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Eine unfassbare Schuld! Hat die Lehrerin Angelika Wiechert vor zehn Jahren ihre beiden kleinen Söhne ermordet? Ein junger Anwalt will neue Beweise für ihre Unschuld vorlegen. Zur selben Zeit beauftragt ein Hamburger Millionär einen Spezialisten damit, seine drogensüchtige Tochter mit allen Mitteln vor dem endgültigen Sturz in den Abgrund zu retten. Dazu eine Mordserie, eine aus dem Gefängnis entlassene junge Frau, die in Freiheit finstere Wege einschlägt und dadurch eine Katastrophe auslöst - da kommt auf die Hamburger Mordkommission mit ihrer neuen Chefin Diana Krause jede Menge Arbeit zu. Mitten drin der Autor Eric Teubner, der eigentlich ein Drehbuch schreiben soll, sich aber viel lieber mit einem alten Projekt beschäftigt, das ihn schon bald ins Zentrum aktueller Ereignisse führt. Verschiedene Geschichten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Und doch eint sie am Ende eine unfassbare Schuld.
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Seitenzahl: 673
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Alle wahrhaft schlimmen Dinge beginnen mit der Unschuld.
Ernest Hemingway
Prolog: Freundinnen
Kapitel 1: Rückkehr
Kapitel 2: Begegnungen
Kapitel 3: Pläne
Kapitel 4: Besuche
Kapitel 5: In die Enge getrieben
Kapitel 6: Nebenwege
Kapitel 7: Schlechte Aussichten
Kapitel 8: Spielregeln
Kapitel 9: Richtungssuche
Kapitel 10: Hypothesen und Irrtümer
Kapitel 11: Abschied
Kapitel 12: Rückblicke
Kapitel 13: Enthüllungen
Kapitel 14: Angelika
Kapitel 15: Symbiose
Kapitel 16: Das Ende der Hoffnung
Kapitel 17: Spurlos
Kapitel 18: Trauer, Wut und Hoffnung
Kapitel 19: Schach und matt
Kapitel 20: Befreiung
Kapitel 21: Verdächtig
Kapitel 22: Tod in St. Georg
Kapitel 23: Neue Ziele
Epilog: Träume
Nachwort
Langsam wurde die Zeit knapp. Schon bald sollte Verena Haslinger aus der Haft entlassen werden. Unermüdlich hatte Angelika Wiechert ihr den Plan erläutert. Letztendlich mangelte es der jungen Gefangenen nicht nur an der nötigen Konzentration, sondern auch an der Fähigkeit, die wesentlichen Zusammenhänge zu verstehen.
Gleich nach ihrer Entlassung würde sich Angelikas Anwalt um Verena kümmern. Um alles, was für die ersten Schritte in der Freiheit wichtig war. Sie musste sich nur an das halten, was sie besprochen hatten. Davon hing eine ganze Menge ab. Allerdings durfte Verena keine Risiken eingehen, nichts auf eigene Faust unternehmen. Ob sie das verstanden habe, wollte Angelika wissen. Diese Frage trieb eine nervöse Röte in Haslingers Wangen. Resignierend musterte Angelika die Geliebte, die sich ihr im Gefängnis von Anfang an angeschlossen hatte. Im Schutz ihrer starken Persönlichkeit war sie für die Mitgefangenen tabu geworden. So sehr die Wiechert hier auch verhasst war, niemand legte sich mit ihr an. So waren die beiden Frauen weitgehend ungestört geblieben.
In Freiheit wäre keine von ihnen auf die Idee gekommen, eine gleichgeschlechtliche Beziehung einzugehen. Inzwischen aber fiel es ihnen immer schwerer, sich ein Leben ohne einander vorzustellen. Eine Partnerschaft, die keine Augenhöhe erforderte. Die Wiechert hatte das Sagen. Haslinger folgte.
Verena Haslinger hatte ihre Strafe bald verbüßt. Die Freude auf die bevorstehende Freiheit hielt sich jedoch in Grenzen. Die Aussicht, demnächst ohne Angelika klarkommen zu müssen, in einer Welt, in der sie sich sowieso noch nie zurechtgefunden hatte, behagte ihr wenig. Vor allem sollte sie sich von ehemaligen Bekannten aus dem alten Leben fernhalten, hieß es in den vorbereitenden Gesprächen immer wieder. Aber wer blieb dann noch übrig?
„Was ist los mit dir?“, fragte Angelika in scharfem Ton. „Schon wieder alles vergessen?“
Trotziges Kopfschütteln.
„Dann wirst du es also schaffen?“
Eifriges Nicken.
„Weil du an meine Unschuld glaubst?“
Verena öffnete den Mund, diese vollen, schön geschwungenen Lippen, schloss ihn dann aber wieder. Was sollte sie antworten? War das überhaupt eine Frage gewesen?
Angelika durchbohrte sie förmlich mit ihrem Blick. Nur noch mühsam beherrscht.
„Hältst du mich etwa immer noch für die Mörderin meiner Kinder?“
In Verenas Augen trat ein nervöses Flackern. Natürlich dachte sie das! Niemand hier im Knast zweifelte daran. Angelika hatte diese Ausstrahlung, die sie noch schuldiger wirken ließ als jede andere Mörderin, die hier ihre Strafe absaß. Viele von denen hatten aus Verzweiflung getötet oder aus Angst. Manche aus Habgier. Aber die eigenen Kinder …? Nur, um frei zu sein für den Kerl, mit dem man seinen Mann betrog!
Verwirrt schwieg Verena.
Angelika blieb unerbittlich, war nicht gewillt, die Freundin so einfach davonkommen zu lassen. Sie bestimmte Beginn, Verlauf und Ende eines Gesprächs. Das war schon als Lehrerin ihre Devise gewesen, in dem Leben damals … vor der Verurteilung. Sie war eine strenge Pädagogin mit klaren Grundsätzen gewesen. Im Gefängnis war sie das geblieben, mit unvermindert hohen Erwartungen und unnachgiebiger Härte. Keine Rücksichtnahme. Nicht mal auf Verena, die Frau, die ihr mehr gab, als ein Mann ihr je hatte geben können. Endlich bot sich die Gelegenheit für den von Angelika lange erhofften Befreiungsschlag. Darauf hatte sie sich hier im Knast in den letzten Jahren systematisch vorbereitet. Und nie war der Zeitpunkt besser gewesen als jetzt.
„Du hältst mich für eine Mörderin!“, stieß sie verbittert hervor. „Nach allem, was ich dir anvertraut habe? Denkst du, ich hab dir Märchen erzählt, um uns die Zeit zu vertreiben?“
Verenas Augen wurden feucht, glasig, dann senkte sie den Blick. In ihrer ganzen Körperhaltung lag etwas Devotes, die totale Selbstaufgabe. Der Wunsch, unsichtbar zu werden. Die Bitte um Gnade.
Die aber gewährte ihr Angelika nicht.
„Wenn du wirklich glaubst, dass ich meine beiden Jungs getötet habe, warum bist du dann so gern mit mir zusammen? Mit einer Mörderin. Träumst von unserer gemeinsamen Zukunft draußen.“
Jetzt stiegen Tränen in Verenas Augen. Eine typische Reaktion, sobald der innere Druck zu mächtig zu werden drohte und ihr keine passenden Antworten mehr einfielen. Hier im Gefängnis war sie bisher bei solchen Blackouts von der Frau beschützt worden, die sie jetzt erbarmungslos in die Enge trieb.
„Was bist du nur für eine verdammte Heuchlerin!“, zischte Angelika und schlug Haslinger mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Herrscht da drinnen mal wieder totale Finsternis? Wozu bin ich ehrlich zu dir? Damit du mich weiter für eine Bestie hältst?“
Verena begann lautlos zu weinen. Lautlosigkeit war ihr prägendster Wesenszug. Hatten ihr doch die gottesfürchtigen Eltern schon früh alle unnötigen Geräusche und Worte ausgetrieben, mit jedem Gegenstand, der sich dafür anbot. Im Schmerz wäre sie Gott besonders nah, hieß es bei jeder Züchtigung, die in der Regel erst beendet wurden, wenn sie den Schmerz lang genug stumm ertragen hatte. Tränen oder Betteln verlängerten nur das Ritual. Dass sie ihren Eltern später dankbar sein würde, hatte der Vater ihr prophezeit, kaum dass er verschwitzt, aber zutiefst befriedigt von ihr abgelassen hatte. Auf diese Weise war Verena von Kindesbeinen an regelmäßig sehr nah an Gott herangekommen, und das mit einer Intensität, die ihren sanften Glauben in etwas Dunkles verwandelte.
Mittlerweile waren die Eltern längst tot. Dafür hatte Verena Gott tatsächlich gedankt. Von ganzem Herzen!
Schon seit einer Weile hatte die Justizvollzugsbeamtin Britta Riemenschneider die beiden Frauen beim Sortieren der aktuellen Bücherlieferung im Blick. Die großgewachsene Wiechert, die mal wieder pausenlos am Flüstern war, und die beschränkte Haslinger, die mit offenem Mund lauschte, in dieser für sie typischen, geradezu hündischen Unterwürfigkeit. Riemenschneider war sofort zur Stelle. Fast so groß wie Wiechert, mit einem Körper, der einem Sumo-Ringer zur Ehre gereicht hätte, baute sie sich vor den beiden Frauen auf.
„Ehekrise?“
Angelika musterte die Aufseherin furchtlos.
„Ihr Fachgebiet, Major?“ Sie nannte Riemenschneider grundsätzlich Major, und der schien das nichts auszumachen. Es gab schlimmere Spitznamen für das Wachpersonal.
„Im Krisenmanagement bin ich jedenfalls bestens ausgebildet. Ich könnte dafür sorgen, dass ihr beiden Turteltäubchen mal für eine Weile getrennte Wege geht, um euch voneinander zu erholen. Ihr klebt ja wie Kletten aneinander.“
„Fick dich“, murmelte Angelika Wiechert, allerdings bemüht, es scherzhaft klingen zu lassen. Sie lächelte sogar.
„Ja, fick dich“, wiederholte Haslinger und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg.
Riemenschneider richtete den Blick auf die zierliche Gefangene, als bemerke sie erst jetzt deren Anwesenheit.
„Hast du grad ein Bäuerchen gemacht, Haslinger?“
Die junge Frau senkte den Kopf und zeigte plötzlich großes Interesse an dem vor ihr liegenden unsortierten Bücherstapel. Eine harsche Ansprache reichte in der Regel aus, um jeden Funken Widerstand in ihr zu ersticken.
Riemenschneider grinste.
„Und wollen wir jetzt mal mit der Arbeit weitermachen? Oder wünscht eine von euch eine weniger anspruchsvolle Tätigkeit?“
Angelika Wiechert begann mit stoischer Miene den nächsten Karton zu öffnen, und Haslinger konzentrierte sich mit schmalen Augen auf das Entziffern von Buchtiteln.
Zufrieden nickend verzog sich die stämmige Justizbeamtin wieder auf ihren Lieblingsstuhl in der Nähe des Eingangsbereiches, auf dem sie meist mit offenen Augen vor sich hindöste.
„Die Riemenschneider sieht aus wie ein Kerl“, murmelte Verena und warf Angelika einen um Versöhnung bettelnden Blick zu. Ließ ein betörendes Lächeln folgen, das beherrschte sie wie sonst keine hier. Alles wieder gut?
„Die Riemenschneider ist ein Kerl“, erwiderte Angelika und betrachtete nur mäßig interessiert das erste Buch, das sie aus dem frisch geöffneten Karton befreit hatte. „Die kriegt einen Ständer, sobald sie dich nur sieht, wetten?“
Dann lachten sie leise.
„Ich liebe dich“, flüsterte Verena und strahlte wieder.
Angelika wusste das. Aber das war ihr zu wenig.
Später, auf dem Weg zum Mittagessen, packte sie Verena im Gang fest an beiden Schultern und zog sie zur Seite. Beugte sich zu ihr hinunter, biss ihr kurz ins Ohrläppchen, bevor sie zu reden begann. Dass ihre Zukunft bald in Verenas Händen läge, und das solle die Freundin nie vergessen.
Verena versprach ihr, vorsichtig zu sein und errötete, weil Angelika sie so fest umklammert hielt und, ungeachtet der vorbeiströmenden Mitgefangenen, an sich presste.
„Wenn alles gut geht, gibt es für uns beide ein echtes Happy End!“, sagte Angelika. „Davon haben wir doch die ganze Zeit geträumt.“
Verena versicherte ihr, sich an den Plan halten zu wollen, schien damit den Vorrat an Worten für dieses Gespräch aufgebraucht zu haben.
Angelika blickte auf sie hinunter und fixierte sie, als wolle sie zur Sicherheit auch noch hypnotische Kräfte einsetzen, während Verena vor lauter Anspannung glühte.
„Müsst ihr es jetzt schon öffentlich treiben?“, pöbelte eine Mitgefangene. „Habt ihr überhaupt kein Schamgefühl mehr?“
Angelikas Stimmung war zu euphorisch, um sich auf ein Wortgefecht einzulassen. Sie lachte nur. Bei anderen Gelegenheiten konnte ihre Reaktion deutlich aggressiver ausfallen. Diesmal aber zog sie die kleine Haslinger weiter mit sich, erfüllt von Zuversicht. Wenn auch eine vorgetäuschte Zuversicht. Sie hatte Verena zwar schon viel erzählt. Aber längst nicht alles.
Rechtsanwalt Andreas Brodersen hielt Wort. Wie versprochen kümmerte er sich um Verena Haslinger, die nach der vorzeitigen Haftentlassung in Hamburg vor dem Nichts stand. Besser gesagt: Er ließ kümmern. Dem Juristen selbst mangelte es an der nötigen Zeit. Stattdessen schickte er seine Tante Elisabeth, die Verena vorerst bei sich aufnehmen und ihr in der nächsten Zeit behilflich sein sollte.
Als überzeugte Christin praktizierte Elisabeth Brodersen eine selbstverständliche und pragmatische Nächstenliebe. Sie war Anfang sechzig und eine alleinstehende kettenrauchende Hundenärrin. Vor dem Gefängnis empfing sie die unsicher wirkende Verena mit einer herzlichen Umarmung, nahm der jungen Frau die Sporttasche ab und führte sie zu einem alten Polo. Dabei folgte Verena hauptsächlich der Sporttasche, in der die verbliebenen Reste eines Lebens steckten, das eigentlich nie wirklich begonnen hatte. Schon in jungen Jahren war es verkorkst gewesen. Genau genommen bot ihr die Frau, der sie gerade mit schnellen Schritten hinterherlief, die einzige Chance für einen hoffnungsvollen Neuanfang. Allein deshalb hatte Angelika Verena unmissverständlich eingeschärft, sich bei Brodersens Tante so lange wie möglich einzunisten. Genau so war es mit dem Rechtsanwalt besprochen worden. Außerdem schien Elisabeth Brodersen nach Meinung des Neffen eine Frau zu sein, der ein wenig Gesellschaft ganz guttäte. Es könnte also beiderseitig passen.
„Betty“, korrigierte Elisabeth in bestimmendem Tonfall, nachdem Verena sie wiederholt mit Frau Brodersen angesprochen hatte. Da saßen sie bereits in dem verräucherten Polo, während in Bettys Mundwinkel die nächste Zigarette qualmte. „Darf ich dich Verena nennen, wäre das okay? Du wirst eine ganze Weile bei mir wohnen, da sollten wir uns das Leben so einfach wie möglich machen.“
„Die meisten nennen mich Vreni“, bot Verena errötend an. Verena war sie bevorzugt von den Eltern genannt worden.
Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung auf der Uhlenhorst erklärte die Betty der Vreni, dass sie in den nächsten Tagen volles Programm haben würden. Sie habe sich bereits ausführlich darüber informiert, worauf es nach einer Haftentlassung besonders ankäme. Im Kern waren alle Ratschläge immer die gleichen gewesen:
Fester Wohnsitz, Job und ein geregeltes Einkommen! Also müssten sie sich darum als Erstes kümmern. Mit Gottes Hilfe, wie Betty betonte. Zusammen würden sie zum Sozialamt und zum Arbeitsamt marschieren, sich irgendwann auch auf Wohnungssuche begeben. Nach Bettys Ansicht konnten sie diesen Punkt allerdings vorerst vernachlässigen. Schließlich hätte Vreni eine feste Bleibe bei ihr.
Der Hinweis auf Gottes Hilfe beunruhigte Verena zwar, trotzdem gelang ihr ein tapferes Nicken. Bei Betty Brodersens forschem Tempo blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, zumal deren Vorschläge mehr wie unumstößliche Entscheidungen klangen. Über Verenas mit leiser Stimme geäußerte Befürchtung, sie müsse für die Hilfe der Anwaltstante bestimmte Gegenleistungen erbringen, hatte Angelika nur herzlich gelacht. In diesem Fall liefen die Dinge anders. Verena befinde sich schließlich in der Obhut einer braven Christin, und solche Menschen wären weit davon entfernt, ihre Unterstützung mit Bedingungen zu verknüpfen.
Während der Fahrt betrachtete Verena die brave Christin verstohlen von der Seite und war froh, die stark nach Tabak riechende hagere Frau nicht körperlich entlohnen zu müssen. Ebenso froh war sie aber auch, gerade jetzt nicht allein zu sein, so frisch aus dem Gefängnis entlassen und orientierungslos. Momentan würde sie ohne fremde Hilfe vermutlich schnell wieder unter die Räder kommen. Zur Religion hatte sie aufgrund ihrer Erziehung zwar ein gestörtes Verhältnis, aber Betty Brodersen wirkte freundlich und gütig und schien einen helleren Glauben zu haben als ihre Eltern.
Im wohltuenden Gefühl einer langsam einsetzenden Entspannung machte Verena es sich auf dem Beifahrersitz bequem, den Blick nach draußen gerichtet. Dabei umklammerte sie mit eisernem Griff die Sporttasche und versuchte, sich an das zu erinnern, was ihr Angelika mit auf den Weg in die Freiheit gegeben hatte. Schon jetzt wusste sie nicht mehr, wie genau sie beginnen sollte. Und niemand würde ihr dabei helfen können. Aus Angelikas Mund hatte es ganz einfach geklungen. Aus Angelikas Mund hatte alles ganz einfach geklungen!
Verena hatte wissen wollen, was danach käme. Nach den ersten Schritten. Sobald sie ihren Teil erledigt hatte.
Angelika hatte – wie so oft – undurchsichtig gelächelt.
Das werde sich zeigen.
Natürlich wollte Verena so schnell wie möglich wieder mit ihr zusammen sein. War der Ansicht, doch viel mehr tun zu können. Angelika hatte entschieden den Kopf geschüttelt.
Bloß nicht übertreiben. Ein Schritt nach dem anderen.
„Aber ich könnte ...!“
„NEIN!“ Angelika hatte Verena gepackt und einen herrischen Tonfall angeschlagen. „Nichts wirst du! Du hältst dich an den Plan und damit hat’s sich. Ansonsten kümmerst du dich um dein Leben. Du suchst dir einen anständigen Job, hältst dich von deinen alten Kontakten fern und bleibst so lange wie möglich bei Brodersens Tante in Deckung. Hast du das kapiert?“
Verena lächelte vor sich hin, während sie sich an Angelikas letzten liebevollen Blick zum Abschied erinnerte. Den Kuss danach. Und die letzte Umarmung. Es tat gut, wenn sich jemand so um einen sorgte! Wenn man geliebt wurde. Und begehrt.
„Du lächelst, mein Kind“, stellte Betty Brodersen mit einem zufriedenen Seitenblick fest. „Das ist gut! Gott scheint dir jetzt schon Kraft und Zuversicht zu geben.“
Am Rückspiegel des laut brummenden und klappernden Polos baumelte hin- und herschaukelnd ein Jesusbild. Jesus, der da wie ein Rockstar aussah, eingenebelt von Betty Brodersens Zigarettenqualm. Ein anderer Jesus als der, der damals in Verenas Kinderzimmer von seinem Kreuz auf sie herabgestarrt hatte – Tag für Tag. Ohne eine Miene zu verziehen, auch nicht, wenn Vater oder Mutter der Tochter wieder mal den Teufel aus dem Leib prügeln mussten, sich an ihr abarbeiteten, direkt vor seinen Augen.
„Haben Sie zu Hause Internet?“, fragte Verena aus ihren Gedanken heraus.
„Du!“, korrigierte Betty heiter. „Aber natürlich, Kindchen. Ich bin eine moderne Frau, auch wenn ich vielleicht nicht danach aussehe!“
Verenas Lächeln verstärkte sich. Gott schien dieses Mal wirklich auf ihrer Seite zu sein. Das verleitete sie zu einem spontanen Entschluss: Auch wenn Angelika es ausdrücklich verboten hatte, sie wollte unbedingt eigene Ideen verfolgen. Handeln! Endlich selbst Entscheidungen treffen, statt sich unterzuordnen. Warum immer nur tun, was die anderen von ihr verlangten?
Sie wollte den Weg finden, der Angelika am schnellsten aus der Gefangenschaft führte, der die beiden Frauen bald wieder vereinte. Dann würde alles gut werden. Sie und ihre Freundin würden zusammenziehen und ein neues Leben beginnen können, so, wie sie es sich während ihrer Gefangenschaft gern ausgemalt hatten. Nein, noch viel, viel schöner!
***
Hamburg war nicht seine Heimat. Dennoch löste der Anblick der Hafenstadt bei ihm das bewegende Gefühl einer Rückkehr aus. Am Grab seines älteren Bruders auf dem kleinen Niendorfer Friedhof fand Christian Gravesen nach einer länger währenden Odyssee endlich einen Moment … ja, tatsächlich, einen Moment innerer Einkehr. Für einen Mann Anfang Fünfzig war das fast überfällig. Er besaß noch klare Erinnerungen an Frank und die letzten gemeinsamen Tage, die ihnen damals in Hamburg geblieben waren. Gespräche im Hospiz, in dem der Bruder den schwindenden Rest seines Lebens verbracht hatte, vom Krebs gezeichnet und doch ausgesöhnt mit dem Schicksal. Zusammen hatten sie ein letztes Mal den Blick zurück gerichtet auf die verwischten Bilder einer nie existenten Familie. Die chronisch rastlose Mutter, die ihre beiden Jungen in ungeklärten Lebenssituationen zurückgelassen hatte und, auf der Jagd nach unerfüllbaren Träumen, nach beiden Geburten einfach weitergezogen war. Gravesen besaß kaum gute Erinnerungen an die Zeit in den verschiedenen Kinderheimen, bevor ihn eines Tages überraschend der ältere Bruder Frank zu sich geholt hatte. In Hamburg hatten sie vor fast zwei Jahren kurz vor Franks Tod noch mit dem Journalisten und Buchautoren Eric Teubner zusammengearbeitet. Sie hatten dessen damalige Lebensgefährtin Marie aus einer dramatischen Lage befreien können. Vieles hatten sie richtig gemacht – aber nicht alles. Seitdem hatte die Zeit schon wieder jede Menge Zukunft in Vergangenheit verwandelt.
Nach einer Weile der Besinnung verließ Gravesen den Friedhof und schlenderte zum Wagen zurück. Endlich mal ohne jeden Zeitdruck. Seelenruhig tippte er das nächste Ziel in das Navi ein, wartete geduldig, bis es gefunden war und fuhr los, den präzisen Angaben der mechanischen Stimme folgend. Er wusste nicht genau, was ihn als Nächstes erwartete. Ein guter Bekannter hatte ihm diesen potenziellen Auftrag in der Hansestadt vermittelt. Dort sollte ein ziemlich reicher Mann ein ziemlich großes Problem mit seiner jüngsten Tochter haben. Die Lösung dieses Problems, so hatte Gravesen erfahren, erforderte jemanden, der mit den Grenzen der Legalität im Ernstfall flexibel umzugehen verstand – für ihn ein alles andere als unbekanntes Terrain. Noch immer galt er als Spezialist für aussichtslose Fälle. Außerdem war er ein gut vernetzter Experte mit breit gefächerten Kontakten, Mitteln und Möglichkeiten. Das aktuelle Angebot aber interessierte ihn vor allen Dingen aus einem Grund: Geld. Für die Suche nach extremen Herausforderungen wurde er langsam zu alt, und sein Ego kam längst ohne Bestätigung aus. Würde er über ausreichende Rücklagen verfügen, er könnte sich von heute auf morgen problemlos ein Leben ohne besondere Vorkommnisse vorstellen. Relaxen. Ausgiebig Schlaf. Zeit für Bücher. Gutes Essen und gute Weine. Oder auch einfach nur in die Ferne starren. In dieser Ferne endlich die letzten bedeutsamen Ziele ansteuern, die ihn noch reizten. Vielleicht sogar so ganz nebenbei irgendwo auf der Welt die ideale Gefährtin für den Rest seines Lebens finden. Der Traum der inneren Ankunft war verlockend, aber davon konnte er nicht leben. Selbst für einen genügsamen Menschen wie ihn war das Geld aus dem letzten großen Auftrag inzwischen knapp geworden. Nach einigen eher wenig lukrativen Jobs im Süden Deutschlands mit Schwerpunkt München versprach das Angebot aus Hamburg endlich wieder gute Einnahmen. Sein Konto könnte eine üppige Aufbesserung gut gebrauchen.
Der mögliche Auftraggeber wohnte in Falkenstein, einem bewaldeten elbnahen Gebiet in Hamburg-Blankenese, in dem sich weitläufig verstreut einige der nobelsten Villen der Stadt verbargen. Er hatte sein Vermögen auf verschiedenen Wegen gemacht. So viel wusste Gravesen bereits. Nicht gänzlich transparente Immobiliengeschäfte, weitreichende Unternehmensverflechtungen im Baugewerbe, gepaart mit guten Kontakten in Wirtschaft und Politik. Oberflächlich betrachtet wies Roger Bauer keinen untypischen Werdegang eines Selfmade-Millionärs auf. Die wichtigste finanzielle Grundlage hatte er allerdings Mitte der Achtziger Jahre geheiratet. Alles, was danach gekommen war, hatte er sich durch Beharrlichkeit, Geschick und einer wohldosierten Portion Risikobereitschaft selbst erarbeitet. Mit seiner Frau Marlene hatte er drei Töchter gezeugt und das Vermögen stetig vermehrt, dabei nie Zeit für Tennis, Golf oder den roten Teppich gehabt, und schon gar nicht für solche Spleens wie das Sammeln von Oldtimern oder Yachten. Heute lebte er als Siebzigjähriger noch zurückgezogener abseits des High Society Rummels, für den er ohnehin nie viel übrig gehabt hatte, auf einem großen und abgeschirmten Anwesen in Falkenstein. Marlene, zehn Jahre jünger, durch einige Schönheits-OPs ein wenig zu straff verjüngt und mit einer für ihren durchtrainierten Körper etwas zu großzügig optimierten Oberweite ausgestattet, genoss dagegen weiterhin ihre regelmäßigen Auftritte als Vorsitzende einiger Stiftungen und als aktive Förderin kultureller Projekte. Sie selbst beschäftigte sich in ihrer Freizeit mit Malerei. Dass sie in dieser Kunstrichtung nicht gänzlich untalentiert sein sollte, bescheinigten ihr immerhin einige Nebenfiguren der Kunstszene, zu denen sie zum Teil besonders enge Kontakte pflegte.
Viel mehr wusste Gravesen noch nicht über seine potenziellen Auftraggeber. Allerdings war ihm schon in Grundzügen klar, worum es bei dem Job ginge. Julia, die jüngste Tochter der Bauers, steckte in Schwierigkeiten. Sie war Gravesen als ebenso attraktives wie schwarzes Schaf der Familie beschrieben worden. Fotos im Internet bestätigten die optische und einige Berichte die inhaltliche Einschätzung. Himmlisches Aussehen vereint mit teuflischer Selbstzerstörungswut. Vom Gymnasium geflogen, am Ende nicht mal die Mittlere Reife geschafft, in mehreren vom Vater organisierten Ausbildungen gescheitert, Exzesse auf Partys, mehrfach von der Polizei aufgegriffen. Zuletzt war sie immer wieder in der Hamburger Drogenszene gesichtet worden. Ohne Zweifel befand sich die Fünfundzwanzigjährige im freien Fall, und die Eltern suchten jemand, der sie auffing, egal wie!
In Gravesens Augen traf kein Klischee für reiche Männer auf Roger Bauer zu. Der mehrfache Millionär wirkte eher wie sein eigener Buchhalter. Er sah noch unscheinbarer aus als auf den wenigen Fotos, die Gravesen im Netz von ihm hatte finden können. Dort präsentierte er sich auf den Bildern wenigstens elegant gekleidet, was seine unauffällige Erscheinung einigermaßen kaschierte.
Im wirklichen Leben kam Bauer in einem altmodischen Jogginganzug auf Gravesen zu und schüttelte ihm - immerhin fest zupackend – die Hand.
Bauer war mittelgroß, mittelschwer mit leichtem Bauchansatz und hatte dünnes, an den Seiten ergrautes und etwas zu langes Haar, das den tiefen Stirnfalten viel Platz ließ. Sein rundes Gesicht zierte eine dezente Brille. Sie war so randlos wie Bauers gesamte Erscheinung. Es war mehr als offensichtlich, dass dieser Mann wenig Wert auf den großen Auftritt legte. In den stilsicheren und von Kunstobjekten dominierten Räumen seines beachtlichen Anwesens, das vermutlich zu einem hohen Prozentsatz den Geschmack seiner Gattin widerspiegelte, wirkte er wie ein Fremdkörper – und das zutiefst gewollt und sichtlich zufrieden.
Der unauffällige Mann überraschte Gravesen mit einer auffällig tiefen und warmen Stimme, die seinem bis dahin grauen Auftritt Farbe und Präsenz verlieh. Fragte seinen Gast nach dessen Getränkewunsch – egal was! Schien auf etwas Ausgefallenes zu hoffen, wie jemand, der die Herausforderung liebt.
Gravesen entschied sich für Wasser, und Bauer kümmerte sich ein wenig enttäuscht per Sprechanlage darum. Anschließend bat er den Besucher noch um ein wenig Geduld. Seine Frau wolle ebenfalls an dem Gespräch teilnehmen und käme gleich.
Die beiden Männer nahmen in einem Raum Platz, der offensichtlich als eine Mischung aus Bibliothek und Arbeitszimmer diente. Bauer hatte seinen Gast in eine gemütliche Sitzecke gelotst. Bequeme Clubsessel im englischen Stil um einen Tisch gruppiert, der in einem Hohlraum unter einer Glasplatte feinen Sand beherbergte, verziert mit einigen Muscheln und Steinen. An der Wand prangte ein übergroßes Gemälde, das sich weder um Proportionen noch um eine realistische Farbgebung scherte.
Die Sessel und den Tisch habe er höchstpersönlich ausgewählt, erklärte Bauer. Gegen den ausdrücklichen Willen seiner Frau, wie er selbstzufrieden betonte. Das Bild habe sie gemalt. Und gegen seinen ausdrücklichen Willen hier aufgehängt. Der einzige Winkel im Haus, den sie beide gestaltet hätten.
Bauer lächelte, nachdem er das Thema angeschnitten hatte.
„Ich denke, damit wissen Sie so ziemlich alles über uns.“
Wies dann auf den Sand unter der Glasplatte des Tisches und erklärte konspirativ:
„Etwas Strand von Lökken. Dort hat die Familie Bauer ihre glücklichsten Zeiten verbracht, bevor uns die Kinder mit ihren Problemen über den Kopf gewachsen sind. Ich liebe diese Ecke im Norden Dänemarks ganz besonders. Die Weite, das außergewöhnliche Licht, die Klarheit der Natur, die Verschmelzung des Himmels mit dem Meer, die Gelassenheit der Menschen. Den Sand hab ich da einfach geklaut. In zwei Eimer meiner Mädchen geschaufelt und mitgenommen. Bitte verpfeifen Sie mich nicht!“
Ein Mann mit seinen Möglichkeiten hätte von jedem exotischen Traumstrand der Welt schwärmen können. Dass er einer eher unspektakulären Ferienregion in Dänemark seine Liebe erklärte, machte ihn in Gravesens Augen gleich ein wenig sympathischer. Es war zwar nicht unbedingt nötig, einen Auftraggeber zu mögen, aber es schadete auch nicht.
„Man hat Sie mir als echten Profi empfohlen“, fuhr Bauer fort, während er seinen Besucher aufmerksam ins Visier nahm.
„Echter Profi für was?“, fragte Gravesen. Doch bevor Bauer antworten konnte, rauschte – wie aufs Stichwort in einer gut getimten Theatervorstellung – Marlene Bauer ins Zimmer. Sie eroberte die Szenerie mit dem Willen, vom ersten Moment ihres Auftrittes an die Hauptrolle an sich zu reißen. Woher sie auch immer gerade gekommen sein mochte, vom Tennis, aus dem hauseigenen Fitnessstudio oder von einem Quickie mit dem Personal Trainer, sie wirkte aufgekratzt, leicht erhitzt und energiegeladen. Duftete sündhaft, während sie Gravesen, der sich höflich aus dem Sessel erhoben hatte, wie einen alten Freund begrüßte, und ihren Mann, der sitzenblieb, gar nicht. Nur ein kurzer Blick, wie man ihn einem ungebetenen Gast zuwirft.
Eine junge Frau folgte der Hausherrin auf dem Fuße und brachte auf einem Servierwagen Getränke, kleine Sandwiches und Knabbereien in einer Größenordnung, die für eine Party gereicht hätte. Gravesens bemerkte den vertraulichen Blickkontakt der jungen Bediensteten mit dem beherzt nach einem Häppchen greifenden Hausherrn.
Nachdem er wieder Platz genommen hatte, schenkte Marlene Bauer ihm und sich jeweils ein Glas Wasser ein. Gravesen registrierte stark beringte Finger und die vielen dünnen Armbänder, die bei jeder Bewegung an äußerst schmalen Handgelenken klirrten und klimperten. Roger Bauer angelte sich vom Servierwagen eine Kräuterlimonade und wandte sich an Gravesen. Kam dann ohne Umschweife auf den Grund des heutigen Treffens zu sprechen: seine Tochter Julia.
Gravesen trank einen Schluck Wasser. Bling H20! Er hatte genügend Kenntnis, um zu wissen, dass man ihm hier nicht irgendein Wasser servierte.
„Schon Julias Geburt war die schwierigste unserer drei Mädchen“, ergriff Marlene das Wort. „Von der Nabelschnur erdrosselt kam sie bereits tot zur Welt. Die Maßnahmen der Ärzte, sie wiederzubeleben, verliefen glücklicherweise erfolgreich. Aber nach meiner Auffassung hat dieses Nahtoderlebnis während der Geburt Julias Wesen entscheidend geprägt.“
Bauer räusperte sich hörbar ungeduldig.
„Ich glaube nicht, dass Herrn Gravesen solche Nebensächlichkeiten interessieren. Es ist doch nicht von Bedeutung für den Job!“
„Aber für mich ist es von Bedeutung!“, entgegnete Marlene Bauer. Und an Gravesen gewandt: „Ich halte es für wichtig, dass Sie so viel wie möglich über meine Tochter wissen. Im Zweifelsfall wird es Ihnen die Entscheidung erleichtern, ob Sie den Fall überhaupt annehmen wollen. Hab ich nicht recht?“
„Dazu müssen wir überhaupt erst einmal eine Entscheidungsmöglichkeit bieten“, brummte Bauer. „Also darf ich jetzt wieder?“
Er durfte nicht.
„In der Schule war Julia in den ersten Jahren immer Klassenbeste“, sprach seine Frau unbeeindruckt weiter. „Ein kluges und aufgewecktes Mädchen. Der Leistungsabfall kam dann während der Pubertät.“
„Der Leistungsabfall wurde von schlurfenden Jungs in hängenden Hosen ausgelöst“, fuhr Bauer dazwischen. „Als unsere Julia auf einmal wie eine kleine Nutte herumlaufen wollte und ihre Mutter sie darin sogar noch bestärkte. Eine Tätowierung auf dem Hintern. Zum vierzehnten Geburtstag! Für Mutter und Tochter ging es nur noch um die Frage, ob auf der linken oder rechten Seite, Herrgott!“
„Die Welt hat sich nun mal seit deiner Jugend permanent weiter entwickelt, mein Lieber“, entgegnete Marlene Bauer und griff nach einigen Salzstangen, auf denen sie ärgerlich zu knabbern begann. „Die Mädchen dachten damals schon lange nicht mehr wie Hanni und Nanni!“
Bauer sah seine Frau geringschätzig an.
„Hätten sie bloß! Ist es nicht unsere Aufgabe, die Mädchen davon abzuhalten, sich mit vierzehn in kleine Luder zu verwandeln?“
Nachdem Marlene schmollte, übernahm der Millionär endgültig die Gesprächsführung, und Gravesen war erleichtert, nicht Zeuge eines weiter eskalierenden Ehekonflikts zu werden.
„Leider müssen wir erkennen, dass unsere Jüngste heute im Alter von fünfundzwanzig Jahren am Ende ist. Nach unseren Erkenntnissen haust sie mit einem seltsamen Vogel in einer meiner Eigentumswohnungen in St. Georg und hat selbst die ‚Karriere’ als Edelnutte nicht hingekriegt. Sie ist cracksüchtig. Und da ich ihr endgültig den Geldhahn abgedreht habe, befürchte ich, dass sie zukünftig noch viel schlimmere Sachen machen könnte als bisher.“
„Dann gib ihr verdammt noch mal endlich wieder Geld“, giftete Marlene Bauer ihren Mann an. „Du hast sie doch schon in die Prostitution getrieben. Was willst du ihr noch antun?“
Entschieden schüttelte Bauer den Kopf.
„Ich möchte sie retten. Warum kapierst du das nicht endlich?“
Er blickte Gravesen an.
„Besser gesagt, Sie sollen meine Kleine retten. Sie sollen sie aus der Scheiße ziehen. Koste es, was es wolle.“
„Sie ist volljährig“, stellte Gravesen fest.
„Ja, und?“ Bauer sah ihn verständnislos an.
Skeptisch bewegte Gravesen den Kopf hin und her.
„Wenn ich sie gegen ihren Willen aus ihrer jetzigen Lebenssituation heraushole, ist das rechtswidrig.“
Bauer nickte, während sein Gesichtsausdruck weiter verständnislos blieb.
„Also lassen Sie sich was einfallen“, forderte er Gravesen auf. „Man hat Sie mir als Spezialisten für besondere Fälle empfohlen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Rettung meiner Tochter zu den schwierigsten Aufgaben Ihrer Laufbahn gehören sollte. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Vor einiger Zeit haben Sie mit Ihrem Bruder und einem Journalisten eine entführte junge Frau befreit. Ein spektakulärer Fall damals. Da soll auch nicht gerade alles legal abgelaufen sein.“
Gravesen grinste. Bauers Hinweis erinnerte ihn daran, hier in Hamburg auch noch unbedingt mit Eric Teubner Kontakt aufzunehmen. Der war es gewesen, der seinen Bruder Frank und ihn seinerzeit in den Fall hineingezogen hatte. Bei der entführten Frau hatte es sich um Teubners ehemalige Freundin Marie gehandelt. Teubner lebte und arbeitete immer noch in Hamburg, der konnte gar nicht anders. Auch Marie hielt sich seit kurzem wieder in der Hansestadt auf. Das wusste Gravesen. Sie hatte sich erst kürzlich wieder bei ihm gemeldet.
Marie! Die Zeit mit ihr auf La Palma. Aufregend. Ob sie jetzt wieder mit Eric zusammen war? Ob sie Eric von ihrer damaligen Liaison mit Gravesen erzählt hatte? Das Leben steckte voller unberechenbarer Entwicklungen! Nicht alle ließen sich auf das Schicksal schieben.
Gravesen schüttelte die Vergangenheit ab und konzentrierte sich wieder auf das Jetzt.
„Manchmal geht es um Leben und Tod“, erklärte er Bauer. „Dann ist alles erlaubt.“
Der Millionär breitete vielsagend die Arme aus. Na bitte! Auch bei seiner Tochter ginge es um Leben und Tod.
Gravesen musste nicht lange überlegen, bevor er einwilligte.
Der Auftrag klang machbar. Aber jeder weitere Schritt musste ab jetzt gut überlegt sein. Besonders entscheidend war das Zeitfenster.
Angesichts der Lage, in der die jüngste Tochter der Bauers inzwischen steckte, musste er so schnell wie möglich handeln. Bauer wollte es dennoch seiner Erfahrung überlassen.
„Tun Sie einfach, was getan werden muss. So schnell wie möglich. Es muss nur rechtzeitig geschehen.“
„Ich brauche einen Vorschuss“, sagte Gravesen und sah den Millionär direkt in die Augen.
„Ich weiß“, entgegnete Bauer unergründlich lächelnd. Auch er hatte seine Hausaufgaben gemacht.
***
Eric Teubner versuchte über die Liebe zu schreiben, als wüsste er darüber mehr als jeder andere. Die, die sich aus seinen Gedanken befreite, verwandelte sich nach wenigen Seiten von einer fiktiven Protagonistin in seine Ex-Freundin Marie. Gegen seinen Willen. Natürlich. Erfüllt von einer nebulösen Sehnsucht entwickelte er eine ebenso rast- wie ziellose Kreativität, doch egal was er schrieb, alles blieb von Selbstmitleid durchzogen.
Nach einer auf dem Büchermarkt mäßig erfolgreichen Biografie über den verstorbenen Hamburger Verleger Heinrich Michaelsen hatte sich Eric endlich an seinen ersten Roman gewagt. Hatte dann doch wieder … gar nichts frei erfunden. Ein überfrachteter und eingeengter Versuch, wenigstens in der Fantasie das eigene Schicksal in eine sonnige Richtung zu schreiben.
Zu Beginn dieses Prozesses war Marie von einer langen Reise zurückgekehrt. Nicht zu ihm, sondern nur nach Hamburg. Es gab nicht die geringste Chance, die früher so großen Gefühle wieder aufleben zu lassen, denn Marie war nicht allein gekommen, sondern in Begleitung ihres Mannes. Sie hatte in Spanien spontan geheiratet, kurz hinter der Ziellinie ihres privaten Jakobsweges. Einfach so.
Als sie Eric vor einer gefühlten Ewigkeit verlassen hatte, wollte sie sich selbst suchen. Das Ergebnis blieb ihr Geheimnis. Aber in Spanien war sie immerhin auf einen Gefährten gestoßen, der ihr nach Hamburg gefolgt war.
In erster Linie hatte sich Marie bei Eric gemeldet, um ihm vom Ende ihrer Suche zu erzählen, und dass sie nun am Anfang von etwas Neuem stünde, das mit ihm nichts mehr zu tun habe.
Immerhin bot ihm ihr überraschender Besuch die Gelegenheit, die beiden für ihn derzeit wichtigsten Frauen miteinander bekannt zu machen. Die eine, die ihn schon längst verlassen hatte – und dann die andere, die ihn in Kürze verlassen wollte. Zwei Frauen, die aus völlig verschiedenen Lebensabschnitten stammten. Jede ein Kapitel, nein, eher beanspruchte jede ein ganzes Buch für sich.
Daniela Michaelsen, mit der er augenblicklich noch zusammenlebte, mit der gemeinsamen Verantwortung für ihre fast einjährigen Zwillinge. Und Marie. Die Frau, die nach dramatischen Ereignissen vor mehreren Jahren zu einer inneren und einer realen Reise aufgebrochen war.
Nach dieser ersten Begegnung hatte Daniela Marie als erfrischend empfunden und die Hoffnung geäußert, sie und Eric könnten eines Tages vielleicht doch wieder zueinander finden. Eine absurde Idee! Marie war verheiratet. Ein Vielleicht gab es nicht mehr für Eric.
Marie hatte Daniela Michaelsen als außerordentlich sympathisch bezeichnet. Begeistert davon, wie gut diese Frau an Erics Seite passte und mit ihm zu harmonieren schien.
Deshalb musste Eric Marie erst einmal über Danielas Vorliebe für Frauen aufklären. Ihre gemeinsamen Zwillinge waren lediglich die Folge eines weinseligen One-Night-Stands, aus dem sich ihre aktuelle Zweckgemeinschaft entwickelt hatte. Vorübergehend. Eine einzige Nacht und – Peng! Besser gesagt: Peng! Peng!
Ob er es trotz allem wieder bei Marie versuchen werde, hatte Daniela später wissen wollen. Fast hatte es ein wenig eifersüchtig geklungen.
Wie oft sollte Eric sie noch darauf hinweisen, dass Marie verheiratet war? Schlimm genug, sich das selbst immer wieder verdeutlichen zu müssen.
Marie war verheiratet!
„Wie willst du mit einer Lesbe auf Dauer glücklich werden?“, hatte Marie von ihm wissen wollen. Eine Frage, spitz wie eine Nadel, die zeigte, dass Marie immer noch Marie war, egal wohin ihr persönlicher Jakobsweg sie geführt haben mochte.
Im Gegenzug wollte Eric wissen, ob sie auf Dauer mit einem Mann glücklich werden konnte, der ihr Großvater hätte sein können.
Beinahe mühelos hatten sie wieder den emotionalen Siedepunkt erreicht, der damals zu ihrer Trennung geführt hatte.
Marie erklärte ihm mit diesem fremden Lächeln, wie gut ihr die Liebe eines reifen und wohlhabenden Mannes tat, der genau wusste, wann es besser war, den Mund zu halten.
Erics augenblickliche Lebenssituation, so kompliziert und aussichtslos, hatte sich dann aber langsam von selbst zu entknoten begonnen. Daniela plante die Trennung von Hamburg und somit auch von ihm. Nach einem zwar harten, aber doch hoffnungslosem Kampf hatte sie das Medienunternehmen ihres Vaters endgültig veräußert und wollte so schnell wie möglich zurück nach Paris. Dort wartete schon das verlockende Angebot auf sie, wieder die Geschäftsführung des Kunstverlages zu übernehmen, die sie nach dem Tod des Vaters schweren Herzens aufgegeben hatte, um in Hamburg dessen Medienkonzern zu retten. Ein Unterfangen, das trotz unbedingten Einsatzwillens am Ende nicht erfolgreich verlaufen war.
„Daniela kehrt in ihr altes Leben zurück“, erklärte Eric Marie. „Nach Paris. Insofern gibt es nicht einmal für unsere Zweckgemeinschaft eine Zukunft. Wir haben Mutter und Vater gespielt, es hat nicht wirklich funktioniert.“
„Was wird nun aus dir?“, wollte Marie wissen und betrachtete ihn wie einen zum Tode Verurteilten.
Er verstand die Frage nicht. Besser gesagt, er wollte sie nicht verstehen. Sein Leben klärte sich doch gerade.
„Ich bleibe in Hamburg. Mache weiter wie bisher.“
„Und die Kinder?“
„Besuche ich so oft wie möglich.“
Seine Antwort überzeugte Marie nicht, aber in Wahrheit glaubte auch er nicht wirklich daran. Denn eins hatte er während der Zeit mit Daniela und den Kindern gelernt: Das war nicht sein Leben!
„Du hast dich nicht verändert“, sagte Marie zu Eric. Das war von ihr nicht als Kompliment gemeint, und das wusste er auch. Umso mehr habe sie sich verändert, fand er. Sie strahlte nichts Vertrautes mehr aus. Eine Fremde. Nicht mehr so weich und einfühlsam wirkend, eher strikt und zielstrebig, Körper und Wille eisern durchtrainiert. Die schulterlangen Haare zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebunden, der Blick klar, die Bewegungen sicher, das Lächeln reif und wissend in Grübchen eingebettet.
„Wer kann schon aus seiner Haut raus?“, murmelte Eric. „Außer dir.“
Sie tat so, als klänge das nett, was er da von sich gegeben hatte. Wollte betont unbekümmert wissen, ob er ihr noch böse sei, nachdem sie damals gegangen war. Nicht einfach so, wie er es vielleicht empfunden hatte, sondern nach reiflicher Überlegung.
„Es war der richtige Schritt“, entgegnete er, konnte es sich aber nicht verkneifen noch hinzuzufügen: „Für dich!“
Sie verstand die Antwort, aber beide schienen wenig Lust auf die Diskussion zu verspüren, die sich an dieser Stelle hätte führen lassen.
Stattdessen rieb sich Eric unternehmungslustig die Hände und strahlte Marie mit vorgetäuschter Fröhlichkeit an, als sei nun alles in bester Ordnung.
„Was hast du vor hier in Hamburg? Erzähl doch mal. Wirst du länger bleiben?“
Länger zu bleiben hatte sie in der Tat vor. Ihr Mann und sie planten zwei Projekte. Eine Multimedia-Show mit Filmausschnitten, Fotos und Berichten über verschiedene außergewöhnliche Reisen. Dazu die Vorstellung eines gemeinsamen Buches. Wie man den inneren Frieden finden und sich dem Sinn des Lebens auf Sichtweite nähern könne. Durch eine gezielte Verbindung von aktivem und spirituellem Reisen. Dafür hatte das Paar einen Hamburger Verlag gewinnen können.
Das waren ambitionierte Pläne, und Eric wünschte ihr Glück und Erfolg. Sie vereinbarten, in Kontakt zu bleiben, solange sich Marie in Hamburg aufhielt. Es wirkte allerdings eher wie eine geschäftliche Übereinkunft, die auch durch flüchtige Wangenküsse nicht persönlicher wurde. In Wirklichkeit hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen, dafür aber erstaunlich viele Worte gebraucht.
***
Einige Tage später brachte Eric seine Familie zur Bahn. Die Zwillinge waren unruhig, Daniela wirkte traurig, er selbst kam sich vor lauter widersprüchlichen Gefühlen ganz konfus vor.
„Du hättest mitkommen können“, sagte Daniela auf dem Bahnsteig zu Eric. „Wir hätten das alles irgendwie hinkriegen können.“
Genau diese Formulierungen waren Erics Problem. Das alles. Irgendwie. Abgesehen davon, dass es für ihn nie in Frage gekommen wäre, Hamburg zu verlassen.
Er hielt Daniela eine Weile mit der Erkenntnis im Arm, dass sie hier und jetzt das Richtige taten, für sich selbst und auch für die Kinder.
Eric küsste sie auf eine Weise, als hätte es doch eine gemeinsame Zukunft geben können. Gleich danach kam es ihm fast ein wenig unanständig vor, Daniela so zu küssen.
„Immerhin haben wir zwei prächtige Kinder!“, murmelte sie ein wenig benommen von dieser Abschiedsszene. „Du verrückter Kerl!“
Die prächtigen Kinder weinten gerade in Stereo. Sie konnten das Ausmaß dieser Trennung nicht wirklich ermessen, doch das, was sie von der Situation aufnahmen, reichte für kindliche Traurigkeit. Eric nahm sich vor, seine kleine Familie so oft wie möglich zu besuchen und wusste zugleich, wie unrealistisch dieses Vorhaben war. Aber kleine Kinder vergaßen schnell, und große Kinder verbargen die Risse in ihrem Leben hinter guten Vorsätzen.
Während ihr Hab und Gut durch eine Spedition von Hamburg Richtung Paris befördert würde, hatte sich Daniela für eine Bahnfahrt entschieden. Dies bot Eric die Gelegenheit, den dreien auf dem Hamburger Hauptbahnhof beim Einsteigen ein letztes Mal zuzuwinken und anschließend dem modernen Zug hinterherzuschauen, bis er nicht mehr zu sehen war.
Die Zeiten, in denen Fahrgäste aus geöffneten Fenstern Taschentücher schwenkten, gehörten längst der Vergangenheit an. Heute verschwanden Reisende in modernen Zügen und wurden hinter getöntem Glas nahezu unsichtbar. So raubte der Fortschritt auch dieser klassischen Abschiedsszenerie den letzten Funken Romantik.
In seine Wohnung zurückgekehrt, blickte Eric auf Leere und Lücken. Eine Frau und zwei Kinder ließen jede Menge davon zurück, dazu diese zermürbende Stille. Es würde eine große Umstellung werden, die familiäre Lebhaftigkeit des vergangenen Jahres plötzlich nicht mehr um sich zu haben. Keine Gespräche mit Daniela, keine Balgerei mit den Kindern, kein Gefühl mehr, mittendrin zu sein, umgeben von lebendigen, nicht immer harmonischen Geräuschen.
„Ohne uns wirst du mit dem Schreiben wieder besser vorankommen“, hatte Daniela ihm prophezeit. Da mochte was dran sein. Denn allein in einer halbleeren und geräuschlosen Umgebung wuchs zweifellos das Verlangen, sich Einiges von der Seele zu schreiben.
Leider spürte er nach längerer Zeit auch wieder Lust darauf, eine alte Affäre aufleben zu lassen. Allerdings hatte Daniela dafür gesorgt, dass es im Haus keinen Tropfen Alkohol mehr gab. Überhaupt hatte sie sich um viel Stabilität und Struktur in Erics Leben gekümmert und ihn auf Kurs gehalten, wie ein kleiner wendiger Schlepper einen großen, behäbigen Frachter. Doch nun befand sich dieser Frachter wieder allein auf hoher See.
Das Klingeln des Telefons entfachte in Eric die Hoffnung auf eine überraschende Nachricht. Daniela käme mit den Zwillingen zurück. Oder Marie könnte ihren uralten Spanier in den Wind geschossen haben und sich nach Trost sehnen.
Tatsächlich entpuppte sich der Anrufer als Erics Agent Florian Siegel. Auch der war auf Betreiben von Daniela in Erics Leben getreten. Sie hatte diesen Schritt eingeleitet, damit Eric sich neben dem Schreiben nicht mehr um jede lästige organisatorische Angelegenheit kümmern musste – all die Dinge, die aus der bloßen Schriftstellerei ein lukratives Geschäft machten. Siegel war für die namhafte Literaturagentur Marin & Seeberg tätig und Erics persönlicher Betreuer.
Heute konnte der rührige Agent in dieser Funktion am Telefon die triumphale Botschaft verkünden, Erics erfolgreiches Buch Blue Note Girl für einen guten Preis an einen Fernsehsender verkauft zu haben. Ein Zweiteiler sei geplant. Eine Mischung aus Dokumentation über den alten Fall, ergänzt durch Spielszenen. Siegel hielt das für eine spannende und großartige Sache.
Da von Eric am anderen Ende der Leitung nichts zu hören war, erkundigte sich der Agent besorgt, ob er gerade vor lauter Freude über die Nachricht in Ohnmacht gefallen sei.
Eric beruhigte ihn. Nein, nein, alles sei okay. Ein Zweiteiler. Im Fernsehen. Das sei ja … großartig!
Er war ein zu schlechter Schauspieler. Die Begeisterung klang hölzern.
„Hast du schon mal ein Drehbuch geschrieben?“, erkundigte sich Siegel, obwohl er die Antwort längst kannte.
Erics Nein kommentierte er launig mit:
„Wunderbar.“
Für den Abend machte Siegel ein Treffen in dem italienischen Restaurant La Monella mit ihm aus. Italienische Küche. Vegetarisch und Vegan. Er wolle Eric mit einer Drehbuchautorin bekannt machen, das beste Pferd im Stall, wie er sagte.
„Ein Pferd?“, fragte Eric.
„Komm einfach!“, entgegnete Siegel und beendete das Gespräch.
Verhalten nahm Verena Haslinger Betty Brodersens Heim in Augenschein. Ein sparsam eingerichtetes kleines Reihenhaus, drei Zimmer, Küche, Bad, sauber, schmucklos, nur hier und da ein Bild an der Wand, meist religiöse Motive. Im Wohnzimmer dominierte an einer Wand ein mächtiges Regal, drohte überladen mit Büchern aus allen Nähten zu platzen.
Immerhin gab es auch ein modernes Fernsehgerät, eine betagte Kompaktanlage, nur wenige CDs in einem spiralförmigen Ständer daneben. Im Arbeitszimmer, in dem ein Bett für Verena hergerichtet war, stand ein Computer auf einem Schreibtisch. Auf einer antiquierten Anrichte im Wohnzimmer präsentierten unterschiedliche Bilderrahmen Fotos, alles dicht an dicht aufgereiht. Die meisten zeigten Hunde, mal mit und mal ohne Frauchen Betty. Auf einigen wenigen waren lachende Menschen zu sehen, von denen Verena natürlich niemanden kannte. Trotzdem schenkte sie jedem einzelnen Foto viel Aufmerksamkeit, nahm sich vor, in ihrem künftigen Zuhause mit Angelika eines Tages eigene Fotos aufstellen zu wollen, in ganz besonders schönen Rahmen, sobald es auch von ihrem Leben bewahrenswerte Erinnerungen an besondere Menschen und Momente geben würde.
Sie habe bisher drei Hunde gehabt, erzählte Betty mit wehmütigem Blick auf die Fotosammlung. Die letzte Hündin Greta sei erst kürzlich gestorben. Ihre Stimme wurde brüchig, als sie davon sprach, eine Freundin verloren zu haben. Erst wenn sie eines Tages über den Verlust hinweggekommen sei, würde sie sich vielleicht wieder ... sie holte tief Luft. Nein, noch wäre sie nicht so weit!
Verena musterte Betty zweifelnd.
„Eine Freundin?“, wiederholte sie verständnislos. „Ein … Hund?“
Betty zuckte mit den Achseln. Es machte keinen Sinn, das für sie so emotionale Thema zu vertiefen. Manchen Menschen fehlte das Verständnis dafür, wie erfüllt das Leben mit einem vierbeinigen Begleiter sein konnte.
„Wir sollten zusammen beten, Vreni“, schlug sie vor. „Für deine Seele, dein Glück, deine Zukunft und unser gemeinsames Leben in der nächsten Zeit. Der Herr soll auf unsere Geschicke ein wachsames Auge richten, findest du nicht?“
Verena reagierte ähnlich reserviert wie bei dem Thema Hunde, fügte sich dann aber doch Bettys Wunsch. Sie wollte die Frau nicht verletzen. Auch wenn sie mit Gott noch weniger anfangen konnte als mit Hunden.
Betty betete genau für die Dinge, die sie zuvor angesprochen hatte. Gradlinig, inbrünstig, mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen murmelte sie die Worte so vor sich hin, dass Verena sie gerade noch verstehen konnte.
Verena betete lediglich für zwei Dinge. Natürlich lautlos! Dass Angelika bald aus dem Knast käme und es endlich was zu essen gäbe. Sie war regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt. Ihr Magen knurrte bereits.
Außerdem hoffte sie, sich über Bettys Computer alle Informationen beschaffen zu können, die sie zur Klärung ihrer wichtigsten Fragen benötigte. O ja, sie musste sehr vorsichtig sein. Sich jeden Schritt genau überlegen. Viele hielten sie für dumm, weil sie gedanklich langsam und behäbig auftrat. Jede Form von Druck brachte sie aus der Fassung. Doch jetzt hatte sie Zeit. Bewohnte ein eigenes Zimmer mit Computer. Es gab Betty, die sich um sie kümmerte, und es gab Angelika, in der sie ihre Zukunft sah. Vor allen Dingen aber gab es ihren ersten eigenen Plan, der alles verändern sollte.
Nach dem Gebet verkündete Betty, etwas zu essen machen zu wollen, was Verena mit einem beglückten Lächeln zur Kenntnis nahm. Hatte es je zuvor in ihrem Leben einen derart reibungslosen Ablauf wie heute gegeben? Zufrieden bezog sie das neue kleine Reich und packte ihre Sachen aus.
***
Nur zögernd hatte sich Angelika Wiechert dem neuen und noch sehr jungen Anwalt zu öffnen begonnen. Dann aber durfte Andreas Brodersen immer tiefer in die Seele der verurteilten Mörderin eindringen. Gebannt lauschte er ihren Ausführungen, in denen der systematische Ehebruch deutlich mehr Raum bekam als die Rolle einer liebenden Mutter. Gerade der schonungslose Umgang mit ihren eigenen Schwächen und Fehlern machte die ungewöhnliche Frau in Brodersens Augen glaubwürdig. Wenn sie ihre Familie sowieso ohne Gewissensbisse hätte verlassen können, warum also hätte sie dann noch ihre Kinder ermorden sollen?
Trotz aller Indizien, die im Gerichtsverfahren gegen sie in Stellung gebracht worden waren, hatte sich auf diese Frage nie eine befriedigende Antwort finden lassen. So erfuhr Brodersen viel über den kaltblütigen Egoismus Angelika Wiecherts, ebenso wie über Momente tiefer Sehnsucht nach einem Leben, in dem sie geliebt und durch starke Arme beschützt wurde. Die Ambivalenz dieser Frau war atemberaubend. Ihr Lebensweg erwies sich als Achterbahn der Leidenschaft. Mit Beginn des Tages, an dem sie als Vierzehnjährige ihren Pastor nach dem Konfirmationsunterricht verführt hatte, bis zu den zahlreichen Affären einer frustrierten Ehefrau und genervten Mutter zweier Söhne, für deren Ermordung sie am Ende verurteilt worden war. Die schicksalhaften Episoden ihres Lebens, die Angelika Wiechert vor ihrem Anwalt nach und nach preisgab, nisteten sich in dessen Fantasie ein und lähmten jegliche Objektivität. Wie eine Droge, die ihn süchtig machte – süchtig nach dieser Frau.
Als sich Brodersen und seine Klientin am heutigen Tag in einem der Sprechzimmer der Justizvollzugsanstalt gegenübersaßen, befand sich Angelika Wiechert in einer sehr aufgekratzten Stimmung und flirtete besonders heftig und eindeutig mit dem Juristen. Sie sprach mit rauchiger Stimme, gönnte ihm wiederholt ein strahlendes Lächeln, wirkte zuversichtlicher und offener denn je. Außerdem hatte sie die schon länger angekündigte große Überraschung für ihn mitgebracht, die sie stolz mitten auf dem Tisch platzierte, dick und schwer und bedeutungsvoll. Ein Stapel pure Wahrheit, wie sie betonte.
„Nun sind Sie dran!“, sagte sie. „Von jetzt an stecken Sie tiefer in mir als jemals irgendein anderer Kerl zuvor. Ich hoffe, ich darf das mal so ausdrücken. Bin sehr gespannt, was nun dabei herauskommt. Was meinen Sie?“
Er starrte auf den Tisch und dann in ihre funkelnden Augen. Die Frau, über deren Leben er vermutlich bald mehr wusste als sonst irgendjemand. Sie hatte in seinen Träumen längst die Herrschaft übernommen.
„Wird es ein gutes Ende geben?“, fragte er.
„Sind Sie jemand, der so was braucht? Für mich ging es immer nur um optimal genutzte Gelegenheiten. Die sind weniger verlogen als ein naives Happy End. Außerdem gibt es da noch etwas sehr Wichtiges, was Sie von mir wissen müssen. Aber nicht alles auf einmal, okay? Ich möchte Ihnen von mir keine Überdosis verpassen. Wer weiß, ob Sie das verkraften.“
Er fand ihre Taktik anstrengend, so zu tun, als gäbe es da noch ein letztes großes Geheimnis, immer dann, wenn er glaubte, alles von ihr zu wissen. Als müsse er sich einen letzten Rest ihres Vertrauens immer wieder aufs Neue verdienen.
„Von jetzt an müssen Sie vorsichtiger sein“, mahnte sie und bedachte ihn mit diesem intensiven Blick, der ihm immer das Gefühl gab, sie hätte direkten Zugang zu seinen intimsten Gedanken. Immerhin handelten die nicht selten davon, es mit ihr zu treiben, in derselben Art, wie sie es ihm ohne jede Scheu geschildert hatte. Dass sie ihm gegenüber dennoch gern wie eine reuige Büßerin vor ihrem Beichtvater auftrat, kitzelte seine Erregung genau an der richtigen Stelle.
„Mit einem guten Ende meinte ich eigentlich nur Ihr weiteres Schicksal“, erklärte er.
Sie lachte. Diesmal fast ein wenig scheu und mädchenhaft. Sie beherrschte sämtliche Varianten, um einem Mann emotional auf Trab zu halten.
„Damit ich Sie hier rausbekomme, muss ich mehr wissen als das, was Sie mir bisher erzählt haben“, fuhr er fort. „Da benötigen wir eine ganz andere Beweislage als die im damaligen Prozess. Neue Zeugen. Neue Spuren. Neue Fakten. Vor allen Dingen welche, die mir helfen, die damaligen Indizien zu entkräften.“
„Ich will Ihnen nicht die ganze Spannung verderben“, entgegnete sie. „Für das üppige Anwaltshonorar müssen Sie sich einiges selbst erarbeiten. Die Grundlagen haben Sie jetzt. Ich bin mir aber sicher, dass Sie schon bald wieder den Wunsch verspüren werden, mit mir zu sprechen. Keine Sorge, ich werde da sein!“
Brodersen grinste. Auch ihr Humor gefiel ihm. Sie wollte jetzt wissen, ob er sich wie vereinbart um Verena Haslinger gekümmert habe. Er berichtete ihr von seiner Tante, die diese Aufgabe gewissenhaft übernommen hatte. Die beiden hätten sich auf Anhieb prächtig verstanden.
„Meine Tante ist mit Veronika ...“
„Verena!“
„... mit Verena schon überall gewesen. Arbeitsamt. Sozialamt und so weiter. Hilft ihr dabei, Bewerbungen zu schreiben. Betty ist halt eine gute Christin und sehr engagiert.“
„Und Sie?“
Er stutzte.
„Was soll mit mir sein?“
„Sind Sie auch ein guter Christ?“
„Ich bin ein guter Anwalt.“ Brodersen ließ sich von ihrem spöttischen Blick nicht herausfordern. Es schien ihr Spaß zu machen, ihn zu verunsichern. Daran gewöhnte er sich langsam. Kaum vorstellbar, was eine solche Frau bei Männern draußen in der Freiheit anrichten konnte!
Nachdenklich schürzte Angelika die Lippen.
„Na gut, ich hoffe, Tante Betty übertreibt es nicht mit der Religion. Verenas Eltern waren diesbezüglich schon sehr eifrig. Ich möchte nicht ...“
„Alles läuft bestens!“, unterbrach er sie. „Ich hab erst gestern mit meiner Tante telefoniert. Hören Sie, es ist ein großes Entgegenkommen, dass ich diese Hilfe auf privater Ebene organisiert habe. Wir sollten Betty einfach vertrauen.“
Angelika reagierte verstimmt. Sie mochte keine Belehrungen.
„Ein noch viel größeres Entgegenkommen ist es, dass ich meine Beine vor Ihnen so weit gespreizt habe, dass Sie in meine Seele blicken konnten! Eine Hand wäscht die andere. Oder haben sich die Spielregeln draußen inzwischen geändert?“
Brodersen schwieg. Die Vorteile, die sich aus den aktuellen Entwicklungen für ihn ergeben könnten, hatten sich ihm bis jetzt noch nicht so ganz erschlossen. Er hoffte weiterhin auf ein furioses Finale. Allerdings empfand er es als Zeitverschwendung, die Diskussion über die Aufrechnung gegenseitiger Gefälligkeiten zu vertiefen. Ohne jeden Zweifel war sie ihm gegenüber beeindruckend offen gewesen. Doch für ihn galt dasselbe. Darüber hinaus würde er von jetzt an den Rest der Strecke allein gehen müssen.
Angelika rieb sich das etwas spitze Kinn und fixierte den jungen Anwalt. Brodersen wurde das Gefühl nicht los, das Wichtigste noch immer nicht von ihr erfahren zu haben. Als stecke er mitten in einem Spiel, dessen Regeln er nicht durchschaute. Als erfahre er immer nur so viel wie er benötigte, um den nächsten Zug machen zu können, das nächste Feld zu erreichen.
Warum also nicht noch einmal in die Offensive gehen?
„Bis jetzt haben Sie nicht einmal mich von Ihrer Unschuld überzeugt“, erklärte er ihr in aller Deutlichkeit. „Um erneut vor Gericht zu bestehen, wird das noch ein harter und steiniger Weg.“
Mit seiner Direktheit hatte er sie endlich mal verblüfft. Es war fast so, als habe er ihr eine Ohrfeige verpasst.
„Sie kleiner dummer Junge“, stieß Angelika zornig hervor. „Haben Sie denn gar nichts begriffen? Für diese Haltung sollte ich Sie auf der Stelle feuern! Ihr Vorgänger besaß deutlich mehr Instinkt.“
„Wir reden über ein Wiederaufnahmeverfahren“, sagte Brodersen. „Da zählen nur Fakten. Es muss wirklich jeder Stein umgedreht werden.“
Sie nickte, ohne dass der Zorn aus ihren Augen wich.
„Ich tue nichts anderes. Und das wissen Sie auch ganz genau. Ich bin weiß Gott offen. Meine Arbeit ist getan. Jetzt sind Sie am Zug, Herr Anwalt. Dass Sie ein guter Anwalt sind, müssen Sie erst noch beweisen.“
Er wollte sich erheben, aber sie deutete ihm, das Gespräch noch nicht als beendet zu betrachten. Also ließ er sich wieder auf den Stuhl sinken.
„Verena hat sich noch immer nicht bei mir gemeldet“, beklagte sie sich. „Da stimmt doch was nicht. Immerhin ist sie schon eine Weile draußen.“
„Sie hat bestimmt viel um die Ohren“, vermutete Brodersen leichthin. „So, wie meine Tante mir gesagt hat, sitzt sie oft stundenlang am Computer oder telefoniert herum. Schätze, sie versucht, ihr Leben in Freiheit zu organisieren.“
„Sie hat nicht die geringste Ahnung, wie man sein Leben organisiert“, entgegnete Angelika. „Bringen Sie die Kleine so schnell wie möglich zu mir. Von mir aus gefesselt. Sie braucht mich.“
Jetzt, zum Ende des Treffens, blätterte Angelika Wiecherts Zuversicht ab wie alte Farbe, kam ein müdes, abgespanntes Grau zum Vorschein. Während sie Brodersen noch letzte Instruktionen gab, packte er sämtliche Unterlagen zusammen und ließ sie in seinem Aktenkoffer verschwinden. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Alles hing nun davon ab, ob er ihren Gedanken folgen konnte - und wollte. Bis zur letzten Tür. Dass er ihr glaubte. Sich auf ihre Theorie einließ. Und vieles von dem in Frage stellte, was im damaligen Gerichtsverfahren als die wahrscheinlichste Wahrheit ermittelt worden war. Jene Indizien, die nur einen einzigen Schluss zuließen: Dass Angelika Wiechert ihre beiden Söhne kaltblütig ermordet hatte. Warum hatte sie damals zu den meisten Punkten geschwiegen? Und warum wollte sie ihr Schweigen nach all den Jahren ausgerechnet jetzt brechen?
Zum Abschied äußerte Angelika Wiechert einmal mehr ihre Bedenken, ob Brodersen überhaupt der richtige Anwalt für sie sei und ob eine Anwältin vielleicht doch geeigneter wäre, um auch die Zwischentöne ihrer Gedanken zu verstehen. Diese Ansicht teilte Brodersen nicht. Welche Frau würde sich schon in die abgründige Welt einer verurteilten Kindesmörderin versetzen wollen? Unabhängig von der Schuldfrage mussten die neuen Ansätze erst noch sorgfältig überprüft werden. Als Fakten müssten sie über jeden Zweifel erhaben und beweisbar sein. Egal, welche Strategie am Ende in Frage käme, Angelika Wiechert schien es nach wie vor schwerzufallen, den Mittelpunkt für andere Überlegungen zu räumen. Aber gerade diese selbstsüchtige Ader hatte Brodersen von Anfang an erregt, kaum dass er die juristische Betreuung dieser Frau für die Anwaltskanzlei Berger, Bergmann & Roland übernommen hatte. Seine erste große Aufgabe! Obwohl noch immer eine prominente Gefangene, hatte sich niemand in der Kanzlei um die Wiechert gerissen, und so war es am Ende an dem jüngsten Anwalt hängen geblieben, sie von dem aus Altersgründen ausgeschiedenen Jochen Wegemann zu übernehmen.
Brodersen hatte sich von Anfang an große Mühe gegeben, Angelika Wiechert so objektiv wie möglich gegenüberzutreten. Dabei fiel es ihm leicht, sie begehrenswert zu finden, aber schwer, Sympathie für sie aufzubringen. Er hielt sie für berechnend und folgte damit der allgemeinen Meinung. Sie hatte den jungen und smarten Juristen oft und gern provoziert. Flirtete mit ihm und setzte auch als Gefangene weibliche Reize ein, soweit es möglich war. Es schien tief in ihrer Natur verankert zu sein, sich Männern gegenüber wie eine Blüte zu präsentieren, die Bienen anzulocken versuchte. Der alte Anwalt Wegemann hatte mal gesagt, sie habe ihm das Gefühl vermittelt, als säßen sie sich bei ihren Gesprächen nicht im Knast gegenüber, sondern in einer Bar. Aus ihren triebhaften Neigungen hatte die Wiechert nie ein Geheimnis gemacht. Warum auch? Einige Aussagen im Prozess hatten sich verstärkt um dieses Thema gedreht. Viele Zeugen hatten es bestätigt. Eine Reihe höchst unterschiedlicher Männer, mit denen sich die Angeklagte trotz ihrer Ehe getroffen hatte. Die wahre Erfüllung aber schien sie am Ende bei ihrer letzten bekannten Affäre gefunden zu haben: Arne Hansen. Sie hätte mit ihm zusammen ein neues Leben beginnen wollen, hatte der große und athletische Lover der Wiechert vor Gericht ausgesagt. Sie hätte geplant, seinetwegen die Familie zu verlassen. Die beiden Jungs, für die sie nie echte Muttergefühle hatte aufbringen können, und den Ehemann, der von ihrem Doppelleben angeblich nichts mitbekommen hatte.
Angelika Wiechert hatte zu Hansens Aussage ebenso geschwiegen, wie zu fast allen Behauptungen von Zeugen, was sie vorgehabt hätte und was nicht. Stattdessen hatte sie keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, ihren Mann Volker zu belasten, der – im Gegensatz zu ihr – im Lauf des Prozesses zunehmend unschuldiger wirkte. Sie war die Hexe, die alle auf dem Scheiterhaufen sehen wollten.
Angelika Wiechert hatte markante Gesichtszüge, war keine Schönheit im klassischen Sinne, strahlte eine eher geheimnisvolle Anziehungskraft aus. Ihre grünen Augen standen weit auseinander. Mit ihnen konnte sie facettenreich kommunizieren.
Wer sich auf einen längeren Blickkontakt einließ, war schon so gut wie verloren.
Die Nase wirkte etwas zu groß, der Mund etwas zu breit.
Sie war schlank und groß gewachsen, verstand es, mühelos den Mittelpunkt zu erobern, stark und selbstbewusst aufzutreten.
Brodersen verfügte über eine gute Menschenkenntnis, aber diese Frau entzog sich jeder Einschätzung. In ihren Augen konnte er nicht lesen, ihre Körpersprache nicht deuten. Kaum erkennbare Emotionen, selten mal Unsicherheit, keine Ängste, keine Trauer. Lieber sendete sie verwirrende Signale aus, die jeden Mann aus der Fassung bringen mussten.
Zweifellos hatte ihre direkte Art Brodersen von Anfang an gereizt. Gerade die unverblümten Gespräche der letzten Zeit belebten seine Fantasie mehr als ihm lieb war. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, beschäftigte ihn immer öfter die Frage, ob diese Frau tatsächlich ehrlich zu ihm war. Oder ob er das Opfer einer äußerst arglistigen Manipulation zu werden drohte. Die Zweifel blieben, egal wie oft er seine Klientin besuchte.
Tauchte er mit fünf Fragen bei ihr auf, verließ er sie später wieder mit zehn neuen. Und alles wurde von der Vorstellung überlagert, wie es wohl wäre, mit ihr zu schlafen. Ob von ihr beabsichtigt oder nicht, längst hatte sie einen festen Platz in seiner Fantasie erobert, seine Vorstellungen beflügelt. Die Erinnerungen an ihre Worte, ihre Blicke und ihr vielversprechendes Lächeln faszinierten ihn wie ein Film, den er nicht verstand.
In letzter Zeit dachte er immer öfter an diese Frau, wenn er mit seiner Verlobten Christiane schlief, was seine Lust beträchtlich steigerte. Seine spezielle Klientin war zu einer Art Inspirationsquelle für ihn geworden, womit er die gradlinige Christiane ein ums andere Mal in völlige Verwirrung stürzte und in einer bisher harmonischen Beziehung erste Misstöne erzeugte.
Trotz dieser beunruhigenden Entwicklung wollte sich Brodersen ernsthaft auf die Suche nach der Wahrheit begeben.
Zuhause setzte er sich an seinen Computer, um alternative Theorien für den Fall Wiechert zu entwickeln. Doch statt an einem neuen Konzept zu arbeiten, gab er wie unter Zwang Angelika Wiecherts Namen ein und rief sämtliche ihrer Fotos auf. Bestaunte einmal mehr ihre auffällige Präsenz. Ihre Wirkung als Angeklagte in einem eleganten Kostüm vor dem Gerichtsgebäude damals inmitten des öffentlichen Interesses. Ihre Verteidiger, Justizbeamte, Medienvertreter. Entspannt lächelnd, als plaudere sie mit Bewunderern. Sie groß, herausragend, die Menschen, die sie umringten, fast so unterwürfig wie Fans, die um Aufmerksamkeit oder ein Autogramm buhlen.
Brodersen klickte sich durch die zahlreichen Fotos, die es von ihr gab und ließ die Erregung zu, die ihn bei ihrem Anblick durchströmte. Sie war fotogen, sah auf vielen Fotos sogar noch besser aus als in Wirklichkeit. Er dachte an die Dinge, von denen sie ihm ohne jede Scheu erzählt hatte. In seinen Gedanken nahm er die Rolle eines ihrer Geliebten ein. Hoffte, dass Christiane bald nach Hause käme.
***
Eric kam zu spät ins La Monella