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Das Universum im 28. Jahrhundert. Die siebzehnjährige Somylea, in einem Waisenhaus aufgewachsen, führt ein ereignisloses Dasein als Bankangestellte in einem fernen Sonnensystem. Doch ihr beschauliches Leben gerät kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag schlagartig aus den Fugen. In allerletzter Sekunde wird sie von einem Unbekannten gerettet, bevor ihre Wohnung von bewaffneten Männern gestürmt wird. Nach und nach erfährt sie, wer es auf sie abgesehen hat und weshalb. Somylea erbt von ihren toten Eltern die Macht über den Planeten Amabilia. Das bringt sie in die Schusslinie einer mächtigen kriminellen Organisation, die nach den Rohstoffen auf dem Planeten giert. Plötzlich muss sie Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen nicht absehbar sind, ohne zu wissen, wer Freund und wer Feind ist. So gerät Somylea in ein mörderisches Spiel, das ihr zeigt, wie schmal der Grat ist, der Gut von Böse und Liebe von Hass trennt. "Amabilia" ist das Debüt der zwanzigjährigen Fabia Morger. Spannend, emotional, mit einprägsamen Charakteren und aufblitzendem Dialogwitz schafft es die junge Autorin, die Geschichte von Liebe und Verrat, Macht und Moral auf den Punkt zu bringen. "Amabilia" ist ein bemerkenswertes Buch in einem männerbeherrschten Genre.
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Seitenzahl: 427
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salis
AMABILIA – DAS VERGIFTETE ERBE
FürVera (Veria) Ziltener, beste Freundin und Erstleserin, sowie für ihren Bruder Master Timon Foxx, der die englische Aussprache seines Vornamens bevorzugt.
VERLAG
SALIS VERLAG AG, ZÜRICHwww.salisverlag.com • [email protected] finden uns auch auf Facebook und bei Twitter
LEKTORAT
PATRICK SCHÄR
KORREKTORAT
ESTHER SUTER
FOTO UND UMSCHLAG
MICHEL GILGEN
SATZ
BARBARA HERRMANN
GESAMTHERSTELLUNG
FGB, FREIBURG IM BREISGAU
1. AUFLAGE 2011
© 2011, SALIS VERLAG AG, ZÜRICH
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
ISBN 978-3-905801-49-1
PRINTED IN GERMANY
Lange bevor die eigentliche Geschichte beginnt, um genau zu sein vierzig Jahre vorher, ertönte ein Pochen an der Tür zu Sybillas Zimmer und weckte sie aus ihrem unruhigen Dämmerschlaf. Das Laken, auf dem sie lag, war schweißnass, die Decke ebenfalls. Sie hatte wieder einmal von ihrem Heimatplaneten geträumt und von ihren Eltern, an die sie sich eigentlich kaum erinnern konnte – ein Albtraum natürlich.
Aber schlafen war immer noch besser, als ruhelos im Zimmer auf und ab zu schreiten, wie es in letzter Zeit oft vorkam. Nach solchen Nächten fühlte sie sich den Tag hindurch unkonzentriert und verhielt sich passiv.
Die Bilder, die sie quälten, kamen seit einiger Zeit besonders häufig wieder hoch. Ein schlechtes Omen? Oder lag es einfach daran, dass sie seit kurzem besonders häufig darauf angesprochen wurde? Wahrscheinlich war es beides …
Seit sie bei einem Lehrer vor etwa zwei Wochen eine beiläufige Bemerkung über den Tod ihrer Eltern hatte fallen lassen – ihr fiel im Moment nicht einmal ein, wie sie gelautet hatte –, bohrten alle in ihren Erinnerungen herum. Ihre Lehrer und die Heimleiter wollten genau wissen, was sie sah, wenn sie an jenen Tag vor zehn Jahren zurückdachte … An jenen Tag, an dem sich ihr Leben um hundertachtzig Grad gedreht hatte …
Hatte es erneut geklopft? Ja, nun hörte sie es ganz deutlich, wenn auch nur gedämpft – offenbar wollte der- oder diejenige vor der Tür niemand anderen außer ihr wecken.
Was nahm man sich eigentlich die Frechheit, sie so spät aus dem Bett zu scheuchen?! Verärgert darüber, dass sie nicht einmal in der Nacht ihren Frieden haben konnte, drehte sich Sybilla auf die andere Seite und versuchte weiterzuschlafen.
Doch der Klopfer an der Tür gab nicht auf, sondern pochte immer heftiger.
»Wer ist da?«, fragte sie ungehalten unter der Decke hervor.
»Ich bin es«, ertönte eine Stimme vom Flur herein. »Mach bitte auf – schnell!«
Ach so! Erleichtert schlüpfte sie aus dem Bett. Ihr kleiner Bruder hatte die Angewohnheit, wenn er schlecht schlief – was ziemlich oft der Fall war – in ihr Zimmer zu kommen und neben ihr weiterzuschlafen Es schien ihn zu beruhigen, sie in seiner Nähe zu haben. Doch nun – er war immerhin schon zwölf – erschien er ihr langsam zu alt für diese Macke.
Sie öffnete die Tür. Bestürzt sah sie auf ihn hinunter. Jedes Mal, wenn er zu ihr kam, war er ein wenig verängstigt, aber jetzt schien er geradezu in Panik zu sein.
»Ach, Bruder«, rief sie tröstend und nahm ihn in die Arme. Er begann zu weinen, auf eine Art, die ihr Angst einflößte. Es war ein verzweifeltes Schluchzen, und sie begann zu ahnen, dass etwas Schlimmes geschehen war.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie verunsichert. Ihr Bruder war vielleicht manchmal etwas ängstlich, aber dass er einfach so losweinte, das war nicht seine Art. Er gab ihr keine Antwort, doch er hörte auf zu schluchzen, was fast noch unheimlicher wirkte – es war, als versuchte er, sie schonend auf eine schlimme Wahrheit vorzubereiten.
»Was ist?«, flüsterte sie noch einmal und packte ihn unwillkürlich am Arm.
»Sie kommen, Sy!«, sagte er aufgelöst. »Sie kommen, um dich zu töten. Morgen früh. Mit einer Spritze.«
Ungläubig starrte sie ihn an.
»Wer kommt?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
Er sah sie an und biss sich auf die Unterlippe. »Menschen, die beauftragt wurden – von Siard.«
Die Antwort traf Sybilla wie eine Faust in den Magen. Siard – der Führer des Empires, in dem sie seit zehn Jahren lebte? Nie hatte sie viel mit ihm zu tun gehabt, geschweige denn, dass sie ihn so sehr verärgert hatte, dass er sie jetzt …
»Was soll das, woher willst du das wissen?«, flüsterte sie. Sie wollte die Panik, die sich in ihr ausbreitete, verscheuchen.
»Ich wollte zu dir ins Zimmer kommen.« Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Da habe ich Stimmen gehört, Stimmen, die wir kennen, und auch andere, die ich noch nie gehört habe. Ich bin stehen geblieben und habe gelauscht. Sie hielten eine Sitzung, wieso und worüber ist mir klar geworden, als dein Name fiel. Du ahnst zu viel, haben sie gesagt.« Er schwieg kurz, dann setzte er zögernd hinzu: »Ich glaube, es geht um diese Morde, von denen du mir erzählt hast. Du bist die Einzige von uns Kindern, die sich noch an unser früheres Leben erinnern kann.«
Regungslos stand Sybilla da und versuchte, den Sinn seiner Worte zu begreifen.
»Du musst weg! Komm mit mir, ich helfe dir!«, fuhr ihr Bruder fort und starrte sie eindringlich an.
»Gut!« Sybilla wusste, was sie zu tun hatte. In fiebriger Eile packte sie die Sachen zusammen, die ihr zum Mitnehmen am wichtigsten erschienen. Wo auch immer sie hingehen würde, es würde weit weg von ihrem jetzigen Zuhause sein.
Auf Zehenspitzen schlichen sie den Gang entlang. Ihr Bruder ging voraus. Das Licht der zwei Monde durchflutete den menschenleeren Flur und beleuchtete schwach die Zeichnungen aus dem Malunterricht, die an den Wänden festgeklebt waren. Einige davon hatte sie selbst gemalt. Alles wirkte so friedlich und so still, dass Sybilla sich fragte, ob das nicht alles ein Traum war, aus dem sie am nächsten Morgen aufwachen und darüber lachen würde. Es musste einfach so sein. Dies war der Ort ihrer Kindheit, dieser riesige Gebäudekomplex, in dem sie mit ihren Kameraden Verstecken und anderes gespielt hatte … Dass man sie jetzt töten wollte, das klang so grotesk, das passte einfach nicht in diese heitere Welt.
Ihr Kinn straffte sich. Obwohl sie keinen Mucks von sich gegeben hatte, hielt ihr Bruder noch einmal den Finger vor die Lippen.
»Majen war auch dabei«, hauchte er und machte eine Handbewegung zur Tür links von ihm, hinter der Majen, die Frau, die alle Kinder des Hauses betreute, zu schlafen pflegte.
»Majen? Nein!« Sybillas Gelassenheit fiel vollends von ihr ab. Plötzlich brannten Tränen der Wut und der Verzweiflung in ihren Augen. Ihr Hals begann zu schmerzen und sie musste sich zusammenreißen, um ihre Atemzüge ruhig zu halten. Majen war immer für sie da gewesen, hatte sich mit einer Hingabe ihren Pflegekindern gewidmet, die über das Normale hinausging. Sie liebte Sybilla … Wie konnte sie zulassen, dass sie sterben sollte, nur weil sie um die Morde auf Diane wusste?
Sybilla wollte doch nur in Frieden ihr Leben weiterleben, mit ihren Freunden, ihrem Bruder und ihrer neuen Familie.
Majen.
Einen Moment lang dachte sie, dass sie lieber gestorben wäre, als erfahren zu müssen, dass sie von allen betrogen worden war. Doch nun musste sie stark sein und nicht alles noch schlimmer machen, als es sowieso schon war. Wenn nicht sich selbst, dann wenigstens ihrem Bruder zuliebe. Wenn sie von hier wegkamen – auch wenn sie keinen Schimmer hatte, wie sie das anstellen sollten –, musste sie sich um ihn kümmern.
Leise öffnete ihr Bruder eine Tür, welche in den Garagenraum führte, in dem die Erwachsenen ihre Autos parkten. Nur wenige Meter von Sybilla entfernt schwebte Siards Auto. Ihr Bruder öffnete die Tür und machte ihr ein Zeichen einzusteigen.
Ungläubig sah sie ihn an.
»Wenn wir Siards Auto stehlen und erwischt werden, sterbe nicht nur ich, sondern auch du«, sagte sie. Es war einfach nur eine Feststellung.
»Sie werden dich nicht erwischen«, versuchte ihr Bruder ihr Mut zu machen. »Und jetzt geh, bevor dich jemand bemerkt!«
»Du kommst doch mit mir?!«
»Nein«, sagte ihr Bruder leise. »Ich bin nicht so stark wie du, ich muss hierbleiben. Wenn ich mitkäme, würde ich dich nur behindern und die Kyprolo auf unsere Spur lenken. Und dann müssen wir beide sterben. Jetzt geh!«
Er atmete stockend. Was er gerade gesagt hatte, musste ihn größte Überwindung gekostet haben. Sybilla machte den Mund auf und versuchte, irgendetwas zu sagen, das ihn überzeugen würde, mit ihr zu kommen. Irgendein kluges Argument. Doch zugleich wurde ihr klar, dass es vorbei war. Er hatte sich entschieden. Tränen traten in Sybillas Augen. Sie sah ihren Bruder an und wusste, dass dies ein Abschied für immer war. Noch einmal prägte sie sich seine Gesichtszüge ein, betrachtete noch einmal das schmale, immer bleiche Gesicht, das in so starkem Kontrast zu seinen dunklen Augen und dem dunkelbraunen Haar stand. Ohne sie würde er es noch schwerer haben als ohnehin. Was würde aus ihm werden?
Sie drückte ihn an sich, so fest sie konnte, damit er nicht sah, dass sie weinte.
»Versprich mir, dass du weiterlebst!«, flüsterte sie. »Egal wie, aber versprich es!«
»Ich verspreche es«, sagte er und klang auf einmal heiser.
Sie sog seinen Duft ein, die letzte Erinnerung an ihre Kindheit.
Dann stieg sie in den nachtschwarzen Wagen und aktivierte die automatische Steuerung. Lautlos rauschte das Auto weg. Weg vom Planeten Hernux, hinaus ins All.
Sie würde nach Symian fahren und dort zur Polizei gehen, falls sie den Planeten überhaupt fand.
Ihr Bruder stand im Garagenraum und starrte in den Himmel, in dem der Lichtpunkt, zu dem das Auto geworden war, rasch kleiner wurde und verschwand. Auch dann noch blickte er hinaus in die sternenklare Nacht und nahm Abschied. Abschied von seiner geliebten Schwester. Abschied von seiner geborgenen Welt. Abschied von seinem Glück – Abschied von sich selbst.
»Dieser Tag hat gute Chancen, in die Top Ten meiner grässlichsten Tage aufzusteigen«, überlegte ich und rieb mir die Augen. Ein hysterischer Kunde unserer Bank war schreiend zurückgekommen und wollte sein Eigentum zurückhaben, nachdem er es in einen Hochsicherheitstresor hatte sperren lassen. Und das für nicht weniger als fünfzehn Jahre.
»Ich habe meine Uhr mit eingeschlossen. Ein Antiquitätenstück aus dem 23. Jahrhundert«, hatte er verzweifelt gerufen. Natürlich war es mir überlassen geblieben, ihm zu erklären, was er eigentlich schon wusste, aber nicht wahrhaben wollte. Wenn ein Stick – egal, ob er mit einem Vermögen oder nur mit einem Paar Socken gefüllt war – in einen Hochsicherheitstrakt eingesperrt wurde, war es schlichtweg unmöglich, ihn vor der festgelegten Zeit herauszunehmen. Sobald der Stick der Bank zur Verwahrung übergeben worden war, wurden seine Daten auf einer Festplatte mit beinahe grenzenloser Kapazität gespeichert, die unter der Bank in der Erde ruhte. Die Öffnung eines Hochsicherheitsverlieses war im Stick programmiert und konnte nicht geändert werden. Das war natürlich sehr gefährlich – man stelle sich nur vor, jemand würde einen lebenden Menschen in diesen Stick sperren. Meine Aufgabe war es deshalb, mit einem Wärmedetektor, der bei Körperwärme zu vibrieren begann, den Inhalt der Sticks zu überprüfen. Also war ich gewissermaßen für Menschenleben verantwortlich.
Das klingt um einiges interessanter, als es war. Genau genommen war es eine todlangweilige Arbeit, die nur gerade genug Geld für meine Wohnung und mein Essen einbrachte. Ich musste die Sticks überprüfen, eine Liste mit allen Wertgegenständen anfertigen, sie dem Kunden zur Durchsicht geben, meinen Fingerabdruck darunterdrücken und den Kunden mit einem freundlichen Lächeln verabschieden.
Und, wie gesagt, war es am heutigen Tag mir überlassen geblieben, den aufgelösten Mann zu besänftigen, da alle meine Kollegen fluchtartig aufs Klo gerast waren (zugegeben, ich wäre auch davongelaufen, aber leider hatte ich die Gefahr zu spät bemerkt). Der Mann hatte sich nicht mit einigen verzweifelten Sätzen begnügt – nein, eineinhalb Stunden verbrachte er damit, den Verlust seines geliebten Wertstücks zu betrauern. Nachdem er jedoch seine Trauer überwunden hatte, begann er mir Vorwürfe zu machen. Ich hätte ihm nicht genügend deutlich gemacht, was er in den Stick eingepackt hätte. Es wäre mir ja nur darum gegangen, möglichst schnell zum nächsten Kunden zu kommen. Man konnte sagen, was man wollte, aber das stimmte nicht. Ich gab mir immer größte Mühe, meine Arbeit so gewissenhaft wie möglich zu erledigen.
Als ich ihn schließlich damit zu trösten versuchte, dass sein einzigartiges Antiquitätenstück für die nächsten fünfzehn Jahre wenigstens sicher aufgehoben war, nannte er mich eine dumme Angestellte, die den Wert solcher Gegenstände nicht zu schätzen wüsste, und lief mit stampfenden Schritten davon, wobei er zwanzig Bring-Abhol-Roboter so ruckartig zum Anhalten brachte, dass sie übereinanderpurzelten.
Ich fragte mich einmal mehr, weshalb ich mir diesen Job antat.
Ich war nicht die Einzige, der dieser Gedanke durch den Kopf ging. Oft wurde ich gefragt, was mich im Alter von nur sechzehn Jahren dazu gebracht hatte, das sichere Kinderheim, in dem ich gelebt hatte, für immer zu verlassen. In den Augen der meisten war das purer Wahnsinn gewesen. Meistens erwiderte ich nicht viel. »Es ist halt so gekommen«, etwas in der Richtung. Eine ehrlichere Antwort wäre gewesen, dass ich nicht einfach gegangen bin, sondern gehen musste. Wäre ich geblieben, um noch ein paar Jahre länger den Komfort zu genießen, darauf hingewiesen zu werden, dass ich abends meine Zähne zu putzen und am nächsten Morgen zeitig aufzustehen hatte, wäre ich wahnsinnig geworden.
Seit ich denken konnte, lebte ich in diesem Heim. Es war nicht so, dass man mich dort gehasst hätte, doch ich war allen vollkommen gleichgültig. Jeder verrichtete seine Arbeit, die meisten machten sie gut, doch die Betreuer hatten vergessen, dass ich etwas nicht besaß, was die anderen Kinder im Heim irgendwo im Hintergrund immer dabeihatten und immer mit sich herumtrugen, wie einen wertvollen Schatz: Eltern. Oder zumindest die Erinnerung an sie. Der Gedanke, dass irgendjemand da war und sich mit mir auseinandersetzte oder zumindest wusste, dass ich existierte, war mir vollkommen fremd. Ich war als Baby zwischen Mülltonnen entdeckt worden. Niemals hatte es in meinem Leben jemanden gegeben, dem ich etwas bedeutet hatte – oder jemanden, der mir etwas bedeutete.
Nein – niemals war falsch. Eine Person war mir für lange Zeit das Wichtigste auf der ganzen Welt gewesen: Tolmai. Er war für mich wie ein Vater. Als er in meinem siebten Lebensjahr seine Stelle als Betreuer im Heim aufgenommen hatte, war er der Einzige, der bemerkte, dass ich einsam war.
»Du bist wie die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe«, hatte er mir manchmal gesagt, und das hatte mir gefallen. Wir hatten viele Dinge miteinander unternommen und unsere Beziehung wuchs über das Betreuer-Heimkind-Verhältnis hinaus. Mit ihm war ich glücklicher als je zuvor. Plötzlich wurde mir klar, wie schön es sein müsste, Eltern zu haben, Menschen, die einen liebten.
Doch als ich fünfzehn war, wurde er in ein anderes Heim versetzt. Nie mehr hatte ich danach ein Lebenszeichen von ihm vernommen. Seit diesem Tag war er buchstäblich verschwunden. Niemand wusste, wo er hingezogen war. Auf meine vielen Nachrichten, die ich ihm geschrieben hatte, bekam ich nie eine Antwort. Allein in meinen Träumen war er noch präsent.
Ein Jahr später zog ich aus dem Heim aus. Die Welt dort erschien mir ohne ihn so tot, dass ich mir manchmal wünschte, ich hätte ihn nie gekannt.
»Denk nicht immer daran zurück!«, schalt ich mich eine Sekunde später.
Seufzend zog ich meinen Taschenroboter hervor.
»Seiko. Bist du da?«, fragte ich gelangweilt.
»Ja, bin ich«, antwortete die Stimme meines Hausroboters.
»Folgende Aufgaben wurden heute erledigt: das gestrige Essen recycelt, die Wohnung gesaugt, die Fenster poliert, der Müll entsorgt –«
»Ja ja, danke«, rief ich ungeduldig. »Ich komme in fünf Minuten nach Hause und wollte dir schnell die Pläne fürs Abendessen durchgeben. Ich hätte heute gerne Steak mit Liliengeschmack und Mirabellenkartoffeln.«
»Madame, ich würde Ihren Befehlen gerne Folge leisten. Aber Sie haben mich am Anfang des Monats beauftragt, Ihnen jedes Mal, wenn Sie zu viel Geld für unnötiges Zeug ausgeben wollen, nicht zu gehorchen.«
»Das darf nicht wahr sein!« Fassungslos starrte ich meinen Taschenroboter an. »Ich habe heute Geburtstag. Da ist es wohl erlaubt, etwas Ordentliches zu essen.«
»Tut mir leid, aber Geburtstage stellen laut meinem Programm keine Ausnahme dar, es sei denn, Sie haben ein ärztliches Zeugnis. Sie hätten sich letzten Monat das bewegliche Modell unserer Galaxie nicht kaufen sollen, das ist, meinen Berechnungen zufolge, der Grund für ihre Geldknappheit. Es wird heute Abend nur Kartoffeln geben, angereichert mit einem preiswerten Vitaminpräparat.«
Zornig beendete ich das Gespräch.
Na toll! Wieder einmal war bewiesen, dass der Mensch seinen Maschinen hoffnungslos unterlegen war.
Ich wusste, dass der Roboter recht hatte, doch ich bereute den Kauf der Modellgalaxie kein bisschen. Jedes Mal, wenn ich mir die vielen Sonnensysteme anschaute, bekam ich ein klein wenig Fernweh und schwor mir: Irgendwann würde ich auf einem schöneren Planeten leben als auf unserem riesigen und viel zu dicht bevölkerten Sophrenusi.
In meinem Kopf tauchten Bilder von riesigen Urwäldern mit tropischen Pflanzen auf, mit weißen Stränden und –
»Somylea? Kommst du mal kurz?«, durchbrach eine Stimme meine Gedanken.
Alor, eine andere Angestellte, stand vor mir.
»Nein!«, sagte ich brüsk. Ich hatte ihr noch nicht verziehen, dass auch sie mich heute Morgen mit dem Kunden schmählich im Stich gelassen hatte. Alor gehörte zu den Leuten, die immer dann nett und freundlich waren, wenn sie etwas von einem wollten. »Ich gehe nach Hause, meine Schicht ist zu Ende.«
»Aber da ist ein Mann, der eine Frage zu den Hochsicherheitsverliesen hat. Er wollte nur mit dir sprechen.«
Alor sah mich mit ihren riesigen Rehaugen bittend an.
»Nein!«, gab ich ungnädig zurück. »Meine Schicht ist zu Ende.
Sag dem Herrn, er soll morgen wieder kommen.«
Sie ließ den Kopf hängen.
»Sag ihm von mir aus, ich sei schon gegangen oder so«, fuhr ich ein wenig sanfter fort – mit unausstehlichen Kunden kannte ich mich aus –, »und ich erkläre ihm das morgen selbst.«
Ich fragte mich im Nachhinein oft, wie es wohl gekommen wäre, wenn ich den Kunden nicht abgewiesen hätte. Wahrscheinlich wäre ich nicht lange am Leben geblieben. Wahrscheinlich.
Die Stadt, in der ich lebte, seit ich denken konnte, hieß Sophrenusi Stadt und war die Metropole des gleichnamigen Planeten. Genau genommen konnte man S.S. mit ihren 145 Millionen Einwohnern und ihrer Fläche von 547 000 Quadratkilometern kaum mehr als Stadt bezeichnen, vielmehr als eine riesige Insel inmitten eines noch gigantischeren Ozeans namens Miljan, abertausend Meilen vom nächsten Festland entfernt. In ihm wirkte die Hauptstadt nur noch wie ein kleines, grell leuchtendes Eiland, an dessen steilen Felsküsten nachts zwanzig Meter hohe Wellen brandeten – Sophrenusi war an den meisten Orten kein Badeparadies.
Alles, was auf diesem Planeten vorhanden war, sprengte normale Maße. Hier gab es die höchsten Häuser, die meisten Menschen, die größten Einkaufscenter.
Das Gebäude, in dem unter anderem meine Bank, die Stadtbank, einquartiert war, hieß Chypsel und gehörte mit seiner Höhe von 1463 Metern zu den gigantischsten Sophrenusis. Der eine Teil bestand aus unzähligen, meist überrissen teuren Geschäften, auf der anderen Seite waren tausende von Wohnungen auf- und aneinandergereiht – eine davon gehörte mir.
Obwohl ich im gleichen Gebäude wohnte und arbeitete, musste ich einen Hindenkautomaten benutzen, denn der Weg vom Untergeschoss, in dem die Bank untergebracht war, zu meiner Wohnung in den oberen Stockwerken war fünf Kilometer lang. Da war es einfacher, die zehn Minuten zum nächsten Hindenkautomaten auf sich zu nehmen.
An freien Tagen jedoch war der Menschenauflauf von Kauflustigen vom Festland und dem Stadtrand hier im Zentrum so enorm, dass auch das ein beinahe unmögliches Unterfangen wurde, da man selbst mit größtem Kraftaufwand nicht gegen den Menschenstrom ankommen konnte. Man wurde einfach mitgeschleift, ob man wollte oder nicht.
Um dem entgegenzuwirken, teilten hüfthohe Schranken den Raum, um diejenigen, die in die eine Richtung wollten, von denen zu trennen, die in die andere wollten. Trotzdem konnte es bis zu einer Stunde dauern, bis man zu einem freien Hindenkautomaten gelangt war.
Das war Sophrenusi Stadt. Eine Großstadt wie aus dem Bilderbuch.
Ich trat in die gigantische Haupthalle des Gebäudes. Es war kühl, der Mai hatte gerade begonnen. Das war die kälteste Zeit hier, auch wenn die Temperatur niemals so tief sank, als dass es zu mehr als ein wenig Rauhreif reichte.
Die Stofffasern meines Pullovers verdichteten sich aufgrund der sinkenden Außentemperatur, damit ich nicht zu frösteln begann. Er war schwarz, in der Bank waren andere Farben nicht gestattet. Ich seufzte und blickte mich in der Halle um, die von hunderten von Menschen bevölkert war. Viele Leute, die von der Arbeit nach Hause kamen, durchquerten die Haupthalle. Es war eine riesige Kuppel, deren Glasdecke man nur noch als ein Stück Himmel wahrnahm, so hoch war sie. Draußen war, soweit ich das erkennen konnte, eine wolkenlose Nacht, die von den vielen grellen Lichtern erhellt wurde.
Ich verschaffte mir Zugang zu einem Hindenkautomaten, streifte mir das kleine, weiche Gerät, das an ein Stirnband erinnerte, über den Kopf und dachte fest an mein Zuhause, worauf ich innerhalb eines Lidschlages in meiner Wohnung stand.
»Guten Abend«, rief ich missgelaunt hinein.
»Guten Abend, Madame«, antwortete die sonore Stimme von Seiko. »Hatten Sie einen angenehmen Tag?«
»Nein, er war beschissen.«
»Es betrübt mich sehr, das zu hören. Ich bin sicher, ihr morgiger Tag wird besser verlaufen«, erwiderte der Roboter programmgemäß.
Ich schaute ihn böse an, was der Maschine natürlich nichts ausmachte.
Für einen Moment blieb wie immer mein Blick an meinem Spiegelbild im Fenster hängen. Oft hatte ich versucht, anhand meines Aussehens einzuordnen, von welchem Planeten oder aus welcher Region ich wohl stammte. Doch bisher war ich nur darauf gekommen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach eine nördliche Region sein musste. Ich glich keinem der Einheimischen von S.S., denn ich war unwahrscheinlich blass, hatte dunkelblondes Haar und wirkte irgendwie zerbrechlich, auch wenn ich mir alle Mühe gab, nicht zerbrechlich zu sein. Unauffällig, aber kein Dutzendgesicht. Wer hatte wohl dafür gesorgt, dass ich so aussah, wie ich aussah?
In diesem Moment berührte etwas Pelziges mein Bein.
»Na hallo, Samba«, sagte ich zärtlich zu meinem Kater. »Hattest wenigstens du einen schönen Tag?«
Samba schnurrte behaglich als Antwort. Seitdem er kurz nach meinem Einzug in die Wohnung vor meiner Türschwelle aufgetaucht war, lebte er bei mir und war mein Gefährte in allen Lebenslagen. Sofort fühlte ich mich ein wenig besser. Ich versuchte ihn zu streicheln. Er wand sich, wie jedes Mal, geschickt davon und blickte erwartungsvoll auf Seiko.
»Gut«, sagte ich aufgeräumt. »Essen wir Kartoffeln.«
Seiko servierte das Essen und schaltete sich dann selbst aus. Nun war es in meiner Wohnung schon fast unheimlich ruhig, man hörte nur das Klirren meines Bestecks und mein und Sambas leises Kauen und Schlucken. Ich fühlte mich vollkommen alleine.
Ein weiterer Grund, weshalb ich auf einen anderen Planeten auswandern wollte, war, dass mich hier nichts hielt. Ich hatte keine richtigen Freunde. Niemand, der mit mir zu Abend aß, mit mir lachte oder stritt. Die Kollegen aus der Bank ließen mich in einem unkomfortablen Moment wie heute Nachmittag alleine stehen, und zu keinem meiner unzähligen Nachbarn pflegte ich Kontakt.
Tolmai war mein einziger Freund geblieben.
»Alles Gute zum Geburtstag, Somylea«, sagte ich leise zu mir selbst.
Samba starrte mich mit seinen grünen Augen an, als würde er mich haargenau verstehen. Dann begann er seine Kartoffeln aufzufressen. Merkwürdig an dem Kater war, dass er kein Katzenfutter fraß. Nach zahlreichen, erfolglosen Versuchen, ihm Katzennahrung schmackhaft zu machen, gab ich es auf und ließ ihn mit mir essen. Er brachte mich jedes Mal zum Lachen damit.
»Ach, Samba.« Ich versuchte ihn zärtlich hinter dem Ohr zu kraulen, auch wenn ich wusste, dass er das nicht mochte. »Du bist wirklich mein allerliebster –«
KNALL!
Es zischte und funkte, dann wurde es dunkel.
»Verdammter Mist!«, fluchte ich und suchte mit der Hand nach Sambas Fell, doch ich konnte ihn nicht mehr finden. Wahrscheinlich war er vor Schreck unter den Tisch gesprungen.
War das ein Stromausfall?
Vorsichtig tastete ich mich zum Fenster durch, öffnete es und lehnte mich hinaus. Merkwürdig. In den unteren Etagen brannte noch Licht. Nur meine schien vollkommen dunkel zu sein.
Wie war das möglich?
Auf einmal meinte ich, neben meinem Fenster eine Bewegung zu bemerken. Tatsächlich, da kletterte ein Mann die Fassade entlang auf mein Fenster zu. Aber wir waren im 154. Stock, und der Mann sah nicht aus, als wäre er gesichert. Er würde herunterfallen und sterben. Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, um ihn zu warnen – da zog mich jemand von hinten zurück und warf mich zu Boden.
»Was zum …«, begann ich und wollte mich wieder aufrichten, doch der Angreifer hielt mich fest, sodass ich auf dem Bauch liegend meinen Hals recken musste, um zu sehen, was mir gerade passiert war. Er hatte mich gerade noch rechtzeitig heruntergezerrt, denn in diesem Moment durchschlugen zwei Pistolenschüsse meine Fensterscheibe. Handtellergroße Scherben flogen wie Granatensplitter durch den Raum. Eine traf mich am Arm und ritzte die Haut auf, doch ich war zu erschrocken, um Schmerzen zu spüren.
»Beinahe hättest du eine große Dummheit gemacht«, murmelte der Unbekannte, »und Dummheiten kannst du dir heute Abend nicht leisten. Und jetzt lauf, was das Zeug hält!«
Er zerrte mich auf die Beine und rannte mit mir zur Tür. Ich warf einen kurzen Blick zurück und erstarrte. Leute in schwarzer Kleidung, die nur einen Schlitz für die Augen offen ließ, kletterten mit Sturmgewehren in meine Wohnung. Es waren mindestens zwanzig, und immer mehr quetschten sich wie Ungeziefer durch das Fenster. Ich begann zu verstehen, dass diese Menschen nicht hier waren, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.
»Weg hier, nur weg!«, dachte ich. Zuerst schien es, als würden sich meine Beine dem Befehl widersetzen, doch dann setzte mein Körper mit dem Verstand gleich und sie gehorchten.
»Ich hab noch einen Kater in der Wohnung«, keuchte ich verzweifelt zu dem Mann.
»Keine Sorge, deinem Kater geht es gut«, antwortete er. »Aber jetzt mach, dass du hier rauskommst!«
Wir stürmten zur Treppe.
»Da sind sie!«, hörte ich jemanden rufen. »Bringt sie mir! Betäubt sie meinetwegen, aber wir brauchen sie lebendig!«
Schüsse schlugen neben uns ein. Meine Nachbarn schauten verdutzt aus ihren Wohnungen. Das konnte nicht sein, das konnte nicht sein! Das war das Einzige, was ich dachte. Solche Dinge geschahen vielleicht in Filmen oder in Kriegszonen, wer weiß, vielleicht noch an vielen anderen Orten, doch nicht hier. Nicht in meinem Leben. Das konnte, nein, das durfte nicht wahr sein! Als ich den Kopf noch einmal zurückwandte, sah ich, dass Seiko sich selbst eingeschaltet hatte und auf unsere Verfolger feuerte.
»Was macht der da, verdammt noch mal?«, schoss es mir durch den Kopf.
Zwei Verfolger brachen unter seinen Schüssen zusammen. Wir rannten weiter, die Treppen hinunter. Das musste ein furchtbarer Albtraum sein. Irgendetwas Schreckliches war mit dieser Welt geschehen.
»Da!«, rief der Mann neben mir und stoppte vor einem Fenster im Flur.
Er stieß es auf und deutete auf ein Auto, das etwas unterhalb des Fensters geparkt war.
»Du springst zuerst, ich komme nach!«
Bevor ich mir überhaupt irgendwelche Gedanken machen konnte, schubste er mich zum Fenster raus. Unsanft landete ich in seinem Wagen, der Fremde sprang behände auf den Sessel neben mir.
Er machte eine rasche Fingerbewegung, so als wollte er etwas zu sich winken. Kurz darauf landete Seiko hinter uns auf der Gepäckablage. Der fremde Mann startete den Motor, während sich das Dach schloss.
Dann flog das Auto los, weg von Chypsel, hinein in die Großstadt.
Zum ersten Mal konnte ich den Fremden neben mir richtig anschauen. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass er nicht ganz wie ein Mensch aussah. Etwas an ihm war anders und kam mir irgendwie vertraut vor. Von irgendwoher kannte ich ihn.
Die ungewöhnlich hohe Stirn betonte sein bartloses Gesicht, seine grauen Haare schmiegten sich wie Fell an seinen Kopf. Von Zeit zu Zeit warf er mir aus seinen grünen, unergründlichen Augen einen kurzen Blick zu. Seine kleinen Hände führten den rasend schnell in dreißig Metern Höhe fahrenden Wagen geschickt aus den Häuserschluchten von S.S. hinaus in die meernahen Vorstädte.
Ich betrachtete forschend sein Gesicht. Was war es bloß, was mir an diesem völlig unbekannten Mann so vertraut vorkam?
Die Erkenntnis traf mich wie ein Donnerschlag.
»Nein!«, schrie ich auf.
»Doch«, gab mein Kater ungerührt zurück.
»Du, du – bist Samba?!«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Master Foxx, wenn ich bitten darf«, antwortete er herablassend.
Verdattert starrte ich ihn an.
»Ich werde dir niemals verzeihen, dass du mich Samba getauft hast.«
Das verschlug mir endgültig die Sprache. Langsam wurde mir klar, dass mein Haustier sich in einen Menschen verwandelt hatte. Nein, es hatte – was?
Ich blinzelte zweimal, doch der Mann, der neben mir saß, verschwand nicht.
»Das ist kein Traum und keine Wahnvorstellung – falls dir das gerade durch den Kopf geht«, erriet er meine Gedanken. »Merke dir eines: Für jedes Phänomen auf dieser Welt gibt es eine wissenschaftliche Erklärung.«
»Und … und … was für eine wissenschaftliche Erklärung gibt es für das hier, dass Sie …«
Fassungslos konnte ich dabei zusehen, wie Master Foxx sich in Samba und wieder zurück in den grünäugigen, grauhaarigen Mann verwandelte.
Ich stieß einen spitzen Schrei aus, der nicht nach mir klang. »Eine evolutionsgeschichtliche.«
Das Auto fuhr nun auf eine Meeresklippe zu. Gischt spritzte auf und ich holte tief Luft, um loszuschreien, doch da befanden wir uns schon mitten über dem Ozean. Offenbar hatte Master Foxx sein Auto nun beinahe auf Lichtgeschwindigkeit gebracht.
»Wie du bestimmt weißt, war der Homo Sapiens auf Golimat zum Zeitpunkt der Entdeckung des Planeten sehr ›jung‹. Auch wenn es fälschlicherweise oft behauptet wird, unterscheidet sich der Golimatmensch genetisch in nichts vom normalen Menschen. Aber er war nicht das einzige weit entwickelte Lebewesen auf seinem Planeten. Es existierte noch ein gleichzeitig entstandenes anderes humanoides Lebewesen. Zu Beginn allen Lebens, im Meer von Golimat, entwickelte sich eine Fehlmutation. Die Fähigkeit zu einer blitzartigen Metamorphose machte diese Duplikatlebewesen, wie ich sie getauft habe, zu einer sich schnell ausbreitenden Spezies, deren Entwicklung zu einem bilateralasymmetrischen Neumund und weiter zu Amphibien-Reptilien, Vogelsäugern, und Säugersäugern, alles sogenannte Duplikatlebewesen, nur ungenau erforscht wurde. Du kannst mir doch hoffentlich folgen?«, fragte er mit einem kurzen Seitenblick zu mir, doch er fuhr fort, bevor ich etwas erwidern konnte. »Neben dem Homo Sapiens Sapiens, der mit den Duplikatlebewesen nichts zu tun hatte, existierte also noch eine zweite Art, der ich angehöre: der Homo Sapiens Gemini, der sogenannte Zwillingsmensch. Der Homo Gemini mied die normalen Menschen, denn er hütete ein Geheimnis. Er besaß die Fähigkeit, sich in ein von Zeugung an festgelegtes Tier zu verwandeln.«
»Äh … ist das ein Scherz?«, fragte ich heiser und hoffte inständig, dass es einer war, auch wenn ich tief in mir drinnen ahnte, dass niemand auf die Idee kommen würde, mich so grausam reinzulegen.
Beleidigt schaute mich Master Foxx an. Dann verwandelte er sich innerhalb einer Hundertstelsekunde in Samba.
Ich zuckte zurück, als wäre irgendeine grauenerregende Kreatur vor mir erschienen, doch sogleich saß wieder Master Foxx neben mir.
»Deine Auffassungsgabe ist bemerkenswert langsam«, erwiderte er in arrogantem Tonfall. »Nein, das ist kein Scherz.«
»Ja aber … das ist … völlig unmöglich …«
»Von wegen!«, rief er aufgebracht. Dann glättete sich sein Gesicht wieder und er seufzte. »Viele Leute denken so. Aber es ist in gewissem Sinne nichts anderes als eine weiterentwickelte Metamorphose. Es ist alles schon hier. In gewisser Weise bin ich jetzt immer noch der Kater von vorhin. Du fragst dich bestimmt, warum niemand von uns je seine Existenz preisgegeben hat? Vor etwa tausend Jahren gab es auf Golimat noch ganze Stämme von Zwillingsmenschen – Reptilienmenschen, Vogelmenschen, Katzenmenschen. Aber schon damals wurden es immer weniger. Zwillingsmenschen fanden selten einen passenden Partner, und selbst wenn, war nicht sicher, dass ihre Kinder das Tier-Gen in sich hatten. Als Golimat vor vierhundert Jahren von den Menschen der Vereinigten Sonnensysteme entdeckt wurde, waren wir so wenige, dass meine Vorfahren es vorzogen, ihre Eigenschaft verborgen zu halten. Sie gaben sich als normale Menschen aus und schlossen sich diesen auch an, als der Homo Sapiens Sapiens begann, Schulen und Städte zu bauen. Unsere Anzahl nahm jedoch weiterhin ab. Heute gibt es nur noch dreiundzwanzig von uns und in schätzungsweise hundert Jahren überhaupt keine mehr.«
»Aha«, war das Einzige, was ich herausbrachte. In meinem Kopf breiteten sich Gedanken aus, die so verwirrend waren, dass ich das Gefühl hatte, platzen zu müssen. Mir war noch immer nicht klar, was für einen Zusammenhang dies mit den Geschehnissen von heute Abend hatte.
»Ähm«, gab ich schließlich von mir, »also sind diese … Menschen in meine Wohnung gekommen, um dich … Sie zu entführen oder so?«
»Nein«, war seine reservierte Antwort. »Das, was heute Abend passiert ist, hat mit meiner Besonderheit nichts zu tun.«
Ich wollte nachfragen, was denn sonst so ungeheuerlich war, dass es zu einer Schießerei in meiner Wohnung führen konnte.
Doch in diesem Augenblick fiel mein Blick erneut aus dem Wagenfenster und ich sah, dass meine Heimatstadt nur noch als winziger, hell leuchtender Punkt in einem schwarzen Meer zu erkennen war. Mein Fernweh von vorhin verflüchtigte sich. Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich hier mit einem Mann zusammen in einem Auto saß, von dem und von dessen Absichten ich keinen blassen Schimmer hatte.
»Und wo fahren wir jetzt hin?«, fragte ich und war mir nicht ganz sicher, ob ich es wirklich wissen wollte.
»Verxon«, antwortete er.
»Der Metallplanet? Aber das dauert mindestens zwei Stunden in Lichtgeschwindigkeit. Warum haben wir uns nicht hingedacht? Schließlich sind wir auf der Flucht, oder?«
»Alle Hindenkautomaten in der Umgebung deiner Wohnung werden wahrscheinlich vom Feind überwacht. Und außerdem dauert es nur eine Stunde und achtundvierzig Minuten«, berichtigte mich Master Foxx. Er saß ungerührt am Steuer. Ich versuchte meine aufs Äußerste angespannten Nerven zu beruhigen: »Er ist doch dein Kater. Er wird dir garantiert nichts tun.« Doch dass dieser Mann mal mein Haustier gewesen sein sollte, machte ihn mir nicht gerade sympathischer.
»Ich – ich hab mich manchmal ausgezogen, während Sie in meinem Zimmer waren«, sagte ich und betrachtete ihn angewidert. »Wer, denkst du, bin ich?«, rief er, ehrlich empört. »Wenn es sich nicht vermeiden ließ und ich mit dir in einem Raum bleiben musste, habe ich immer die Augen zugemacht.«
»Na gut.« Ich spannte meine Schultern. Allmählich kam wieder Leben in mich. »Ich will jetzt auf der Stelle klare Antworten auf alle meine Fragen: Wer sind Sie? Wieso haben Sie eineinhalb Jahre bei mir als Kater verbracht? Und was, verdammt noch mal, sollte diese Schießerei heute Abend? Sind Sie ein Schwerverbrecher, der bei mir Unterschlupf gesucht hat?«
Mit unbeweglicher Miene steuerte Master Foxx das Auto durch die Unendlichkeit des Alls. »Ich denke, die Antworten auf deine Fragen werden nur noch mehr Fragen aufwirbeln«, antwortete er nach einer Weile. »Aber nach dem, was heute Nacht passiert ist, geht es wohl nicht anders. Du musst alles erfahren. Um eines vorwegzunehmen: Nein, ich bin kein Schwerverbrecher, ich stehe im Dienste der Wissenschaft.«
Ich schnaubte kurz auf – das erklärte einiges.
»Ich habe –« An dieser Stelle stockte er und er schien nicht zu wissen, wie er weitererzählen sollte. »Ich bin beauftragt worden, dich gegen allfällige Angreifer zu verteidigen«, fuhr er schließlich fort.
Ich brauchte eine geschlagene Minute, bis ich meinen Mund wieder schließen konnte. »Was?«, würgte ich schließlich hervor.
Master Foxx schien meine Verwirrung zu gefallen.
»Du bist in einem Waisenhaus groß geworden, oder?«, fragte er sachlich.
»Ja. Na und?«
Das Auto begann zu piepsen. Master Foxx lenkte es ein wenig nach links und es verstummte wieder.
»Die Wahrheit ist«, begann er langsam, »ich kannte deine Eltern.«
»Unsinn«, sagte ich in unwirschem Ton, doch in mir drin begann sich ein Keim der Hoffnung zu regen – ich hatte mir immer gewünscht, jemanden kennenzulernen, der mir etwas über meine Familie sagen konnte. »Meine Eltern wissen sehr wahrscheinlich nicht einmal, dass ich noch existiere.«
»Oh doch, sie kannten dich gut«, sagte Master Foxx mit merkwürdig gepresster Stimme. »Dass du nicht mehr bei ihnen lebst, hat nur einen Grund: Sie sind beide tot.«
Stille.
Das Auto glitt geräuschlos durch das Sonnensystem von Sophrenusi.
»W-woher wollen Sie das wissen?«, fragte ich ihn mit rauer Stimme.
»Was hat man dir im Heim erzählt?«, fragte er zurück.
»Dass ein Mann mich als kleines Baby zwischen Mülltonnen gefunden und bei der Polizei abgeliefert hat. Das Einzige, was sie bei mir fanden, war ein Zettel mit dem Namen ›Somylea‹ in meiner Jacke, und sie beschlossen, mich danach zu taufen. Da niemand kam, um mich zurückzuholen, und auch keiner da war, der mich adoptieren wollte, haben sie mich in ein Heim gesteckt und dort bin ich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag geblieben.«
»Gut!« Master Foxx starrte über das Steuer hinweg ins All. »Sie haben dir die Wahrheit gesagt.«
»Die Wahrheit?«, rief ich empört aus. »Sie haben gesagt, Sie kennen meine Eltern.«
»Habe ich etwa eben das Gegenteil behauptet?« Verärgert über meinen Einwurf guckte er mich an. »Sie haben dir die Wahrheit gesagt, die sie kennen.«
»Ja aber …«
»Wenn ich rede, wünsche ich nicht unterbrochen zu werden.« Streng blickte er mich an. Dann seufzte er. »Deine Eltern waren Entdecker. Vielleicht die besten unseres Zeitalters, aufjeden Fall die erfolgreichsten. Zu ihrer Zeit war es noch leicht möglich, mit einigen selbst erfundenen Hindenkmaschinen und einem Raumschiff das Weltall zu erforschen. Strengere Richtlinien in Sachen Planetenforschung wurden erst eingeführt, als sie schon gestorben waren. In den Achtzigerjahren des 27. Jahrhunderts musste man lediglich seinen Namen beim zuständigen Amt angeben und einen Vertrag unterschreiben, der einen verpflichtete, jede Entdeckung eines neuen Planeten umgehend der Regierung mitzuteilen. Die meisten dieser Möchtegernentdecker gaben nach einigen erfolglosen Jahren auf, deine Eltern jedoch nicht. Sie entdeckten zwei neue Sonnensysteme und haben die Sternkarte um vierundzwanzig Planeten erweitert. Doch dann entdeckten sie einen fünfundzwanzigsten Planeten, der ihre Verpflichtung auf eine harte Probe stellte: Sie tauften ihn ›Amabilia‹, was so viel bedeutet wie ›die zu lieben Werte‹.«
Von so einem Namen hatte ich noch nie gehört, geschweige denn von einem Planeten, der so hieß.
»Und was war an diesem Planeten so außergewöhnlich?«, fragte ich skeptisch, aber auch ein wenig beunruhigt.
»Twengol«, sagte Master Foxx knapp, doch ich verstand.
Twengol war das wohl begehrteste Gift der Vereinigten Sonnensysteme. In winzig kleinen Dosen heilte es tödliche Krankheiten und diente als Gegengift für alle möglichen Bisse oder Vergiftungsfälle, sodass es in vielen größeren und vor allem reicheren Krankenhäusern eingesetzt wurde. Sobald die Dosis jedoch nur ein klein wenig zu hoch war, starb man unter grausamen Qualen. Kurz vor seinem Tod erschien dem Vergifteten das Bild des eigenen toten Körpers vor Augen. Man sah sich selbst, blau angelaufen wegen der durch das Gift verursachten Atemnot, tot vor sich liegen. Ungefähr drei Minuten hielt diese Halluzination an, dann war das Leben ausgelöscht, kein Gegengift konnte dies verhindern. Bis heute war nicht vollkommen geklärt, ob diese letzten drei Minuten die tatsächliche Zukunft zeigten oder einfach nur Einbildung waren. Für ein Gramm Twengol wurden auf dem Schwarzmarkt mehr als hunderttausend Wenymx geboten. Ich hatte gehört, dass es tatsächlich Menschen gab, die eine Menge Geld dafür zahlten, andere Leute auf diese Art den Tod erleiden zu sehen. Der Wert des Heilgifts stieg kontinuierlich in die Höhe, da viele Bergungsstellen eingestehen mussten, dass der Vorrat an Twengol langsam zu Ende ging.
Wenn ich daran dachte, dass diese Menschen – ich brachte es nicht über mich, sie als meine Eltern zu bezeichnen – neue, dringend benötigte Vorkommen entdeckt hatten, wurde mir klar, dass dies selbst die ehrenhaftesten Regierenden auf die Probe gestellt hätte.
»Amabilia verfügt über noch nie zuvor entdeckte Mengen von diesem Gift«, fuhr Master Foxx fort. »Von den Steinen, in denen das Gift vorkommt, gibt es dort ganze Berge und Klippen. Natürlich zögerten deine Eltern, diesen unglaublichen Fund öffentlich zu machen, da sie erahnen konnten, welche Konflikte das Gift hervorgerufen hätte – oder besser das Geld, das man damit verdienen konnte. Die Union befand sich vor neunzehn Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise und die Einheit war zerbrechlich, besonders wenn es um die Aufteilung von Gütern ging.
Deine Eltern fragten mich um Rat. Ich riet ihnen, alles nochmals zu überdenken. Sie bewogen auch, einen Großteil des Planeten zu sprengen, doch ich hielt das für keine gute Idee. Schließlich konnte man mit dem Gift auch sehr viel Gutes bewirken.« Er seufzte erneut. »Bevor wir zu irgendeiner Entscheidung kamen, bekam die Kyprolo Wind davon.«
»Kyprolo?«, fragte ich verdutzt.
»Eine kriminelle Geheimgesellschaft, um nicht sagen zu müssen eine Firma, denn Firma wäre in der Tat ein passendes Wort für sie. Sie haben sich aufs Töten spezialisiert. Kopfgeldjäger, Folterinstrumente, Waffen aller Art und eben auch Gifte – bei der Kyprolo kriegst du für einen entsprechenden Geldbetrag alles.« Er lächelte säuerlich. »Sie haben ihre Ohren überall. Ich vermute, dass auch führende Mitglieder des Ministeriums bis zu ihrem dreckigen Hals mit drinstecken. Ich könnte dir Romane über diese Organisation erzählen, doch ich denke, daran hast du im Moment wenig Interesse. Jedenfalls erfuhren diese Verbrecher von Amabilia, und sie versuchten natürlich, den Standort des Planeten in Erfahrung zu bringen. Erst mit enormen Geldsummen, dann, als sie einsahen, dass das nichts nützte, mit Erpressung und schließlich mit Gewalt. Doch es gibt eine Vereinigung namens GDK – Geheimdienst zur Destruktion der Kyprolo –, welche die Kyprolo jagt und bei der ich arbeite. Sobald wir Wind davon bekamen, dass die Kyprolo etwas über den Wohnort der Entdecker Amabilias herausgefunden hatte, habt ihr eure Sachen gepackt und seid abgereist, von einem Planeten zum nächsten. Es war für deine Eltern eine anstrengende Zeit, die sie oftmals an ihre psychischen Grenzen gebracht hatte, aber sie waren bereit, alles für ihre und deine Sicherheit zu tun. Irgendwann hat die Kyprolo euch schließlich gefunden, so wie sie das immer tut. Ihr habt versucht, mit einem Schiff zu fliehen, doch die Kyprolo hatte die automatische Steuerung abgeschaltet und drang ohne langes Zögern ins Schiff ein. Ein Teil des Raumschiffes explodierte und deine Mutter und dein Vater kamen um. Ich war dabei und konnte mich dank des Rettungsbootes rechtzeitig retten. Mitglieder der Kyprolo fanden dich. Sie hatten offenbar keine Ahnung, dass deine Eltern ein Kind gehabt hatten, denn sie brachten dich zur Polizei. Ein bitterer Fehler, wie sie später erkannt haben mussten.«
Master Foxx klammerte sich so fest ans Steuer, dass seine Hände ganz weiß wurden.
Ich schwieg und versuchte die unglaubliche Geschichte, die er mir gerade erzählt hatte, zu begreifen. Ich hatte Eltern. Als ich noch klein war, hatte ich mir andauernd Geschichten ausgedacht von tapferen Eltern, die heldenhaft für mich gekämpft hatten. Doch je älter ich wurde, desto mehr gewöhnte ich mich an die vermeintliche Realität, dass ich wohl einfach ausgesetzt worden war, weil mich niemand wollte. Und nun waren meine Eltern also tatsächlich …
»Warum sollte das ein bitterer Fehler für die Kyprolo gewesen sein?«, fragte ich schließlich.
Master Foxx stöhnte auf. Er verhehlte nicht, dass er sich wünschte, jemand anderes wäre hier, um meine Fragen zu beantworten. Er räusperte sich und fuhr mit Leidensmiene fort: »Deine Eltern hatten nur eine einzige Sternkarte erstellt, auf der Amabilia eingezeichnet war. Sie luden diese Karte auf einen Stick und verstauten ihn – Ironie des Schicksals – unter deinem Namen in der Bank, in der du bis heute gearbeitet hast.«
Ich vergrub den Kopf in meinen Händen. Das war einfach zu viel für einen Tag. Die ganze Fassade meines langweiligen, aber wohlgeordneten Lebens schien zusammenzustürzen.
»Ich hoffe, du reagierst nicht allzu empfindlich auf Veränderungen, es kommt nämlich noch mehr. Am besten atmest du ein paar Mal tief durch.« Als Master Foxx sah, dass ich mich etwas gefasst hatte, fuhr er fort. »Der Stick deiner Eltern ist in einem Hochsicherheitsverlies. Man kann ihn erst an deinem achtzehnten Geburtstag öffnen und zwar …«, er öffnete ein Fach und zog etwas hervor, »mit dieser Karte. Sie gehört dir, ich habe sie nur aufbewahrt, um sie dir an deinem Achtzehnten zu übergeben, doch nun ist sowieso alles durcheinandergeraten.«
In Gedanken versunken betrachtete ich die kleine Metallkarte. Sie sah tatsächlich so aus wie diejenigen, welche Kunden, die ein Verlies öffnen wollten, am Schalter vorzuweisen hatten.
»Die Frage ist nun«, unterbrach Master Foxx meine Gedanken, »wie hat die Kyprolo davon erfahren? Und warum hat sie heute Abend angegriffen? Hat heute am Schalter irgendjemand nach dir gefragt?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte ich, doch dann fiel mir etwas ein. Ich holte meinen Taschenroboter raus. »Alor!«, rief ich. »Alor, ich bin’s, ich muss dich was fragen.«
»Ja?«, antwortete ihre Stimme vom anderen Ende. Ihr Gesicht erschien vor mir in der Luft. Sie blickte misstrauisch und schien zu ahnen, was ich wissen wollte, denn sie sprach los, noch bevor ich sie überhaupt etwas fragen konnte. »Der Kunde, der heute am Schalter nach dir gefragt hat – er ließ sich einfach nicht abwimmeln. Ich habe ihm gesagt, du seist überstürzt aus der Bank gelaufen, da wollte er deine Adresse haben und schließlich« – sie sah mich verzweifelt an – »habe ich sie ihm gegeben.«
Vor Entsetzen legte ich auf, ohne mich zu verabschieden.
»Was passiert nun mit mir?«, fragte ich mit bebender Stimme.
»Ich wäre beinahe in meiner eigenen Wohnung von dieser Kyprolo erschossen worden. Ich kann nicht wieder zurück.« »Du bleibst erst mal in unserem Quartier auf Verxon, dort bist du sicher. Falls du irgendwelche Freunde haben solltest, wäre es besser, ihnen vorerst nichts über deinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Niemand sollte davon erfahren, du schwebst in großer Gefahr. Die Kyprolo hat sich an das kleine Baby im Raumschiff erinnert und sich wohl noch einmal mit deinem Lebenslauf auseinandergesetzt. Wahrscheinlich haben sie auch schon herausgefunden, dass die Portmanns vor bald achtzehn Jahren einen Stick in einem Hochsicherheitsverlies untergebracht haben.«
»Wer bitte?«, fragte ich verdutzt.
»Deine Eltern. Deine Mutter hieß Milena und dein Vater Petrus Portmann. Dein Name ist übrigens wirklich Somylea, auch wenn ich keine Ahnung habe, woher der Namenszettel in deiner Jacke stammt.«
»Aha!«
Also hieß ich Somylea Portmann. An den Gedanken musste ich mich erst gewöhnen.
Master Foxx schien zu wissen, was ich gerade dachte, und lächelte zum ersten Mal sanft.
»Sie wurden auf dem Planeten Erde geboren.«
Ich musste, trotz der schrecklichen Ereignisse heute Nacht, kurz auflachen. Die Erde stand schon seit mehr als hundert Jahren unter Denkmalschutz und, so lästerten Außerirdische oft, die Menschen dort sollten es eigentlich auch sein.
»Aber dir bleibt noch genug Zeit, mehr über deine Familie zu erfahren. Wir müssen uns überlegen, wie wir an deinem achtzehnten Geburtstag in die Bank kommen.«
Aus irgendeinem Grund schien ihn das sehr nervös zu machen.
»Ach, da haben wir noch genug Zeit«, sagte ich. »Ich bin ja heute erst siebzehn geworden.«
Master Foxx stöhnte genervt.
»Das ist nicht dein Geburtstag. Sondern der Tag, an dem du bei der Polizei abgegeben wurdest. Du warst damals schon fast ein Jahr alt. Dein richtiger Geburtstag, dein achtzehnter Geburtstag, ist in acht Tagen.«
Ich holte entsetzt Luft. Was kam heute Abend noch alles auf mich zu?
Ich bekam Kopfschmerzen vor lauter Denken. Am liebsten hätte ich mich in mein Bett verkrochen und drei Tage lang geschlafen. Erst nach einer Weile begann mein Gehirn wieder zu arbeiten.
»Eins verstehe ich immer noch nicht. Warum haben sie mich heute, ausgerechnet heute, angegriffen? Und wie haben sie von mir erfahren? Was ergibt das für einen Sinn?«
Master Foxx zuckte mit den Achseln. »War wahrscheinlich Zufall.«
»Aber ein sehr merkwürdiger«, sagte ich leise.
»Ich kann Verxon erkennen«, ließ Master Foxx schließlich verlauten. »Wir sind in zehn Minuten da. Mach dich auf eine starke Gravitation gefasst.«
Nun sah auch ich in der Ferne einen winzigen, silbernen Punkt, der sich rasant vergrößerte.
Eines war mir sofort klar: Weiße Strände gab es dort nicht.
Ob diesem Satz musste ich beinahe wieder lächeln.
Ich wachte auf und wusste nur zwei Dinge: Erstens, ich lag in einem fremden Bett. Zweitens, ich fühlte mich katastrophal. Alles an mir tat weh und mein Kopf brannte, als befände sich auf der Stirn eine klaffende Wunde. Ich wollte meine Hand heben und sie betasten, doch mein Arm war so schwer, dass ich es sein ließ.
»Weshalb kann ich meine Arme nicht bewegen?«, überlegte ich verzweifelt.
Dann merkte ich, dass es nicht nur meine Arme waren, nein, mein ganzer Körper schien wie ein Magnet auf einer weichen Matratze festzukleben.
»Hatte ich einen Unfall und liege nun im Koma? Fühlt sich das so an? Und was war passiert?«
Auf einmal stürzte meine ganze Erinnerung auf mich ein. In meiner Wohnung hatte es eine Schießerei gegeben, mein Kater hatte mich gerettet und mir einiges über meine Familie erzählt. Im nächsten Moment wollte ich lachen. So ein Blödsinn!
»Das hast du wohl geträumt«, sagte ich zu mir selbst.
Mit größter Anstrengung hob ich meinen Kopf und blickte mich im Raum um. Er sah aus wie eine kleine Krankenstation mit einem einzigen Bett, in dem ich lag.
Dann wurde mir alles klar.
»Mach dich auf eine starke Gravitation gefasst«, hatte Master Foxx gesagt, bevor wir in die stürmische Atmosphäre von Verxon eintauchten. Ich knallte mit voller Wucht der Länge nach hin. Meine Stirn platzte auf, ich spürte, wie Blut mein Gesicht herunterlief, dann musste ich ohnmächtig geworden sein. Vorsichtig richtete ich mich noch ein bisschen mehr auf. Durch ein kleines Fenster konnte ich erkennen, dass außerhalb des Gebäudes, in dem ich mich befand, eine silberne Masse tobte, für die es kein Oben und kein Unten gab und die einem das Gefühl vermittelte, in einem gigantischen Quecksilberglas gelandet zu sein: die Metallstürme von Verxon.
Die Atmosphäre des Planeten war für Lebewesen nicht geeignet, weshalb man darauf verzichtet hatte, unter riesigen, glasbehälterähnlichen Hallen Städte und Dörfer zu errichten, und nur ein paar vereinzelte Stationen gebaut hatte, die Forschungszwecken dienten. Ich verstand nicht genau, weshalb Master Foxx mich ausgerechnet auf diesen Planeten gebracht hatte.
»Hallo?«, rief ich zögerlich.
Ein Hausroboter öffnete die Tür und rollte leise zu meinem Bett.
An dem Kratzer unterhalb des Bildschirms erkannte ich, dass es Seiko war.
»Guten Tag, Madame«, sagte er. »Ich hoffe, Sie sind wohlauf. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
Etwas argwöhnisch betrachtete ich ihn. Ich hatte nicht vergessen, dass er letzte Nacht wie wild auf meine Angreifer geballert hatte, was nur durch einen Schießmechanismus ging, der Robotern ohne staatliche Bewilligung nicht eingebaut werden durfte. Gerade überlegte ich mir, ob es wohl risikofrei war, mit ihm zu sprechen, da öffnete sich die Tür erneut und Master Foxx trat ein.
»Ah, Somylea«, begrüßte er mich. »Du bist also wach. Wie’s aussieht hast du die stärkere Gravitation ohne große Probleme verkraftet. Du scheinst keine inneren Blutungen zu haben.«
»Nein.« Ich lächelte matt. »Abgesehen von der Kopfwunde und davon, dass ich mich fühle, als hätte ich zweihundert Kilo zugenommen, geht es mir nicht schlecht. Wie spät ist es?«
»Bald Mittagszeit«, antwortete Master Foxx. »Aber hier ist im Moment eine Tagphase, es wird also im nächsten Monat nie dunkel. Wir haben am Nachmittag eine Sitzung mit allen Mitgliedern der GDK. Wenn du dich bis dahin wieder etwas besser fühlst, wäre es hilfreich, wenn du daran teilnehmen würdest. Du spielst nämlich momentan eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Kyprolo.«
»Ja.« Ächzend stieg ich aus dem Bett und versuchte zu stehen, brach jedoch zusammen und kroch auf allen vieren umher.
»Das bessert sich bald.« Ohne Verwunderung blickte Master Foxx mich an. Er selbst schien problemlos stehen und laufen zu können. »Möchtest du etwas essen?«
Ich spürte, dass ich gewaltigen Hunger hatte. Seit den Kartoffeln hatte ich nichts mehr zu mir genommen.
»Oh ja, bitte!«
»Ich koche Ihnen etwas, Madame«, sagte Seiko, doch Master Foxx winkte ab.
»Hol ihr etwas aus der Kantine, das geht schneller.«
»In Ordnung, Master.«
Sprachlos beobachtete ich, wie Seiko zur Tür hinausrollte.
»Wieso hört der auf Sie?«
»Ich habe ihn manipuliert«, antwortete Master Foxx gelangweilt. »Wenn du auch nur die geringste Ahnung von Technik hättest, hättest du die beiden Pistolenmündungen an den Seiten der Lautsprecher gesehen. Glaubst du, dass ich wirklich die ganze Zeit geschlafen habe, während du nicht zu Hause warst?«