American Vertigo - Bernard-Henri Lévy - E-Book

American Vertigo E-Book

Bernard-Henri Lévy

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Beschreibung

Lévy beschreibt ein Land, in dem Kirchen wie Banken aussehen, Pfarrer wie Rechtsanwälte und Rechtsanwälte wie Türsteher. Vom Gefängnisinsassen zum Geistlichen, von der Barfrau zum Berufsdiplomaten, von Sharon Stone bis Paul Wolfowitz: Lévys Buch lässt unterschiedlichste Stimmen zu Wort kommen, alle aufschlussreich, manche schockierend. Mit dem Blick von außen beschreibt er Patriotismus und Schöpfungsglauben, Zukunftsoptimismus und den amerikanischen Hang zum Übermaß. Neben aller Kritik spart Lévy aber auch nicht mit Bewunderung: Er bestaunt die Offenheit der Gesellschaft, die kulturelle Differenzen zulässt, und die Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden.

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American Vertigo
Auf der Suche nach der Seele Amerikas
Lévy, Bernard-Henri
Campus Verlag
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9783593402970
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|9|On the Road

Alexis de Tocqueville habe ich, um bei der Wahrheit zu bleiben, wie viele französische Intellektuelle erst spät kennen gelernt.

Schon Raymond Aron räumte zu Beginn eines berühmten Textes ein, in dem er über den Stand der Tocqueville-Forschung in Frankreich in seiner Jugend berichtet, man habe ihn damals »auf der École Normale Supérieure oder im Fachbereich Philosophie an der Sorbonne« kaum gelesen.

Aber ich fürchte, in meiner Generation, bei einem Studenten der École Normale Supérieure, der Ende der sechziger Jahre in einem ideologischen Klima zur Philosophie stieß, das noch stärker als zu Arons Zeiten vom Marxismus und Leninismus beherrscht war, bei jemandem wie mir, der zwanzig Jahre alt war, als in Frankreich das Denken Mao Tse-tungs als der Weisheit letzter Schluss galt und wo der neue Geist – Kühnheit, intellektuelles und politisches Prestige, Kompromisslosigkeit – das Gesicht einer Gruppe von Intellektuellen hatte, die Revolte und Theorie, Freiheit des Denkens und theoretischen Antihumanismus vereinigten, also bei den Zeugen jenes zugleich hitzigen und eiskalten strukturalen Augenblicks, nach dem unsere ganze Jugend roch, war die Fehleinschätzung jenes gemäßigten Denkers noch viel größer gewesen, der die Alte wie die Neue Welt kannte, die Anhänger des Hauses Orléans wie die Bourbonen, die Ergebenheit gegenüber der Demokratie wie die Angst vor der Revolution.

Aber die Zeiten ändern sich.

Mit dem Zusammenbruch der großen theoretischen Diskurse, mit dem Niedergang der materialistischen Weltsicht mit ihren unerbittlichen und einfachen Mechanismen, mit der Notwendigkeit vor allem, über das Scheitern des Sozialismus und die Illusionen des Fortschrittsglaubens |10|nachzudenken und darüber, ob die Revolution wünschenswert und unter welchen Bedingungen die Einrichtung der Demokratie möglich war, entwickelten sich neue Einstellungen, kamen wir einer Denkweise näher, deren erstes Verdienst es war, das Duell zwischen den Erben von Comte und Marx abzuwenden.

Doch damals war die Situation eben so, wie sie war.

Lange Zeit hat man Alexis de Tocqueville bei uns für einen Autor zweiten Ranges gehalten.

Lange, sehr lange war uns dieser Apostel der Gedankenfreiheit, der Vorbote der antitotalitären Strömungen am Ende des 20. Jahrhunderts, der Vorläufer einer Hannah Arendt, dieser Aufklärer, durch den wir überflüssige Debatten hätten vermeiden und wertvolle Zeit gewinnen können, wenn wir uns wie François Furet und einige andere früher über seine Bedeutung klar geworden wären, nicht viel vertrauter als ein Guizot, ein Royer-Collard, ein Prévost-Paradol, ein Augustin Cochin.

Tatsache ist aber, dass ich diesen gewieften Schriftsteller, der zugleich ein großer Theoretiker war, während der ersten Hälfte meines Lebens so eingeschätzt habe, wie ihn die meisten meiner Zeitgenossen und übrigens auch seine (Barbey d’Aurevilly, Sainte-Beuve, Custine) gesehen haben: als einen altmodischen und blassen Aristokraten, einen Verfechter der Besonnenheit und des Juste Milieu, als kleinmütigen und zaghaften Geist, schöne Seele, Dilettanten, als langweiligen und zu Unrecht für modern gehaltenen Publizisten, als aufgeblasenen Aktionisten, einen Schwätzer, der sich als Schriftsteller ausgibt, als gescheiterten Politiker, schwachen Nachahmer Montesquieus, blassen Abklatsch seines Onkels Chateaubriand, der sich vorteilhafte Positionen erkauft haben soll, als Autor von Erinnerungen, die man nur noch als Zeugnis einer glücklicherweise vergangenen Epoche lesen kann, und als Autor vor allem eines langen Reiseberichts, der, typisch für Gelegenheitstexte, fast gleich nach Erscheinen in Vergessenheit geraten ist.

Damit will ich einfach nur sagen, dass ich, als der Atlantic Monthly mir diese neue Reise durch Amerika vorschlug, als diese altehrwürdige Monatszeitschrift mir also anbot, nach 173 Jahren in die Fußstapfen meines Landsmannes zu treten, weniger über Tocqueville wusste als der durchschnittlich gebildete Amerikaner, der die beiden Bände Über die Demokratie in Amerika seit einem Jahrhundert nicht nur als Denkmal |11|betrachtet, nicht nur als Hand- oder Lehrbuch, sondern wie die Western, wie Griffiths Geburt einer Nation, wie das Mount Rushmore National Memorial als eine Art Spiegel, in dem er das vorweggenommene Bild seiner Tugenden und Laster, seiner erfreulichen oder unerfreulichen Versuchungen, seiner wunderbaren Geburt und seines glücklichen Schicksals sieht.

Und ich möchte auch darauf hinweisen, dass man nicht davon ausgehen darf, dieses Buch könnte dem wunderbaren und ehrgeizigen Programm gerecht werden, das der Atlantic geplant hatte – auch wenn ich mich natürlich sogleich in Tocquevilles Texte vertiefte und mir, bevor ich mich auf den Weg machte, die Zeit nahm, der Reiseroute dieses älteren Bruders in Gedanken nachzufolgen, und auch wenn meine neue Leidenschaft dazu geführt hat, dass ich mich außer mit seinem Buch auch mit seinen sonstigen Aufzeichnungen, Briefwechseln und den Berichten von seinen Reisen nach Algerien, England und in die Schweiz ebenso wie mit den Schriften seines Reisebegleiters Gustave de Beaumont beschäftigte. Dies nur, um deutlich zu machen, dass sich die Zeiten zu sehr geändert haben, dass sich der Gegenstand zu sehr ausgeweitet hat seit der Zeit, als Amerika noch an den Ufern des Mississippi endete, und dass ich selbst ein zu junger Anhänger Tocquevilles bin, um die Berichte von meiner Reise, das Reisetagebuch, das ich von Tag zu Tag schrieb und dessen Kern der Leser in diesem Buch vorfindet, als eine Art Erwiderung, Erweiterung oder Wiederaufnahme Tocquevilles zu verstehen, wie es sich die Initiatoren dieses Projekts vielleicht vorgestellt haben.

Wenn sich die Möglichkeit ergab, habe ich allerdings einige der Reisestationen und Themen wieder aufgenommen, die mir sein Vorbild nahe legte: Ich denke beispielsweise an seine Untersuchung über die Gefängnisse, dem offiziellen Vorwand für die Reise Tocquevilles und Beaumonts, die ich zu aktualisieren versucht habe. Daher die vielen Gefängnisse in diesem Bericht. Fünf, um genau zu sein. Und ein sechstes, Guantánamo, das, wie sich zeigen wird, durchaus mit den anderen zusammenhängt, denn die empörenden Verhältnisse, die dort herrschen, lassen sich durch die allgemeinen Haftbedingungen erklären, die ich in den anderen Gefängnissen beobachten konnte und die, leider, viel über |12|den derzeitigen Zustand Amerikas aussagen. Freilich weiß ich auch, dass die Vorstellung, man könne von der Untersuchung eines Strafvollzugssystems Erkenntnisse über die Gesellschaft gewinnen, die es hervorgebracht hat, und der Reflex, um mehr Erkenntnisse über die geheimen Triebkräfte einer Welt zu erlangen, nicht nur das genauer unter die Lupe zu nehmen, was diese Welt verbirgt, sondern auch die Art und Weise, wie sie es verbirgt und in der Folge ausschließt, dass all das auf einer modernen und in diesem Fall von Foucault und Nietzsche geprägten Sicht der Dinge beruht, für die Tocqueville keine impulsgebende Rolle spielt. Und dennoch … Ich meine trotzdem, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und ich denke, ich hätte mich wohl nicht so ausführlich mit den Hochsicherheitstrakten des New Yorker Gefängnisses, den Ruinen von Alcatraz oder den Todeszellen von Nevada und Louisiana beschäftigt, wenn mir dabei nicht auch der Vorläufer Tocqueville immer gegenwärtig gewesen wäre; ich glaube nicht, dass ich ohne diesen letztlich äußeren Zwang (Tocqueville zu folgen), der aber wie alle äußeren Zwänge zu mancherlei Wahrheit und Erkenntnis geführt hat, so viel Zeit damit verbracht hätte, die Kehrseite des amerikanischen Lebens zu erforschen, angefangen vom Strafvollzug in Pennsylvania, der unter dem Einfluss der Quäker steht, bis hin zum Gefangenenlager in Guantánamo Bay.

Jedes Mal, wenn es möglich war, habe ich mich mit einigen von Tocquevilles ungewöhnlich weit voraus weisenden Erkenntnissen gewappnet, und stets konnte ich mich mit dem Buch in der Hand vergewissern, mit welcher Tatkraft die amerikanische Wirklichkeit sie immer wieder bestätigt. Dazu gehören der Triumph der Gleichheit über die Freiheit, der zu Tocquevilles Zeit noch nicht errungen war, die Diktatur der »Mehrheit« oder »Öffentlichkeit«, auf die er als Erster hingewiesen hat und die nicht weniger unerbittlich ist als die der alten Tyrannen, der »Druck«, um es mit anderen Worten zu sagen, und zwar in Worten, die, wie ich merke, von den heutigen Kommunitaristen in Amerika stammen könnten, diese »Art von gewaltigem, geistigem Druck auf den Verstand jedes Einzelnen«,* der Druck, der vom Gruppengeist |13|oder vom Geist der Ethnie auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit ausgeübt wird, und schließlich die Ausprägungen eines »Individualismus«, der – wenn er konsequent verwirklicht wird, wenn er es zulässt, dass die Subjekte sich nicht an ihrer Autonomie, sondern an ihrer Unabhängigkeit berauschen, dass sie die Bande durchtrennen, die sie untereinander und alle gemeinsam mit dem politischen Subjekt verbinden, wenn er sie zu jener »Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen« reduziert, »die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen«,* wie Tocqueville sie am Ende seines zweiten Buches Über die Demokratie in Amerika von 1840 vorhergesehen hat und wie ich sie in den Supermärkten, den Mega-Churches und in den Tugend-Ligen des konservativen Westens wiedergefunden habe – in eine Tyrannei zu münden droht, deren »gewaltige, bevormundende Macht«, die ebenso »unumschränkt« wie »ins Einzelne gehend« ist, ebenso »unbeugsam« wie »vorsorglich und mild«, den Einzelnen »im Zustand der Kindheit« festhält und schließlich damit endet, ihm jede »Sorge des Nachdenkens« ganz abzunehmen.** Man könnte auch sagen, dass Tocqueville jene Aufspaltung des Souveräns vorausahnte, die von einer offenkundigen Emanzipation zeugt, insofern dieser seine beiden Staatsorgane aufteilt, sowohl seinen politischen Kopf von den Gliedern seiner Körperschaften als auch die Subjekte im Innern des Gewebes dieser Körperschaften voneinander trennt, die in anderer Hinsicht jedoch die Individuen in den Stand der Knechtschaft zurückversetzt, der dem jakobinisch geprägten Staatssozialismus der Franzosen in nichts nachsteht, da die Leidenschaft, von der sie herrührt, nicht die des Wettkampfs, sondern die der Einheit und im Grunde genommen die der Unterschiedslosigkeit ist. Es grenzte schon an Böswilligkeit, würde ich nicht deutlich machen, dass ich all diese Thesen ständig im Kopf hatte, deren greifbare Ausprägungen im heutigen Amerika einen manchmal so sehr blenden, dass man meinen könnte, die Realität richte sich nach der Fiktion und nicht umgekehrt – all diese Thesen, oder sollte man nicht vielmehr Fabeln sagen, die das künftige Amerika weniger beschrieben, sondern geformt haben.

|14|Und dann ist da freilich noch ein Stil. Eine bestimmte, an Tocqueville erinnernde Art, das Erlebte mit dem Denken zu vermischen, die sichtbare Haut der Dinge mit ihrer verschlüsselten Bedeutung, den manifesten Inhalt, den ein Brauch oder eine Institution zu lesen geben, mit dem Prinzip, das wie bei Aristoteles oder Montesquieu seinen Hintergrund bildet. Eine Art also, systematisch von der eigenen Person abzusehen, aber trotzdem für die eigene Weltsicht einzutreten. Eine Art, von einem Thema zum nächsten überzugehen, a priori keinen Zwischenfall, keinen Vorwand für eine Beobachtung auszulassen und in einem Gegenstand aus dem Alltagsleben ebenso wie in einer intellektuellen Auseinandersetzung, in der öden Poesie der Landstraße ebenso wie in der Begegnung mit einem Schriftsteller oder einer hoch gestellten Persönlichkeit der Regierung oder der Medien die nicht weniger fruchtbare Substanz für das Nachdenken über die Idee zu finden. Die Entschlossenheit, wenn man so will, ein hin und her wogendes, vielfältiges und zugleich leidenschaftliches Buch zu schreiben, die eigentlich nicht so recht zu mir passen will, die ich aber demjenigen verdanke, der in seinem »Brief an Molé« sein Amerika als »einen Wald mit tausend Wegen« beschrieb, die alle »in einem Punkt« zusammenliefen, und der, selbst wenn er sich zu verirren, herumzutrödeln oder dem guten Geist der Neugierde und des Zufalls zu folgen schien, unaufhörlich das entfaltete, was er in der unterschwelligen Logik an Konsequenz und Richtung sah. Ist der Autor der beiden Bücher Über die Demokratie nicht vor allem der Erfinder dieser modernen Form von Reportage, bei der eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten, die Lust am Gespräch und an der Begegnung, das Festhalten an einer fixen Idee nicht ausschließen, sondern im Gegenteil befördern? Ist er nicht zum großen Missfallen Custines, der ihm nie verzieh, diese Gattung einige Jahre vor ihm begründet zu haben, der Prototyp jenes »reisenden Philosophen«, den Jean-Jacques Rousseau in einer Fußnote seiner berühmten Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen erwähnt und dessen ganze Kunst darin besteht, gute Induktionen herzustellen und auf dem Weg durch ein fremdes Land die kleinsten Veränderungen in einen Zusammenhang mit den unwandelbaren oder neuen Gesetzen des damals noch nicht so genannten soziologischen Denkens zu stellen? Kurz gesagt, hätte es einen besseren Führer |15|durch Amerika wie durch andere Länder für mich geben können, der mich auf dem Weg jener anderen phänomenologischen »epoché«* begleitete, in der man die Dinge, denen man begegnet, weniger in Klammern setzt als vielmehr prüft, und aus ihrer stummen Evidenz die Entstehungsgrundlagen des gesellschaftlichen Lebens ableitet?

Aber diese Fragen sind im Wesentlichen meine Fragen.

Wie Tocqueville nach Amerika ging, um Antworten auf Fragen zu finden, die sich in den französischen Verhältnissen seiner Zeit stellten, wie er dorthin reiste, um Erklärungen für den »unerklärlichen Schwindel« zu finden, der laut seines Zeitgenossen Benjamin Constant charakteristisch für die Zeit des Terrors war, wie er die Herausforderung annahm, in den Kolonien Neuenglands nach der »chemisch reinen« Form dieser »demokratischen Revolution« zu suchen, deren unwiderstehlichen Triumph er in Großbritannien und Frankreich erlebt zu haben glaubte, und wie er, nachdem diese Form einmal erkannt und bestimmt war, seine große Aufgabe darin sah, zwischen den beiden Wegen zu unterscheiden, die ein Volk »in die Knechtschaft oder in die Freiheit, zur Aufklärung oder in die Barbarei, zum Wohlstand oder ins Elend«** führen – ebenso bin ich dorthin gereist, um Antworten auf die Fragen zu finden, die sich in meiner Zeit stellen, und um mich nicht nur über das Befinden unserer amerikanischen Freunde kundig zu machen, sondern auch über das von uns Europäern und insbesondere von uns Franzosen.

Zuallererst über unseren Antiamerikanismus. Jawohl, zuerst über diese unheilvolle und alte Leidenschaft, die Antiamerikanismus heißt und die in dem Augenblick, als ich meine Reise unternahm, so stark wie nie zuvor über die öffentliche Meinung Frankreichs hereinbrach. Diese Feststellung bedeutet schon etwas. Es bedeutet etwas, die Absurdität eines Diskurses anzuprangern, der aus den Vereinigten Staaten zugleich eine rhetorische Figur und den Sündenbock für die Irrtümer, Unzulänglichkeiten und Inkonsequenz anderer Nationen macht. Es bedeutet etwas, über die Monomanen zu lachen – denn natürlich muss |16|man auch lachen –, die wie ein gestörter Spielautomat fortwährend nur noch dasselbe wiederholen: »Die Vereinigten Staaten sind schuld! Einmal mehr, und wie immer, sind die Vereinigten Staaten schuld!«, ob in Darfur Krieg herrscht, in Sri Lanka oder im Niger viele hunderttausend Männer, Frauen und Kinder verhungern, die neuen Taliban in afghanischen Dörfern Frauen demütigen, während pakistanische Islamisten sie lieber gleich lebendig verbrennen und dies eine Ehrentat nennen, oder die unfähigen und korrupten Eliten der ärmsten Länder ihrem eigenen Volk das Blut aussaugen und es auf dem Altar ihrer Privatinteressen opfern. Es bedeutet etwas – dasselbe nämlich –, die Archäologie eines Virus zu betreiben, wie ich es schon häufig gemacht habe, eines Virus, der durch einen sehr langen ideologischen Destillationsprozess allmählich ins Blut, das heißt in die Sprache der Völker dieser Welt gesickert ist, durch einen Prozess, der in den Laboren der Wissenschaftler (Buffon, der die Verderbtheit der Seelen und der Körper in der Neuen Welt auf die starke Luftfeuchtigkeit des Klimas dort zurückführte), an den Schreibtischen der Schriftsteller (wie Drieu la Rochelle, Céline und Bernanos, den Verächtern eines »inneren Amerikas«, das von den dreißiger Jahren bis in unsere Tage einer der am häufigsten aufgesuchten Gemeinplätze rechter und rechtsextremer Autoren war) und in den Bibliotheken der Philosophen (Heidegger, der zur selben Zeit, als er dem Nazismus anhing, jene »Emergenz« des Monströsen in der »modernen Zeit« geißelte, die die Entstehung der Vereinigten Staaten in seinen Augen darstellte) befördert worden ist. Anders ausgedrückt, bedeutet es schon etwas zu zeigen, dass der Antiamerikanismus in Europa immer mit unseren schlechtesten Neigungen einherging und dass er zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts, seit die totalitären Mega-Theorien die Waffen gestreckt haben, zum gewaltigen Anziehungspunkt für alles Üble wird, der all den verwaisten Themen eigen ist, all den kleinen, aus den einstigen doktrinären Galaxien gefallenen Sternen, all den verstreuten Trümmern, diesen Eisenfeilspänen, die noch nach dem Magneten suchen, der sie wieder in eine Ordnung zwingt und in Bewegung setzt, ja, es bedeutet viel zu zeigen, dass der Antiamerikanismus zu jenem fehlenden Magneten geworden ist und dass er in Europa, der arabischen Welt, einem großen Teil Asiens und in Lateinamerika Chauvinismus, Herrschaftsdenken, Willen zu ethnischer Reinheit, Rassismus, Antisemitismus |17|und Fundamentalismus von neuem eine magnetische Anziehungskraft verleiht. Es ist allerdings etwas ganz anderes, sich vor Ort zu begeben, nach Lage der Dinge zu urteilen – es ist etwas anderes, dem Trugbild den konkreten Körper, das wirkliche Gesicht des heutigen Amerikas entgegenzuhalten. Manchmal wird es ein schmeichelhafter Anblick sein, manchmal wird er für die Freunde Amerikas ungefällig sein, enttäuschend oder trostlos. Aber er wird wenigstens den Vorteil haben, nicht mehr rein imaginär zu sein. Zumindest wird er mit dem Manichäismus, der Essenzphilosophie und der Herrschaft der Klischees brechen oder zu brechen versuchen. Das ist in meinen Augen die erste, die aufrichtigste und vor allem die wirksamste Antwort auf die antiamerikanische Phantasmagorie.

Dann stellt sich die Frage nach Europa. Das ist nicht mehr die Frage nach dem Amerikabild in Europa und auch nicht die nach dem Europabild in Amerika, sondern die ontologische Frage nach dem Anteil Europas, seiner Kultur, seiner Werte, an der heutigen Verfasstheit Amerikas. Wir wissen, welchen großen Wert die Gründerväter darauf gelegt hatten, sich von ihrem Herkunftskontinent zu lösen. Wir wissen – und Tocqueville beharrt schon in der Einführung zu seinem Buch darauf –, dass die Pioniere, die erst in England, dann in Holland damit gescheitert waren, die Stadt ihrer Träume zu erbauen, von der Vorstellung geleitet wurden, »gewissermaßen den Grundsatz der Demokratie von sämtlichen Lehren, gegen die er in den alten Gesellschaften Europas kämpfte« zu befreien, ihn in die jungfräulich reinen Lande der »Neuen Welt« zu verpflanzen und dort, in diesem Laboratorium, diesem Treibhaus, diesem von den Verderbtheiten der Geschichte unbeeinträchtigten Neuland »in Freiheit gedeihen« zu lassen.* Aber wir wissen auch, dass Amerika seither unaufhörlich zwischen den beiden Polen, den beiden Projekten und im Grunde genommen den beiden Identitäten hin und herschwankt. Mal sind wir »die Erfinder einer Kultur, die auf keiner anderen beruht und die ein Anti-Europa sein soll«, mal waren wir »Europäer und hatten wie Rom, von dem Polybios sagte, es bleibe eine hellenistische Macht, keine andere Wahl, als es zu bleiben«. Und bisweilen, wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als es der Offensive des |18|Sowjetimperiums entgegenzutreten galt, war »Europa die große Herausforderung für Amerika, Europa eine amerikanische Idee, waren wir, die Amerikaner in der Epoche des Marshall-Plans, die wahren Gründerväter eines Europas, das wir vor Verfall und Erniedrigung gerettet haben«.

Und heute? Wo stehen wir heute in dieser Frage, die so alt ist wie die Vereinigten Staaten? Was sagt ein Land, dessen Einwanderer heute im Wesentlichen aus Lateinamerika und Asien kommen, über seinen europäischen Anteil? Welche Bedeutung hat die Idee eines Westens (die letztendlich nur die Synthese zweier Entitäten, ich würde sogar sagen, zweier Europas ist) heute noch, nachdem der Kalte Krieg vorbei ist und die beiden Verbündeten vor den neuen Bedrohungen, vor dem neuen, vom Terrorismus erklärten Krieg, auf unterschiedliche und manchmal sogar auseinanderstrebende Strategien zu setzen scheinen? Und was soll man von den Bannflüchen jener »neokonservativen« Intellektuellen gegen das »alte Europa« halten (der Ausdruck stammt von Hegel aus dem 1. Band der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: »Die Vernunft in der Geschichte«, in dem er an Napoleons berüchtigtes Diktum erinnert: »dieses alte Europa langweilt mich« und an jene, »die das historische Gerümpel des alten Europas satt haben«), die, wie wir noch sehen werden, so viel Platz in den Debatten in der Öffentlichkeit und in den Ministerien der Regierung eingenommen haben – und ebenso viel Platz, auch das wird sich noch zeigen, im Bestiarium Frankreichs und Europas? Und handelt es sich um eine Laune, um einen vorübergehenden Streit oder um den Ausdruck eines tiefgreifenden Zerwürfnisses, wenn die »Neokonservativen« dazu aufrufen, sich von einem weibischen und verweichlichten, unmoralischen und korrumpierten Europa loszusagen, einer Tochter der Venus und Schwester der verabscheuungswürdigsten Diktaturen, von seiner endlosen Kompromissbereitschaft vorgestern gegenüber den Sowjets, gestern gegenüber der Baath-Partei und Saddam Hussein, heute gegenüber den Prokonsuln des Reichs des Bösen? Für diejenigen, die an die Allgemeingültigkeit der europäischen Botschaft glauben, die Europa als die Bühne der entsetzlichsten Massenmorde betrachten und zugleich als den Ursprung der Diskurse, die diese Massenmorde ermöglicht haben und die es morgen vielleicht ermöglichen, ihre Wiederkehr zu verhindern, für die Verfechter |19|eines Europas als einem geistigen Europa, das, wie Husserl sagte, aus der Idee der Vernunft und dem Geist der Philosophie geboren wurde, ist diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist es für Amerika, das, sollte es seiner europäischen Herkunft endgültig oder auch nur dauerhaft den Rücken kehren, ein wenig von seinem Gedächtnis und seiner Seele verlieren würde. Aber sie ist es auch für Europa, das, wenn es nicht mehr auf seine amerikanischen Möglichkeiten zurückgreifen könnte, wenn es die Chance verwirkte, die Goethe in »Den Vereinigten Staaten« besungen hatte, seine eigene Geschichte im Amerika der Freiheit von neuem zu sehen, wenn es dieses amerikanische Modell aus dem Blick verlöre, das in den Momenten des Zweifelns den einzig greifbaren Beweis dafür bietet, dass der eigene übernationale Traum weder leeres Geschwätz noch ein unerreichbares Ideal ist, einiges von seinen Glaubensinhalten und damit von seinen Beweggründen einbüßen würde: seinen berühmten Verfassungspatriotismus, sein Projekt, der nationalen Zugehörigkeit des Einzelnen die befreiende Treupflicht gegenüber einer Idee mitzugeben – und welches andere Unterpfand in der Wirklichkeit hätten die Europäer dafür als das lebendige Beispiel Amerikas?

Und schließlich eine letzte Frage, angesichts des Zeitpunkts dieser Reise vielleicht auch die Wichtigste, nämlich herauszufinden, wie es heute um diese Demokratie bestellt ist, auf die die Amerikaner zu Recht so stolz sind und die sie immer als beispielhaft für die übrige Welt betrachtet haben. Im Land werden Stimmen laut, um jene Beeinträchtigungen von Verfassungsrechten zu geißeln, die der Kampf gegen den Terrorismus mit sich bringt und mit denen sich eine mit Patriotismus gedopte und unter den Attentaten erstarrte Öffentlichkeit immer bereitwilliger abfindet. Andere – oder auch dieselben – Stimmen sorgen sich über die Serie kleiner Störungen, die auch schon vor dem 11. September das empfindliche Gleichgewicht der Machtverteilung zwischen Exekutive, Legislative und Jurisdiktion allmählich zu erschüttern drohte (hier ein Fall von Machtmissbrauch…da der Übereifer eines Geheimagenten…dort der besorgniserregende und zweifelhafte Kreuzzug eines unabhängigen Untersuchungsrichters, der einen ausschweifenden Präsidenten verfolgt). Andere meinen, sie erlebten die schleichende, aber unaufhaltsame Einrichtung minutiöser Überwachungsmaschinerien|20|, deren Erfolg, sofern er sich einstellen würde, Tocqueville wie Foucault erst recht bestätigte, oder auch Nietzsche, der in der massiven Zunahme von Vorschriften, die jede Abweichung von der allgemeinen Regel in ein Strafdelikt verwandeln, ein Anzeichen für eine entmannte Gesellschaft oder für eine dekadente Subjektivität oder für beides sah. Das wäre noch nicht so schlimm, fügen die größten Pessimisten hinzu, wenn nicht diejenigen, deren Aufgabe es ist, über diese Entgleisungen zu berichten und mit den Mitteln ihres kritischen Denkens dagegen anzugehen, selbst von einer Disziplinierung und Gleichschaltung ohnegleichen betroffen wären – es wäre nicht so schlimm, wenn die amerikanische Presse, dieses Modell, dieser Leuchtturm, nicht in einer Krise steckte, bei der man nicht weiß, was schwerer wiegt, die Unterwerfung unter die Lobbys, insbesondere die Lobby des Geldes, die Versuchung zur Selbstzensur angesichts der Übermacht der Propaganda, das Risiko, die eigene Freiheit zu verlieren, das diejenigen Frauen und Männer auf sich nehmen, die sich an die Regeln ihres Berufs halten und ihre Quellen schützen, oder die Zustimmung, wenn sich die Presse allzu entgegenkommend zum Echo einer politischen Praxis macht, die auf Denunziation und Geschäftemacherei beschränkt ist, auf das, was unsere Epoche auf diesem Gebiet an Schändlichkeiten hervorbringen kann. Ganz zu schweigen von jener Dritten Welt mitten in Amerika, diesem Krebsgeschwür der Armut, das sich durch so viele amerikanische Städte frisst und das die Regierung offenbar weder bekämpfen will noch kann. Ganz zu schweigen auch von jener Offensive für den moralischen Wandel, jener neopuritanischen Strömung, jener Obsession der Zugehörigkeit und Transparenz, die laut einiger Beobachter das erste und das letzte Wort des neuen Bürgersinns werden könnten – zu schweigen auch von all den Aktivisten des guten Denkens, von den Milizen für Zucht und Ordnung, von den Hexen eines neuen Jerusalems an den Grenzen Amerikas, die das Ende nicht der Geschichte, sondern der Welt predigen und in Hinsicht darauf zu einer allgemeinen Mobilmachung, zur vollständigen geistigen Anpassung und letztlich zum heiligen Krieg im eigenen Land aufrufen.

Also auch hier die Frage: Wie steht es um Amerika? Was ist von dieser Debatte zu halten? Versagt das Modell? Krankt die Demokratie? Befindet sich Amerika wie zu Zeiten des Sezessionskrieges, der Großen |21|Depression und des New Deal an einem Wendepunkt in seiner Geschichte? Droht die Diktatur der Mehrheit? Oder die der Minderheiten? Liefe das nicht auf dasselbe hinaus? Auf dasselbe miniaturisierte Modell? Wäre es nicht dieselbe Gefahr, wenn sich letztere die Sprache der Ersten zu Eigen machten, wenn sie sich in ihrem Stil, ihrem Tadel, ihrer Art, ihren Kanon durchzusetzen und die Widerspenstigen auf Linie zu bringen, ein Beispiel am Modell der Mehrheit nähmen, dieses nur kopierten? Was wird in diesem Fall mit dem amerikanischen Sonderweg? Was ist mit dem verrückten Traum geschehen, der uns von der Errichtung einer beispielhaften Republik gemäß dem »Manifest Destiny« (der »offenkundigen Bestimmung«) eines Volkes träumen lässt, das selbst bewundernswert ist? Kurz, sind wir zu den finsteren Zeiten zurückgekehrt, in denen jener große Freund eines Huston und eines Dos Passos, jener Liebhaber Manhattans und seiner Wolkenkratzer, jener Bewunderer des American Way of Life und seines vorgesehenen Abschieds vom bösen Dämon seiner Quellen und Wurzeln, nämlich Sartre, mitten in der Verfolgungswelle unter McCarthy ausrufen konnte: »Amerika hat die Tollwut«? Muss man, wie einige Jahre zuvor ein anderer Schriftsteller, Thomas Mann, in einem historischen Kontext, der freilich nicht vergleichbar ist, den Europäern sein berühmtes »Hab Acht, Europa!« zurief, unseren amerikanischen Freunden heute empfehlen, auf jenes Amerika Acht zu geben, das die ganze Welt bewundert hat, das den Faschismus und den Kommunismus niedergestreckt und dafür gesorgt hat, dass Europa selbst triumphieren konnte, das aber nach ihrem eigenen Bekunden beginnt, Zeichen von Schwäche zu zeigen? Muss man daran erinnern – und es notfalls den Amerikanern in Erinnerung rufen –, dass es keine Kultur gibt, die ihren Schritt in jene »Sahara der Seele« überlebt hätte, von der Walt Whitman sprach?

Das sind meine Fragen.

So standen sie im Pflichtenheft einer Reise, die, sieht man von einigen Unterbrechungen und Rückflügen nach Frankreich ab, zufälligerweise fast auf den Tag genauso lange gedauert hat wie die von Tocqueville und Beaumont.

Die Wahrheit gebietet es, den Fragen auch noch einige Hintergedanken anzufügen, die weniger mit Amerika, aber nichtsdestotrotz mit Tocqueville zu tun haben, wie den sich hartnäckig haltenden schlechten |22|Ruf, der der Idee, ja selbst dem Wort »Liberalismus« in Frankreich derzeit anzuhaften scheint. Die Anfänge liegen zweifellos schon lange zurück. Der Hass auf den Liberalismus als solchen, diese seltsame semantische Verdrehung, die Verwandlung dieses schönen Wortes – der Losung der Carbonari, der italienischen und französischen Revolutionäre zu Zeiten Tocquevilles – in ein Etikett der Schändlichkeit ist eine alte und finstere Geschichte, deren Wurzeln in die glorreichen Stunden der revolutionären Rechten zurückreichen, das heißt in die Zeit der Dreyfus-Gegner und des frühen französischen Faschismus. Doch leider … wenn man sieht, wie dieses traditionelle Thema der extremen Rechten zum anderen Rand des politischen Spektrums wanderte, wie gut die Hälfte der französischen Linken diesen alten Gassenhauer wieder aufnahm, wo doch ein wenig Aufmerksamkeit genügt hätte, um dessen zweifelhafte Töne herauszuhören, wenn man sieht, wie dieser Teil der Linken schamlos den Inhalt eines populären, ja, revolutionären Andenkens über Bord warf, aus dem der Liberalismus – das Wort wie die Idee – seine eigentliche Substanz bezog, kurz gesagt, wenn wir einmal mehr, wie beim Antiamerikanismus und beim Antisemitismus, jenes Hinüber und Herüber erlebt haben, für das die französische Ideologie so bekannt ist, dessen Schamlosigkeit aber immer wieder überrascht, kann man nur bestürzt und verwirrt sein. Von Amerika aus betrachtet, einem Land also, wo das Wort wie die Idee eine semantische und inhaltliche Entwicklung zum Besseren durchgemacht und sich bereichert, also letztlich gewandelt haben, war mir diese Verwirrung noch beklagenswerter und zugleich noch verständlicher erschienen.

Die Methode sollte ebenso einfach sein, wie die Fragen, Hintergedanken und das Vorhaben komplex waren.

Der Weg, im Wesentlichen:

Zuerst von Osten nach Westen, vom Norden in den Süden, dann auch vom Süden in den Süden und durch Texas, Arkansas, durch die mythischen Städte von Tennessee, die beiden Carolinas, Virginia, und die Neuengland-Staaten wieder nach Norden. Dieser Weg, die Straße, von der ein anderer, diesmal aber amerikanischer und zeitgenössischer Schriftsteller, Jack Kerouac, gezeigt hat, dass sie nicht den schlechtesten Zugang zur Wirklichkeit des Landes bietet, wenn man seinen Weg zurücklegt wie er, wenn man sich in denselben geistigen und körperlichen |23|Zustand versetzt wie er, wenn man sich beispielsweise immer rechts des Fahrers platziert und sich bemüht, körperlich, ja geradezu sinnlich an diesem kilometerlangen Band zu kleben, das unter den Rädern davonfliegt (Kilometer fressen, wie die biblischen Propheten empfahlen, die Sprache zu fressen: Sind Straße und Sprache alles in allem nicht Schwestern in der menschlichen Natur? Sind letztlich nicht beide Synonyme für Handel, Nachdenken und sogar – wie Michel Serres uns unlängst in seinen Hermès-Büchern lehrte – für Mathesis, Metaphysik, für den Zugang zur Erkenntnis, für Kultur?).

Freilich will ich damit nicht beanspruchen, eine »lukrative« Reise wie die meine, unterstützt von einer großen Zeitschrift und in Begleitung von umsichtigen Assistenten aus Washington, sei vergleichbar mit den präsituationistischen Spazierfahrten der himmlischen Landstreicher der Beat-Generation, der fast Geächteten, der Engel der Trostlosigkeit.

Und die Ehrlichkeit gebietet mir zu sagen, dass es bemerkenswerte Ausnahmen von dieser Regel der Straße gab: der Überflug über die mexikanische Grenze, der Rundflug über den Wüsten von Nevada, ein weiterer Flug über das Mississippi-Delta, sowie der Besuch auf den Ölplattformen im Golf von Mexiko, dann jener Besuch, an dem mir besonders viel lag, der mich aber auch zu einer Rückkehr zwang oder, im Gegenteil, dazu, eine Etappe zu überspringen, die drei Tage in Guantánamo, oder die Begegnungen anlässlich einer Wahlkampagne, die zufällig mit dieser Reise ins innerste Amerika zusammenfiel und die, auch wenn ich mich nicht sonderlich um sie kümmerte, manchmal meinen Terminkalender bestimmte.

In der Hauptsache hat sich aber doch alles auf der Straße abgespielt.

Auf der Straße, in langsamer Fahrt, habe ich diese 25000 Kilometer durch das Land, durch seine Welt zurückgelegt und dabei schnell begriffen, dass ich letztlich, wie auch viele Amerikaner, nicht viel über es wusste: auf großen und kleinen Straßen, mythischen und vergessenen Straßen, auf der Route 101 von der Grenze Oregons zur mexikanischen Grenze, der Route 1, der Straße Robert Kramers, die ich aber in entgegengesetzter Richtung, von Florida nach Norden, entlanggefahren bin, auf der Route 49 entlang der Sierra Nevada, auf der Route 61 von Norden nach Süden, auf der Route 66 oder zumindest dem Rest, der im |24|Südwesten des Grand Canyon von ihr geblieben ist, wo die Schattengestalten aus Früchte des Zorns umherstreifen, auf nummerierten und registrierten Straßen, auf Straßen, die durch Leitpfosten begrenzt sind, auf berechneten und standardisierten Straßen, auf Straßen, die, je nachdem ob sie am Mississippi oder am Pazifik entlangführen, durch die steilen Berge Nebraskas, die Pinienwälder und Schluchten Colorados oder auch durch die Steingärten, die Tumuli- und Granitlandschaften und die plötzlichen Sandstürme der Wüsten South Dakotas, zugleich ihre Landschaften neu erfinden, ihre Randstreifen immer wieder neu zeichnen und immer wieder exotisch werden. Kurz, auf dem ganzen Straßengeflecht, von dem man gesagt hat, dass es zusammen mit der Eisenbahn die Vereinigten Staaten erst gemacht, sie vereinigt habe – und dass es zugleich für jeden, der die Sprache der Straße zu lesen weiß, dazu beiträgt, ihre unerbittliche Vielfalt zu bewahren.

Ich erwähne Kerouac (aber ebenso gut hätte ich Filmemacher erwähnen können, Wim Wenders zum Beispiel, oder Hitchcock mit Der unsichtbare Dritte, oder Easy Rider oder Fluchtpunkt San Francisco oder auch, aber ausführlicher noch, Robert Kramers Film Route One, ich hätte auch jedes andere der Roadmovies erwähnen können, die meine Vorstellungen von Amerika weit mehr geprägt haben als Tocqueville, und ich hätte natürlich auch Henry David Thoreau, den Autor der »alten Straßen, die aus den Städten führen« zitieren können, oder Walt Whitman, der »sich ganz unbeschwert zu Fuß auf der großen Straße aufmacht«, oder sogar Nabokov, der behauptete, das Auto sei der einzige Ort in Amerika, an dem es weder laut ist noch zieht, und dass er aus diesem Grund so gerne im Auto arbeite), ich erwähne also Kerouac, der mir sofort einfiel, als ich beispielsweise in San Francisco eintraf, und dessen Roman Unterwegs (On the Road) für mich eine Art geheimer zweiter Leitfaden war, weil es für einen Schriftsteller eine Reihe von Vorteilen mit sich bringt, wenn man so vorgeht wie Kerouac, wenn man sich Zeit nimmt, um das Land am Boden zu durchqueren, dem doppelspurigen Geflecht zu folgen, diesen Glücks- und Lebenslinien in der Landschaft, in diese Asphalt- und, wenn es durch die Wüste geht, auch Feuerfurchen der amerikanischen Straßen zu tauchen, wenn man sich, anders gesagt, jene Wege aussucht, die zunächst die längsten und unbestimmtesten zu sein scheinen.

|25|Und schon kann man sich Träumereien hingeben.

Man übt sich in Langsamkeit und Geduld.

Auf diese Weise versetzt man sich in jenen zweiten Zustand, jene wache und wachsame Lethargie, die den Freunden der Geschwindigkeit bekannt ist und die einen umso empfänglicher für das Erscheinen des Unerwarteten macht.

Während Flugreisen die Zeit und Entfernungen zusammenziehen und dafür sorgen, dass Start- und Zielpunkt der Reise ineinander übergehen, während der Zug jenes »magische« Vehikel ist, wie Proust meinte, das einen durch Zauberei von Paris nach Florenz oder woandershin bringt, verweist die Reise im Auto, diese lange und strapaziöse Reise, die einem nichts an räumlichen und damit zeitlichen Zwischenfällen erspart, den Reisenden auf eine Endlichkeit, die ihn als Einziges mit der von Landschaften und Gesichtern in Einklang bringt.

Mehr noch: Da die Autofahrt ihm diesen Sinn für die Entfernung und die Schwerkraft der Orte zurückgibt und dazu noch den für eine Unermesslichkeit, mit der der Reisende sehr schnell konfrontiert wird, da sie ihn auf die Verfolgung einer Grenze schickt, die sich ihm durch den Wechsel von Wüsten und Bergen, unbewohnten und wilden Ebenen, riesigen Städten und Zeltdörfern, wieder Wüsten, Indianerreservaten und Naturparks wie ein Horizont ständig entzieht in dem Maße, in dem er sich ihr bis zum Pazifik nähert, und da sie schließlich bis zur Ermüdung und darüber hinaus mit jener Freiheitsliebe spielt, die im modernen Transportwesen allenfalls noch als unwahrscheinliche Erinnerung vorkommt, hat diese Art des Reisens zusätzlich das Verdienst, die Gründungsmythen der amerikanischen Nation auf sehr lebendige Weise in Erinnerung zu bringen: gelobtes und zurückgewiesenes Land, Fluchtlinien, flackernde Erinnerung. Mauer des Pazifiks, der amerikanische Traum – die letzte Chance auf dieser Welt, wenigstens den Hauch einer Ahnung davon zu bekommen, was für eine Initiation die Entdeckung Amerikas jahrhundertelang für jeden Einzelnen war.

Und ist denn die Entscheidung für die Straße und gegen den Vogelflug, die Wahl der Ortskenntnis gegen die Frivolität des Überfliegerdenkens, der »Ritt auf der weißen Linie der Straße« – noch einmal Kerouac – »zu einem bedeutungslosen Ziel«, das Fahren, ohne sich weder von den Supermärkten des Schlafens, zu denen die einstigen Motels geworden |26|sind, noch von den potemkinschen Dörfern entmutigen zu lassen, die einem entpersonalisierten, neutralen Raum ohne Eigenschaften zwischen zwei Franchise-Ernährungsmaschinen ab und zu wieder ein Stück Menschlichkeit einhauchen sollen, ist denn das Fahren nicht noch immer die einzige Art des Reisens, die zu einem Schriftsteller passt, zum Flanieren, Verweilen, ziellosen Umherschweifen, Zögern, Luftschnappen, dazu, alles auf sich zukommen zu lassen wie ein Kind, zum Improvisieren?

Denn letztendlich war diese Reise kaum vorbereitet.

Außer einer groben, vor der Abreise ins Auge gefassten Route, von der ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich mich genau an sie gehalten habe, gab es kaum eine Planung, wenige Vorüberlegungen und auch nicht viele, lange im Voraus organisierte Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten, oder vielleicht doch, aber als Start, nicht als Ziel, ein Ausgangspunkt, nicht mehr, eine List, um mir einen Zugang zu verschaffen, damit ich mich dort dann ein wenig verirren konnte.

Einmal schockierte mich ein namenloses Gesicht.

Ein anderes Mal die »gefräßige Eile«, in der die Landschaft vor der Stadt zur Vorstadt geworden ist.

Dann wieder ein Zwischenfall, der zuerst völlig sinnlos zu sein schien: Ein Polizist und Tocqueville-Leser machte mir klar, dass die amerikanische Straße auch der Ort eines aberwitzig gewordenen »keep moving« ist; und weiter die beängstigende Fremdheit eines Gemeinplatzes, ein Ausschnitt aus dem alltäglichen oder noch unbedeutenderen Leben – eine erbärmliche und lächerliche Messe im Rahmen dessen, was Flaubert die Streu des Alltags nannte.

Und dann die Begegnungen mit einem antisemitischen Indianerhäuptling, mit einem demagogischen und kindischen Präsidenten, mit einer Präsidentschaftskandidatin, mit einem Hollywood-Star, einer Schauspielerin, die wie eine Politikerin spricht, mit einem Schriftsteller, der sich für einen Indianer hält, mit einem Klarinette spielenden Filmemacher, einer Bardame, die mit tiefer Stimme von der schwarzen Sonne ihrer Verfluchung singt, einem Tycoon, in New Orleans mit einem »ethnischen Weißen«, mit einem Journalisten aus Louisiana, der eine gewaltige Sintflut vorhersagt, mit einem Evangelisten, der verrückt |27|nach Gott ist, mit einem hellsichtigen und ernsten Führer der Mormonen – mit den Hauptdarstellern der prächtigen Comédie humaine, die dieses Amerika ebenso ist, den grellbunten Personen dieses großen Dauerschauspiels, das Amerika schon immer geboten hat und das offenbar nie eine Vorstellung ausfallen lassen will.

Und schließlich noch ein anderes Erlebnis, ein Nichts, eine Empfindung, ein Eindruck, ein Anblick: die Spitze des ersten Wolkenkratzers von Seattle wie ein Kandelaber an einem zart getönten Himmel, die freundschaftlichen Geister von Savannah, die verträumte Empfindsamkeit eines jungen Mädchens in San Diego, die neue, grenzenlose Helle der Straße nach Los Angeles, ein Gespräch in einem Bordell auf dem Land am Rand des Death Valley, die Schattengestalt eines Goldsuchers, der ungreifbare, fast unauffindbare und umso leidenschaftlicher gejagte Schatten von Fitzgerald oder Hemingway, eine Jazz-Melodie in New Orleans, ein Sturm in Florida; das gute und fröhliche Zusammensein mit einem alten Gefährten, aus dem ein Kameramann geworden war, die Tränen eines Priestersohns aus Birmingham, der sich an die Kämpfe um die Bürgerrechte erinnerte, der Tumult eines Gesangs, der sich unter den Gewölben einer anderen Kirche, in Memphis, erhob, ein abgebrochener Satz, ein nicht zu entzifferndes Zeichen, all die wunderbaren oder hinterlistigen Nichtigkeiten und manchmal auch die Glücksmomente, die ich versucht habe mit Worten einzufangen und die der andere Lohn dieser Reise waren.

Sorgt die Straße für den Verkehr oder der Verkehr für die Straße, fragt Leopold Blum im Ulysses Dedalus. Die Straße hat jedenfalls für dieses Buch gesorgt. Der Weg bahnte die Methode, die ihrerseits dieses unmögliche Porträt Amerikas inspiriert hat.

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Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2 Bde., übers. v. Hans Zbinden, Zürich 1987 (künftig AdT), II, S. 22.

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AdT, II, S. 463.

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alle Zitate AdT, II, S. 463f.

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Altgr. »das Anhalten (der Zeit)«.

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AdT, II, S. 487.

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AdT, I, S. 24.

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|28|Kapitel 1

Erste Trugbilder

Von Newport nach Des Moines

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Ein Volk und seine Flagge

In Newport im Süden des Bundesstaats Rhode Islands, nicht weit weg von Boston, an jenem Teil der Ostküste, der noch so deutliche Spuren Europas zeigt, war Alexis de Tocqueville an Land gegangen: Easton’s Beach, der Strand der Wohlhabenden. Jachthäfen. Renaissancepaläste wie von Palladio und lackierte Holzhäuser, die mich an die Badeorte in der Normandie erinnern. Ein Schifffahrtsmuseum. Eine Atheneum Library. Gasthäuser mit einem Porträt der Wirtin als Gasthausschild. Prächtige Bäume. Tennisplätze. Ein Gotteshaus im georgianischen Stil wird mir als älteste Synagoge der Vereinigten Staaten vorgestellt, aber mit dem auf Hochglanz polierten grauen Holz, den gedrehten Säulen, makellosen schwarzen Korbstühlen, dicken Leuchtern, der mit Intarsien versehenen Gedenktafel, auf der mit deutlichen Buchstaben an Isaac Touro und seine sechs oder sieben Nachfolger erinnert wird, und der US-Flagge, die neben der Torarolle im Glasschrank steht, kommt sie mir seltsam modern vor.

Und dann natürlich die Flaggen, eine verschwenderische Fülle amerikanischer Flaggen an Straßenkreuzungen, Fassaden, auf Motorhauben, Telefonen, Möbelstücken, in Schaufenstern an der Thames Street, auf Schiffen am Kai und an den verlassenen Liegeplätzen, auf Regenschirmen, Sonnenschirmen, Fahrrad-Gepäckträgern, kurz, überall und in jeder Form, im Wind flatternd oder selbstklebend, eine Flaggen-Epidemie, die sich über die ganze Stadt ausgebreitet hat und sie in ein bizarres Festtagskleid hüllt. Offen gestanden gibt es auch eine Unmenge japanischer Flaggen. Es findet gerade ein japanisches Kulturfestival statt mit einer Ausstellung japanischer Holzschnitte, Sushi-Kostproben |29|am Hafen und Sumo-Ringkämpfen auf den Straßen; man sieht Ausrufer, die unter den Zuschauern nach Herausforderern für diese Wunderknaben, diese Ungeheuer suchen: »Aber ja! Sehen Sie sie nur an! Sie sind ganz weiß! Alles gepudert! Dreihundert Pfund! Schenkel wie Schinken! So dick, dass sie nicht mehr gehen können! Im Flugzeug benötigt jeder drei Plätze! Nutzen Sie die Gelegenheit!« – Dazu wehen weiße Flaggen mit orangerotem Punkt, dem Symbol des Reichs der Mitte, die im Hafenviertel in der Straße der Juweliere an den Balkonen hängen, wo ich auf der Suche nach einem Restaurant für das Mittagessen bin. Aber selbst hier überwiegen die US-Flaggen. Diese Omnipräsenz des Sternenbanners bis hin zu den T-Shirts der Jugendlichen, die es unter dem Applaus der Menge mit den Sumo-Ringern aufnehmen, ist wirklich verblüffend.

Es ist die Flagge der amerikanischen Kavallerie in Westernfilmen. Und die Flagge in Capras Filmen. Es ist der Fetisch, der jedes Mal am Bildrand zu sehen ist, wenn der amerikanische Präsident im Fernsehen erscheint. Der Gebrauch dieser geliebten Flagge, beinahe ein Lebewesen, ist, wie ich in einer Dokumentation der Zeitschrift Atlantic lese, Regeln unterworfen, was sage ich, einer strengen Etikette – man soll sie nicht schmutzig machen, nicht nachmachen, nicht auf die Haut tätowieren, sie unter keinen Umständen zu Boden fallen lassen oder auch nur falsch herum aufhängen, sie nicht beleidigen, sie nicht verbrennen oder, im Gegenteil, sie gerade verbrennen, wenn sie zu alt und verschlissen ist, wenn sie nicht mehr im Wind weht, sie dann jedenfalls nicht wegwerfen oder zerknüllen, denn sie zu verbrennen ist allemal besser, als sie der Mülltonne zu überlassen. Es ist die von Janet Jackson beim Super Bowl beleidigte Flagge und die Flagge Michael W. Smiths in seinem There She Stands, das er in den Tagen nach dem 11. September geschrieben hat, das amerikanische Emblem, auf das es die Barbaren abgesehen hatten, das sie herausforderten, entweihten und verhöhnten, das aber immer stolz entfaltet wurde.

Diese Flaggenobsession ist befremdlich. Unverständlich für jemanden wie mich, der aus einem Land ohne Flagge kommt, in dem die Flagge sozusagen verschwunden ist, wo man sie höchstens noch an den Giebelfronten der staatlichen Verwaltungsgebäude sieht und wo die Sehnsucht oder auch nur die Frage nach ihr, ja selbst ihre bloße Erwähnung |30|Zeichen eines lächerlich gewordenen Traditionalismus ist. Eine Folge des 11. September? Reaktion auf jenes Trauma, dessen Gewalt wir Europäer beharrlich unterschätzen, das hier aber drei Jahre danach die Gemüter mehr denn je umtreibt. Sollte man vielleicht noch einmal bei Tocqueville die Seiten darüber nachlesen, welches Glück es ist, aufgrund der geografischen Lage vor einer Verletzung des nationalen Territoriums geschützt zu sein, und die Rückkehr des Sternenbanners vielleicht als neurotische Überreaktion auf das Entsetzen darüber verstehen, dass der Gewaltakt dennoch geschehen ist? Oder handelt es sich um etwas anderes? Vielleicht um das weiter zurückreichende und konfliktreichere Verhältnis Amerikas zu sich selbst und zu seinem Nationalcharakter? Um die Schwierigkeit, eine Nation zu sein, eine Schwierigkeit, die größer war als in den flaggenlosen Ländern des alten Europa und die eine entgegengesetzte Wirkung zeitigte?

Habe die ersten Seiten von One Nation, After All überflogen, das Buch, das mir der Soziologe Alan Wolfe gestern Abend geschenkt hat. Vielleicht liegt das Geheimnis in diesem »after all«? Vielleicht ist der amerikanische Patriotismus komplexer, schmerzhafter, als es zunächst den Anschein hat, und die Übertreibung rührt daher. Oder vielleicht handelt es sich im Gegenteil, wie Tocqueville es bereits im Abschnitt über die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten in seinem Buch Über die Demokratie in Amerika gesehen hatte, um eine Form des »wohlüberlegten Patriotismus«, der jener in den alten Nationen vorherrschenden »instinktiven Vaterlandsliebe« nichts verdankte und daher gezwungenermaßen in Sachen Embleme und Symbole nachlegen musste. Fortsetzung folgt…Jedenfalls ist es eine gute Fragestellung für den Beginn dieser Reise, die mich fast ein Jahr lang kreuz und quer durch das ganze Land führen wird, das ich, wie ich mit einem Mal feststelle, so wenig kenne. Dabei bin ich weiß Gott weit gekommen, habe ich es weiß Gott geliebt, und seine Literatur, sein Kino, seine Kultur haben mich seit meiner Jugend geprägt. Aber nein, ein paar Flaggen mehr an den Fenstern, ein patriotisches Marschlied genügen, und ich habe das Gefühl, eine terra incognita zu betreten.

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|31|Sag mir, wie deine Gefängnisse sind, und …

Erste Aufgabe Tocquevilles war also eine Untersuchung über das System des amerikanischen Strafvollzugs. Er ist weit darüber hinausgegangen und hat sich für das politische System als Ganzes interessiert. Aber seine Notizen, sein Tagebuch, seine Briefe an Kergorlay, der Text von Über die Demokratie in Amerika selbst und der Artikel im Mercantile Advertiser, in dem die Ankunft der »beiden Regierungsräte de Beaumont und de Tonqueville (sic)« angekündigt wurde, bezeugen es: Alles hat mit dieser Geschichte begonnen, mit dem »Informationsauftrag«, den er vom französischen Innenminister erteilt bekam. Und aus diesem Grund habe ich von Newport aus angefragt, ob ich das schreckliche und geheimnisvolle New Yorker Gefängnis von Rikers Island besuchen könnte: eine Stadt mitten in der Stadt, eine Insel, die nicht auf allen Stadtplänen verzeichnet ist und deren Existenz, wie ich feststellte, nicht allen New Yorkern bekannt ist.

An einem Dienstagmorgen um fünf Uhr früh bin ich im Stadtteil Queens verabredet, und zwar mit Mark J. Cranston vom New York City Correction Department am Zugang zu einer Brücke, die offiziell nirgendwohin führt und daher auch keinen Namen hat. Eine abgelegene Lagunenlandschaft im diesigen Morgenlicht. Stacheldraht unter Strom, hohe Mauern. Ein Checkpoint wie am Rand eines Kriegsgebiets, an dem sich die meist schwarzen Aufseher begegnen. Die einen sind auf dem Weg hinein zum Dienst, die anderen, auf dem Weg hinaus, begleiten in vergitterten Bussen, die Schulbussen ähneln, die größtenteils ebenfalls Schwarzen oder hispanoamerikanischen Gefangenen, die mit Fußfesseln zu Gerichten in die Bronx oder nach Queens transportiert werden. Eine Sicherheitsplakette mit meinem Foto. Leibesvisitation. Auf der anderen Seite des East River im Nebel ein weißes Schiff wie ein Geisterschiff, auf dem aus Platzmangel die weniger gefährlichen Kriminellen eingesperrt sind. Und bald darauf, als klebten sie an New York (der Flughafen La Guardia liegt so nahe, dass der Fluglärm einen in manchen Augenblicken zwingt, wenn der Wind aus der falschen Richtung bläst, lauter zu werden oder das Gespräch zu unterbrechen), die zehn roten Backsteingebäude, die diese Festung bilden, eine von allem abgeschnittene Konklave, eine Anti-»Insel der Utopie«, ein Reservat.

|32|Ein schmutziggrauer Gemeinschaftsraum, in dem die in der Nacht Festgenommenen versammelt sind und auf irgendwelchen Bänken sitzen. Eine kleine Zelle, die 14, in der man zwei Gefangene (Weiße – nur ein Zufall?) isoliert hat. Ein besser gepflegter Schlafsaal mit sauberen Laken, in dem wie in den Bars von Manhattan ein Schild darauf hinweist, dass dieser Bereich »smoke free« ist. Ein eigenartig verstörter Mann stürzt herbei, der mich für einen »health inspector«, einen Kontrolleur vom Gesundheitsamt, hält, um sich über die Stechmücken zu beklagen. Bevor wir in den eigentlichen Gefängnistrakt gelangen, vor der Flucht von Zellen, die alle gleich aussehen und Pferdeboxen ähneln, gehen wir durch ein Labyrinth von Fluren, die von Gittertüren unterbrochen werden und zu einer Reihe von »Aufenthaltsräumen« führen, die man mir ausdrücklich zeigt: eine Kapelle, eine Moschee, ein Volleyballfeld, von dem ein ferner Vogelgesang aufsteigt, eine Bücherei, in der jeder Gefangene, wie man mir sagt, Rechtsratgeber lesen kann, schließlich noch ein Raum mit drei geöffneten Briefkästen, einer für »Beschwerden«, ein zweiter für »Rechtshilfe« und ein dritter für »soziale Dienste«. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man befinde sich in einem baufälligen Krankenhaus mit einem neurotischen Hygienedienst: Hat mir die dicke schwarze Aufseherin mit dem schlüsselbehangenen Koppel, die mich durch dieses Labyrinth führt, nicht gerade erklärt, dass man einen frisch eingelieferten Delinquenten zuerst zur Desinfektion unter die Dusche schickt? Und sagt sie mir nicht später mit ihrer lauten tiefen Aufseherinnenstimme, die letztlich ein liebevolles Bemühen um ihre Delinquenten verrät, dass diese nach ihr riefen, wenn sie an ihnen vorbeigehe, und sie beschimpften, weil man ihnen Besuche oder die Kantine verboten hat, dass sie Krach in der Zelle simulierten, um sie zu erschrecken, doch sie zucke nicht mit der Wimper, oder dass sie sie festhielten, um ihr ihre Lebenslust oder ihre Todessehnsucht mitzuteilen, ihre Wut oder ihre Gebete, ihre Lust, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, oder ihre neuesten Tiefschläge – und fügt sie dann nicht noch hinzu, dass der zweite Schritt die dringend notwendige psychologische Durchleuchtung sei, um die selbstmordgefährdeten Temperamente sofort ausfindig zu machen? Bei genauerem Hinsehen werden die Dinge doch komplizierter.

Ein Mann mit Fußfesseln. Ein anderer mit Handschellen und Handschuhen |33|über den Handschellen, seit er in der Vorwoche acht Rasierklingen in seinem Hintern versteckt und sich auf einen Aufseher gestürzt hatte, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Blicke wie von wilden Tieren, die kaum auszuhalten sind. Für diese Gefangenen musste ein Sicherheitssystem für die Durchreiche entwickelt werden, denn sie nutzten den Moment, in dem sie ihre Essensportion bekamen, um die Hand des Aufsehers blutig zu beißen. Unter dem Hohngelächter seiner Mitgefangenen wird ein zeternder kleiner Hispanoamerikaner mit der Hand am Ohr, aus dem Blut spritzt, in die Krankenabteilung gebracht – der »Rikers Cut«, wie mir die Aufseherin erklärt, ein ritueller Schnitt für die Neulinge durch die Bosse der »Latin Kings« und »Bloods«, den Gangs, die das Gefängnis kontrollieren. Das Gebrüll: »Fuck you«. Die rasenden Faustschläge gegen die Stahltüren im Hochsicherheitstrakt. Ein Stück weiter, am Ende des Abschnitts in einer der drei Duschzellen, die zum Gang hin offen sind, der Anblick eines nackten bärtigen Riesen bei der Masturbation vor einer anderen Aufseherin, die ungerührt zusieht und der Stimme eines Wahnsinnigen zuhört: »Komm her, du Schlampe, komm zu mir!« Und dann, als ich nach zwei Stunden beinahe am Verdursten bin und mich zu einem Wasserhahn hinabbeuge, der Schreckensschrei, der meiner Führerin entfährt: »Nein! Hier nicht! Trinken Sie hier auf keinen Fall!« Als sie mein Erstaunen merkt, fasst sie sich wieder, entschuldigt sich. Stammelt etwas von nein, ist in Ordnung, es ist nur der Wasserhahn der Häftlinge, eigentlich hätte ich davon trinken können, es wäre kein so großes Problem gewesen. Aber der Reflex war da, und das sagt viel aus über die sanitären Verhältnisse in dem Gefängnis. Rikers Island ist ein »Jail«, kein Gefängnis. Anders gesagt, hier werden nur Untersuchungshäftlinge und Häftlinge mit Kurzzeitstrafen unter einem Jahr inhaftiert. Wie sähe es hier wohl aus, wenn es ein »richtiges« Gefängnis wäre? Wie würde man die Häftlinge behandeln, wenn es sich um abgebrühte Kriminelle handelte?

Als ich auf dem Rückweg mit Mark J. Cranston über die Brücke gehe, die mich in die normale Welt zurückbringt, stelle ich etwas fest, das mir bei meiner Ankunft nicht aufgefallen war, dass man nämlich von dort, wo ich soeben war, vom Volleyballfeld wahrscheinlich, vom Hofgang und selbst von manchen Zellen aus die Skyline von Manhattan sehen kann, als wäre sie zum Greifen nahe, und so drängt sich mir |34|eine letzte Frage auf: Insel oder Stadt? Am Ende der Welt oder in ihrer Mitte? Kommt das Gefühl, die Hölle gestreift zu haben, von Rikers Abgeschnittenheit von allem oder von seiner Nähe zu allem? Und dann noch die andere, damit verbundene Frage, die mir einfällt, als mir Cranston, besorgt um den Eindruck, den mir sein »Haus« macht, dessen Beitrag zur amerikanischen Zivilisation er nicht unter den Tisch fallen lassen will, den Fortschritt erklärt, den die Insel erfahren habe, die früher eine riesige Müllkippe war, wo New York seine sämtlichen Abfälle entlud: Gefängnis oder Müllhalde? Was denkt man sich dabei, wenn man die Stiefkinder der Gesellschaft am Sammelplatz ihrer Abfälle unterbringt? Und warum kommt niemand auf den Gedanken, dass man die Menschen dadurch zu neuem Schrott macht? Ein erster Eindruck vom System. Eine erste Information.

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Von der Religion im Allgemeinen und von Baseball im Besonderen

Raus aus der Stadt. Ja, schnell raus aus New York, das ich zu gut kenne, und bei strömendem Regen nach Cooperstown fahren, eine Kleinstadt im äußersten Süden des Bundesstaats New York, die das Kunststück fertig gebracht hat, dreimal im Brennpunkt der amerikanischen Geschichte zu stehen: als Ort James Fenimore Coopers und damit der symbolischen Übernahme der Verantwortung für das Massaker an den Indianern; dann vor dem Sezessionskrieg als Sammelpunkt für die geflohenen Sklaven aus dem Süden, die von Fluchthelfern hierher geschleust wurden; und last, but not least, denn auf diesen Titel legt sie offenbar am meisten Wert, ist sie die Welthauptstadt des Baseballs.

Ich verbringe die Nacht in einem Holzchalet, das zu einem »Bed and Breakfast« ausgebaut wurde. Im Garten tummeln sich Keramikhasen, und auf dem Zimmer liegt eine Zeitschrift, die erklärt, wie man »mit dreißig Jahren bequem lebt« oder »mit siebzig Jahren immer noch lieben« kann, und die »sechs verschiedene Rezepte für das tägliche Glas Milch« anbietet. Die Frühstückspension wird von zwei Wirtinnen geführt, Mutter und Tochter, die dieselbe blutrote Kittelschürze tragen und aussehen wie Doppelgängerinnen der jungen und der älteren |35|Margaret Thatcher. Am Morgen nehme ich mir Zeit und lasse mir von den beiden die Geschichte des Hauses erzählen. Ich tue so, als glaubte ich ihnen, das offenkundig in jüngerer Vergangenheit errichtete Gebäude sei vor mehr als hundert Jahren von einem Offizier des Sezessionskrieges gebaut worden. Dann erkundige ich mich nach dem »Bed and Breakfast-Business«, dem sie sich mit großer Leidenschaft widmen: »Übernachten Sie zum ersten Mal in einer Frühstückspension? Hat es Ihnen gefallen? Das freut mich aber, denn es gibt so viele Frühstückspensionen wie Hausbesitzer; hier stellt jeder sein Schild raus, das ist eine Kunst, eine Religion, oder nein, eigentlich passt das Wort Religion nicht, wir machen ja keinen Unterschied zwischen den Religionen, nicht mehr als zwischen den Yankees und den Red Sox;* wer hat eigentlich gewonnen (wendet sie sich an einen Gast in Unterhemd und Shorts, der sich an den Tisch neben mir gesetzt hatte und »keine Ahnung« antwortet mit einem Kopfschütteln, während er sich ein Stück Schinken, »bigger than life«, in den Mund schiebt), sehen Sie, er weiß es nicht, das bedeutet, dass es darauf nicht ankommt, und Sie, zu welcher …? Ah! Jüdisch … Oh! Atheist … macht nichts … das kann jeder handhaben, wie er will … in diesem Business muss man 99 Prozent der Gäste mögen.« Kurz, das Frühstück hat sich ein wenig in die Länge gezogen. Aber jetzt bin ich hier in diesem riesigen Museum, das in keinem Verhältnis zu den übrigen Puppenhäusern des Städtchens steht, und in dem Baseball, der große Nationalsport, gefeiert wird, ein grundlegendes Element der Identität und Vorstellungswelt, ja, beinahe der staatsbürgerlichen und patriotischen amerikanischen Religion. In der angrenzenden Hall of Fame gab es sogar eine spezielle Gedenktafel für die Champions, die hier einen Platz verdient gehabt hätten, die jedoch durch die Kriegsjahre und ihren Patriotismus verhindert waren.

Es ist kein Museum, sondern eine Kirche. Es sind keine Säle, sondern Kapellen. Und die Besucher sind keine echten Besucher, sondern Gläubige, – einer von ihnen fragt tatsächlich mit leiser Stimme, ob es wahr sei, dass hier die größten Champions begraben lägen, unter unseren |36|Füßen, wie in Westminster Abbey oder wie in der Kapuzinergruft in Wien. Vor allem aber wird hier alles getan, um Cooperstown selbst zu heiligen, die Wiege der nationalen Religion, das neuen Nazareth, ein unscheinbares Städtchen, das nichts dazu prädestinierte, eine solche Bedeutung zu erlangen und bei der Geburt des Baseballs Pate zu stehen – eine aufschlussreiche Geschichte, sälelang und falttafelbreit erzählt von einer wissenschaftlichen Kommission, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von einem ehemaligen Spieler gegründet wurde, der es zum Milliardär gebracht hatte. Zuvor hatte er zu dem Thema: »Was ist Ihre älteste Erinnerung an Baseball?« einen Wettbewerb durch das ganze Land gestartet und daraufhin das Zeugnis eines alten Ingenieurs aus Denver erhalten, der 1839 in Cooperstown sah, wie der Nordstaatengeneral und spätere Held des Sezessionskriegs, Abner Doubleday, der den ersten Kanonenschuss gegen die Südstaaten abfeuerte, hinter der Schneiderei mehreren Passanten das Spiel erklärte, dabei seine Regeln aufstellte und es taufte.

Zu Ehren dieser Geschichte hat man 1939, also genau ein Jahrhundert später, dieses Städtchen für das Museum ausgewählt. In Erinnerung an diese Geschichte konnte man – wie der Paläontologe und Baseballfan Steven Jay Gould in einem Artikel der National History erzählt – in der Vergangenheit auch eine große Ausstellungstafel sehen, die erklärte, dass der Nordstaatengeneral »im Herzen jedes Baseballliebhabers (...) der Hirte jener Weide ist, auf der dieser Sport erfunden wurde«. Zu Ehren dieser Gründungsszene trägt das nahegelegene große Stadion, in dem angeblich die schönsten Baseballmatches des ganzen Landes stattfinden, auch den Namen »Abner Doubleday Field«, und auf seinem Frontgiebel prangt die Inschrift »Wiege des Baseballs«. Und was soll man schließlich von Bud Selig halten, dem Chef der amerikanischen Baseballliga, der vor vier Jahren zu einer Gedenkfeier für den Unbekannten Soldaten nach Arlington kam und dort einen Strauß auf dem Grab eben jenes Abner Doubledays niederlegte, dem Sohn Coopertowns, der den Amerikanern und der ganzen Welt als der Papst der neuen Nationalreligion präsentiert wird? Nicht nur die Stadt, die gesamten Vereinigten Staaten fühlen sich an diesem Feiertag innig miteinander verbunden, der das doppelte Verdienst hat, den populärsten Sport des Landes mit den von der Stadt Fenimore Coopers verkörperten|37|, traditionellen ländlichen Werten und mit den patriotischen Würden des Namens Doubleday zusammenzubringen.

Einziges Problem bei der ganzen Sache ist, wie mir der Kustos des Museums, Timothy J. Wiles, leicht verlegen erklärt, dass sich Abner Doubleday in jenem berühmten Jahr 1839 nicht in Cooperstown, sondern in West Point aufhielt, dass der alte Ingenieur, der angeblich über das erste Spiel mit ihm diskutiert hat, gerade erst geboren war, dass der Begriff Baseball bereits 1815 in einem Roman von Jane Austen verwendet wurde und 1748 in einem Brief, den man auf einem englischen Dachboden gefunden hat, dass ein »Baseball Scholar«, ein bedeutendes Mitglied der »Society for American Base-Ball Studies«, soeben in Pittsfield, Massachusetts, eine noch ältere Spur gefunden hat, dass schon die alten Ägypter eine ziemlich vollendete Form diese Spiels kannten; das einzige Problem besteht darin, dass man schon immer wusste, natürlich auch 1939, dass Baseball ein alter Volkssport ist, dessen Ursprünge, auch wenn es wie bei allen populären Sportarten an schriftlichen Zeugnissen mangelt, in uralten Zeiten liegen; das einzige Problem besteht darin, dass diese Geschichte ein Mythos ist und dass jedes Jahr Millionen Männer und Frauen wie ich ein Museum besuchen, das sich ganz der Feier diese Mythos widmet.

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Gemeint sind die Anhänger der Baseballclubs der New York Yankees und der Boston Red Sox.

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Die Fälschung als Wille und Vorstellung

Im Anschluss daran zwei Hypothesen: Entweder haben die Besucher des Baseballmuseums keine Ahnung und glauben ganz naiv, dies alles sei wahr. Oder sie wissen Bescheid, wissen, dass die Geschichte keiner Überprüfung standhält; sie interessieren sich so leidenschaftlich für die Sache, dass sie sich über die Entdeckungen von vielen tausend »Baseball Scholars« auf dem Laufenden halten, die eine der kuriosesten, aber auch ernsthaftesten gelehrten Gesellschaften des Landes bilden und alle darin übereinstimmen, dass sich die Legende von der Wirklichkeit gelöst hat: Sie feiern einen Mythos, eine Fälschung, im Wissen, dass es sich um einen Mythos und eine Fälschung handelt.

Hier zeigt sich also ein neues Phänomen, das mich zur zweiten Hypothese bringt. Ebenfalls in Cooperstown gibt es »The Farmer’s Museum|38|