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Wie ein leuchtender Liebesbrief an Bücher, Worte und das Lesen. Amelia ist Buchliebhaberin durch und durch. Es ist fast schicksalhaft, dass ihr Leben gleich zwei Mal ausgerechnet in einer Buchhandlung eine ungeahnte Wendung nimmt. Nach dem schrecklichen Verlust ihrer besten Freundin muss sie lernen, dass Mut manchmal bedeutet, weiterzublättern und alle Seiten des Lebens zu lesen - auch, wenn es weh tut. Als sie auf ihrer Suche nach Antworten schließlich Nolan begegnet, dem jungen und geheimnisvollen Autor ihrer Lieblingsbuchreihe, erkennt sie außerdem, dass es nie zu spät ist, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
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Seitenzahl: 410
Ashley Schumacher
Amelia
Alle Seiten des Lebens
Aus dem Englischen von Barbara König
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Amelia Unabridged bei Wednesday Books, ein Imprint von Macmillan.
© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023
Alle Rechte vorbehalten
© Text: Ashley Schumacher, 2021
First published by Wednesday Books.
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency.
All Rights Reserved.
© Übersetzung: Barbara König
© Cover: Niklas Schütte unter Verwendung eines Motivs von Beatriz Naranjalidad
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03880-159-7
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Für Edward. Du bist einfach der Beste.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Emmeline und blickte gen Himmel, wo sich drohend dunkle Sturmwolken zusammenbrauten.
»Wir tun das Einzige, was wir tun können«, antwortete Ainsley. »Wir halten durch.«
Jeder kann eine Geschichte davon erzählen, wie er das erste Mal die Chroniken von Orman gelesen hat. Das hier ist meine.
An dem Tag, an dem uns mein Vater verließ, war es sonnig. Ich weiß noch, dass ich das seltsam fand. Denn in Büchern schlägt das Schicksal immer dann zu, wenn ein Sturm wütet und Blitz und Donner dafür sorgen, dass das Schlimmste, was passieren kann, in Szene gesetzt wird. Doch meinem Vater war der vollkommene, wolkenlose Himmel ebenso egal wie die Tatsache, dass er mit unserem einzigen Auto davonfuhr und uns mit unserer Trauer allein zurückließ.
Schon damals kam ich nicht umhin, mir vorzustellen, wir seien auf einer Insel. Die Sofas in unserem kleinen Wohnzimmer wurden zu schief aufgetürmten Seesteinen. Die verschränkten Arme meines Vaters, seine trotzige Haltung wurden zu einem verfallenen, verlassenen Leuchtturm, gegen dessen Gleichgültigkeit die Wut meiner Mutter brandete.
Durch die Jalousien konnte ich den Grund dafür vor unserem Haus sehen – in unserem klapprigen grünen Lieferwagen saß eine Frau – ein Mädchen –, kaum älter als ich. Die Verlockungen ihrer frischen einundzwanzig Jahre wurden ein wenig durch ihre Angewohnheit getrübt, besorgt an ihrem Zeigefinger zu nagen, während sich unsere Blicke durch die Windschutzscheibe trafen.
Ich konnte mich dunkel an sie erinnern. Eine Cheerleaderin bei den College-Football-Spielen, zu denen mich mein Vater in den letzten drei Monaten jeden Samstagnachmittag mitgeschleift hatte.
Mit einem leisen Schauder ließ ich das kaputte Stück Jalousie zurück an seinen Platz fallen, während meine Mutter meinen Vater anflehte zu bleiben. In meinem Bauch wanden sich Hunderte von Grausamkeiten und aus meinem Kopf verschwand die Insel, der Leuchtturm, alles.
»Für Amelia«, bettelte meine Mutter, das Gesicht von ihrer Wimperntusche verschmiert, was ich bisher nur aus dem Kino kannte. »Du kannst sie nicht verlassen, Willy. Sie ist deine Tochter. Sag es ihm, Amelia!« Grob fasste sie mich bei den Schultern und schob mich zu ihm hin. »Sag. Es. Ihm.«
Ich starrte sie beide an. Mom, deren selbst gefärbte rote Haare in alle Richtungen abstanden. Dad, der versuchte, stoisch und resigniert auszusehen. Sein Rollkragen war mit Bräunungscreme beschmiert, sie hatte seine bleiche Haut orange gefärbt.
Ich drehte mich wieder zum Fenster hin.
»Lass ihn gehen«, sagte ich. »Ist mir doch egal.«
Ich weiß nicht, ob der Tontopf mit der Sukkulente, die ich in der Grundschule herangezogen hatte, runterfiel, als Mom sich von mir abwandte, oder ob sie ihn absichtlich vom Tisch gefegt hat.
Als der grüne Lieferwagen schließlich davonraste, die Reifen über die holprige Einfahrt sprangen, ging meine Mutter in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Ich stand da, während der Wasserhahn in der Küche im Takt zu ihren Schluchzern tropfte, bis mich meine Füße aus der Haustür trugen, die Einfahrt hinunter und durch die Straßen und ich mich vor Downtown Books wiederfand.
Hier ging ich nur hin, wenn ich einen Geschenkgutschein hatte. Denn den Preis, den der Barcode der Bücher anzeigte, konnte ich mir sonst nicht leisten, nur den auf vergilbten Preisaufklebern im Antiquariat. Das Geld, das ich mit Babysitten verdiente, gab ich für neue Schulsachen aus und ab und zu für ein warmes Mittagessen anstatt des üblichen Käse-Senf-Sandwiches, aber nie für Bücher von hier.
Doch an dem Tag erlaubte ich mir, so lange ich wollte, vor dem Schaufenster stehen zu bleiben. Ich könnte die ganze Nacht hierbleiben, dachte ich, während ich den Kunden zusah, die zwischen den niedrigen Regalen umherwanderten, wie dümpelnde Segelboote am Horizont. Ich musste nicht zurück, nicht in dieses vaterlose, doch muttervolle Haus, nicht die verstreuten Tonscherben und die Blätter der Sukkulente vom Fußboden auflesen.
Mein Spiegelbild im Schaufenster sah aus wie ein Gespenst, mein knallgelbes Harry-Potter-T-Shirt ließ meine weiße Haut und meine blauen Augen bleich wirken. Meine langen Haare – irgendwas zwischen Blond und Braun – machten die Sache auch nicht besser. Ich fragte mich, ob Gefühle vielleicht alle Farben aus einem raussaugen. Ob Hass und Schock einem alle Kraft rauben.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch dort gestanden hätte, draußen vor der Tür, wenn nicht Jenna Williams aufgetaucht wäre.
Die Glastür des Buchladens war noch gar nicht richtig offen, da steckte sie ihren Kopf raus und sagte: »Du bist Amelia, stimmt’s? Du kannst da nicht einfach so rumstehen. Das ist gruselig. Was machst du da überhaupt? Komm doch rein.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
Trotz meiner Benommenheit hatte ein Teil von mir das Gefühl, ich müsste jetzt knicksen oder so. Jenna Williams – seit der fünften Klasse stets Jahrgangsbeste; immer perfekt angezogen; die Erste in unserer Klasse, die Eyeliner benutzte; bekannt für ihre Tennis-Leidenschaft – war das, was in der neunten Klasse einem Royal am nächsten kam, auch wenn sie nie Hof hielt. Sie hing mit ein paar Mädchen vom Tennisclub rum, aber näher als eine Armeslänge kam keiner an sie ran. Was sie eigentlich noch anziehender machte als die Mädchen, die um sich herum schwärmerische Bewunderer und Anhänger versammelten. Sie war nie unfreundlich, aber in einer Galaxie voller neuer Sterne war sie eine Supernova und wir alle wussten das, auch die Lehrer.
Seit dem Kindergarten waren wir immer zusammen in einer Gruppe oder Klasse gewesen, aber ich war überrascht, dass sie meinen Namen kannte.
Vielleicht lag es an der Sache mit den Sternen, jedenfalls hörte ich mich sagen: »Mein Dad hat uns heute verlassen.«
Sie seufzte, ihre beerenfarbenen Lippen leuchteten auf ihrer gebräunten Haut, und sagte: »Für immer verlassen? Wie absolut beschissen. Möchtest du darüber reden?«
Ich wäre weniger überrascht gewesen, wenn der Steinlöwe, der vor dem Edelrestaurant auf der anderen Straßenseite saß, sein großes Maul geöffnet und dasselbe gesagt hätte, aber ich bekam ein »Nein, danke« heraus.
»Gut«, sagte Jenna. »Es gibt sowieso schon viel zu wenig Zeit für viel zu viele Bücher.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich wieder, ganz nervös. Wenn sie ein Stern in einer Galaxie war, dann war ich eine Astronautin, die von ihrem Raumschiff abgekoppelt wurde und durch das Weltall schwebt, bis ihr der Sauerstoff ausgeht.
»Auf der Welt gibt es nichts, was ein gutes Buch nicht heilen kann«, sagte sie. »Na komm. Such dir eins aus. Oder zwei. Ich lade dich ein.«
Und so stöberten wir Seite an Seite im hellen, künstlichen Licht der Buchhandlung, als würden wir jeden Freitagabend so verbringen. Sie war keine Supernova und ich keine verlassene Tochter. Und obwohl ein Teil von mir unablässig an die Tränen meiner Mutter dachte, an den Klang, den die Zähne der Cheerleaderin wohl machten, wenn sie an ihrem Finger nagten, war ich zufrieden. Oder vielleicht auch einfach resigniert.
Wir brachten mein Buch und Jennas vier zur Kasse und die Buchhändlerin lächelte, als sie sah, was ich mir ausgesucht hatte: Der Wald zwischen Himmel und Meer, Teil I der Chroniken von Orman, von N.E. Endsley.
»Das Buch ist so gut«, schwärmte sie. Sie trug eine Lesebrille auf der Nase, eine weitere thronte vergessen auf ihrem Kopf. »Der Autor ist wahrscheinlich nicht viel älter als du. Er ist erst sechzehn oder so. Das ist ein Ding, nicht wahr? Du musst mir unbedingt sagen, wie du es findest.«
Im Licht der leuchtenden Glühbirne von Jennas cremefarbener Nachttischlampe las ich das Buch in einem Rutsch durch. Ich verbrachte die Nacht bei ihr, allerdings war ich bei diesem Besuch weniger einer Einladung als einer Verordnung gefolgt. Als wir den Buchladen verließen, stieg ich in das wunderschöne Auto der Williams und wurde zu ihrem wunderschönen Haus gefahren und es war so, als wäre ich schon immer da gewesen und als würde es immer so sein.
»Jenna bringt nie Freundinnen mit«, dröhnte ihr Vater gut gelaunt.
Die Fahrt vom Buchladen zu ihnen nach Hause dauerte nicht lange, aber doch so lange, dass mich Mrs Williams’ Augen im Rückspiegel anlächeln konnten.
Als ich mir Jennas Handy auslieh, um meine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, wo ich war, ging sie nicht ran. Ich hinterließ ihr die Telefonnummer der Williams und Jennas Handynummer und bat sie, mich zurückzurufen. Sie meldete sich nicht.
Ich hatte Angst, dass sie wütend sein würde, als die Williams mich am nächsten Morgen absetzten, aber sie war noch in ihrem Schlafzimmer. Ohne den säuerlichen Geruch von Mikrowellen-Pasta hätte ich gar nicht gewusst, dass sie überhaupt da war.
Doch Orman hatte in meinem Herzen schon Wurzeln geschlagen, klemmte unter meinem Arm und flehte darum, noch mal gelesen zu werden – flehte mich an, den tropfenden Wasserhahn und die leere Einfahrt und die Football-Spiele zu vergessen und in eine Welt zu fliehen, in der die Probleme viel größer und viel fantastischer waren als in meiner eigenen.
Komm mit, komm mit, flüsterte es.
Und frohen Herzens ging ich mit.
Die Geschichte handelt von zwei Schwestern, Emmeline und Ainsley, die ein verborgenes Reich entdecken – voller alter Prophezeiungen und flüsternder Wälder –, das an unsere Welt angrenzt. Emmeline ist eigentlich die Stillere, die Sanftmütigere, doch als ein Tropfen ihres Blutes den Waldboden durchtränkt, verpflichten die Alten Gesetze sie, Herrscherin des Reiches zu werden, und die extrovertierte, bestimmerische Ainsley wird unglaublich eifersüchtig.
Alles wird noch schlimmer, als Ainsley herausfindet, dass seit Jahrhunderten geweissagt wird, dass sie und nicht Emmeline dazu bestimmt ist, Herrscherin von Orman zu sein, und zwischen ihnen wütet ein Machtkampf, derweil eine ganze Welt auf dem Spiel steht.
Doch gerade als die Spannung zwischen ihnen einen Höhepunkt erreicht, landen sie mit einem Ruck zurück in der modernen Welt mit Fernsehern und Klimaanlagen und grünen Lieferwagen, die wegfahren und nie wiederkommen. Wie sich herausstellt, erlauben die Alten Gesetze nicht, dass Außenseiter für immer in Orman bleiben, Weissagungen hin oder her.
Die Geschichte endet damit, dass Emmeline und Ainsley sich auf ihrem Schlafzimmerteppich wiederfinden, sich wütend und verwirrt anstarren und nicht wissen, wie oder warum sie aus Orman verbannt wurden – und ob sie je zurückkehren werden.
Ein paar Monate später, an einem ungewöhnlich kalten texanischen Abend, gab ich das Buch an Jenna weiter. Es war derselbe Abend, an dem sie mir erzählte, dass ihre Eltern inzwischen, ohne zu überlegen, einen Tisch für vier bestellten.
»Willkommen in der Familie«, sagte sie trocken, als wäre das nicht das Beste überhaupt. »Auch du bist jetzt gezwungen, deine freie Zeit damit zu verbringen, dir Dads platte Witze und Moms Gejammer über die Arbeit anzuhören, während du zu salzige Chips mit Salsa isst.«
Als meine Gefühle sich beruhigt, als die Euphorie, Teil einer vollständigen und heilen Familie zu sein, und die Verzweiflung, meiner eigenen nicht zu fehlen, sich einander angeglichen hatten, nahm ich Der Wald zwischen Himmel und Meer aus meinem Rucksack und legte es auf das Kissen neben sie.
»Lies das«, sagte ich. »Es ist perfekt.«
»Nichts ist perfekt«, sagte Jenna.
»Das hier schon.«
Jenna las noch immer, nachdem ich schon längst so tat, als würde ich schlafen. In der dämmrigen Stille sorgte ich mich, dass das Buch sie nicht so packen würde wie mich, und was würde dann sein? Würde sie es kindisch finden? Mich kindisch finden und dann nicht mehr mit mir befreundet sein wollen?
Aber wenn es jemanden gab, dem ich vertrauen sollte, dann Jenna.
»Ainsley«, sagte sie ohne lange Vorrede, als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug. »Ich bin auf Ainsleys Seite. Und du?«
»Emmeline.« Ich lächelte, setzte mich im Bett auf und pflückte mir ein platt gedrücktes Stück Popcorn vom Nachthemd, das von unserem gestrigen Filmabend übrig geblieben war. Jenna war schon geduscht und angezogen, ihre schwarzen Locken steckten in einem ordentlichen Knoten.
»Sagst du das, weil du widersprechen willst oder weil du es wirklich denkst?«, fragte sie.
Ich verdrehte die Augen. »Genau so was würde Ainsley auch sagen.«
Wir verbrachten den Morgen damit, über die Feinheiten von Orman zu diskutieren, überlegten uns, wie die Mädchen den Weg dorthin zurückfinden könnten – wenn überhaupt –, und machten uns Gedanken über den zweiten Band.
Damals war uns nicht klar, was aus den Chroniken von Orman einmal werden würde. Als wir im Schneidersitz auf Jennas ungemachtem Bett saßen, konnten wir nicht wissen, dass das Buch und seine Fortsetzung einmal große Bestseller sein und in mehr Sprachen übersetzt werden würden, als ich kannte. Orman ließ eine Fangemeinde entstehen, die sich wie ein verschlungenes goldenes Band über Ozeane und Ethnien und Religionen erstreckte, was die Kritikerinnen und Kritiker überraschte, aber nie die Leserinnen und Leser.
Jenna hatte recht gehabt: Auf der Welt gibt es nichts, was ein gutes Buch nicht heilen kann.
Und die Chroniken von Orman?
Sind das Beste vom Besten.
Wenn mein Leben ein Buch wäre, dann würde ich hier beginnen. Hier vor der langen Reihe von Tischen, an denen man sich für das kalifornische Literaturfestival anmelden kann, hier, als in meinem Herzen so etwas wie Hoffnung aufkeimt.
Und wenn Jenna die Lektorin meines Buches wäre – und das wäre sie zweifellos, denn sie würde dafür sorgen, dass ich es richtig mache –, würde sie mir widersprechen. Sie würde sagen, dass ich damit anfangen soll, wie wir uns kennengelernt oder wie wir vor sechs Tagen die Crescent High School abgeschlossen haben, begleitet von tränenreichen Umarmungen ihrer Eltern und ein paar distanzierten Klapsen meiner Mutter. Aber dieses eine Mal werde ich Jennas Rat nicht befolgen und hier beginnen, mitten im Atrium, während ich nach oben auf das riesige bunte Banner starre, das über den Tischen hängt.
Mindestens ein Dutzend Autorengesichter sind darauf ordentlich angeordnet, aber es ist das Foto in der Mitte, das mich vor Aufregung zittern lässt. Genau im Zentrum ist die größte Abbildung von allen – N.E. Endsley mit seinen hohen Wangenknochen und seinen stufig geschnittenen dunklen Haaren, die weitaus eleganter aussehen als jede Boyband-Frisur.
Es zeugt von seinem schriftstellerischen Können, dass sich sein erstes Buch auch ohne dieses außerordentlich attraktive Autorenfoto auf dem Umschlag so gut verkauft hat.
»Autor der Chroniken von Orman« – mehr steht nicht unter dem ernsten Foto, aber alle wissen, dass der abschließende Band kommen wird. Diejenigen von uns, die ein kleines Vermögen dafür bezahlt haben – oder die, die von den Eltern ihrer besten Freundin dafür ein kleines Vermögen zum Schulabschluss geschenkt bekommen haben –, um im selben Raum zu sein, wenn er seine Ankündigung macht, hoffen darauf, zumindest einen Erscheinungstermin zu erfahren und vielleicht – Kreisch! – einen kleinen Ausschnitt zu hören.
Abgesehen von dem scharfen Schmerz der Freude, der mir das Gefühl gibt, dass ich nie wieder etwas so Wunderbares erleben werde, habe ich kaum Zeit, aufgeregt zu sein.
Ich unterdrücke ein wehmütiges Gefühl von Glück, denn Jenna ist schon auf einen der Tische zugeschritten und holt unsere Armbänder.
»Jenna Williams«, sagt sie zu dem blauen Polohemd dahinter, als ich neben sie trete. »Und Amelia Griffin. Zwei VIP-Pässe mit Zugang zu der N.E.-Endsley-Lesung.«
Der Mann blättert durch einen Stapel zusammengetackertes Papier und gibt jeder von uns dann ein Bändchen. VIP ist auf das dünne Gummi geprägt. Ohne es mir näher anzusehen, ziehe ich mir meins über mein Handgelenk, aber Jenna hält ihres hoch, um es genau zu untersuchen.
»Das hier hat einen kleinen Kratzer«, sagt sie. »Kann ich ein anderes haben?«
Die Verwirrung des Mannes hält etwas zu lange an – hinter seinen Augen sehe ich nichts als Aktenschränke; bevor Jenna also ihre übliche Rede über Präsentation und Qualität vom Stapel lassen kann, ziehe ich mir das Armband vom Handgelenk und vertausche es schnell mit ihrem angekratzten, bevor sie anfängt zu streiten.
»Das macht nichts«, sage ich. »Mir ist das egal.«
Jenna verdreht die Augen und sagt: »Sollte es aber nicht sein«, bevor wir zum Glück ohne Vortrag durch die langen Reihen von Ständen und Tischen voller Mitnahmeartikel und Bücher gehen.
Als die Williams uns im Februar beim Abendessen gefragt hatten, was wir uns zum Schulabschluss wünschten, sah Jenna kaum von ihrem Teller Enchiladas auf.
»Eine Woche nach Schulschluss ist ein Literaturfestival«, sagte sie. »Es dauert nur ein paar Tage. Das würde noch genau vor Irland reinpassen.«
Überrascht schaute ich sie an.
»Warst du wieder an meinem Computer? Woher wusstest du von dem Festival?«
Jenna verdrehte die Augen. »Als wärst du die Einzige, die eine Benachrichtigung erhält, wenn N.E. Endsley im Internet auftaucht.«
Es gab keinen Zweifel daran, dass sie sich das mir zuliebe gewünscht hatte. Später, als sie mich nach einer Autofahrt voller Gekreische, weil wir N.E. Endsley kennenlernen würden, vor meinem Haus absetzte, umarmte ich sie zum Abschied und flüsterte: »Du magst keine Web Alerts.«
»Was meinst du?«, fragte sie beiläufig.
»Du magst keine Alert-Dienste oder Newsletter, weil sie so viel Zeit kosten und dein Postfach verstopfen.«
Jenna sah aus dem Fenster, um ihr Lächeln zu verbergen. »Wann habe ich denn das behauptet?«
»Hast du nicht.« Ich grinste. »Das weiß ich einfach. Und wann hast du in meinen Computer geguckt?«
Entrüstet drehte sie sich zu mir. »Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst ihn einschließen, bevor du die Bibliothek verlässt.«
»Jup«, sagte ich trocken. »Wir wollen ja bloß nicht, dass der Pöbel in meiner Chronik sieht, dass ich Literaturfestivals und …«
»Lama-Memes suche, anstatt zu lernen?«
»Hör auf, mich zu verurteilen.« Ich gab ihr einen Schubs mit der Schulter und zog sie in eine weitere ungelenke Umarmung. »Und außerdem, hätte ich ihn nicht stehen lassen, dann hättest du dir was Vernünftiges zum Schulabschluss gewünscht. So was wie Buchhüllen oder was weiß ich, aber jedenfalls nicht das Allerallerallerbeste auf diesem Planeten.«
»Ich glaube nicht, dass irgendwer an der Uni sich für Buchhüllen interessiert, Amelia.« Ihre Stimme war gleichmütig, aber ich konnte spüren, dass sie lächelte.
»Was auch immer. Du weißt, was ich meine.« Meine Nase war in ihr Haar vergraben. Sie roch nach Shampoo und ihrem fruchtigen, zu süßen Parfum.
»Danke, Jenna«, flüsterte ich und war zu meiner eigenen Verwunderung vor Rührung geradezu seltsam sprachlos.
»Ich freue mich auch darauf, weißt du«, flüsterte sie zurück. »Aber gern geschehen. Herzlichen Glückwunsch zum Schulabschluss. Können wir jetzt loslassen?«
»Gleich. Dein Parfum bringt mich fast um.«
Ebendieses Parfum bringt mich wieder zurück zum Literaturfestival, zum aufgeregten Gedrängel all der buchliebenden Menschen um uns herum, das meine Begeisterung nicht mal annähernd widerspiegelt.
»Guck es dir an«, dränge ich Jenna, jogge neben ihren schnellen Schritten her und strecke ihr mein Handgelenk vors Gesicht. »Guck! Dieses Armband bedeutet, dass wir in nur drei Stunden N.E. Endsley sehen werden. Endsley, Jenna.«
Jenna bleibt nicht stehen, ist völlig unbeeindruckt von meinem Versuch, sie abzulenken.
»Amelia«, sagt sie entnervt und liebevoll zugleich, Letzteres allerdings mehr als sonst. »Vor dieser Lesung finden noch andere Veranstaltungen statt und wir sollten auch noch ein paar andere Events und Stände genießen, okay?«
»Wie du meinst, JenJen.« Ich flüstere den Spitznamen, den ihr erster und letzter Freund ihr gegeben hat, in der Annahme, dass sie es bei dem Lärm nicht mitbekommt.
»Wag es nicht, mich so zu nennen.«
Ihre dunkle, lockige Mähne hüpft mir mit einem Mal entgegen und sie kneift die Augen zusammen, aber sie unterdrückt dabei ein Lächeln.
»Ach, komm schon, JenJen. Bleib mal locker. Das ist ein sehr passender Name für eine Freundin … oder einen Pudel.«
»Hör auf«, sagt sie lachend. Sie lenkt uns zu einem Stand mit T-Shirts in allen Farben des Regenbogens mit Sprüchen wie Ich lese die ganze Nacht lang oder Ich bin kein Bücherwurm, ich bin ein Bücherdrache. Die meisten kann man auch als Poster kaufen und ich drängle mich mit ihr zu den Plastikposterröhren am hinteren Ende des Standes durch.
»Deswegen ist es völlig sinnlos, einen Freund zu haben«, murmelt Jenna. »Sie lenken dich nur vom Lernen ab und erfinden blöde Spitznamen, die deine sogenannten Freundinnen dir dann immer wieder unter die Nase reiben.«
»Kopf hoch, JenJen«, sage ich und ziehe eine Posterröhre zwischen ihren Geschwistern hervor. »Wie findest du das für unser Zimmer im Studentenwohnheim?«
Oben ist das Poster mit kleinen Cartoonfiguren verziert, die erfolglos versuchen, Ski zu fahren oder Skatebord oder zu surfen, und darunter steht: »Wenn’s nicht klappt, lies lieber ein Buch.«
»Das sieht nicht danach aus, als wäre es besonders förderlich für ein motivierendes Lernumfeld«, sagt Jenna. »Außerdem gefällt mir nicht, dass damit unterstellt wird, man könnte nicht gleichzeitig belesen und sportlich sein.«
»Spielverderberin.« Ich klatsche ihr mit der Röhre einmal auf die Schulter.
»Kindskopf.« Sie reißt mir das Poster aus der Hand und haut mir damit sanft auf den Kopf. Dann geht sie damit zur Kasse und schiebt die Kreditkarte ihres Vaters über den Tresen.
»Du musstest es nicht kaufen«, sage ich danach zu ihr.
Sie zuckt mit den Schultern. »Dad hat gesagt, und ich zitiere: ›Das ist dein Geschenk zum Schulabschluss. Tob dich aus. Aber erzähl es nicht deiner Mutter.‹«
»Deine arme Mom«, sage ich. »Sie wird dich erwürgen, wenn die Kreditkartenabrechnung kommt. Derweil wirst du weit weg in Irland sein, Pflanzen sammeln und im Nerd-Dasein aufgehen.«
»Pflanzenproben«, korrigiert mich Jenna.
»Was auch immer.« Ich gehe einen Schritt zur Seite, um eine Frau in einem langen Rock vorbeizulassen, die eine Sackkarre voller Kisten schnell wie ein Rennwagen schiebt. »Sie wird dir jedenfalls einen ihrer Vorträge halten wollen und du wirst nicht da sein, um ihn dir anzuhören.«
»Ich sage einfach, dass alles deine Schuld ist, und dann musst du dir ein Ohr abkauen lassen.«
Wir bewegen uns in einen schmalen, leeren Raum zwischen den Ständen, damit Jenna das Festival-Programm auf ihrem Handy aufrufen kann.
Plötzlich kommt es mir sehr erwachsen vor, dass wir zwei allein nach Kalifornien gefahren sind. Jenna und ich bestimmen, welche Veranstaltungen wir besuchen, wo wir zu Mittag essen, was für Quatsch wir kaufen. Ich warte immer darauf, dass uns jemand als allein reisende Minderjährige entlarvt, uns hinausbegleitet und unsere Eltern anruft, aber wir sind achtzehn Jahre alt. Wir haben uns zum Herbst in Missoula eingeschrieben. Wir sind erwachsen. Irgendwie.
Diese Erkenntnis ist gleichermaßen belebend wie einschüchternd. Ich will mich an diesen Augenblick erinnern, in dem meine Freundin auf unserer ersten Solo-Fernreise die Dinge in die Hand nimmt. Also krame ich, während Jenna scrollt, meine treue Digitalkamera aus meinem Rucksack und entferne die Schutzkappe. Ich gucke durch den Sucher und schieße ein einziges Bild – meine selbst auferlegte Regel – und lasse dann die Kamera von ihrem Band um meinen Hals baumeln.
»Oh, buch das, dann schaffen wir es noch zum Festsaal C für die Podiumsdiskussion ›Nur eine Fleischwunde: Gewalt in der Fantasy-Literatur‹«, sage ich und grinse. »Kapierst du? Buch es?«
Mein Lachen hallt in dem kleinen Raum wider, aber Jenna schnaubt nur und scrollt weiter. Ich habe das Programm praktisch auswendig gelernt, nachdem ich eine Woche lang abwechselnd die Einladungs-E-Mail angestarrt und wie besessen die zwei Orman-Bände wieder gelesen habe.
Meine Gedanken eilen voraus und ich frage mich, wie seine Lesung sein wird, und in meinem Kopf fließt alles, was ich über Orman und Endsley weiß, durcheinander.
Im ersten Buch – Der Wald zwischen Himmel und Meer – geht es darum, wie sie Orman finden und wie der Machtkampf zwischen Ainsley und Emmeline seinen Anfang nimmt; und das zweite Buch – Königinnen in der Zwischenzeit – handelt davon, wie Emmeline und Ainsley ihre Armeen um sich versammeln und um den Thron kämpfen. Doch die Alten Gesetze erlauben es ihnen, nur für kurze Zeit in Orman zu bleiben, und so gibt es Abschnitte in dem Buch, wo sie in unserer Welt leben. In Orman sind sie Herrscherinnen ihrer Reiche, aber zu Hause bei ihren Eltern müssen sie noch Hausaufgaben machen und Kekskrümel vom Teppich saugen. Es ist lustig, sie dabei zu beobachten, wie sie in zwei so verschiedenen Welten zurechtkommen müssen.
Alle glauben, dass das dritte Buch nur in Orman spielen wird, aber ich hoffe nicht. Ich stelle mir gerne vor, dass die Mädchen irgendwo mit mir in dieser Welt sind – dass Emmeline das Klopapier ausgeht, nachdem sie gepinkelt hat, und sie sich mit echten Sachen auseinandersetzen muss, Seite an Seite mit mir, aber zwischendurch nach Orman zurückkehrt, um ihren Platz als wahre Königin des Reiches einzunehmen.
Das sind die Art von Geschichten, die mich nachts aufbleiben lassen, Geschichten, in die ich so tief eintauche, dass ich davon überzeugt bin: Das ist die geheime Vergangenheit einer wirklichen Welt, zu der ich nur noch keinen Zugang gefunden habe. Sie zu lesen gibt mir das Gefühl, eine Rüstung über meinem Lieblingspulli zu tragen – aufregend und gemütlich, abenteuerlich und nostalgisch.
Und N.E. Endsley ist so eine Art Autoren-Wunderkind. Er ist nur ein Jahr älter als Jenna und ich. Vor ein paar Wochen hat sein neunzehnter Geburtstag die sozialen Medien geradezu zum Glühen gebracht und ein paar prominente Websites haben Artikel gepostet, die seinen unglaublichen, glorreichen Erfolg noch einmal zusammengefasst haben.
Er war erst dreizehn Jahre alt, als er angefangen hat, die Geschichten zu schreiben und hat mit sechzehn sein erstes Buch veröffentlicht; das zweite Buch erschien dann ein Jahr später. Der dritte und abschließende Band der Trilogie sollte dieses Jahr rauskommen, aber der Erscheinungstermin wurde auf unbestimmte Zeit nach hinten verschoben.
Keiner weiß, warum.
Es gibt natürlich Gerüchte. Manche sagen, er habe eine Schreibblockade und wisse nicht, wie er so eine epische Geschichte enden lassen soll, nachdem sie so populär geworden ist. Manche gehen noch weiter und meinen, die Fangemeinde sei die Wurzel des Problems, verwenden Wörter wie banal und aufdringlich. Sie würden zu viel erwarten, zu viel Druck auf Endsleys Gestaltungsspielraum machen.
Andere wiederum behaupten, er würde nie fertig werden, dass er noch vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag zum Einzelgänger und Einsiedler werden und die Geschichte mit dem zweiten Band zu Ende sein wird, was immer auch der Grund dafür ist.
Ich hoffe, dass das nicht stimmt, aber meine Hoffnung ist klein. Das geht allen so. Endsley gibt kaum Interviews. Was die Orman-Fangemeinde über ihn weiß, sind hauptsächlich Gerüchte und bruchstückhafte Informationen.
Eines Nachts konnte ich nicht schlafen, wurde in einen Internet-Kaninchenbau hineingezogen und habe Kommentare von Leuten gelesen, die Endsley zufällig in New York City begegnet sind, wo er lebt. Ein Mädchen hat ihn in der öffentlichen Bibliothek gesehen und ihn um ein Autogramm in seinem zweiten Buch gebeten, das sie zufällig dabeihatte. Endsley hat abgelehnt. Aber als er sich von ihr abwandte, hat ein anderer Junge sie angesprochen. Er hat sich für Endsleys Verhalten entschuldigt, das Mädchen nach ihrer Adresse gefragt und ihr eine signierte Ausgabe versprochen, um sich dann ein weiteres Mal für Endsleys Unhöflichkeit zu entschuldigen und daraufhin in der Menge zu verschwinden.
In einem aktualisierten Beitrag hat das Mädchen dann behauptet, das Buch erhalten zu haben.
Wer weiß, ob das stimmt. Vielleicht kann ich das besser einschätzen, wenn ich ihn persönlich treffe.
»Wie wäre es mit der Podiumsdiskussion ›Gerade genug Köchinnen in der Küche‹?«, fragt Jenna und unterbricht meine Träumerei. »June Turner und ein paar der Autorinnen von der Anthologie über Feminismus auf der Highschool werden sprechen. Weißt du noch, das Buch, das ich dir letzte Woche zum Lesen gegeben habe, was du aber nie getan hast?«
»Woher weißt du, dass ich es nicht gelesen habe?«, frage ich.
»Weil nicht eine einzige Seite umgeknickt war, als du es mir zurückgegeben hast. Es war nicht ein einziger Fleck zu sehen.«
»Willst du damit sagen, ich sei eine Bücherverwüsterin?«
Jenna wirft mir den gleichen Blick zu, den Mrs Williams auf Mr Williams beim Wocheneinkauf richtet, wenn er heimlich eine Packung Muffins in den Einkaufswagen legt. »Für meine Mädchen«, behauptet er dann. Es ist ein genervter Blick, aber gleichzeitig so voller Liebe, dass ich fast platze, wenn ich ihn sehe.
Ich lache. »Okay, ich bin eben nicht besonders ordentlich. Verklag mich. Und du hast recht, ich habe es nicht gelesen, aber nur, weil ich …«
»Die Endsley-Bücher noch mal lesen musstest«, unterbricht mich Jenna. »Ich weiß.«
Ich hake mich bei ihr unter, ziehe sie mit und tauche wieder mit ihr in den Menschenstrom ein.
»Dann Feminismus, JenJen. Wir sollten uns beeilen, wenn wir vorne noch einen Platz bekommen wollen. Ich weiß, dass du in der ersten Reihe sitzen willst.«
Ganz offensichtlich verkneift Jenna es sich, ein weiteres Mal die Augen zu verdrehen, während ich sie stur an meiner Seite halte. Mit so vielen Leuten um uns herum ist es schwierig, nebeneinanderzugehen. Sie lässt ihren Arm jedoch nicht fallen. In unserer Freundschaft ist es ihre Aufgabe, die großen und die nicht ganz so großen Entscheidungen zu treffen. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das, wofür sie sich entschieden hat, Spaß macht, egal, wie viele Gesichter sie dabei zieht.
Heute ist die Aufgabe für uns beide leicht, denn obwohl sie es nicht zugeben würde, weiß ich, dass Jennas Herz genauso aufgeregt schlägt wie meins; sie die Minuten zählt, bis wir näher an Orman und seinem Schöpfer sein werden als je zuvor.
Nach der überraschend lustigen Diskussion über Feminismus will Jenna noch eine weitere Veranstaltung besuchen, bevor wir uns in die Schlange für die Endsley-Lesung einreihen, aber ich habe Angst, dass wir dann keinen guten Platz mehr kriegen. Ich muss gar nicht besonders viel jammern, um sie umzustimmen.
»Gut«, sagt sie und rollt mit den Augen. »Aber wir werden über eine Stunde lang anstehen und ich habe keine Lust, mir diesen Sie drängelt sich vor-Unsinn anzuhören, also wenn du aufs Klo musst, dann geh jetzt.«
»So dolle muss ich nicht.«
»Dringend. Wenn du eines Tages Englisch-Professorin bist, fängst du besser jetzt schon an, auf deine Ausdrucksweise zu achten.«
Jetzt bin ich mit Augenrollen dran. Jenna hat mich letztes Frühjahr gezwungen, einen teuren Berufseignungstest zu machen, der alles Mögliche im Hinblick auf Genauigkeit und Verlässlichkeit und bla, bla, bla versprochen hat. Dabei herausgekommen ist Professorin. Jenna sagte: »Perfekt. Dann unterrichtest du Englisch«, und das war’s dann. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie mir einen Zehnjahresplan erstellt und ihn in hellroten Kästchen neben ihren lilafarbenen in einer Tabelle festgehalten.
Der erste wichtige Eintrag – zum selben College zugelassen zu werden – ist in unserem gemeinsamen Dokument schon mit einem Häkchen versehen worden. Die nächste Aufgabe, ein Vorbereitungskurs für die Universität an unserem Nachbarschafts-College, ist nur in meinem hellroten Kästchen markiert, denn ich soll mitschreiben – und zwar sorgfältig, Amelia –, während Jenna in Irland ist. Der Kurs dauert nur einen Tag, aber angeblich bringen sie einem dort lauter neue Lernmethoden und Bewältigungsmechanismen bei, damit man das Studium in Würde und ohne den Verstand zu verlieren durchstehen kann. Jenna besteht darauf, dass das notwendig ist.
»Gut. Dann gehe ich«, sage ich ihr und meine den Gang zum Klo, denke aber an den blöden Vorbereitungskurs. »Kannst du meine Tasche halten?«
Jenna stößt einen leidgeprüften Seufzer aus. »Meine ist schon so schwer. Ich setze mich da hin und warte auf dich.«
Sie zeigt auf eine Stelle auf dem Teppich, wo zum Glück niemand ist. Daneben ist ein abgesperrter Korridor mit einer langen Reihe von Fenstern, durch die man den Ozean sehen kann. An dem Absperrseil hängt ein Schild: Kein öffentlicher Zugang. Eine Limonade und ein halb aufgegessenes Stück Gebäck auf der anderen Seite der Absperrung lassen vermuten, dass hier ein Ehrenamtlicher seinen Posten verlassen hat.
»Ich beeile mich«, sage ich. »Wir treffen uns dann wieder genau hier.«
Jenna lehnt unsere beiden Taschen voller Bücher gegen die Wand, lässt ihre Schultern kreisen und reibt sich den Nacken, während ich davonflitze und in meiner Eile fast über meine eigenen Füße stolpere.
Vor dem ersten Klo, an dem ich vorbeikomme, führt die Schlange zur Tür hinaus und die halbe angrenzende Wand entlang. Ich überlege, die Männertoilette zu benutzen (Warum ist da nie eine Schlange?), entscheide mich aber, mein Glück im ersten Stock zu versuchen, in der Hoffnung, dass die Toiletten dort nicht so voll sind.
Da ist es doppelt so voll. Aber es kommt mir blöd vor, wieder nach oben zu gehen, also stehe ich zwanzig Minuten in der Schlange, wippe auf den Zehenspitzen auf und ab, bevor ich mir die Hände wasche und zurück nach oben zu Jenna hetze, damit wir uns endlich anstellen können, um N.E. Endsley zu sehen.
Mein Herz schlägt mir bereits bis zum Hals, deswegen hat es gar nicht die Chance zu reagieren, als ich auf der letzten Treppenstufe stolpere und kopfüber in die Beine eines Jungen falle, der über mir steht.
Dunkle Haare und von der Sonne geküsste Haut, mit warmen Augen, die mich besorgt ansehen, als ich seinen Blick treffe. So muss ein menschlicher Schokoladenkeks aussehen. Ein sehr gestresster Schokoladenkeks. Er hat so tiefe Furchen auf der Stirn, dass ich allein beim Anblick schon Kopfschmerzen bekomme. Wäre ich nicht so wild darauf, zu Jenna zurückzukehren und N.E. Endsley zu sehen, würde es mich wahrscheinlich mehr interessieren – dass er so süß ist, dass er ein Band um den Hals trägt, welches ihn als Mitglied des Festivals identifiziert, dass ich gerne wüsste, was dieses Stirnrunzeln verursacht.
»Tut mir sehr leid«, sagt der Junge. »Ich habe dich nicht kommen sehen.«
»Alles gut«, sage ich und stütze mich an seinem Ellbogen ab, um mich aufzurichten. »Meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst.«
Schon im nächsten Moment suche ich hinter ihm nach Jenna, während der Junge sich an mir vorbeischiebt und die Treppe hinuntereilt, sodass das Plastikschild an dem Band um seinen Hals zur Seite geweht wird und gegen seine Schulter schlägt wie die Krawatte von Clark Kent.
Zuerst frage ich mich, ob Jenna wohl schon gegangen ist, aber sie hat sich nur auf die andere Seite des Korridors gesetzt. Sie sieht nicht, dass ich auf sie zugehe, weil sie den Kopf abgewandt hat. Irgendetwas an ihrer Körperhaltung erinnert mich an Gatsby, der verlassen auf das grüne Licht am Ende des Steges blickt, und das macht mich nervös.
»Ich bin wieder da«, sage ich und aufgeschreckt dreht sie mir den Kopf zu.
»Was ist los?«, frage ich mit gerunzelter Stirn.
Sie blinzelt einmal, zweimal, rutscht unruhig hin und her. »Nichts. Nur in Gedanken versunken. Glaubst du, dass ein Koffer für Irland reicht?«
Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu und versuche, meine bestimmerische Freundin mit diesem scheuen Wesen vor mir in Einklang zu bringen. Sie klaubt sich eine unsichtbare Fluse von den Strumpfhosen.
»Rück raus, Williams. Was ist los?«
Einen Augenblick lang guckt sie schuldbewusst, aber als sie spricht, wird mir klar, dass ich ihre Unheil verkündende Ausstrahlung falsch gedeutet habe.
Nicht Schuld ist ihr ins Gesicht geschrieben, sondern Mitleid.
»Amelia … seit du losgegangen bist, verbreitet sich hier ein Gerücht. Eine Frau ist mit einem Funkgerät vorbeigegangen und ich habe gehört …« Sie neigt ihren Kopf Richtung Korridor. »Und eine andere kam ein paar Minuten später mit einer Gruppe von Ehrenamtlichen hier raus. Sie werden es bald verkünden.«
Mir dreht sich der Magen um.
»Verkünden. Was denn?«
Der verhärtete Ton meiner Stimme lässt Jenna zusammenzucken.
»Amelia, lass uns versuchen, so verständnis…«
»Meine Damen und Herren.« Eine Stimme dröhnt aus den Lautsprechern über uns und der Lärm im Raum schwillt ab.
»Hier spricht Linda Lancaster, ich bin für die Veranstaltungen auf dem Literaturfestival verantwortlich. Aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen kann N.E. Endsley dem Festival heute nicht beiwohnen. Für diese Umstände möchten wir uns aufrichtig entschuldigen. Diejenigen, die für die Lesung schon bezahlt haben, bekommen ihr Geld zurück oder können es den uns verbundenen Wohltätigkeitsorganisationen spenden. Sollten Sie Fragen oder ein Anliegen haben, wenden Sie sich an unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und an unsere Ehrenamtlichen in der Lobby. Vielen Dank.«
Brausende Klänge der Verwirrung und Enttäuschung spritzen gegen die Felsen der ehrenamtlichen blauen Polohemden. Ich gucke geradeaus, mein Blick bleibt an einem Stand hängen, der Buchumschläge aus Stoff verkauft, aber ich sehe ihn gar nicht wirklich.
»Amelia.« Jenna klingt, als würde sie sich einem verwundeten Tier nähern. »Amelia, bitte sag was.«
Ich kann nicht. Ich kann nicht damit umgehen, dass sie mich zu trösten versucht.
»Das kann nicht wahr sein«, sage ich. »Oder?«
»Es ist wahr, Amelia.«
»Kannst du aufhören, meinen Namen so zu sagen? Ich werde schon nicht« – ich wedle mit den Armen über meinem Kopf – »ausflippen oder so.«
»Ich weiß.«
»Ich bin sauer.«
»Ich weiß.«
»Du etwa nicht?«
Irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck ist komisch, aber sie antwortet nicht. Wie kann sie das so hinnehmen? Die Veranstaltung mit Endsley sollte das Hauptevent des Festivals sein – und meines Sommers. Die Erinnerung daran, dass ich dieselbe Luft wie er geatmet habe, sollte mich durch die Jenna-lose Zeit tragen, während sie in Irland ist.
Nun werde ich alleine an meinen Gedanken ersticken. Ich werde die nächsten zwei Monate damit verbringen, darauf zu warten, dass die Leute bei den Wiederholungen von Glücksrad, die Mom sich wieder und wieder ansieht, das bescheuerte Rätsel lösen. Während Jenna ihren »Ausflug nach Irland« genießt, den die meisten als Urlaub betrachten würden, obwohl sie es eine botanische Expedition nennt.
All das wäre sowieso so gelaufen. Doch ich habe den Williams nur gesagt, dass ich nicht mit Jenna nach Irland will, weil es einfach schon zu viel war – sie haben die letzten Jahre für Abendessen und Wochenendausflüge und obendrein noch für dieses Festival bezahlt. Eine Reise ins Ausland hätte mir das Gefühl gegeben, eine rote Linie zu überschreiten, eine Linie, die für mich trotz ihres scheinbar grenzenlosen Zwei-Anwälte-Eltern-Einkommens da ist und der ich seit der neunten Klasse immer wieder ausweiche. Einmal habe ich Jenna gegenüber die rote Linie erwähnt. Sie hat geschnaubt und meine Bemerkung vollkommen ignoriert. Aber sie ist da, auch wenn sie sie nicht sehen kann.
Sie ist genauso präsent wie Jennas nicht gerade subtiles Beharren darauf, dass ich mit meinem Uni-Abschluss etwas Vernünftiges anstelle, anstatt die Fotografie zu verfolgen, wie ich das mal erwähnt habe. So präsent wie die schrillen Schluchzer eines Mädchens, halb so alt wie ich, die eine zerlesene Ausgabe von Königinnen in der Zwischenzeit umklammert und ihr Gesicht in das Hemd ihres Vaters drückt.
Es ist alles zu viel.
»Es finden noch ein paar andere Veranstaltungen statt«, fängt Jenna an, aber als ich zu ihr herumwirbele, verstummt sie eingeschüchtert, ganz untypisch für sie, während Tränen, denen ich nicht erlaubt habe zu fallen, mir übers Gesicht laufen.
Sie geht einen Schritt auf mich zu und ich frage mich, ob dies ein seltener Fall von Jenna-umarmt-mich-zuerst wird, aber sie bleibt stehen, bevor wir uns berühren.
»Vielleicht sollten wir zurück ins Hotel gehen und uns ein bisschen ausruhen«, sagt sie. »Das überteuerte Eis aus der Minibar essen.«
Ich bin erleichtert, dass sie vorschlägt zu gehen. Ich kann es nicht ertragen, weiter hier zu sein, von Veranstaltung zu Veranstaltung zu wandern, während mein Herz akrobatische Manöver in meiner Brust veranstaltet.
Als wir das Kongresszentrum durch die Glasschiebetür verlassen, lasse ich mein angekratztes Armband in den Mülleimer fallen.
Die lange Fahrt zum Flughafen am nächsten Tag verläuft unheilvoll schweigsam. Ich bitte den Uber-Fahrer, die Fenster runterzulassen, denn hier ist die Luft angenehm kühler als zu Hause in Texas. Ich versuche es zu genießen, mich dem Zauber der matten Sonne, die meine Wangen besprenkelt, hinzugeben, aber ich bin nicht in der Stimmung.
Ich denke gerade über die Redewendung »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben« nach und frage mich, wie man den Zauber der Welt und den ganzen Scheiß überhaupt entdecken soll, wenn angemessene Erwartungen nicht erfüllt werden, als Jenna plötzlich das Fenster an ihrer Seite des Autos hochfährt und mich dadurch zwingt, entweder meins zu schließen oder mein Trommelfell durch den Druck platzen zu lassen.
Gerade will ich protestieren, aber sie lässt mich nicht zu Wort kommen und sagt: »Sei nicht sauer.«
»Dafür ist es ein bisschen zu spät.«
»Ich habe Endsley kennengelernt«, platzt es aus ihr heraus.
In all den Jahren unserer Freundschaft haben wir nur wenige Male miteinander diskutiert – meistens ging es darum, wo welcher Insiderwitz herstammt –, aber gestritten haben wir uns nie. Die intensive Auseinandersetzung, die wir hatten, als Jenna darauf bestand, dass ich zusammen mit der großen Gruppe Singlemädchen zum Abschlussball gehe, und ich mich geweigert habe, kam einem Streit am nächsten.
Wenn die langsam hochkochende Lava in meiner Kehle ein Anzeichen dafür ist, wird unser erster Streit die Schlacht sein, die für immer alle Kriege beendet.
»Aber die vom Buchfestival haben gesagt, dass er absagen musste«, sage ich und versuche, mit normaler und ruhiger und erwachsener Stimme zu sprechen. »Sie haben gesagt, er kann nicht kommen.«
Jenna seufzt. »Ich weiß. Ich habe ihn gesehen, bevor er gegangen ist.«
»Du meinst, du hast ihn von Weitem gesehen«, sage ich. »Du hast gesehen, wie er in seinen Wagen gestiegen ist oder so, das meinst du doch, oder?«
Anscheinend ist Jenna nicht dazu in der Lage, einen Satz ohne Seufzer zu beginnen, weil sie es wieder tut und dann sagt: »Nein. Ich habe N.E. Endsley kennengelernt. Ich habe mit ihm gesprochen, als du auf der Toilette warst.«
Mein Mund macht nicht lange genug Pause, um die Information zu verarbeiten. »Das soll ein Witz sein, stimmt’s? Du machst Witze.« Ich kann hören, wie meine Stimme lauter wird.
»Bitte bleib ruhig, Amelia. Bitte?« Jenna atmet aus. Sie fängt an, den Ton zu benutzen, den ihre Mutter vor Gericht anschlägt, wenn sie sich im Angesicht von hysterischen Klienten, Ehemännern oder – in diesem Fall – Fangirls weigert, die Contenance zu verlieren, und sich dazu zwingt, entspannt zu sein.
Ich versuche, die Stimme zu senken. »Wo hast du ihn gesehen?«
Das hier ist das Höchstmaß an Verrat, die absichtliche Vorenthaltung meines größten Wunsches – den Autor der Chroniken von Orman zu treffen –, und ich kann sie durch das heiße Rauschen in meinen Ohren kaum hören.
Der Uber-Typ wirft im Rückspiegel einen kurzen Blick auf uns und guckt dann wieder weg. Bestimmt erzählt er später beim Abendessen von den zwei irren Teenagern, die auf dem Rücksitz einen Flüsterstreit ausgetragen haben.
»Weißt du noch das Seil, neben dem ich stand?« Jenna klaubt wieder unsichtbare Flusen zusammen. »Das hat wohl auch den Weg zum Pausenraum für die Autoren abgesperrt. Ich habe etwas gehört, das so klang, als würde jemand ersticken, und dachte, jemand wäre in Schwierigkeiten. Ich habe das Kein öffentlicher Zugang-Schild ignoriert, um nachzusehen … und dann war er es.«
»Er«, sage ich bitter. »Er. Wie kannst du das einfach so sagen? Es war nicht einfach er, das war N.E. Endsley, Jenna.«
»Ich weiß, Amelia, aber er ist auch einfach nur ein Mensch, weißt du?«
Jetzt klingt sie mitfühlend und mütterlich und ich weiß, dass meine Reaktion nicht fair ist, aber ich kann spüren, wie ich noch wütender werde.
»Nein, das weiß ich nicht, denn ich war nicht dabei, falls du dich erinnerst.«
Jenna ist still. Ein knallgelber Sportwagen taucht hinter uns aus dem Nichts auf, weicht uns ruckartig aus und rast davon; das Brummen seines Motors zerschneidet die Stille.
»Er ging auf und ab und hat sich die Haare gerauft«, sagt Jenna. »Und vor sich hin gemurmelt. Ich glaube, er hatte eine Panikattacke. Ich weiß es nicht. So was habe ich noch nie erlebt.« Jennas Stimme ist ganz leise, als hätte sie Angst, zu laut zu sprechen.
Als ich nicht antworte, versucht Jenna, die Stille zu füllen, ihre Stimme wird vor Verzweiflung höher. »Er brauchte Hilfe, Amelia. Alles, was ich tun konnte, war, zu versuchen, ihn zu beruhigen. Glaubst du im Ernst, ich hätte ihn einfach so stehen lassen können? Hey, wart mal kurz. Ich muss meine Freundin suchen. Sie liebt deine Bücher. Warte bitte ganz kurz, auch mit deinem Nervenzusammenbruch. Danke.«
»Hättest du«, brülle ich fast und hasse, dass mein texanischer Akzent durchkommt und wie unsinnig ich klinge. »Du hättest mich suchen können. Ich hätte helfen können!«
Innerhalb einer Sekunde denke ich an all die Dinge, die Jenna ausmachen – ihre Güte, ihr stilles, aber unerschütterliches Mitgefühl, ihre nervige Angewohnheit, immer recht haben zu wollen –, und wünschte, ich könnte die Klappe halten. Dass dieser schmerzende, desillusionierte Teil meiner Brust lange genug aufhören würde wehzutun, damit ich Jenna sagen kann, dass ich verstehe.
Aber als Jenna antwortet: »Oh, Amelia. Das ist unsinnig«, kocht die Wut wieder in mir hoch und ich bin diesem Sturm hilflos ausgeliefert.
»Ist es nicht«, schreie ich beinahe. Der Uber-Fahrer hustet, aber wir ignorieren ihn. »Das war der Grund, warum wir zu diesem Festival gefahren sind, obwohl deine Mutter gesagt hat, dass das zu kurz vor deiner Irlandreise ist. Weil wir ihn treffen wollten und unsere Bücher signieren lassen, und noch nicht mal das konnte ich machen, denn was immer du zu ihm gesagt hast« – ich halte inne, um mit den Fingern Anführungszeichen zu machen –, »›um ihn zu beruhigen‹, hat es nur schlimmer gemacht, denn er ist gegangen.«
»Ich weigere mich, mit dir zu sprechen, wenn du so bist«, sagt Jenna mit lauter Stimme, um mein Gezeter zu übertönen.
»Du weißt, was diese Bücher mir bedeuten!« Ich schreie jetzt richtig, aber das ist mir egal. »Du weißt, wie mir diese Bücher damals geholfen haben!«
Sie zuckt zusammen, denkt an den verlassenen Amelia-Welpen, den sie vor Downtown Books gefunden hat. An die unzähligen Male, die ihre Eltern so getan haben, als hätten sie zwei Töchter anstatt nur eine, weil meine Eltern sich nicht die Mühe gemacht haben, bei irgendwelchen Preisverleihungen oder kitschigen Schulweihnachtsfeiern aufzutauchen.
»Ja, aber niemand weiß, wie ihm diese Bücher geholfen haben. Es ist nicht gerecht, von jemandem zu viel zu verlangen, Amelia, egal, wie sehr wir die Person oder ihre Arbeit bewundern. Er wollte unbedingt da weg. Er sah gefangen aus und verloren und ich … ich habe ihm gesagt, er soll sich um sich selbst kümmern.«
Das sanfte Brummen des BMW, das leichte, schicke Geräusch des Blinkers tickt in noch eine weitere Insel des Schweigens. Ich frage mich, ob es stimmt, dass vor einem Tornado absolute Stille herrschen kann.
»Ich habe ihm von dir erzählt«, sagt Jenna nach einer Weile.
»Ich will das nicht hören«, unterbreche ich sie. In mir drin scheppert noch irgendetwas anderes, das nichts mit unserem Gespräch über N.E. Endsley zu tun hat, und es tut weh. »Ich will davon nichts hören. Du hast den Star des Bücherfestivals nach Hause geschickt, weil er gestresst war. Geht klar, aber ich bin enttäuscht und ich will nichts mehr davon hören. Bitte.«
Das Bitte kommt zusammen mit einem Hickser aus meinem Mund. Es ist armselig. Ich bin armselig. Und es ist mir gerade vollkommen egal.
Für den Rest der Fahrt sprechen wir nicht mehr miteinander und auch nicht bei der Sicherheitskontrolle; wortlos sitzen wir nebeneinander und warten darauf, ins Flugzeug steigen zu können; als die Flugbegleiterin Jenna Mineralwasser und mir eine Cola gibt, sagen wir nichts.
Als das Flugzeug seinen Landeanflug auf den Flughafen beginnt, frage ich sie schließlich, warum sie es mir nicht früher erzählt hat, warum sie gewartet hat, bis wir im Auto saßen.
»Was für einen Unterschied hätte es gemacht, wenn ich es dir vorher erzählt hätte?« Ich bin emotional zu erschöpft, um ihr zu sagen, dass das keine Antwort ist.
Ich habe vor Jenna schon tausendmal geweint, aber sie habe ich nur ein Mal weinen sehen.
Wir waren gerade mal fünfzehn und unsere Freundschaft war noch neu und unausgereift. Aber ich kannte sie gut genug, um zu verstehen, dass sie eine tiefe Zuneigung für den uralten Kater der Williams, Moot, empfand, selbst wenn das von außen nicht sofort ersichtlich war. Sie grummelte darüber, dass er so viele Haare verlor, dass er mit seinen scharfen Krallen ihre Daunendecke zerriss, doch das war alles nur Show. Wenn er zur Schlafenszeit nicht am Fußende des Bettes lag, ging sie ihn holen.
»Sonst miaut er an der Tür«, war ihre Begründung. Aber wenn sie meinte, ich würde nicht hingucken, kraulte sie Moot liebevoll die Ohren.
Es war einer dieser Tage, an denen Kälte in der Luft lag, als Moot an Mr Williams’ Beinen vorbeischlüpfte und in die Wildnis der Nachbarschaft davontollte. Keiner machte sich besonders Sorgen, bis es Abend war und Zeit für mich, nach Hause zu gehen, und Moot noch immer nicht zurückgekehrt war.
»Der kommt schon wieder«, sagte Mr Williams. »Macht er doch immer.«
Machte Moot aber nicht. Nicht an dem Abend und auch nicht am Abend danach.
Jenna wollte nicht zugeben, dass sie sich Sorgen machte, aber am dritten Abend schaute sie ständig aus dem Fenster, mit gerunzelter Stirn, anstatt sich wie sonst voll und ganz auf ihren Romeo und Julia-Aufsatz zu konzentrieren.
»Jenna?«
»Ja?« Sie wandte ihren Blick nicht vom Fenster ab. Wahrscheinlich merkte sie selber gar nicht, dass sie immer noch rausguckte.
»Lass uns spazieren gehen«, sagte ich. »Es ist schön draußen.«
Sie hörte auf, aus dem Fenster zu starren, und warf mir einen Blick zu. »Es sind gerade mal zehn Grad«, sagte sie, zog sich aber schon ihr Sweatshirt über den Kopf.
Nachdem wir ein paar Minuten gegangen waren, hörten Jenna und ich auf, so zu tun, als ob, und benutzten die Taschenlampe von Jennas Handy, um unter Bäumen und hinter Autos zu suchen, in der Hoffnung, mit dem Lichtstrahl eine moppelige, ergraute Tigerkatze mit leuchtend grünen Augen einzufangen.
Durch irgendein Wunder – oder einen Fluch – fanden wir eine Stunde später Moots zerrissenes Halsband mit der verbeulten silbernen Glocke, die nicht mehr bimmelte, neben einem Busch im benachbarten Park. Sogar in der Dämmerung konnten wir sehen, dass es voller Blut war und ein paar Haarbüschel zu viel von Moots Fell daran hingen.
»Kojoten«, sagte Jenna.
Beim Anblick des mitleiderregenden, zerfetzten Halsbandes kämpfte ich mit den Tränen.
»Es tut mir so leid«, flüstere ich.
»Er war alt«, sagte Jenna mit matter, monotoner Stimme. Und dann zitierte sie aus dem Gedicht von Robert Frost, das wir in der Woche in Englisch gelesen hatten: »Nichts Goldenes kann bleiben.«