
· 1887: Was soll denn aus ihr werden? Eine Erzählung für junge Mädchen
· 1888: Arthur und Squirrel.
· 1888: Aus den Schweizer Bergen.
· 1889: Was aus ihr geworden ist.
· 1890: Einer vom Hause Lesa.
· 1892: Schloss Wildenstein.
· 1901: Die Stauffer-Mühle
Schifflein der Flut! Aber ein Kleines – so ruht Süß sich's am heim'schen Gestade, Meta H.-Schw.
Als ich in den Septembertagen von den Bergen nach der Stadt zurückkehrte, war mein erster Gang hinaus nach dem Krankenhause vor der Stadt, wie auch vor der Abreise das mein letzter Gang gewesen war. Schon an der Pforte trat mir die wohlbekannte Diakonissin entgegen und nach der nahegelegenen Kirche hinweisend, sagte sie: »Sie schläft schon drüben.«
Ich fragte nach der Nummer des Grabes; ich wußte, daß dieses Grab von keiner Hand der Liebe geschmückt oder auch nur bezeichnet worden war, und ging nach dem Gottesacker hinüber. Da lag die friedliche Stätte. Die Abendsonne warf ihre letzten Strahlen auf den grünen Grabhügel, und drüben leuchteten die Schneeberge wie ehemals, da sie mit mir in der Abendsonne über die Hügel streifte, die nun zur Ruhe gegangen war. Wie lag damals das Erdenleben so reich vor uns, so weit und voll unbekannter Herrlichkeit! – Konnten so viele Jahre vergangen sein seit jener Zeit?
Mir war, als hörte ich die wohllautende Stimme, die nun verklungen, mir noch einmal die Worte singen:
»Warte nur, balde Ruhest du auch!«
Auf deinem Grabe steht kein Kreuz, und niemand kennt hier deinen Namen; aber für mich knüpfen sich reiche Erinnerungen daran. Ich will ein Blatt auf dein Grab legen; vielleicht liest es einer und freut sich dann mit mir, daß du nun gefunden: »Zur Ruh' ein Bettlein in der Erd'.«
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Es steht ein altes Haus neben der kleinen weißen Kirche des Bergdorfes, wo ich reichlich zwanzig Jahre gelebt und mit offenen Augen und von ganzer Seele die Herrlichkeit genossen habe, die Gott über dieses Fleckchen Erde ausgegossen hat. Dieses alte Haus war das Schulhaus, wo ich mit den Kindern des Dorfes meinen ersten Unterricht empfing, der weniger darin bestand, daß uns gegeben wurde, was wir brauchten, als darin, daß wir nehmen konnten, was wir wollten, und ich wollte wenig. Wenn ich ungefähr wußte, um was es sich handelte, damit ich eine ungefähre Antwort bereit hätte, wenn ich befragt würde, so war ich zufrieden. Da ich den äußersten Platz auf unserer Bank ganz nahe am Fenster hatte, so schaute ich meistens über die grüne Wiese hin, wo der Sonnenschein so warm am Boden lag, und wo die weißen Schmetterlinge so wonnig in die blaue Luft stiegen – und weiter hinaus nach dem schmalen Wiesenwege, der den Hügel hinunter führte unter den Eschen durch, wo der Wind so herrlich über einem rauschte. Wenn man nur darunter stände!
Nicht viel tugendhaftere Gedanken bewegten derweilen das Herz der Küstertochter Veronika, die neben mir auf der Schulbank saß, »Küsters Vrony« unter uns genannt. Auch sie hatte wenig wissenschaftliche Bestrebungen, dagegen für alles Komische einen besonders offenen Sinn, für dessen Entwicklung sie die Schulstunden vorzüglich geeignet fand. Ich leistete ihr dabei treuliche Hilfe.
Schon ihr Gesicht hatte für mich etwas zu dieser Thätigkeit besonders Anregendes. Es war, als wenn die verschiedenen Teile gar nicht zusammengehörten. Die grauen Augen sahen einen durchdringend klug an, indessen die kleine runde Nase einen solchen Ausdruck von Naivität mit sich führte, daß man ihr das Äußerste in dieser Richtung hätte zutrauen können, wenn nicht die schelmischen Mundwinkel von unten herauf sich wie darüber moquiert hätten. Wir waren nahe Freunde. Anschauen konnten wir uns nie, ohne daß uns ein unwiderstehliches Lachen ergriff, teils in Erinnerung dessen, was wir uns mitgeteilt hatten, teils in Ahnung dessen, das wir uns gleich mitteilen würden. Das brachte uns in manche Verlegenheit, denn das eine Auge des alten Schullehrers war doch etwa auf seine Schule gerichtet, indeß das andere die Zeitung las.
O, welche Töne glückseliger Befreiung hatte doch jene Vier-Uhr-Glocke, die täglich ersehnte! Dann ging die Thür auf, und hinaus stürmten wir in den Abendwind, zu jauchzen und zu lachen endlich in ungehemmten Strömen. Am spätern Abend fanden wir uns gewöhnlich noch einmal zusammen, wenn der Tag sich neigte; da hatte Vrony noch einen freien Moment. Dann rannte ich den Hügel hinunter. Auf dem Rasenplatz bei der Kirche erwartete mich Vrony. Dann kletterten wir auf die Kirchhofsmauer und sprangen auf der andern Seite hinunter auf den Weg und rannten davon über die Wiesen nach dem Rasensitz, wo die Eschen rauschten, und der Himmel gegen den Abend golden glühte. Drüben standen die dunkeln Felsenspitzen des Pilatusberges auf dem lichten Abendhimmel, und die Hügel umher lagen so lockend grün im Abendschein. Dann tönte die Betglocke von der nahen Kirche herüber; wir standen still und lauschten und schauten nach dem verglimmenden Licht fern hinter den Felsenzacken.
Oft erstaunte mich Vrony an solchen Abenden. Wenn wir so dastanden, sah ich auf einmal, wie aus ihren Augen ein seltsam warmer Strahl der sinkenden Sonne nachglühte, und ein Hauch der Verklärung über ihr Gesicht kam, daß mich der Gedanke durchfuhr: Wenn Vrony ein verlornes Königskind wäre! Wenn dann aber der alte Küster mit seinen Kirchenschlüsseln heranrasselte nach dem Verstummen der Betglocke, verwandelte sich plötzlich Vronys Ausdruck und ganzes Wesen; sie kehrte sich um und sah ganz gewöhnlich aus, nur etwas verhaltener Grimm saß ihr in den Augen. Schweigend trennten wir uns, wir fürchteten beide den alten wortlosen Küster. Vrony folgte ihrem Vater; es war für sie Zeit, an die Arbeit zu gehen. Wenn ich dann nach einigen Streifzügen durch die Dämmerung wieder über den stillen Wiesenpfad zurückkehrte, trat ich noch an das niedrige Fenster der Küsterwohnung und sah drinnen beim matten Schein der Öllampe den alten Küster mit seinem grauen, unbeweglichen Gesicht am Webstuhl sitzen, und hinten an der Wand Vrony mit ihrem Spulrad drehend und drehend ohne Unterbrechung, als ob ein inneres Feuer die Finger und das Rad antriebe fort und fort.
Vrony hatte keine Mutter mehr; sie hatte für sich und den Vater Haus zu halten; daneben mußte sie dem alten Küster und Seidenweber überall an die Hand gehen, so auch die kleinen Seidenspulen am Rade drehen, die er in großer Anzahl bedurfte, so daß Vrony noch allabendlich eine große Aufgabe zu lösen hatte, wenn andere Kinder längst Lust und Leid des Tages verschlafen und vergessen konnten. –
Vrony hatte Charakter. Das hätte ich zwar damals nicht so zu nennen gewußt, aber es war die eine Seite ihres Wesens, die mich zu ihr zog; die andere war das Poetische, Phantasievolle, das sie wohl unmittelbar aus der Poesie weckenden Natur, die uns umgab, geschöpft hatte. Gewiß war wenigstens in dieser Umgebung der Keim zur Entfaltung gekommen, wie es kaum geschehen wäre anderswo. Das kam aber alles mehr in ihrem Sein und Wesen, als gerade in Worten zum Vorschein; doch konnte sie etwa auch einmal in Worten heraustreten, aber nur, wenn wir allein waren, wie an jenem Frühlingsabend, da ich dich herauslockte, gute Vrony! Ich habe mir das nie verziehen, du aber wohl, du meintest nicht einmal, daß du mir zu verzeihen hättest.
Es war in den ersten Apriltagen; der Föhn hatte den letzten hohen Schnee plötzlich weggefegt, und die Sonne lag warm auf den gelben Aurikeln im Garten. Ich stand am offenen Fenster und schaute nach dem Weg hinunter zur Kirche, den der Föhn über Nacht trockengelegt hatte. Eben fingen die Sonnabendglocken an den Festtag einzuläuten; auf dem nahen Birnbaum saß eine Amsel und lockte süß hinaus in den Frühlingsabend – mich hielt es nicht mehr, hinaus mußt' ich.
In wenig Sprüngen war ich den Hügel hinabgerannt. Unter der Thür des Küsterhäuschens stand Vrony. Das war mir eben recht. »Komm schnell,« rief ich, »die Sonne hat den Abhang bei der alten Eiche so schön trocken gemacht, und unter der Hecke sind die Veilchen hervorgekommen; die wollen wir holen, komm schnell!«
»Ich muß scheuern,« sagte Vrony mit ziemlich desperatem Ausdruck.
»Komm nur schnell,« drängte ich, »wir reißen die Veilchen mit den Wurzeln aus; gleich sind wir wieder da!«
Das war genug. Hand in Hand rannten wir fort an der alten Scheuer vorbei – richtig, da lag der grüne Abhang ganz trocken in der Abendsonne, und die Vögel zwitscherten fröhlich darüber in der alten Eiche.
»Wir wollen hier auf den Boden sitzen,« sagte Vrony; mir gefiel der Vorschlag.
Der Abend war wunderbar mild und lieblich; über uns ging ein leiser Windhauch durch die Zweige der Eiche, und unter uns rauschte die frische Stille ihre Wellen ins Thal hinab. Nun ging die Sonne hinter dem fernen Jura hinab, und die Gipfel der Schneeberge vor uns fingen an zu glühen. Vrony schaute unverwandt darauf hin.
»Was glaubst Du, das hinter den hohen Bergen liegt?« fragte sie plötzlich, und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie gleich fort: »Sieh', wie das leuchtet! Ich glaube, dort hinten liegt ein großes, warmes Land, wo immer die Sonne scheint und schöne Gärten stehen mit roten Blumen und goldgelben großen Äpfeln. Einmal habe ich das gelesen. Dort giebt es keine kleinen Häuser, wie bei uns, und so dunkle Stuben, wo man am Spulrad sitzen muß. O, ich wollte, ich könnte gleich dort hinüber fliegen über den leuchtenden Schneeberg, und ich flöge nie mehr zurück!«
»Was wolltest Du aber dort thun?« fragte ich.
Sie hing mit brennendem Blicke an dem rosig schimmernden Schneefeld und sagte endlich: »Ich wollte in einem schönen Garten sitzen, wo die fremden Blumen duften, und eine Harfe wollte ich haben, dann würde ich schöne Lieder machen und singen den ganzen Tag.« »Weißt Du, wie man Lieder macht, Vrony?« fragte ich.
»O ja,« sagte sie, »wenn ich am Abend so lange in der dunkeln Stube am Spulrad sitzen muß, dann denke ich an schöne Lieder und Sonne und Blumen, und dann mache ich Lieder und singe sie inwendig in mir.«
»Sag mir eines, Vrony.«
Nun sagte mir Vrony zu meinem Erstaunen ein selbstgemachtes Lied, das mich ganz mitzog, wenigstens der Schluß, vom übrigen Liede weiß ich nichts mehr.
Am Schlusse hieß es:
»So eng ist das Küsterhaus! Vater, ich muß hinaus!«
»Wie singst Du denn die Lieder?« fragte ich weiter.
»Jedes hat eine eigene Weise,« sagte sie, »aber am schönsten ist die Weise zu dem Vers von den Vöglein, den Du einmal gesagt hast; aber der Vers ist auch schöner, als alle anderen Verse, und auch noch schöner als alle Verse im Gesangbuch.«
»Sing' ihn einmal, Vrony.«
Da sang sie mit sanfter Stimme in seltsam rührenden Tönen:
»Die Vöglein schlafen im Walde! Warte nur, balde Ruhest du auch!«
»Vrony, was willst du werden, wenn du groß bist?« fragte ich dann.
»Ich will glücklich werden,« antwortete sie zu meiner Überraschung. Ich dachte, sie würde etwa sagen: »eine Sängerin« und wollte gleich nachdenken, wie man das machen könnte. Aber Vrony hatte immer unerwartete Antworten. Ich glaube, ich sah sie etwas erstaunt an.
»Ja, ja,« sagte sie, »es ist mein größter Wunsch, ich möchte so werden, wie glückliche Menschen sind. Eine große Freude möchte ich haben in meinem Herzen, die gar nicht mehr vergehen würde!«
Die Berge waren verblichen; immer noch schauten Vronys durstige Blicke nach dem Traumlande hinter den Schneebergen. Da entdeckte ich auf einmal den Abendstern über den dunkeln Tannen vor uns drüben am Hügel, und erschrocken fuhr ich auf: »O Vrony, es wird gleich Nacht sein, und Du solltest ja scheuern!«
Ein leiser Schrecken fuhr auch über ihr Gesicht; aber er war gleich verschwunden. Sie stand auf und sagte ruhig:
»Nun bekomme ich Schläge, wenn ich heim komme, aber hier war's so schön! Ich will lieber eine Freude und dann Schläge als gar nichts!«
Wir gingen stillschweigend den Rain hinunter der Küsterwohnung zu. Die Veilchen hatten wir ganz vergessen; das war mir gleichgültig, aber das machte mich traurig, daß Vrony nun Schläge bekommen sollte, und ich war ja schuld, daß sie fortgelaufen war. –
Vrony war zwei Jahre älter als ich. Das nahm man aber nicht so genau in unserer ländlichen Lehranstalt. Wir traten mit einander aus der Schule, und nun stieg Vrony vom Spulrad empor zum Webstuhl, der gewöhnlichen Arbeit der Frauen und Mädchen unserer Gegend.
Ich kam vom Vaterhause weg nach der Stadt, um nun auch einmal etwas pünktlich, nicht nur ungefähr zu erlernen. Nach einigen Jahren wurde ich noch weiter versetzt nach dem schönen Waadtland, damit die etwas störende Raschheit meiner Natur sich in französische Grazie verwandeln möchte, was nicht ganz gelang. Als ich nach den bestandenen Lehrjahren ins Vaterhaus zurückkehrte, da stand noch der alte Birnbaum an der Gartenhecke wie ehemals, und die Amsel sang darauf; drüben leuchteten die Schneeberge, und von der weißen Kirche tönte die Abendglocke herauf wie ehemals – aber irgendwie war doch alles anders. Die Menschen hatten sich alle verändert, die einen waren größer, die anderen kleiner geworden. Vrony war ganz verschwunden, kein Mensch wollte wissen, wohin. Ich hörte eine Geschichte, von der niemand recht wußte, wie sie sich zugetragen hatte. Es war ein junger Zimmermann ins Dorf gekommen, der hatte ein hochfahrendes Wesen und so wilde, schwarze Augen, daß sich jedermann vor ihm fürchtete und ihm aus dem Wege ging, nur Vrony nicht, wie sich bald erzeigte. Kaum neunzehn Jahr alt, wurde sie eines Morgens dem schwarzen Zimmermann in unserer kleinen Kirche angetraut und zog als seine Frau sogleich mit ihm fort, und kopfschüttelnd schauten die Leute ihr nach. Was ich aber auch weiter gern erfragt hätte, es führte zu nichts, niemand wußte Bescheid.
Es folgten nun Jahre, da neue Interessen in mein Leben kamen. Manches Durchlebte versank und verschwand, und mancher betretene Pfad verlor sich wieder: ich ging meine eigenen besonderen Wege. Mit anderen Gestalten früherer Tage war auch Vrony, von der ich nie mehr hörte, aus meinen Gedanken fast ganz verschwunden; nur eine Stelle gab es, wo zuweilen die Erinnerung an sie auftauchte: am grünen Abhang unter der alten Eiche. – Oft schaute ich von jenem Hügel hinab nach dem Tannengrund, durch den das schäumende Bergwasser seine Wellen rastlos dahintrug, ewig wechselnd, ewig dasselbe. Am goldenen Sommermorgen, wenn ringsum alles Menschenleben noch im Schlafe lag, stand ich schon oben, um die Sonne aufgehen zu sehen, Morgenduft trinkend aus der erwachenden Natur um mich und aus den Gesängen der Odyssee, die ich bei mir trug; und an demselben Tage, wenn die letzten Strahlen der Abendsonne auf den Schneebergen glühten, stand ich wieder oben: »das Land der Griechen mit der Seele suchend.«
So war es an einem milden Mai-Abend; von der sinkenden Sonne beschienen lag das Schneefeld der Klariden glühend vor mir; die Hügel umher standen im ersten Grün, die Amseln sangen süße Frühlingstöne über mir in den Zweigen, und unter mir schäumten die Wasser der Sille, geschwellt vom frischgeschmolzenen Gletscherschnee. Meine Seele rief wonnetrunken:
»Ja, alle Deine Wunderwerke Sind herrlich wie am ersten Tag!«
Und zu der sichtbaren Herrlichkeit stieg vor mir der Reichtum unsichtbarer Güter auf, die mich beglückten, und die ich zu schöpfen wußte aus allem Geschaffenen an der Hand des Dichterfürsten, der mich jenes Wort gelehrt. Er hatte mich zu Quellen geführt, an denen ich durstig trank und trinkend dürstete nach mehr, mit dem Wonnegefühl, daß die Quellen unerschöpflich und für jeden Menschendurst genügend seien. – Ich stand an die Eiche gelehnt; ein Windhauch wehte süßen Veilchenduft daher – da stand auf einmal Vronys Gestalt in frischer Erinnerung vor mir, und jener April-Abend tauchte mir auf, da sie neben mir gesessen hatte an dieser Stelle. Das ist die Freude, die nimmer vergehen kann und immer größer wird, die ich jetzt in meinem Herzen habe, sagte ich zu mir, ich möchte sie laut in alle Menschenherzen hineinrufen!
Gedankenverloren schaute ich nach dem blaßgolden gewordenen Abendhimmel, als mich ein herannahender Schritt aufweckte. Ich erkannte in der herankeuchenden Alten die Schneidersfrau, die alte Anne mit der scharfen Nase, die viele Jahre lang des Küsters nächste Nachbarin gewesen war und die Vrony und mich jederzeit als ihre natürlichen Feinde betrachtet hatte, weil wir ihr zu viel lachten und nichts als Tücke im Kopfe hätten, wie sie sich ausdrückte.
Gleich stieg in mir der Gedanke auf, die könnte was von Vrony wissen, und ich rief ihr zu:
»Guten Abend, Frau Anne, es freut mich, Euch einmal wieder zu sehen.«
»Wohlfeile Freude,« sagte sie trocken, doch kam sie heran und gab mir die Hand. Ich fragte sie sogleich, ob sie mir etwas von Vrony sagen könne.
»Gewiß,« sagte sie, »wir sind wieder Nachbarn.«
Das machte mir Freude.
»So erzählt mir doch alles, was Ihr wißt,« sagte ich, »ich hatte Vrony recht lieb.«
»Ja,« sagte sie ziemlich verächtlich, »so lange man miteinander in die Schule geht und zusammen die Leute auslacht, hat man sich lieb, aber wenn es dem einen gut geht, und das andere steckt im Elend, dann weiß man nichts mehr von einander.«
»Im Elend? Ist denn Vrony im Elend?« fragte ich überrascht.
»Freilich ist sie,« sagte die Alte, »wenn sie auch nichts sagt, so sieht man es ihr genug an; den alten Kopf hat sie immer noch und läßt sich nichts sagen, wie da sie ihn nahm.«
»Sagt mir, Frau Anne,« bat ich nun mit großem Interesse, »wißt Ihr, wie es kam, daß sie des Zimmermanns Frau wurde?«
»Ob ich das weiß?« sagte sie achselzuckend, und kam dann, wie ich gewünscht, ins Erzählen:
»Ich war ja damals in der nächsten Thür, ich sah alles. Ich habe ihr genug abgeraten, der Zimmermann sah aus wie einer, dem der Böse keine Ruhe läßt, so wild funkelten seine Augen im Kopf herum; aber er war weit herumgekommen und konnte erzählen wie ein Kalender vom Meere und von den großen Schiffen und von fernen Ländern, wo fremde Bäume stehen und farbige Vögel drauf sitzen, und große rote Blumen glühen darunter wie Feuer. Wenn er so erzählte, da paßte Vrony aber auch auf, als wäre es schade für jedes Wort, das daneben käme. Als ich das sah, sagte ich einmal zu ihr: ›Vrony, Du läufst ins Unglück.‹ Da lachte sie laut auf, als ob das ein besonderer Spaß wäre.
»Einmal kam ich spät abends dieses Weges, da stand sie hier unter der Eiche, wo wir jetzt stehen, und schaute ganz stramm gegen den Abendhimmel hin, als sähe sie etwas besonderes.
›Vrony,‹ sagte ich, ›laß Du den laufen, oder Du lachst nicht lange mehr!‹
›Ich will nicht,‹ sagte sie, ›ich will hinaus, und er geht weit fort mit mir.‹
»Vrony hatte immer unnützes Zeug im Kopfe und konnte nicht thun wie die andern; so mußte sie auch einen nehmen, vor dem alle anderen liefen.«
»Wo gingen sie denn hin mit einander?« fragte ich.
»Das kann ich nicht sagen,« fuhr die Alte fort, »aber nach einigen Jahren waren sie auf einmal wieder da, und unversehens waren wir wieder Nachbarn im Dorf drüben.«
»Was lebt Vrony jetzt? Sieht sie noch aus wie früher?«
»Nein, lange nicht, und was sie lebt, weiß ich wohl, wenn sie schon nichts sagt. Wenn der Zorn in den Mann fahrt, so haut er alles nieder und seine Frau zuerst.«
»O, wißt Ihr denn das bestimmt?«
»Bestimmt genug, wenn man gesehen hat, was ich gesehen habe. Als ich einmal ein Jammergeschrei drüben hörte, lief ich hin, um zu sehen, was es gebe. Als ich die Thür aufmachte, riß sie mir von innen der Zimmermann aus der Hand und lief an mir vorbei hinaus; aus seinen Augen kam's wie Höllenfeuer. Drinnen saß Vrony am Tisch, den Kopf auf die Hand gestützt, und von der Stirn tröpfelte das Blut herunter; sie war totenbleich und sagte kein Wort. Am Boden neben ihr saß ein kleiner Junge und schrie aus Leibeskräften. Vrony wollte mich nicht sehen, ich sah es wohl; ich machte die Thür wieder zu und ging fort; und seitdem weiß ich wohl, was drüben vorgeht, wenn das Jammergeschrei ertönt.«
»Hält denn Vrony dem allen immer still?«
»Nicht immer, einmal war sie verschwunden und kam drei Tage nicht mehr zum Vorschein. Am vierten Abend sah ich sie zurückkehren in der Dämmerung, sie sah mich nicht. Sie kam leise und matt herangeschlichen. Das war nicht ihr alter Schritt, sie hob den Kopf auch nicht auf, es sah aus, als sei etwas gebrochen in ihr. Vrony war immer halsstarrig und hatte nie guten Rat annehmen wollen; aber wie ich sie so leise auf ihre Leidensstätte zurückschleichen sah, da schoß mir doch das Wasser in die Augen. Gute Nacht!« sagte die alte Anne plötzlich und lief den Hügel hinab.
Ich war wie von einem Schlage getroffen. Wie nach einem Rettungsbalken, an dem ich mich wieder aufrichte, suchte ich nach dem Reichtum in meinem Innern, an dem ich mich so kurz vorher so hoch gefreut hatte; da sollte doch auch eine Hilfe, ein Trost zu finden sein für Vrony, den ich ihr so gern geben wollte. Aber nach welchem Tropfen in meinem Freudenbecher ich auch greifen wollte, mir war, als könnte keiner, keiner von allen die rechte Erquickung bieten. Ein unaussprechliches Weh kam über mich; ich saß an der Eiche nieder und weinte.
Als ich lange nachher die Stelle verließ, stand der Abendstern über den dunkeln Tannen, ganz so wie er dort gestanden hatte, als neben mir in Vronys leuchtenden Kindesaugen das Verlangen nach dem unbekannten Herrlichkeiten der kommenden Tage geglüht hatte.
Weshalb ich damals Vrony nicht aufgesucht habe? Als ich an jenem Abend an der Eiche weinte, war das nicht nur um eines vorübergehenden Mitleids willen, was ich für Vrony empfand, sondern weil eine dunkle Macht an mich herantrat in diesem Leiden, gegen die ich keine Wehr mehr hatte. Hätte ich auf jene Stätte des Elends mit der Odyssee in der Hand treten können und das zerschlagene Leben mit homerischer Heiterkeit aufwecken? So verdreht war ich nicht. Ich konnte damals nicht zu ihr gehen!
Noch manchmal sah ich den Abendstern über jenen dunkeln Tannen leuchten in den folgenden Jahren; an manchem stillen Abend stand ich auf dem Hügel und schaute nach der sinkenden Sonne. Manchen tiefen Kampf, den ich nicht vor Menschenaugen auszukämpfen vermochte, brachte ich auf die stille Stätte, und manche Stunde nagender Unruhe wurde unter der schweigenden Eiche durchgerungen. Das Schönste, was von vergänglicher Herrlichkeit, und das Bitterste, was von Erdenweh in mein Leben gekommen ist, habe ich an jenem stillen Hügel niedergelegt; so ist er mir zum erinnerungsreichen Grabhügel geworden, auf den die Worte eingegraben sind:
»Menschliches Wesen, Was ist's? – Gewesen! In einer Stunde Geht es zu Grunde Sobald das Lüftlein des Todes d'rein bläst.«
Es waren reichlich zehn Jahre vergangen, seit ich die alte Anne am Hügel getroffen hatte; sie lag schon lange unter dem Rasen bei der weißen Kirche.
Ich lebte seit Jahren in der Stadt, wo ich mit besonderem Interesse das Gedeihen des kürzlich gegründeten Diakonissenhauses verfolgte. Eines Tages sagte mir eine der Schwestern, es sei eine Kranke gebracht worden vom Berge herunter aus der Nähe meiner Heimat. Ich ging gleich nach dem Krankensaale. Da saß auf einem der Betten, an hohe Kissen angelehnt, eine völlig abgemagerte Gestalt, so bleich und elend, daß ich erschrak, aber gleich darauf erkannte ich die grauen Angen, die über den verlittenen Zügen aufleuchteten, da ich mich näherte. Vrony hatte mich auch erkannt.
»Bist Du's wirklich, Vrony?« fragte ich, an ihr Bett tretend.
»Ja, ja,« rief sie, »und ich freue mich so sehr, daß Sie kommen.«
»Vrony,« sagte ich und gab ihr die Hand, »wir wollen uns doch nennen wie ehedem; wir waren ja nahe Freunde.«
»Ja,« sagte sie zögernd, »ich wollte schon gern, aber ich bin so weit unten und – Du nicht.«
»Welcher von uns weiter herunter mußte, Du oder ich, Vrony, das weiß Gott allein, mich freut es auch, daß ich Dich wieder finde nach so langen Jahren.«
Nun setzte ich mich zu ihr, und wir sahen uns an, wohl beide ein wenig erstaunt, denn wir waren beide anders geworden.
Vronys graue Augen hatten ein neues mildes Licht bekommen, und ein veredelter Ausdruck lag auf dem totblassen Gesicht. Tiefe Leiden hatten sich in die Züge eingegraben, aber nicht sie entstellt. Ein Hauch stiller Größe wehte mich an aus ihrem ganzen Wesen, der mich befremdete und doch bekannt anmutete, als hätte ich immer gewußt, daß in Vrony etwas Königliches wäre, es müßte nur erst zur Erscheinung kommen können. Wir sahen uns eine Weile schweigend an, jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt; dann sagte Vrony plötzlich:
»Ich hatte Dein Gesicht nie vergessen, aber ich hatte es nur lachend im Sinn, kannst Du auch noch lachen wie in unseren Schultagen?«