Blue Note Girl - Bernd Richard Knospe - E-Book
SONDERANGEBOT

Blue Note Girl E-Book

Bernd Richard Knospe

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die junge Sängerin Janina Nossak, aufstrebender Stern am Jazzhimmel, verschwindet plötzlich spurlos nach ihrem hoch umjubelten Konzert in Hamburg. 15 Jahre später entdeckt der Journalist Eric Teubner einen entscheidenden Hinweis und macht es sich zur Aufgabe, ihr Verschwinden und ein mögliches Verbrechen aufzulösen. Fasziniert, fast besessen von der Sängerin und ihren düsteren Songtexten, beginnt er, den alten Fall neu aufzurollen. Während seiner Recherchen trifft er auf zwielichtige und störrische Zeitzeugen wie den Privatdetektiv Frank Jensen, der Eric unverhofft unterstützt. Er hatte damals erfolglos nach Janina gesucht. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass er tiefer in die damaligen Ereignisse verstrickt war, als er zunächst zugeben möchte. Teubner realisiert, dass Janina Nossak nicht nur eine hochbegabte Sängerin war, sondern dass sie weiterhin als Projektionsfläche für die Sehnsüchte und menschlichen Abgründe ihrer Umwelt dient. Immer tiefer taucht der Journalist in die unterschiedlichen Milieus Hamburgs ein, um die damaligen Zeugen noch einmal zu befragen und löst damit eine unvorhersehbare Kette von tragischen Ereignissen aus. Aus mehreren Perspektiven erzählt wird der mysteriöse Fall Janina Nossak genauso neu beleuchtet, wie seine Erzählenden. Bernd Richard Knospe erzählt dicht, atmosphärisch und unvermittelt von einem Kriminalfall, der nicht gelöst werden will und dessen Ereignisse sich zu wiederholen scheinen. Er arrangiert seine Figuren um die abwesende Protagonistin im Zentrum der Erzählung und zeichnet sie durch pointierte Dialoge zu markanten und komplexen Charakteren. Knospes mehrstimmig erzählte Komposition ist außerdem eine Verbeugung vor der Macht der Musik.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 471

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernd Richard Knospe

Blue Note Girl

Kriminalroman

Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.

Victor Hugo

Die Musik ist der vollkommenste Typus der Kunst: Sie verrät nie ihr letztes Geheimnis.

Oscar Wilde

Für meine Eltern

Impressum

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-0-372

www.heypublishing.com

INHALT

Prolog

1. Kapitel: Chinesische Heilkunde

2. Kapitel: Erste Begegnung

3. Kapitel: Nahaufnahmen

4. Kapitel: Gute alte Feinde

5. Kapitel: Alexandra

6. Kapitel: Der Stalker

7. Kapitel: Der Professor

8. Kapitel: Das Interview

9. Kapitel: Der Engländer

10. Kapitel: Die jungen Löwen

11. Kapitel: Alte Akten

12. Kapitel: Zusammenbrüche

13. Kapitel – Theorien und Taktiken

14. Kapitel: Im

Hier und Jazz

15. Kapitel: Furcht und Leidenschaft

16. Kapitel: Leichentransport

17. Kapitel: Tricks und Tragödien

18. Kapitel: Neue Spuren auf alten Wegen

19. Kapitel: Beerdigung

20. Kapitel: Wunden

21. Kapitel: Rückkehr

22. Kapitel: Hochzeitsgeschenke

23. Kapitel: Janina

24. Kapitel: Rache

25. Kapitel – Schlussakkord

26. Epilog: Stille

Danksagung

Prolog

Eric Teubner sah Janina Nossak im Club auf die Bühne steigen. Sie begleitete sich auf dem Klavier, sang mit geschlossenen Augen und leicht zur Seite geneigtem Kopf als lausche sie einer inneren Stimme, die ihr diese verstörenden Texte soufflierte. Winterseele hieß einer ihrer Songs, erzählte von vereisten Gefühlen und erfrorenen Herzen. Worte wie ein unterdrückter Aufschrei! Sie ließen den Journalisten schaudern. Die Melodien wirkten wie zu kurze Decken in kalter Nacht. Dennoch wehrte sich die außergewöhnliche Stimme trotzig gegen Angst und Hoffnungslosigkeit, und verlor sich doch immer wieder in ratlosem Flüstern. Dazu hämmerte Janina Töne in das Klavier wie Haken in eine Steilwand.

An den Mitschnitt ihres ersten und einzigen Soloauftritts vor fünfzehn Jahren war Eric über Umwege herangekommen. Seitdem hatte er die DVD fast täglich eingelegt, hatte sich mitreißen lassen von der jungen Musikerin, deren Worte in seinem Kopf wie Einschüsse zurückblieben.

Sie singt nicht, weil sie will, sondern weil sie muss. Irgendjemand hatte das in einem der Interviews geäußert, die Eric zum Fall Janina N. schon geführt hatte. Ihr Gesang sei stellenweise so eindringlich, dass man den letzten Ton herbeisehne und doch mehr hören wolle, sobald die Musik erst verstummte. Als singe ein Engel über die Hölle. Das hatte sich in Erics Gedanken als passendste Charakterisierung der Sängerin festgesetzt. Und dieses Bild ließ ihn nicht mehr los.

Janina Nossak hatte damals ihr erstes öffentliches Konzert im Hamburger Jazz Club Hier und Jazz gegeben. Sie hatte an diesem Abend einen bemerkenswerten Erfolg verbuchen können, hatte namhafte Kritiker und Kenner der Musikszene angelockt. Es war ein Auftritt, mit dem sie das Tor zum Musik-Business weit hätte aufstoßen können. Aber dann war sie noch in derselben Nacht spurlos verschwunden und niemand hatte auch nur eine Ahnung, was aus ihr geworden sein könnte. Bis heute war dieser Fall ein ungelöstes Rätsel geblieben.

Der Auftritt endete. Das Publikum im kleinen Jazz Club tobte. Die amateurhafte Verfilmung lieferte stellenweise verwackelte Szenen, vielleicht auch deshalb, weil der Freizeitfilmer in der dicht gedrängten Menge ständig angerempelt wurde. Nach kurzer Orientierungslosigkeit fand die Kamera die Hauptperson auf der kleinen Bühne wieder, und das Bild beruhigte sich. Janina schien es schwer zu fallen, aus der Tiefe ihrer Songs in der Wirklichkeit aufzutauchen, um an der Oberfläche Luft zu holen, sich zu erheben, hinter dem Klavier hervorzutreten und sich dem Beifall und der Begeisterung zu stellen. Ihr Lächeln wirkte angestrengt und blieb während des Jubels der Konzertbesucher eher distanziert. Eric stoppte das Bild. Er betrachtete das längst vertraute Gesicht der damals Zwanzigjährigen, fühlte eine Verbundenheit mit ihr, die im Lauf seiner Recherchen immer tiefer geworden war. Und er spürte, dass gerade dieser Moment etwas besonders Wichtiges in sich barg, Sekunden nachdem die Musik verstummt war, und Janina in das applaudierende Publikum blickte. Da war plötzlich etwas in ihren Augen, das sich nicht allein mit der Nervosität einer jungen Künstlerin erklären ließ, die gerade ihren ersten großen öffentlichen Auftritt absolviert hatte. Ebenso wenig schien es das Unbehagen einer introvertierten Persönlichkeit zu sein, für die es eine Qual war, sich vor anderen Menschen zu öffnen und Gefühle preiszugeben. Nein, in ihren Augen meinte Eric für einen kurzen Moment den Schrecken vor einer unmittelbaren Bedrohung zu erkennen. Eine Bedrohung, die damals dort gewesen sein musste. Im Club! Im Publikum mitjubelnd, Beifall klatschend und die junge Künstlerin zusammen mit den anderen Gästen feiernd. Eine Bedrohung, die schon darauf zu warten schien, Janina zu verschlingen, sie in eine Dunkelheit zu zerren, in der sie niemand mehr finden sollte.

Der Schlüssel für Janinas Verschwinden mochte auch in ihren Texten verborgen sein, die eine Fülle düsterer Metaphern boten. Aber Eric ahnte, dass etwas Wesentliches in dieser Aufzeichnung steckte, greifbar und sichtbar, etwas, das er finden wollte und finden musste, wenn er sein geplantes Buchprojekt zu Ende bringen wollte. Er ließ die Aufzeichnung weiter laufen und hielt sie erst wieder an, nachdem die Furcht aus Janinas Blick verschwunden war. Nun schien die Sängerin ihn direkt anzusehen. Sie lächelte. Eric lächelte zurück. Es war wie eine stille Übereinkunft und zugleich ein Versprechen, das er ihr hier und heute gab. Er würde herausfinden, was geschehen war. Sein Buch sollte ein letztes Kapitel haben.

1. Kapitel: Chinesische Heilkunde

Die Heilpraxis für Chinesische Medizin von Yazhen Li lag in Altona, in der Nähe des Altonaer Bahnhofs. Frank Jensen hatte sich seit Beginn der Chemotherapie das Autofahren weitgehend abgewöhnt. Die Strecke von Niendorf bis Altona konnte er mit Bus, Bahn und zu Fuß gut bewältigen und betrachtete seine regelmäßigen Besuche des Heilpraktikers als einzige sportliche Betätigung, zu der er noch in der Lage war. Viel mehr Bewegung verkraftete er nicht. Nach solchen Trips war er für den Rest des Tages völlig erledigt. Dennoch war ihm diese alternative medizinische Betreuung parallel zu der Chemotherapie von Anfang an wichtig gewesen. Sie gab ihm Kraft und half ihm dabei, besser mit den üblen Nebenwirkungen fertig zu werden.

Lis Praxis war ohne Ortskenntnisse schwer zu finden. Sie lag in einer unscheinbaren Gegend in einem nicht weniger unscheinbaren Gebäude, das man nur über einen Hinterhof erreichen konnte. Es gab keine Hinweistafel, nur ein von Hand beschriftetes Namensschild umzingelt von Graffitis:

Chinesische Heilpraxis

Yazhen Li

Termine nach Vereinbarungen

Jensen schätzte den Asiaten auf ungefähr sechzig Jahre, also fast ein Altersgenosse. Li war sportlich, und sein Gesicht wirkte auch ohne Lächeln immer freundlich. Seine Praxis war modern eingerichtet, und es gab nahezu keine Hinweise auf chinesische Traditionen. Li war stets lässig gekleidet, fast jugendlich in Jeans und Shirt und schien einen Faible für ausgefallene Brillen zu haben. Jedenfalls trug er häufig wechselnde Modelle. Heute betrachteten seine klugen Augen Jensen durch eine auffällige Hornbrille im Retro-Stil. Wie zu jeder Sitzung bereitete er zunächst für beide Tee zu. Doch auch hier gab es keine typische Zeremonie. Li hatte vor Jahren eine Weile auf Borkum gelebt und bevorzugte seitdem einen kräftigen Ostfriesentee mit Kluntjes. Jensen, der ostfriesisches Blut in den Adern hatte, fühlte sich bei Li aus vielerlei Gründen heimisch, wobei besonders ihre Teestunde eine Bereicherung seines von der schweren Erkrankung überschatteten Lebens geworden war.

„Ich habe die Chemo abgebrochen“, erzählte er dem Chinesen und versenkte zwei Kluntjes im heißen Tee. Ihr leises Klimpern vermittelte etwas Behaglichkeit. Dieses Geräusch löste einen kurzen Erinnerungsflash an seltene, glückliche Momente im Kreis der Familie in ihm aus. Zeiten großer Träume und kleiner Sorgen.

„Es hat einfach keinen Sinn mehr“, fügte er hinzu.

Li lauschte ihm aufmerksam, als habe jedes Wort eine besondere Bedeutung, bevor er seine Fragen stellte.

„Die Mediziner im Krankenhaus denken auch so?“

Jensen zuckte mit den Achseln.

„Die denken ihren Kram und ich meinen. Es ist mein Leben und mein Risiko. Die würden gern weitermachen. Chemo, dann noch mal Bestrahlung. Das hatte ich alles schon mal. Das bringt nichts mehr! Mein Körper kämpft gegen die Chemo und verliert dadurch die Kraft, sich gegen den Krebs zu wehren.“

„Das ist Ihr Empfinden?“, staunte der Asiate.

Statt einer Antwort lächelte Jensen nur müde.

Li trank Tee und schwieg. Jensen schwieg ebenfalls, weil alles gesagt schien.

„Wie lange geben sie Ihnen noch ohne Behandlung?“, wollte Li schließlich wissen.

Jensen starrte in seine Teetasse wie in eine Glaskugel.

„Keine Ahnung. Was denken Sie?“

Li lächelte ohne zu lächeln.

„Das ist nicht mein Job.“

„Was dann?“

„Ich begleite Sie. Ich bereite Sie vor. Ich gebe Ihnen Kraft. Aber ich kann Ihnen nicht mehr Leben geben, als Sie sich selbst geben wollen. Und ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie lange Sie noch leben wollen. Sie entscheiden! Sie brechen die Chemo ab. Sie rauchen immer noch. Wir hatten doch eigentlich geplant, meine Therapien begleitend zur Chemo einzusetzen. Darauf baut alles auf. Jetzt haben Sie anders entschieden. Wenn Sie einen neuen Weg gehen wollen, müssen Sie mich mitnehmen.“

„Jedenfalls keine Chemo mehr“, beharrte Jensen und kostete von seinem Tee. Er fand es amüsant, dass ein chinesischer Heilmediziner offensichtlich nur Teebecher mit Simpson-Motiven besaß. Er fand vieles von dem, was ihn bei Li umgab, amüsant. Auf eine angenehme und entspannende Weise. Es war wohltuend für den ehemaligen Detektiv, im letzten Abschnitt seines Lebens doch noch einem Menschen begegnet zu sein, dem er blind vertraute.

Li nickte.

„Keine Chemo mehr“, wiederholte er. „Ihre Entscheidung! Also müssen Sie sich auf die wesentlichen Dinge Ihres Lebens konzentrieren. Die, die Sie noch unbedingt in Ordnung bringen wollen.“

„Damit habe ich längst begonnen“, sagte Jensen.

„Es bleibt bei unseren Treffen?“

Jensen nickte entschieden. Auf Tee, Gespräche und Akupunktur wollte er nicht verzichten. Er war bereit, auch weiterhin alles zu tun, was der chinesische Mediziner von ihm verlangte, wenn er dadurch seine Lebensqualität so lange wie möglich erhalten konnte. Und, was noch viel wichtiger war: dass er genügend Kraft fand, noch ein paar Dinge bereinigen zu können, die lange Zeit geruht hatten. Fast vergessen waren. Bis plötzlich dieser neugierige Journalist aufgetaucht war, um alte Geister aufzuscheuchen, unbequeme Frage zu stellen und den Fall Janina Nossak aus der Versenkung zu holen. Jensen war hin- und hergerissen zwischen zwei Gefühlen: Der Verärgerung darüber, dass ausgerechnet jetzt diese alte Geschichte wieder ausgegraben worden war. Und der Hoffnung, noch über ausreichend Zeit und Kraft zu verfügen, das Schlimmste zu verhindern.

„Ihr Blick ist voller Sorge“, bemerkte Li und legte Jensen die Hand auf die Stirn. „Wir müssen einen Weg finden, Ihre Energie und Ihren Willen positiv zu bündeln.“

Jensen dachte an Janina Nossak und spürte eine schwere Last, die ihn fast erdrückte. Energie und ein gestärkter Wille waren jetzt genau das, was er benötigte. Morgen wollte ihn Teubner aufsuchen. Jensen wollte herausfinden, was der Journalist wusste. Er musste ihn unter Kontrolle bekommen. Im Ernstfall sogar etwas tun, dass er sein Leben lang vermieden hatte: einen Pressevertreter freundlich behandeln.

Jetzt drückte Li Jensen zufrieden den Arm.

„Sie machen Pläne. Planen heißt glauben. Und glauben heißt leben. Das ist gut für uns beide.“

Jensen sah ihn fragend an.

„Für mich wegen der laufenden Kosten“, erklärte Li augenzwinkernd. „Hauptsächlich durch Sie habe ich ein regelmäßiges Einkommen. Konnten Sie mich schon weiterempfehlen?“

„Sie sollten sich mal ein auffälligeres Schild an den Hauseingang nageln“, entgegnete Jensen. „Die meisten, denen ich von Ihnen erzählt habe, konnten Ihre Praxis nicht finden und irren vermutlich immer noch durch Altona.“

2. Kapitel: Erste Begegnung

Marie schwang ihre langen Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Sie hatte diese besondere Art sich zu bewegen, als befände sie sich auf einem Laufsteg. Aus schläfrigen Augen folgte Erics Blick ihrem makellosen Körper. Sie war klug, schön, selbstbewusst – und mit Mitte Zwanzig zu jung für ihn. Doch seit zwei Jahren hatten sie so etwas Ähnliches wie eine Beziehung, und so lange es funktionierte, verschwendete er keinen Gedanken an das Warum.

„Ich muss mich beeilen“, hörte er ihre Stimme aus dem Bad. „Um zehn ist Redaktionskonferenz.“

Über die Zeitschriftenredaktion hatten sie sich kennengelernt. Sie als Assistentin des Chefredakteurs Nils Burkhardt und er als freier Journalist. Der gut fünfzehnjährige Altersunterschied war für sie mehr Reiz als Hürde. Nach dem kläglichen Scheitern seiner Ehe war Marie das Beste, was Eric hatte passieren können, und er gab sich große Mühe, auch für sie etwas Ähnliches zu sein. Dennoch verspürte er gelegentlich das nagende Gefühl des Zweifelns, ob ihre lockere Beziehung wirklich genug Substanz besaß. Marie war der ernsthafte und kritische Teil seines Lebens geworden, ehrlich und nachdenklich. Und er hatte sich zum unbekümmerten Teil ihres Lebens entwickelt. Sie wusste ihn in Momenten allzu großen Leichtsinns zu bremsen, und ihm gelang es immer wieder, sie aus ihren Grübeleien oder von ihren Büchern wegzuholen, aus Stimmungen, für die sie viel zu jung war. Eric schlief mit einem zufriedenen Lächeln und der Erkenntnis wieder ein, dass es ihm so gut ging wie schon lange nicht mehr, weil Marie all das war, was er längst hätte sein müssen – was ihren Altersunterschied in seinen Augen auf angenehme Weise egalisierte.

Später kam Marie noch einmal ins Schlafzimmer, küsste ihn wieder wach und strich ihm sanft über die Wange.

„Hast du wieder von ihr geträumt?“, fragte sie.

„Von wem?“, fragte er benommen.

„Dieser verschwundenen Sängerin.“

„Nein.“ Er reckte sich. „Ich träume nur von dir.“

Marie tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.

„Ich wette, die hat da drinnen längst einen kleinen Thron.“

Statt einer Antwort versuchte er, sie zu sich ins Bett zu ziehen, sich an ihrem Duft zu berauschen, an ihrer Stärke und Zuversicht. Sie wand sich lächelnd aus seiner Umklammerung, so elegant gekleidet, als wäre sie bereits Chefredakteurin.

Wie immer sagte sie zum Abschied „Ich liebe dich!“ und wie immer fiel ihm darauf keine passende Erwiderung ein. Nur wer es zuerst sagte, klang glaubwürdig. Dass er sie liebte, stand außer Frage. Doch nach dem Scheitern seiner Ehe löste die Vorstellung, wieder eine feste Bindung einzugehen, bei ihm eher Beklemmungen aus. Mit seiner Ex-Frau Cornelia war es in getrennten Wohnungen viele Jahre gut gegangen. Die Heirat hatte sie direkt in eine Sackgasse geführt. Dabei waren sie weder an großen Konflikten noch an kleinen Alltagsreibereien gescheitert, sondern am Verlust von Nähe und Spannung. Conny, die Zahnärztin werden wollte. Conny, die ihr Leben plante, Entscheidungen traf und deren Umsetzung konsequent vorantrieb. Ihre Liebe für Kino, Geselligkeit und Spontanität. Und Eric, der aus seinen künstlerischen Talenten lange viel zu wenig machte, der zeichnen, malen und schreiben konnte, der viele Romane begann und keinen zu Ende brachte, der stets große Ideen hatte, ohne die Energie, für sie zu kämpfen. Diese Energie entwickelte er erst als Journalist, aber nur dann, wenn ihn ein Stoff wirklich packte. Sobald sein Interesse erst einmal erwacht war, verwandelte er sich in einen Bluthund. Mit dem Geruch einer guten Story in der Nase war er von einer Fährte nicht mehr abzubringen. Dann wurde das Privatleben schnell zur Nebensache. Gespräche störend, Nähe ablenkend und Kultur und Geselligkeit nutzlose Zeitverschwendung. Er erinnerte sich daran, was Conny ihm zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. Eher traurig als verbittert. Sobald er sich erst in eine Aufgabe verbissen hätte, würde er sich von Dr. Jekyll in Mister Hyde verwandeln. Dann wurde das Leben an seiner Seite unerträglich.

Er hatte mit Marie über diesen Vergleich gesprochen. Ob sie schon ähnliche Erfahrungen mit ihm gemacht hätte. Sie hatte entgegnet, ihn gern mal als Dr. Jekyll erleben zu wollen.

Eric duschte kalt, verzichtete auf eine Rasur, putzte akribisch wie immer die Zähne und versuchte, beim anschließenden Frühstück seine Gedanken zu ordnen. So ganz Unrecht hatte Marie nicht mit ihrer Vermutung. Weiterhin kreisten Erics Überlegungen um Janina Nossak. Heute würde er zum ersten Mal ein Gespräch mit Frank Jensen führen können. Von dem Treffen mit dem ehemaligen Privatdetektiv, der mittlerweile an Lungenkrebs erkrankt war und zurückgezogen in Niendorf lebte, erhoffte er sich entscheidende Aspekte. Jensen war damals nach Janinas Verschwinden von deren Vater mit Nachforschungen zu diesem mysteriösen Fall beauftragt worden. Er genoss zu dieser Zeit in der Ermittlungsbranche den Ruf des unermüdlichen Schnüfflers mit Instinkt, Erfahrung und besten Beziehungen. Vor seiner Zeit als Privatdetektiv hatte er bei der Polizei gearbeitet, unter anderem bei der Mordkommission. Aber auch Jensen war mit der Suche nach Janina Nossak gescheitert. Zumindest hatte Eric keine anders lautenden Hinweise finden können. In der Silvesternacht zur Jahrtausendwende war Janinas Vater mit seinem Taxi tödlich verunglückt, und Jensen hatte seine Suche kurz danach eingestellt. Die Kripo hatte den Fall nur unwesentlich später zu den Akten gelegt. Die SOKO Janina war aufgelöst worden, weil es einfach keine neuen Spuren und Hinweise mehr gab, keine Zeugen und keine Hoffnung. Wie der Sinn ihrer rätselhaften Songtexte blieb auch Janinas Schicksal ein Geheimnis.

Eric betrachtete die Aufzeichnungen, Dokumente und Fotos, die er als Dateien sorgfältig geordnet in seinem Notebook gesammelt hatte. Er besaß viel Material, aber wenig Substanzielles. Es gab Fotos, Gesprächsnotizen, es gab alte Artikel, Kopien von Protokollen, Zeugenaussagen, Untersuchungsergebnisse, und es gab den Film von Janinas Auftritt aus dem Jahr 1998 in dem Jazz-Club Hier und Jazz. Damit konnte er die zierliche Sängerin mit den großen dunklen Augen über sechzig Minuten lang zum Leben erwecken. Diese Möglichkeit hatte er wie unter einem geheimen Zwang so häufig genutzt, bis Marie ihm scherzhaft gedroht hatte, ihn zu verlassen, solange ihre Rivalin bei ihnen herumspukte. Tatsächlich fühlte sich Eric Janina Nossak so eng verbunden wie einer guten Freundin aus der eigenen Vergangenheit. Vielleicht war sie sogar schon etwas mehr geworden. Er liebte ihre Stimme, ihr Lächeln, ihre Art, sich zu bewegen, ihre Texte und Gedanken, ihre Eigenarten. Oft stoppte er bestimmte Szenen der Aufzeichnung und betrachtete sie in unterschiedlichen Standbildern. Er zerfaserte den Auftritt in Sequenzen, Momente, Augenblicke, Passagen und kurze Klangbilder. Längst war es ihm vertraut, wie sie manchmal nervös ihr nachlässig hochgestecktes Haar prüfte, an ihrem Shirt zupfte, ihre Hände in die Gesäßtaschen der Jeans steckte oder ratlos vor der Begeisterung stand, die sie auslöste. Er kannte die Unsicherheit vor und nach ihren Songs, als wäre sie nackt, und ebenso ihre souveräne Haltung, sobald sie am Klavier saß. Ein Platz, auf dem sie sicher und unangreifbar schien und offensichtlich das tat, was sie am liebsten machte. Eric liebte auch ihr zaghaft aufflackerndes Lächeln bei Applaus und Zwischenrufen am Ende ihrer Songs. Dieses widerstrebende Erwachen aus einer inneren Tiefe. Von Anfang an hatte er versucht, vom damaligen Konzert so viele Besucher wie möglich ausfindig zu machen und zu befragen, was nach der langen Zeit alles andere als einfach gewesen war. Nur wenige hatte er bisher auftreiben und sprechen können. Viel Brauchbares war bisher nicht dabei heraus gekommen. Aber alle waren sich einig gewesen: Wäre die junge Sängerin nicht verschwunden, sie hätte zweifellos eine beachtliche Karriere machen können. Ein Jahrhunderttalent, hatte einer der befragten Zeitzeugen geschwärmt. Sie hätte das gewisse Etwas gehabt, wonach andere Künstler trotz Begabung und Fleiß ein Leben lang vergeblich strebten. Jensen dagegen hatte sich selten und nie konkret zu Janina geäußert. Der Privatdetektiv hatte die Öffentlichkeit gemieden. Keiner wusste genau, ob er überhaupt brauchbare Informationen und Spuren zum Verschwinden des Mädchens hatte finden können. Natürlich hatten sich Journalisten und Reporter damals an Jensens Fersen zu heften versucht. Einigen von ihnen war das nicht gut bekommen, zumal der Detektiv durchaus mal handgreiflich werden konnte. Allein deshalb war Eric überrascht, von Jensen problemlos einen Gesprächstermin bekommen zu haben. Er war sehr gespannt, was ihn erwartete – und misstrauisch, weil die Sache nach seinem Empfinden etwas zu reibungslos lief.

Der Ordner „Jensen“, den Eric in seinem Notebook eingerichtet hatte, war noch relativ überschaubar. Insofern fieberte der Journalist einem Gespräch und möglichen neuen Fakten entgegen. Darauf hatte er sich so akribisch wie möglich vorbereitet. Vorsorglich rief er noch einmal bei Jensen an, um sich den Termin bestätigen zu lassen. Zu oft hatten Informanten und Gesprächspartner mit ihrer Unzuverlässigkeit seine Zeit vergeudet. Jensen meldete sich beim zweiten Klingelton und bestätigte das Treffen – wenn auch etwas mürrisch. Er wies auf seine Vorliebe für Pünktlichkeit hin. Seine Stimme klang reserviert, aber nicht unsympathisch. Eric packte seine Sachen zusammen und verließ die Wohnung.

Bei normalem Berufsverkehr würde er eine gute halbe Stunde bis zu Jensens Adresse benötigen. Er fuhr früh genug los, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, und war guter Dinge. Neben seiner Tätigkeit als freier Journalist hatte er vor einigen Monaten mit dem Projekt zum Fall der verschwundenen Sängerin begonnen. Erst hatte er eine allgemeine Reportage über vermisste Personen geplant. Die spektakulärsten Fälle der letzten fünfzig Jahre in Deutschland, etwas in der Art. Aber nachdem er mit Janina Nossaks Geschichte begonnen hatte, konnte er sich den Ereignissen rund um die geheimnisvolle Story nicht mehr entziehen, und aus der geplanten allgemeinen Reportage war wie von selbst ein Buchprojekt geworden.

Natürlich fragte sich Eric, warum ausgerechnet er so überraschend von dem als eigenbrötlerisch geltenden Frank Jensen zum Fall Janina empfangen wurde, zumal ihr erstes Telefonat nicht gut verlaufen war. Dabei hatte er Jensen nur um einen Gesprächstermin zum Fall Janina Nossak gebeten. Jensen hatte ihn brummig abzuwimmeln versucht. Er habe nichts Neues zu sagen. Sämtliche verfügbaren Informationen könne sich jeder Idiot beschaffen.

Da hatte Eric mit seinen aktuellen Entdeckungen geprotzt. Behauptet, nicht auf Neuigkeiten aus zu sein, sondern seine eigenen Ermittlungserfolge von Jensen beurteilen lassen zu wollen.

Jensen hatte verblüfft geschwiegen. Und Eric hatte zufrieden in sich hineingegrinst.

Der ehemalige Privatdetektiv hatte zögernd eingelenkt. Etwas weniger brummig. Also gut, etwas Zeit könne er wohl erübrigen.

Wo?

Bei ihm. In Niendorf. In seinem Haus.

Und nun war Eric auf dem Weg in den unspektakulären und grünen Hamburger Stadtteil in Flughafennähe. Im Autoradio empfahlen die Jungs von Daft Punk zusammen mit Pharrell WilliamsGet Lucky und Eric konnte sich keinen besseren Soundtrack für seine augenblickliche Stimmung vorstellen, erfüllt von einer kribbelnden Zuversicht und dem Gefühl, erst jetzt wirklich mit seiner Arbeit zu beginnen. Egal, in welche Richtung er bisher recherchiert hatte, irgendwann war er immer auf den Namen Frank Jensen gestoßen. Deshalb konnte die Geschichte eigentlich auch nur mit ihm beginnen.

Der ehemalige Privatdetektiv lebte in einem Klinkerbau im spießigen Stil der Sechzigerjahre. Ein schlichtes Haus, das auf dem gedrungenen Grundstück zwischen wild wuchernder Natur zu verschwinden drohte. Im Garten schien schon lange nichts mehr gemacht worden zu sein. Jensen empfing den Journalisten in verwohnten Räumen. Trotz seiner Krebserkrankung schien er noch immer zu rauchen, zumindest roch es nach frischem Zigarettenqualm. Irgendwo dudelte eine heitere Melodie vor sich hin, deren Fröhlichkeit von Knistern und Rauschen beeinträchtigt wurde – vermutlich ein Radiosender, der sich an ein zu schwaches Signal klammerte. In Jensens Arbeitszimmer dominierten Regale fast die gesamten Wandflächen, vollgestopft mit Ordnern, Büchern und Zeitschriften. Diese lieblose Zweckmäßigkeit wirkte erdrückend. Zu hoch und von allem zu viel. Einige Sonnenstrahlen hatten sich wie Bühnenlicht für tanzende Staubkörner durch ein schmutziges Fenster gequetscht, aber der erwachende Frühling blieb weitgehend ausgesperrt.

Jensen sah erschöpft aus, gezeichnet von Chemotherapie und Verfall, kahlköpfig, bleich und mit dunklen Ringen unter den Augen. Nichts erinnerte mehr an den harten Burschen, der er einst gewesen sein musste, damals, als er parallel zur Polizei nach Janina Nossak suchte. Eric hatte einige Meinungen über ihn gehört und gelesen, hatte alte Fotos und Aufzeichnungen betrachtet und sich in die Strategien dieses Einzelgängers hineinzudenken versucht. Jensen galt als jemand, der Türen ignorierte, wenn Eile geboten war. Der Polizei und den Medien gegenüber hatte er sich selten kooperativ verhalten, bediente sich bei seinen Alleingängen auch gern mal rüder Methoden. Vermutlich war er deshalb nicht allzu lange bei der Polizei geblieben und hatte sich frühzeitig auf private Ermittlungen verlegt.

„Jemand, der immer dahin ging, wo es wehtat“, hatte Eric in einem Gespräch mit einem ehemaligen Kollegen Jensens vermutet.

„Ich würde eher sagen, er war der, der wehtat“, war dessen Antwort darauf gewesen.

Jensen betrachtete Erics Visitenkarte, kniff die geröteten Augen ein wenig zusammen und musterte seinen Besucher dann nachdenklich über eine Halbbrille hinweg.

„Eric Teubner“, murmelte er. „Der Mann, der mich überraschen will. Ich hatte Sie mir jünger vorgestellt.“

Eric antworte nichts und Jensen schabte sich mit der Karte über sein stoppelbärtiges Kinn.

„Ich habe nichts gegen die Presse. Aber dieser Fall …“

Eric war gespannt, aber es kam nichts mehr.

„Dieser Fall …?“, griff er Jensens Stichwort auf. Der stand auf und trat ans Fenster. Es wurde noch dunkler im Raum. Jensen maß fast zwei Meter, hatte aber deutlich an Gewicht verloren. Pullover und Jeans schlotterten an seinem Körper, und von der Präsenz eines ehemaligen Kampfsportlers war nur noch eine Ahnung geblieben.

„Dieser Fall ist kein Fall mehr“, erklärte Jensen dem dreckigen Fenster. „Er wurde niemals aufgeklärt. Was erwarten Sie nach fünfzehn Jahren? Die Spuren sind kalt. Die Menschen haben vergessen. Einige sind längst tot. Aber Sie meinen, das Rätsel nach so langer Zeit lösen zu können? An dem so viele Experten gescheitert sind? Das Mädchen ist verschwunden. Man sollte es dabei belassen.“

„Es geht mir nicht unbedingt darum, ein Rätsel zu lösen“, entgegnete Eric. „Eine gute Story kann sich in verschiedene Richtungen bewegen.“

Jensen drehte sich zu ihm um.

„Ach ja?“

Eric berichtete ihm von seinem Plan, erklärte seine Entscheidung, statt einer Reportage ein Buch schreiben zu wollen. Ein Buch über eine junge Frau, die vor langer Zeit nach einem umjubelten Livekonzert nie wieder gesehen wurde. Als ob es sie nie gegeben hätte. Keine Spuren, keine Leiche, kein Anruf eines Entführers, keine Hinweise auf ihr Schicksal. Aber was hatte ihr Verschwinden im Leben der anderen ausgelöst? Jenen, die sie gekannt und geliebt hatten. Die sie vielleicht heute noch vermissten. Oder bei denen, die so lange erfolglos nach ihr gesucht hatten? Wie hatte Janinas Schicksal andere Lebenswege beeinflusst? Hatte sie bei einigen Menschen eine Lücke hinterlassen, die sich bis heute nicht geschlossen hatte? Oder heilte die Zeit am Ende doch jede Wunde? Was war von der Vermissten noch präsent? Welche Erinnerungen, Bilder und Geschichten? Und was könnte geschehen sein nach ihrem spektakulären Auftritt im Hier und Jazz? Dieser Abend, an dem viele davon überzeugt gewesen waren, die Geburt eines kommenden Stars miterlebt zu haben. Eine junge Sängerin, die mit eigenwilligen Texten und ungewöhnlichen Melodien ein erstes Ausrufungszeichen in der regionalen Musikszene gesetzt hatte – und verschwand. In Erics Augen war das ein faszinierender Stoff für ein Buch. Janina Nossaks Geschichte hatte es verdient, erzählt zu werden. Wie weit diese Geschichte erzählt werden konnte, hing davon ab, welche fehlende Puzzleteilchen noch gefunden wurden und ob sich mit Intention und Fantasie aus ihnen am Ende ein Gesamtbild erahnen ließ. Diese hoch begabte Künstlerin, die mit intensiver Stimme Abgründe besang, war zum Teil noch immer präsent. Aber die meisten Menschen, die sie gekannt haben wollten, hatten sie als unzugänglich und gebrochen beschrieben. Sie wussten letztendlich erstaunlich wenig von ihr. Die häufigste Beschreibung ihrer Persönlichkeit blieb ein Achselzucken.

Jensen äußerte sich nicht zu Erics leidenschaftlichem Vortrag. Mit angestrengter Miene verzog er sich hinter seinen Schreibtisch. Jede Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er lehnte sich in seinem leicht quietschenden Stuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen.

„Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?“, fragte er.

„Ich bin Nichtraucher.“

„Ich auch.“ Jensen seufzte. „Seit einer Stunde.“

Eric verdrängte jeden belehrenden Gedanken und blieb auf den Fall Janina Nossak fokussiert.

„Sie haben kurz nach Janinas Verschwinden mit Ihren Nachforschungen begonnen, ist das richtig?“

Jensen öffnete die Augen und musterte Eric argwöhnisch. Er ließ sich viel Zeit, bevor er nickte.

„Demzufolge kannten Sie Janina Nossak nicht persönlich?“

Jetzt wirkte Jensen einen Tick wachsamer, als wittere er Unheil zwischen den betont harmlosen Worten des Journalisten.

„Was soll diese Fragerei?“, brummte er. „Der Vater des Mädchens hat mich nach ihrem Verschwinden mit der Suche beauftragt. Er versprach sich von mir mehr als von der Polizei. Ich dachte, Sie hätten Ihre Hausaufgaben gemacht.“

Eric hatte sein Notebook auf Jensens zerkratztem Schreibtisch platziert und seine Daten direkt vor der Nase. Natürlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht! Unbequeme Fragen gehörten dazu.

„Ich weiß das, was man mir erzählt hat und was ich aus Akten und Medienarchiven zusammentragen konnte. Es sind Informationen. Fakten sind es für mich erst, wenn sie von verschiedenen Quellen bestätigt wurden.“

„Oha!“ Jensen grinste spöttisch. „Sie sind der Primus Ihrer Zunft.“

„Und Sie?“

„Ich bin Ruheständler und Krebspatient.“

Eric überlegte, ob es angebracht wäre, sich genauer nach Jensens Gesundheitszustand zu erkundigen, eingebettet in etwas Mitgefühl. Aber der Ex-Privatdetektiv schien auf Anteilnahme keinen Wert zu legen. Im Gegenteil. Vermutlich würde er Eric sofort vor die Tür setzen, sollte dieser seine Krankheit thematisieren. Eine Zigarette würde Jensen sicher gnädiger stimmen. Fast bedauerte der Journalist, vor einiger Zeit mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Er musste seinen Gesprächspartner unbedingt bei Laune halten, zumal er noch Einiges von ihm erfahren wollte.

Sein Blick fiel auf Jensens kleine Büchersammlung, eingekeilt zwischen der Übermacht alter Aktenordner. Er studierte die Buchrücken und versuchte einige Titel zu entziffern. Herrigels Die Kunst des Bogenschießens neben Gödel, Escher, Bach von Douglas R. Hofstadter, Salingers Fänger im Roggen. Viele Amerikaner wie Roth, Updike, Irvin und T. C. Boyle, einige Engländer, einige Deutsche, wenige Klassiker und auch einige Eric unbekannte Autoren.

„Ohne Arbeit bleibt nicht viel mehr als Lesen“, erklärte Jensen, der Erics Interesse registrierte. „Und hin und wieder mal ein guter Film.“

„DerMalteser Falke?“, scherzte Eric.

„Der Schwarze Falke“, entgegnete Jensen. „Ich mag es, wenn am Ende das Gute siegt.“

„Wer mag das nicht?“

„Das Böse.“

„Im Fall Janina Nossak scheint das Gute jedenfalls nicht gewonnen zu haben.“

Jensen begann statt einer Antwort von seinem Schreibtisch eine Schublade nach der anderen aufzureißen und nach kurzem Herumwühlen wieder zuzuknallen. Es war offensichtlich, wonach er suchte.

„Was meinen Sie?“, bohrte Eric weiter. „Oder haben Sie gerade Wichtigeres zu tun?“

Jensen unterbrach seine Suche. Sein Gesicht rötete sich leicht. Er knallte die letzte Schublade etwas lauter zu, richtete sich wieder auf und tippte mit hoch konzentrierter Miene seine Fingerspitzen gegeneinander. Seine Haltung strahlte einen Hauch von Zen aus. Eric wusste, dass sich Jensen seit einigen Jahren mit Buddhismus beschäftigte. Jetzt schien er sich zu bemühen, seinen Zorn zu kontrollieren. Als Jensen sprach, klang seine Stimme beherrscht und sanft: „Sie haben sich vermutlich durch viele Akten gewühlt, mit einigen Leuten gesprochen, viel Material gesichtet. Sie haben bestimmt die Aufzeichnung des damaligen Konzerts studiert, kennen zweifellos Janina Nossaks Musik und ihre sonderbaren Texte. Was wollen Sie jetzt eigentlich noch von mir?“

„Ihre Sicht der Dinge.“

„Meine Sicht der Dinge ist das Jetzt. Sie haben behauptet, auf Neuigkeiten im Fall Janina Nossak gestoßen zu sein. Welche? Ich habe keine Lust, mit Ihnen meine Zeit zu vergeuden.“

„Nur noch ein paar Fragen“, bat Eric. „Es ist zum Beispiel nie bekannt geworden, wie weit Sie damals bei Ihren Ermittlungen kamen. Hatten Sie irgendeine Theorie?“

„Nein.“

„Ist das nicht ungewöhnlich?“

„So lange es keine brauchbaren Spuren gibt, sollte man sich jede Theorie verkneifen.“

„Arbeiteten Sie mit der Polizei zusammen?“

Jensen schnaufte.

„Mit Markwart und seinem Team? Nein. Das war nichts für mich.“

„Und Janinas Vater? Was hielten Sie von dem?“

„Er bezahlte mich für den Job. Ich habe mir nie allzu viel Gedanken über Auftraggeber gemacht. Wegen meiner Finanzen konnte ich nicht wählerisch sein. Hören Sie, Ihre Fragen in allen Ehren, aber ich spüre jetzt einen übermenschlichen Drang, mir Zigaretten zu kaufen.“

Eric hob beschwichtigend die Hand.

„Warten Sie.“

3. Kapitel: Nahaufnahmen

Eric hatte die Aufzeichnung an einer bestimmten Stelle auf seinem Notebook gestoppt und spielte Jensen die Szene mehrmals vor, um seine Entdeckung zu verdeutlichen. Janina Nossak hatte ihren letzten Song beendet. Der letzte Ton war verklungen. Es folgten Sekunden gebannten Schweigens. Dann brach ein Orkan der Begeisterung los, der den kleinen Jazz Club erbeben ließ. Janina erhob sich, kam scheu nach vorn zum Rand der Bühne, kontrollierte den Sitz ihres Haars, lächelte und verbeugte sich, schlicht gekleidet in Jeans, Sweatshirt und Sportschuhe.

„Da ist sie noch überwältigt“, erklärte Eric die Bildfolge. „Sie schaut, ohne wirklich etwas zu sehen. So, und nun passen Sie auf, es geht ziemlich schnell. Achtung, jetzt!“

Er stoppte das Bild und vergrößerte es, bis man deutlich Janinas Gesicht sah. Triumphierend blickte er Jensen an.

Der ehemalige Privatdetektiv schien unentschlossen, ob er durch oder über seine Lesebrille hinwegsehen sollte. Er starrte auf Janinas zum Standbild eingefrorenes Gesicht. Auf ihre Augen, die etwas geweitet wirkten, den Mund, der nicht mehr lächelte.

„Ja und?“

Eric seufzte.

„Also noch mal von vorn. Bitte schauen Sie diesmal genau hin.“

Er ließ die Szene in Einzelbildschaltung erneut loslaufen und führte die aus seiner Sicht wichtigste Szene in einer Endlosschleife vor. Seiner Auffassung nach war es eindeutig. Allerdings hatte er sich damit auch schon sehr intensiv beschäftigt. Jensen zeigte keine Reaktion, obwohl er fast in den Monitor kroch.

Lächeln-Erstarrung-Panik-Beherrschung-Lächeln. Eine Sache von Sekunden.

Eric wurde ungeduldig.

„Janina sieht jemanden im Publikum, vor dem sie Angst hat. Das ist doch deutlich zu sehen. Erkennen Sie das nicht? Diese Veränderung in ihrem Gesicht? Es geht sehr schnell. Und dann hat sie sich auch schon wieder im Griff. Es folgen die Zugaben. Und gegen elf Uhr, als die Aftershow-Party startet und die Champagnerkorken knallen, verabschiedet sich Janina Nossak überstürzt von ihrer damals besten Freundin Alexandra Weichert. Ende der Geschichte.“

Jensen starrte weiter nachdenklich auf die rotierenden Einzelbilder und quälte sich zögernd zu etwas ähnlichem wie einem Nicken.

„Es könnte Furcht sein“, gab er zu. „Es könnte aber auch etwas völlig Banales dahinter stecken. Nach meinen Recherchen war Janina Nossak eine verschlossene junge Frau. Der ganze Rummel muss sie sehr belastet haben, vor einem derart tobenden Publikum zu stehen. Vielleicht erschrickt sie nur über diesen plötzlichen Erfolg. Was weiß ich? Ich dachte, Sie hätten eine echte Spur gefunden. Was wollen Sie mit dieser vagen Vermutung anfangen?“

In Eric stiegen Zweifel auf, ob Jensen wirklich noch über jenes Gespür verfügte, das ihn früher ausgezeichnet haben sollte. Seine heutigen Fragen ließen kaum noch Rückschlüsse auf derartige Fähigkeiten zu. Auf der anderen Seite wurde er das Gefühl nicht los, von dem Ex-Privatdetektiv eher provoziert und ausgehorcht zu werden, mit Fragen, die immer nur darauf abzielten, ihn aus der Reserve zu locken und weitere Erkenntnisse und Pläne preiszugeben. Andererseits wollte Eric seinen Gesprächspartner beeindrucken, wollte ihm die heiße Spur unter die Nase reiben, auf die er gestoßen war. Er, der Pressefuzzi, und nicht der einst so hochgelobte Detektiv, dem man wahre Wunderdinge nachsagte.

Eric stoppte die Szene auf dem Notebook und ließ sie in ihrem Ordner verschwinden.

„Ich bin davon überzeugt, dass beim Konzert jemand im Publikum saß, vor dem sich Janina fürchtete. Jemand, der für ihr Verschwinden verantwortlich ist. Der sie vielleicht sogar entführte und umbrachte.“

Jensen gelang eine Kombination aus Nicken und Kopfschütteln.

„Es ist eine Möglichkeit. Eine von vielen.“

„Es ist eine verdammte Spur!“ Eric sprang auf. „Und der werde ich nachgehen. Ich will mit so vielen Konzertbesuchern wie möglich reden …“

„Es gab eine Liste“, warf Jensen ein. „Die SOKO hatte die Personalien sämtlicher Besucher aufgenommen. Eine Garantie für Vollständigkeit gab es natürlich nicht.“

„Die Liste hab’ ich“, sagte Eric. „Sogar einen aktuellen Stand. Einige sind mittlerweile verstorben. Aber es gibt bestimmt Kandidaten, die man etwas genauer unter die Lupe nehmen sollte.“

„Sie wurden damals alle befragt“, sagte Jensen.

Eric machte eine abfällige Handbewegung.

„Ich kenne die Protokolle. Und ich habe mit dem Chef der SOKO gesprochen. Ist längst pensioniert. Carsten Markwart. Der hat noch Unterlagen von diesem Fall bei sich zu Hause. Die Konzertbesucher wurden nur sehr oberflächlich befragt. Aufnahme der Personalien, drei, vier Routinefragen. Ist Ihnen an diesem Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Wann sind Sie gekommen? Wann sind Sie gegangen? Vielen Dank, auf Wiedersehen. Haben Sie während Ihrer Ermittlungen auch Gäste befragt?“

„Einige“, sagte Jensen.

„Haben Sie sich Aufzeichnungen gemacht?“

Er nickte.

„Darf ich die mir ansehen?“

„Ich müsste sie suchen.“

Eric ließ seinen Blick über die Ordner in den Regalen schweifen. Mit schnellen Ergebnissen war nicht unbedingt zu rechnen.

„Werden Sie die Unterlagen auch finden?“, fragte er, immer noch nicht sicher, was er von seinem Gesprächspartner halten sollte.

„Aber klar!“ Jensen erhob sich erstaunlich schwungvoll und lächelte sogar. „Vielleicht haben Sie da ja wirklich etwas Wichtiges entdeckt. Ich werde Sie unterstützen, so gut ich kann. Wen haben Sie als nächstes im Visier?“

„Alexandra Weichert, die jetzt übrigens Reimers heißt.“

Jensen grinste.

„Die gibt’s noch?“

„Ich habe gestern mit ihr telefoniert. Wir werden uns demnächst treffen. Sie war Janinas beste Freundin. Die beiden haben damals zusammen gewohnt …“ Als er Jensens spöttische Miene bemerkte, winkte er ärgerlich ab. „Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?“

„Vor allen Dingen war Alexandra eine ausgebuffte Edelnutte“, ergänzte Jensen. „Eine verdammt attraktive noch dazu. Was macht die denn heute?“

„Verheiratet. Mit einem Reeder.“

„Also immer noch dasselbe.“

„Wann werden Sie die Unterlagen gefunden haben?“ Eric sah den unentschlossen neben dem Schreibtisch stehenden Mann erwartungsvoll an.

„Nun …“ Jensen ließ seinen Blick über die Lesebrille skeptisch an den Regalen mit den Ordnern entlang schweifen.

„Ich melde mich. Dann tauschen wir uns wieder aus.“

Hatte Eric das gerade richtig verstanden? Bot ihm Jensen da so etwas Ähnliches wie eine Zusammenarbeit an? Der Journalist klappte das Notebook zu.

„Okay“, stimmte er zu und erhob sich. Das Gespräch hätte weitaus schlimmer laufen können. Er war zufrieden. Auch wenn Jensen genau genommen konkrete Äußerungen zu diesem Fall vermieden hatte.

Jensen brachte ihn zur Haustür und entließ seinen Besucher in einen der ersten wärmeren Frühlingstage.

Er schien noch etwas sagen zu wollen, blickte dann aber nur grübelnd in seinen verwilderten Garten hinaus. Eine Amsel hatte gerade eine Melodie angestimmt, als ein Flugzeug ziemlich dicht über das Haus donnerte. Beide Männer blickten nach oben.

„Gibt’s noch was, worauf ich achten müsste?“, wollte Eric wissen, nachdem man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte.

Jensen richtete seinen Blick auf ihn und bewegte etwas unschlüssig den Kopf hin und her.

„Wenn sich Janina Nossak tatsächlich vor jemandem fürchtete, dann könne dieser Jemand heute immer noch aktiv sein. Und immer noch gefährlich. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“

„Hätten Sie davor Angst?“, fragte Eric.

Jensen schien die Frage zu amüsieren.

„Ich? Davor, dass jemand mein Leben bedrohen könnte? Das wird schon durch meine eigenen Körperzellen erledigt. Aber Sie sollten sich genau überlegen, was Sie da lostreten. Wenn Sie anfangen, alte Steine umzudrehen, könnte etwas Hässliches drunter hervorkriechen, meinen Sie nicht?“

„Als Journalist lebt man vom Umdrehen solcher Steine. Wir verwandeln hässliche Dinge in Nachrichten.“

„Freut mich, das zu hören.“

„Was kroch denn unter den Steinen hervor, die Sie damals umgedreht haben?“, wollte Eric wissen.

Doch statt einer Antwort ergriff Jensen Erics Hand und leitete endgültig den Abschied ein.

„Reden wir nächstes Mal weiter. Ich bin jetzt doch etwas erschöpft. Viel Spaß mit der Weichert oder wie die jetzt heißt. Ich hoffe für Sie, dass die immer noch so scharf ist. Und lassen Sie sich von der bloß nicht einwickeln.“

Jensen schloss schneller die Tür, als Eric „Tschüss“ sagen konnte.

***

Marie ernährte sich ausschließlich vegetarisch. Marie bevorzugte zum Essen einen guten Rotwein. Und Marie konnte fantastisch kochen. Heute gab es Spaghetti mit ihrem selbsterfundenen Chili-Pesto und vorweg einen gemischten Salat, in dem Blüten und rote Pfefferkörner für bunte Exotik sorgten und geröstete Pinienkerne einen würzigen Duft verbreiteten. Marie hatte einen anspruchsvollen Musikgeschmack, der nach Erics Meinung für ihr Alter viel zu ernst und viel zu streng war. Kein fröhliches Mitsummen aktueller Hits. Kein Pfeifen irgendeines Evergreens. Kein Tanz auf dem Vulkan. Eric hatte sich schon oft gefragt, was in ihrer Erziehung wohl dazu geführt haben mochte, sie schon in jungen Jahren zu einem solch ernsthaften Charakter heranreifen zu lassen, mit hohem Anspruch an sich und ihre Mitmenschen. Ob Job oder Freizeit, sie erarbeitete sich ihr Leben, und da war immer diese kleine entzückende Falte der Skepsis über ihrer Nasenwurzel. Ihre Begeisterung für die alten Klassiker, die feierliche Andacht, mit der sie BachsGoldberg –Variationen oder Beethovens Diabelli-Variationen zu lauschen vermochte, ihre spezielle Liebe zu Aufnahmen von Karajan oder der Callas, ihre erstaunlich zurückhaltende Meinung zu Mozart, um stattdessen lieber von SchubertsGroßer C-Dur-Symphonie zu schwärmen – all das waren Dinge, die Eric von seiner jüngeren Lebensgefährtin gelernt und verinnerlicht hatte. Er fühlte sich wohl in ihrer klugen und fordernden Nähe und spürte, wie gut sie ihm tat. Natürlich gefiel es ihr, ihn mitzunehmen und sein Leben mit Dingen zu bereichern, die ihr wichtig waren und ihm wichtig wurden. Es gab ihm nach ereignisreichen Tagen wie heute Frieden und Sicherheit, mit ihr über eine vegetarische Pasta hinweg Gläser erlesenen Weines zu erheben, dessen Namen er sich nie merken konnte. Das Gefühl, ein echtes Zuhause zu haben. Dabei konnte er sich entspannt Gedanken machen, welchen musikalischen Hintergrund Marie heute ausgewählt hatte.

„Debussy?“, riet er über das erhobene Glas hinweg, weil er meinte, den Impressionismus deutlich heraushören zu können, von dem er vor Marie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte.

Sie lächelte mit einer gewissen Güte.

„Ravel.“

Sie tranken. Der Wein war zum Niederknien. Marie war zum Niederknien. Und Ravel hatte offensichtlich noch andere Stücke außer dem Bolero komponiert. Eric versuchte erfolglos etwas Markantes herauszuhören, was Ravel und Debussy unterschied. Er musste noch viel lernen!

„Wie lief das denn heute mit diesem Jensen?“, unterbrach Marie seine Überlegungen. „War das ein moderner Humphrey Bogart?“

Eric stellte sein Weinglas ab und wischte sich mit der Serviette über den Mund, sich im selben Moment daran erinnernd, dass Marie ihn immer zum Tupfen ermahnte.

„Nun, Jensen hat ungefähr die doppelte Größe von Bogart.“ Er griff nach der Gabel und vermisste den Löffel. Marie deckte nie Löffel zur Pasta. Selbst wenn es Spaghetti gab. Sie hatten zu diesem kleinen Thema bereits große Diskussionen geführt mit dem Ergebnis, dass es weiterhin keine Löffel zu Spaghetti gab.

„Es sind nicht meine Regeln“, hatte Marie erklärt. „Es sind die Regeln des Lebens.“

„Aber wir reden hier immer noch über Nudeln, oder?“

„Nein, wir reden über Lebensart.“

Etwas ungeschickt versuchte Eric, seine Spaghetti gegen den Tellerrand gedrückt auf die Gabel zu drehen, wobei sich ein zu großes Knäuel bildete, was dazu führte, dass er aufgab, sich die Nudeln einfach in den Mund zu schaufeln begann und mit der Gabel nacharbeitete. Marie erhob sich, verschwand in der Küche und brachte ihm einen Löffel.

„Ich nehme dich erst mit nach Venedig, wenn du das ohne Löffel schaffst“. Sie sprach mit ihm wie mit einem kleinen Jungen und manchmal fühlte er sich in ihrer Gegenwart auch wie einer. Dabei hatten ihm Freunde zu Beginn seiner Beziehung mit Marie das Gegenteil prophezeit, nämlich, dass er sich neben ihrer Jugend bald verdammt alt fühlen würde. Doch dieser Fall war bis jetzt noch nicht eingetreten. In Maries wohl geformtem, jungem Körper wohnte eine feine, gut erzogene und kultivierte Dame, während in seinem immer noch ganz gut trainierten Körper ein Junge hauste. Ein Junge, der nicht gern aufräumte, mit Vorliebe bei McDonalds Fritten mit der Hand verspeiste, während er sich auf einen fettigen Hamburger freute. Ein Junge, der dreckigen lauten Rock liebte und das gelegentliche Kiffen vermisste.

„Jensen ist am Ende“, erzählte er Marie und gestand sich die ernüchternde Erkenntnis auch gleich selbst ein. „Ein Wrack. Der Krebs scheint ihn aufzufressen. Es war ein echt komisches Gespräch. Wie beim Pokern. Jeder hielt sein Blatt in der Hand und versuchte zu bluffen. Nur hat er das besser gemacht. Denn ich hatte ein Fullhouse auf der Hand, und er hatte praktisch nichts. Ich habe die guten Informationen geliefert, und er hat nur herum orakelt und mich gewarnt.“

„Dich gewarnt?“

„Vor irgendwelchen dunklen Mächten, die wegen meiner Recherchen unter Steinen hervorkriechen könnten. Die Geister der Vergangenheit und dieser Kram.“

Er lachte und leerte, trotz Maries mahnendem Blick, sein Weinglas wie einen Bierhumpen, um sich dann noch einmal randvoll nachzuschenken.

Marie lächelte etwas gequält.

„Ich verstehe. Das alte Wrack hat dich also ausgetrickst und zur Vorsicht gemahnt. Immerhin ist damals eine junge Frau verschwunden. Und wenn ich das richtig verstanden habe, weiß bis heute keiner warum und was aus ihr geworden ist.“

Eric stellte die Rotweinflasche ab und eine kleine dunkle Wolke zog durch seine gute Laune.

„Weißt du“, sagte er und drehte die Spaghetti an dem Löffel deutlich geschickter zu einer mundgerechten Portion auf. „Ich denke, ich habe dem alten Wrack mal gezeigt, was gute Ermittlungen sind. Die alte Spürnase scheint doch ziemlich verstopft zu sein.“

„Er hat dich also herausgefordert, und dann hast du es ihm mal so richtig gezeigt“, stellte Marie fest. „Und deine ganzen Karten auf den Tisch gelegt.“

„Aus deinem Mund klingt meine Rolle ziemlich dämlich.“ Eric leerte erneut das Glas und schenkte sich gleich nach. „Aber so lief das nicht. Glaub mir, das ist meine verdammte Story. Ich weiß es. Und ich kann nur hoffen, dass Jensen lang genug durchhält, um meinen Triumph mitzuerleben.“

Marie stand auf und verließ wortlos das Esszimmer. Sie kehrte – immer noch schweigend – zurück und platzierte vor Erics Nase – direkt neben dem Schälchen mit dem groben Parmesan – einen gefalteten Zettel.

Unsicher starrte Eric den Zettel an.

„Was soll das?“

„Den hatten wir heute im Briefkasten.“

„Ja und?“

„Lies!“

Er faltete den Zettel auseinander. In sauberen großen Buchstaben stand dort:

ERSTE WARNUNG!

Eric starrte lange auf diese beiden Worte, als würde er deren Sinn nicht begreifen.

„Was ist das?“, fragte er mehr in den Raum als Marie. Sie antwortete trotzdem.

„Eine ersteWarnung, würde ich sagen.“

Eine Weile lauschte Eric Ravels traurigen Pianoklängen und fragte sich, ob fröhlichere Musik zum Essen nach Maries Meinung unanständig war. Er aß eine Weile schweigend weiter und starrte auf die Botschaft. Erste Warnung!

„Weißt du, was das bedeutet?“, wandte er sich dann an seine Freundin, die ihn während seiner Grübeleien erwartungsvoll beobachtet hatte.

„Dass du bedroht wirst?“

Er schüttelte grinsend den Kopf.

„Dass ich auf der richtigen Spur bin – und jemanden jetzt schon aus seinem Loch getrieben habe.“

„Na, großartig!“, sagte Marie. So, wie sie es sagte, klang es eher nicht begeistert.

Später räumte Eric das Geschirr in die Spüle. Wer gekocht hatte, war von der Küchenarbeit befreit. Das war die Regel. Marie saß am Frühstückstresen mit einem Rest Wein in ihrem Glas. Zufrieden schaute sie Eric beim Arbeiten zu und reflektierte ihren Tag. Sie wurde in der Redaktion zunehmend unzufriedener, was Eric nachvollziehen konnte. Ein Job als Assistentin widersprach ihrem Naturell. Nicht, dass ihr die Fähigkeit fehlte, sich unterzuordnen oder die Autorität von Vorgesetzten zu akzeptieren. Doch sie wusste und konnte so viel mehr als viele andere und sehnte sich nach Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Eric kannte ihren Vorgesetzten Nils Burkhardt ganz gut und hatte schon öfter angeboten, für sie ein gutes Wort einzulegen. Keine gute Idee! Solche Vorschläge machten sie nur noch verdrossener.

„Ich will einfach eine faire Chance“, sagte sie. „Stattdessen buche ich Reisen, führe in Meetings die Protokolle, arbeite meinem Chef zu, plane seine Termine, mache Telefonrecherche, ertrage Vicky Fabians hohles Gequatsche und sage Nils vor jeder Besprechung, wie cool er aussieht.“

Eric verharrte in der gebückten Haltung vor der Geschirrspülmaschine, richtete sich langsam auf und drehte sich um.

„Nils sieht cool aus?“

Marie runzelte die Stirn und spitzte den Mund.

„Ziemlich.“

„Cooler als ich?“

Er nahm eine übertrieben bedrohliche Haltung an.

Sie lachte und hob abwehrend die Hände.

„Das ist natürlich unmöglich.“

Er nickte befriedigt und sortierte pfeifend das restliche Geschirr ein.

„Eine faire Chance“, wiederholte Marie.

„Sag es ihm doch einfach.“

„Hab’ ich schon.“

„Und was hat dieser nicht ganz so coole Typ wie ich gesagt?“

„Geduld, Geduld, Geduld.“

„Oder du musst kündigen“, schlug Eric vor und kam zu ihr und seinem Weinglas. Sie stießen kurz an.

Marie nickte.

„Hab’ ich auch schon überlegt. Vielleicht lenkt er dann ein. Und wenn nicht, suche ich mir tatsächlich was Neues. Leben heißt Veränderung, stimmt’s?“

„Beruflich ja, privat nein“, entgegnete Eric und betrachtete sie mit einem Gefühl tiefer Liebe. Aber sie war viel zu sehr mit ihrem Problem beschäftigt, um das zu bemerken. Das war egal. Sie war bei ihm, und das machte ihn glücklich.

„Ich liebe dich“, sagte er, froh darüber, es dieses Mal zuerst gesagt zu haben. Sie konnte mit den Augen lächeln. Und genau das tat sie jetzt.

4. Kapitel: Gute alte Feinde

Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Carsten Markwart stand in seiner geöffneten Haustür, musterte Jensen wie eine Erscheinung und zeigte sich wenig erfreut über dessen Besuch. Zögernd trat er zur Seite und ließ den ehemaligen Privatdetektiv in seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Seit dem Tod seiner Frau Nicole vor zwei Jahren hatte er nur selten jemandem Zugang gewährt. Mit ihr war die Wohnung ein Heim gewesen. Danach hatte sie sich in eine Gruft verwandelt, der er nur noch gelegentlich entkommen konnte. Seine Einsamkeit bekämpfte er mit dumpfem Fernsehkonsum. Seine Trauer mit Alkohol. Die einzige Tochter lebte glücklich verheiratet in Toronto und bewies ihre Existenz höchstens mal durch hastig gekritzelte Postkarten oder Anrufe, bei denen sie immer klang, als komme sie gerade von einem Marathonlauf. Eine Zeitlang hatte Markwart noch die ehemaligen Kollegen besucht, sich mit dem einen oder anderen auf einen Kaffee oder ein Bier verabredet. Bald hatte er einsehen müssen, dass ein Ruheständler nicht mehr dazu gehörte, auch wenn sich die Jungs Mühe gaben, ihn weiterhin in ihre Welt einzubeziehen. Es funktioniere einfach nicht, und so ließ er es schließlich. Natürlich dachte er oft an Thea Dreyer. Sie hatte damals zu seinem Team gehört. Sie war für ihn etwas ganz Besonderes gewesen und möglicherweise wäre einiges in seinem Leben anders gelaufen, wenn es vor fast zehn Jahren nicht diese verhängnisvolle Schießerei gegeben hätte. Eigentlich war es reine Routine gewesen, im Zusammenhang mit einer Fahndung. Thea hatte zwei Beamte einer Zivilstreife begleitet. Ein verdächtiger Wagen wurde kontrolliert. Zwei junge Burschen – zugedröhnt bis unter die Haarwurzeln – hatten sofort das Feuer eröffnet. Die beiden Zivilfahnder waren auf der Stelle tot. Thea überlebte schwer verletzt. Als Markwart sie später besuchte, von ihrer Lähmung erfuhr, erschüttert von ihrem Leid und ihren Tränen, bedrängt von ihrem Flehen … da war er geflüchtet. Hatte versucht, ihr Elend fortan aus seinem Leben zu verbannen. Um nicht wieder mit ihrem Betteln konfrontiert zu werden, dass er sie von ihrem Leid erlöse. Das verlangte sie ausgerechnet von ihm! Auf seiner Flucht aus dieser unerträglichen Lage fand Markwart zurück zu seiner unerschütterlichen Frau und klammerte sich wieder an das Leben, das er für Thea eigentlich hatte aufgeben wollen. Er wäre auch zu der anderen Thea gegangen, die im Rollstuhl saß, wenn sie ihn nur gelassen und noch einen Hauch Lebensmut gezeigt hätte. Denn er allein war für sie beide zu schwach. Ein guter und harter Bulle, das war er immer gewesen, aber außerhalb seines Jobs brauchte er eine starke Partnerin. Nicoles Stärke hatte schon immer für zwei gereicht. Sie hatte den Glauben an ihn nie aufgegeben, hatte ihm vieles verziehen. Ihr eiserner Wille hatte bis zu ihrem Tod eine zuletzt bröckelnde Ehe getragen. Danach war nichts mehr geblieben. Seitdem hatte sich Markwart mit der Frage gequält, was er mit diesem verdammten Rest seines Daseins anfangen sollte. Freunde hatte er nicht. Nicht mal gute Bekannte. Sein Job hatte sich zusätzlich von Freizeit ernährt, und den kostbaren Rest Privatlebens hatte er mit Nicole verbracht, nachdem er mit seiner unbeholfenen Schwärmerei für Thea gescheitert war. Nicht wegen Theas Unglück, sondern weil sie ihn ausgrenzte. Nicht, weil seine heimliche Liebe im Rollstuhl landete, sondern weil Markwarts Dienstwaffe für sie wichtiger wurde als seine Nähe. Ohne Frau, ohne Freundin und ohne Job war es in seinem Leben eng und still geworden. Sein Sarg hatte zwei Zimmer, Küche und Bad.

Markwart hatte das bittere Gefühl, dass Jensen sein Elend auf den ersten Blick erfasste. Das Einzige, was ihn mit diesem demütigenden Moment versöhnte, war der Zustand des einst so unbezwingbaren Mannes, der ihm während seiner Polizeiarbeit so oft in die Quere gekommen war. Auch Jensen war nur noch ein Schatten seiner selbst und von schwerer Krankheit gezeichnet. Das beruhigte Markwart auf perfide Weise. So schienen sie beide am Ende ihres Weges angekommen zu sein und begegneten sich selbst im Niedergang auf Augenhöhe.

„Du siehst erbärmlich aus“, stellte Markwart fest, während er seinen Besucher ins Wohnzimmer führte.

„Danke, gleichfalls“, erwiderte Jensen.

Markwart machte eine vage Geste, um Jensen einen Platz anzubieten, doch der hatte sich bereits für Markwarts Lieblingssessel entschieden. Der ehemalige Kriminalhauptkommissar blieb unschlüssig stehen und betrachtete den Eindringling aus schmalen Augen.

„Was trinken?“

„Bier.“

Markwart blickte stirnrunzelnd auf seine Uhr, was Jensen mit einem ironischen Lächeln quittierte.

„Zu früh?“

Markwart holte statt einer Antwort zwei Dosen Bier aus der Küche. Natürlich war es für ihn nicht ungewöhnlich, vormittags mit dem Trinken zu beginnen, aber in Gesellschaft hatte er das schon lange nicht mehr gemacht. Zu seiner Überraschung empfand er es nicht als unangenehm, obwohl er für Jensen keine Sympathien hegte.

„Es geht mir scheiße“, stellte Jensen nach dem ersten tiefen Zug aus der Dose klar.

Markwart nickte.

„Ich hörte davon.“ Um dann bekümmert hinzuzufügen: „Nicole starb vor zwei Jahren. Gehirnblutung. Seitdem …“

Jensen nickte. Das Seitdem kannte er aus eigener Erfahrung. Er selbst war nie verheiratet gewesen. Seine wichtigste Beziehung hatte außerhalb üblicher Regeln stattgefunden. Das Verlustgefühl, das die Trennung damals in ihm hervorgerufen hatte, war nicht minder schmerzlich gewesen. Aber das war eine andere Geschichte. Markwarts Frau hatte er vor vielen Jahren auf einem Empfang kennengelernt. Sie hatte an Markwarts Seite wie die Sonne neben einer Regenwolke ausgesehen.

„Sie war eine fantastische Frau“, sagte Jensen. „Ich frage mich bis heute, wie sie auf einen Typen wie dich reinfallen konnte.“

Markwart lächelte dankbar. Es tat gut, das zu hören. Er litt noch immer unter dem Schuldgefühl, Nicoles Treue nie richtig gewürdigt zu haben. Beklagt hatte sie sich nie. Ihr war es immer nur um Haltung und Außenwirkung gegangen. Vorsichtig nippte Markwart an seinem Bier. Es sollte nicht routiniert wirken. Wäre er allein, hätte er die erste Dose in wenigen Sekunden geleert und noch bevor er sie abstellte gleich zur nächsten gegriffen.

„Wie lange bleibt dir noch?“ Er sah Jensen mehr interessiert als mitfühlend an.

Der zuckte mit den Schultern.

„Ärzte legen sich nicht so gern fest. Zumal ich mich aus der empfohlenen Therapie ausgeklinkt habe. Mein Heilpraktiker meint, ich werde die Zeit haben, die ich brauche.“

„Aha. Und wie viel Zeit ist das?“

Jensen sah an ihm vorbei.

„Stört es dich, wenn ich rauche?“

Markwart starrte ihn entgeistert an.

Jensen hob beide Hände.

„Ich sterbe so oder so, okay?“

Markwart verschwand und kehrte mit einem Aschenbecher und dem Rest des Sixpacks zurück.

„Was willst du hier? Soll ich dir beim Sterben zusehen?“

Jensen zündete sich eine Zigarette an und rauchte ohne zu inhalieren.

„Es gibt da einen Journalisten. Eric Teubner.“

Markwart nickte.

„Kenne ich. Der war hier.“

„Bei mir auch.“

„Na und?“

„Was hältst du davon?“

Markwart machte endlich mit seiner Bierdose kurzen Prozess und öffnete die nächste. Das kurze Zischen stimmte ihn froh. Er hatte keine Lust mehr, sich vor einem Mann zu verstellen, der trotz Lungenkrebs seine Bude vollqualmte.

„Was soll ich schon davon halten? Der wühlt in diesem verfluchten alten Fall herum und wird sich daran die Zähne ausbeißen wie wir alle. Ich habe nichts erreicht. Du hast nichts erreicht. Wir haben alle versagt. Das sind diese Fälle, die sich unseren Regeln entziehen. Es sind die Fälle, die einem den Schlaf rauben, die wahrscheinlich zu den letzten qualvollen Gedanken gehören werden, bevor man endgültig den Arsch zukneift.“

„Bist du dir sicher, damals wirklich alles getan zu haben?“

Markwart stierte Jensen nach dieser Frage missmutig an und wusste wieder, warum er ihn nicht mochte.

„Ich hatte schon fast vergessen, was für ein arrogantes Arschloch du bist. Schön, dass du mich daran erinnerst!“

Jensen winkte beschwichtigend ab.

„So war das nicht gemeint. Ich will nur wissen …, ich meine, ihr hattet Verdächtige. Ihr hattet Theorien. Ihr wart eine gute Truppe.“

„Erzähle mir mal Sachen, die ich noch nicht weiß. Wo hast du denn damals herumgeschnüffelt? Und warum hat auch der große Sherlock Holmes keine Spur gefunden? Immerhin konntest du Wege gehen, die uns verschlossen blieben. Du hattest Kontakte, von denen wir nichts wussten. Konntest Methoden anwenden, die für uns nicht in Frage kamen. Hast du damals wirklich alles getan, Klugscheißer?“

„Ich habe getan, was ich konnte.“

„Viel war das nicht.“

„Hast du tatsächlich Akten des Falls mit nach Hause geschleppt?“, fragte Jensen. „Teubner erzählte mir davon.“

Markwart gab keine Antwort. Er betrachtete seine Bierdose, als fände er darauf wichtige Informationen für das Gespräch.

„Ich will mir ein paar eurer Verhörprotokolle ansehen“, drängte Jensen.

„Wofür soll das gut sein? Willst du die alte Spur wiederaufnehmen?“ Markwart lachte verächtlich. „Die paar Stufen bis zu meiner Wohnung haben dich doch schon geschafft. Du solltest die Finger von anstrengenden Sachen lassen.“

„Ich will die verdammten Akten sehen“, beharrte Jensen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus und sah den ehemaligen Kriminalbeamten beschwörend an. „Du hast sie einem verdammten Presseheini gezeigt! Ich habe mehr Recht darauf, sie zu sehen!“