Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster - Volker Mariak - E-Book

Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster E-Book

Volker Mariak

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Beschreibung

Diese deutschen Tatorte erlangten traurige Berühmtheit: Eppstein-Vockenhausen (Freiherr-von-Stein-Schule, 1983), Eching und Freising (staatliche Wirtschaftsschule, 2002), Erfurt (Gutenberg-Gymnasium, 2002), Emsdetten (Geschwister-Scholl-Realschule, 2006), Würzburg (Kaufhaus am Barbarossaplatz, 2021, Berlin (Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, 2022), und jetzt schließlich auch Hamburg (Deelböge, Gemeindehaus der Zeugen Jehovas, 2023). Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Die Namen sind nur allzu bekannt. Aus Medienberichten - und viel zu oft aus eigener bitterer Erfahrung - ist Bürger*innen der Bundesrepublik der Begriff "Amoklauf" vertraut. Tatsächlich scheint es kaum Personen zu geben, die nicht eine recht dezidierte Meinung zum Thema "Amok" besitzen. Aber landläufige Klischees führen im Regelfall in die Irre: So sind zum Beispiel Amokläufer*innen keineswegs unzurechnungsfähige, plan- und ziellos mordende Berserker-Typen, sondern oft genug Mehrfachmörder*innen, die ihre Anschläge präzise und langfristig vorbereitet haben - und keineswegs "im Rausch" handeln. Die irrtümliche Interpretation der im Vollrausch handelnden Amokläufer*innen wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in renommierten Enzyklopädien vertreten. Denn: Der Ursprung des Begriffes "Amok" ist wesentlich im malaiischen Kulturraum zu verorten. So bedeutet das malaiische Wort "Amuk" in unserer Sprache so viel wie "zornig", "rasend oder auch "blindwütig angreifen und töten". Nun handeln Amokläufer*innen in unseren Breiten im Regelfall weder "blindwütig", noch sind alle diese Täter*innen paranoid bzw. zum Tatzeitpunkt einem paranoiden Anfall ausgesetzt. Diese Tatsache wird anhand der nachstehenden Kurzbiografien und Fallbeschreibungen deutlich erkennbar sein. Immerhin finden sich in unserer Zeit zu diesem Thema zahlreiche fachwissenschaftliche Texte mit aktuell-solidem Erklärungsversuch. Diese dürfen nicht allein auf den akademisch-fachlichen Bereich begrenzt werden. Sie müssen allen interessierten Bürger*innen offenstehen, denn alle sind wir in unserer Sicherheit und Lebensqualität von diesen fatalen Gewalttaten betroffen.

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Volker Mariak:

Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster

• Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive

• Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen

© 2023 Volker Mariak

ISBN 978-3-347-90678-5 (Softcover)

ISBN 978-3-347-90686-0 (Hardcover)

ISBN 978-3-347-90689-1 (e-Book)

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Volker Mariak

Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster

• Aktuelle Fachbeiträge zur Prüfung wahrscheinlicher Tatmotive

• Szenarien der Grundprobleme als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen

„Car la vie est un bien perdu quand on n’a pas vécu comme on l’aurait voulu.“

(Denn wer nicht lebte, wie er hätte leben wollen, für den ist das Leben ein verlorenes Gut.)

Mihai Eminescu (1850 – 1889)

***

„There are always cases, of course, in which the mark cannot sustain the injury to his ego and cannot act like a ‘good scout.’ On these occasions the shattering experience in one area of social life may spread out to all the sectors of his activity. He may define away the barriers between his several social roles and become a source of difficulty in all of them. In such cases the play is the mark’s entire social life, and the operators, really, are the society.”

(Erving Goffman, 1952, S. 461)

***

Inhaltsverzeichnis

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

1. Vorwort

1.1. Feindbild Gesellschaftssystem / konträre Gruppen

1.2. Notwehr oder Meuchelmord ?

1.3. Senkung der Hemmschwelle durch Tiertötungen

1.4. Zusammenschau tentativer Überlegungen

Teil 1. Amok - Versuch einer Phänomenologie

2. Notwendige Begriffsklärungen – Thematische Einführung

2.1. Amok: Zur Herkunft des Begriffes

2.2. Amok – fachdisziplinäre Definitionsversuche

2.3. Amok - Kaleidoskop der willkürlichen Abgrenzungen

2.3.1. Die Phase der Abkühlung („cooling off“)

2.3.2. Die Mindestanzahl der Todesopfer

2.3.3. Die unterschiedliche Motivation – je nach Delikt-Typ

2.3.4. Die Auswahl der Opfer - Zufällig oder gezielt

2.3.5. Der Tatort nach Delikt-Typ: Lokal begrenzt oder nicht

2.3.6. Stand der Dinge …

2.4. Begriff der Amok-Lage

2.4.1. Polizei-Definition der Amok-Lage

2.4.2. Amok – Polizei-Taktik vor Ort

2.4.3. Amok – Nachbetreuung der Opfer

2.4.3.1. Opferbetreuung und Nachsorge: Erkannte Defizite

2.4.3.2. Opferbetreuung und Nachsorge: Zielsetzungen

2.4.3.3. Opferbetreuung und Nachsorge: Der Personenkreis

2.4.3.4. Opferbetreuung und Nachsorge: Betreuungsphasen

Teil 2. Biografische Einzelbeispiele

3. Ausgewählte Kriminalfälle: Das Phänomen Amoklauf und fachliche Versuche der Taterklärung

3.1. Einführung in die Fallbeispiele

3.2. Der Fall Ernst August Wagner (1874 – 1938)

3.2.1. Sozialer Hintergrund

3.2.2. Amoklauf – Der Tathergang am 04. 09.1913

3.2.3. Motiv – Angst und Rache wegen sozialer Ächtung

3.2.3.1. Der „Mörder von Mühlhausen“ outet sich

3.2.3.2. Sodomie-Outing und Amoklauf aus Experten-Sicht

3.2.4. Paranoia – Das Krankheitsbild Ernst Wagners

3.2.4.1. Die „Wagner-Variante“ der Paranoia

3.2.4.2. Die „Wagner-Variante“ – fachlich-kritische Reflexion

3.2.5. Grundproblem: Sodomie und Strafrecht

3.2.5.1. Das Sodomie-Strafrecht zu der Zeit Ernst Wagners

3.2.5.2. Sodomie-Rechtsnorm und Moral in unserer Zeit

3.3. Der Fall Heinz Jacob Friedrich Ernst Schmidt (1883 – 1926)

3.3.2. Amoklauf – Der Tathergang am 20. 06. 1913

3.3.3. Motiv - Religiös verorteter Hass auf Jesuiten

3.3.4. Grundproblem: Kulturkampf u. Bremer Abgesang

3.4. Der Fall Walter Seifert (1921 – 1964)

3.4.1. Sozialer Hintergrund

3.4.2. Amoklauf – Der Tathergang am 11. 06. 1964

3.4.3. Motiv - Paranoia und Behördenfrust

Teil 3. Das Phänomen Amok – Versuch eines Resümees aus den Kurzbiografien

4. Das Fazit aus den vorgestellten Kurzbiografien und Amoklagen

4.1. Übersicht

4.2. Suizid am Tatort (Amoklauf) und Schuldfähigkeit

4.2.1. Suizid am Tatort (Amoklauf)

4.2.2. Schuldfähigkeit

4.3. Motivlagen

4.4. Kollektive Grundprobleme

4.5. Korrektive Eingriffe und die Resozialisierung

4.6. „For many are called, but few are chosen" - Versuch einer Erklärung

4.6.1. Erving Goffman: Das Leben im „confidence game“

4.6.2. Das „cooling out“ in der Realität: Beispiele aus der Übergangsphase von der Schule in den Beruf

Teil 4. Verzeichnisse der verwendeten Literatur und der Tabellen

5. Literaturverzeichnis

6.01. Tabellenverzeichnis

6.02. Abbildungen

7. Verzeichnis der Weblinks (URL)

Amok-Lagen in Deutschland: Ausgewählte Fallbeispiele und kriminologische Erklärungsmuster

Cover

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Epigraph

1. Vorwort

7. Verzeichnis der Weblinks (URL)

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1. Vorwort

„Sie alle ziehen ihres Weges fort – an ihr Geschäft - und meines ist der Mord!"

Dieses Zitat aus dem berühmten Schiller-Drama „Wilhelm Tell“ (Friedrich Schiller: „Wilhelm Tell", 4. Akt, 3. Szene) charakterisiert zunächst recht gut die Gemütsverfassung der nachfolgend hier biografierten Gewalttäter. Es bestehen jedoch gravierende Unterschiede zwischen dem Tyrannenmörder Tell und den Amokläufer*innen verschiedenster Couleur, wenngleich Ihnen allen ein Mut der Verzweiflung sowie Zorn und Rachegelüste gemeinsam sind.

1.1. Feindbild Gesellschaftssystem / konträre Gruppen

Wo der Dichterfürst Schiller seinen fiktiven Wilhelm Tell gezielt gegen eine Person - den verhassten Landvogt Hermann Gessler - vorgehen lässt, haben wir bei dem nachstehend erörterten Personenkreis eine Täter-Gruppe vor Augen, die im Regelfall zahlreiche Unschuldige (Schüler*innen, Lehrkräfte, Passant*innen, Besucher*innen eines Weihnachtsmarktes, usw.) auf brutale Art schwer verletzt oder tötet. Diesen Tätern gemeinsam ist indirekt eine primäre Zielsetzung: Die Ausübung von „Terror“. Im „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“ (DWDS) heißt es zu diesem Begriff:

„[…] gegen eine Gesellschaftsordnung, gegen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft gerichtete systematische Verbreitung von Furcht und Schrecken, besonders durch Gewaltakte, Morde mit dem Ziel, politische Ziele gewaltsam durchzusetzen"

(URL DWDS)

Diese Definition trifft bis auf eine Ausnahme (den Verwandten-Mord des Adrian S.) auf alle hier erörterten Täter und Amok-Lagen zu, wobei nicht stets präzise politisch- oder religiös-ideologische Ziele im Vordergrund stehen, sondern durchaus auch die diffuse Rache am gegebenen „Gesellschaftssystem" zu den Beweggründen gehört. Inwieweit der schweizerische Freiheitskämpfer Wilhelm Tell mit seiner Mordtat ebenfalls ein ideologisches Zeichen gegen die Tyrannei der Habsburger setzen wollte, bleibt im Dunkel der Legende.

1.2. Notwehr oder Meuchelmord ?

Bemerkenswert in Abgrenzung zu heutigen Amokläufer*innen ist der Schillersche Hinweis auf die Notwehr-Situation seines Helden: Tell ist nach Friedrich Schiller eben kein Mörder mit eventuell niedrigen Motiven wie zum Beispiel Rachsucht oder dem Hass auf Gessler und das Haus Habsburg. Und nicht einmal das „hehre" überindividuelle Motiv des Tyrannenmordes wird verteidigend benutzt:

„Der Mord Tells an Gessler erhält durch diese seine persönliche Situation eine gewisse Rechtfertigung als Notwehr. Ohne Reue und ohne das Gefühl von Schuld verlässt er den Ort des Geschehens und auch als der Kaiser-Mörder Parricida um Tells Schutz bittet, weiß er seine Tat als Notwehr zu verteidigen, während er den Mord von Johann Parricida als ehrsüchtig enttarnt. Tells Mord ist kein Meuchelmord. Er zeigt sich nach dem Schuss als ehrlicher und offener Gegner und gibt sich dem sterbenden Gessler zu erkennen. Zu seiner Tat bekennt er sich offen.“ (URL Friedrich Schiller Archiv)

Diese Begründungen treffen auf nachstehend erörterte Amokläufer scheinbar nicht zu: Aber handelt nicht auch so mancher dieser Gewalttäter aus (putativer) Notwehr im Schillerschen Sinne? Wenn Mobbing-Opfer langfristig ohne Hilfe bleiben, und ihren Leidensdruck beenden wollen, wenn Opfer eines absurden, existenzgefährdenden Behördenmarathons sich am Ende ihrer Geduld sehen und mit aufgestautem Zorn das „System" bekämpfen wollen, welches sie psychisch und physisch schädigt: Lassen sich da nicht Parallelen der Motivation finden?

In der Charakterisierung des „Helden" heißt es, Tell sei kein Meuchelmörder, er habe den Tatort nach Gesslers Erschießung als ehrlicher, offener Gegner verlassen. Aber da scheint jemand den Begriff des Meuchelmordes zu verkennen: Dieser historische Rechtsbegriff verweist auf die vorsätzliche Tötung von Menschen, heimtückisch, hinterhältig. Kurz: Es ist der Überfall auf ahnungslose Opfer. Und genau das geschah in der „hohlen Gasse". Tells überraschtes Opfer hatte nicht die geringste Chance, sich gegen die Tötung durch den routinierten Schützen zur Wehr zu setzen. Wie Tell sich nach der Bluttat benahm, ist in dieser Hinsicht irrelevant.

Tell war somit ebenfalls ein Meuchelmörder wie jeder Amokläufer bzw. jede Amokläuferin unserer Zeit – bei allem Verständnis für seine ultimative „Problemlösung“ gegenüber dem grausamen, bedrohlichen Landvogt. Bemerkenswert: Auch Amokläufer*innen stehen im Regelfall zu ihrer Tat, zeigen keine Reue und sind ohne Schuldgefühl. Sie begehen oftmals am Tatort den geplanten Suizid oder stellen sich sogar friedlich der Polizei (wie zum Beispiel Adrian S.). Nur in wenigen Fällen wird eine verdeckte Flucht versucht (wie zum Beispiel von Anis Amri).

Immerhin: Wilhelm Tell selbst bezeichnet seine als Notwehr beschönigte Tat an anderer Textstelle des Dramas durchaus als „Mord". Die pathetischen, selbstgerechten Worte des Wilhelm Tell gegenüber dem „gewöhnlichen" Mörder Johann Parricida lassen also auf eine recht unsichere, entschuldigende Einschätzung der eigenen Handlungsweise schließen, wenngleich sie mit Blick auf die dichterische Freiheit, auf ästhetische Prämissen und das moralische „Kontrastieren" Schillers entschuldbar sind:

„Verfluche dich und deine That – Gerächt

Hab‘ ich die heilige Natur, die du

Geschändet – Nichts theil’ ich mit dir –Gemordet

Hast du, ich hab‘ mein theuerstes vertheidigt."

(Schiller, „Wilhelm Tell", 5. Akt, 2. Szene)

Fazit: Für den Meuchelmörder Tell ist seine Tat letztlich ein Akt der Verteidigung. Aber genau diese Tatbewertung nehmen aus ihrer subjektiven, verquasten Sicht auch Amokläufer*innen für ihre Ultima Ratio in Anspruch.

1.3. Senkung der Hemmschwelle durch Tiertötungen

Bemerkenswert ist ein weiterer Punkt im Vergleich des Wilhelm Tell mit heutigen Mehrfachmörder*innen: Tell ist ein lang erfahrener, geübter Scharfschütze, der seine Treffsicherheit durch professionelles, leidenschaftliches Töten von Wildtieren erwarb (Schiller: „Willhelm Tell", 3. Akt, 1. Szene):

„Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet;

Rastlos muß ich ein flüchtig‘ Ziel verfolgen.

Dann erst genieße ich meines Lebens recht,

Wenn ich mir das jeden Tag aufs neu‘ erbeutete.“

In den Biografien zu Serienmörder*innen und Amokläufer*innen findet man fast regelmäßig den Hinweis auf notorische Tiertötung und Tierquälerei: Ein Beispiel: Der berüchtigte Mehrfachmörder und ausgebildete Jäger Frank Gust, welcher auf die Frage, wieviel Tiere er im Zeitablauf getötet habe, offen antwortet: „Groß- und Kleintiere zusammengerechnet wohl etliche hundert Tiere. So in die unteren Tausend reingehend." (Klages, 2017, S. 121). In ihrem Vorwort zu den Gust-Interviews von Petra Klages greift Dr. Nicolette Bohn die Fall-Informationen auf und bemerkt:

„[…] zunächst tötete und quälte Frank Gust kleinere Tiere wie Mäuse, Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen. Dann wurden größere Tiere wie Schafe, Rinder und Pferde zu seinen Opfern. Frank Gust übte und verfeinerte seine späteren Tötungsmuster an Tieren.“ (Vorwort Nicolette Bohn in: Klages, 2017, S. 10)

Ihr Fazit und ebenfalls das von Petra Klages: Hätte man diese Signale bemerkt und Gust entsprechend frühzeitig therapiert, wäre er wohl nie in dieser Form zum Täter geworden (Vorwort Nicolette Bohn in: Klages, 2017, S. 10).

Mit direktem Bezug auf das Phänomen Amokläufe sei hier als zweites Beispiel der Mehrfachmörder Martin Peyerl genannt, der die Mordtaten von Bad Reichenhall (am 01. 11. 1999) zu verantworten hatte und nach dem Amoklauf Suizid beging. Peyerl war von seinem Vater, einem engagierten Sportschützen und Schusswaffensammler, bei gemeinsamen Schießübungen an der Waffe ausgebildet worden. Peyerl geriet derart zu einem „begeisterten Pistolen-Enthusiasten" (Eisermann, 2001, S. 39). Als der „Pappkamerad" (Zielscheibe mit einem aufgemalten Menschen) in der Garage des Vaters nicht mehr den nötigen Kick bot, ging Peyerl in das nahe Waldgebiet und schoss dort auf Vögel und wohl auch auf kleine, am Boden lebende Wildtiere. In einer der zahlreichen amerikanischen Studien zum Thema „Animal Abuse and Violent Criminal Behavior" kommt das Forschungsteam zu folgendem Fazit:

„The deadly violence that has occurred in schools in recent years has, in most cases, begun with cruelty to animals. […] Many of the school shooters committed acts of animal cruelty before turning their aggression on classmates, teachers, and parents.” (Spencer, Kohl, McDonald, 2012, S. 4)

Mittlerweile belegen auch deutsche Studien, dass ein deutlicher Zusammenhang zwischen Tiertötung / Tierquälerei und der Gewalt gegen Menschen besteht. Zu nennen ist hier zum Beispiel die Forschungsarbeit der Psychologin Astrid Kaplan, die in ihrer Zusammenfassung klar und deutlich ausführt:

„Da es einen Zusammenhang zwischen der Gewalt gegenüber Tieren un der Gewalt gegenüber Menschen gibt, müssen wir jede Form von Gewalt ernst nehmen und möglichst schnell eingreifen, um zu verhindern, daß sich daraus noch mehr Gewalt entwickelt. […] Ein effektiver Umgang mit Tiermissbrauchsfällen durch Exekutivbeamte, Staatsanwälte und Gerichte kann den Unterschied zwischen einer Drosselung oder einer Eskalation der Gewalt bedeuten.“ (Kaplan, 2010, S. 257)

In der kriminologischen Forschung hat sich gezeigt, dass die Relation „Gewalt gegen Tiere – Gewalt gegen Menschen“ nicht nur ein isoliertes Phänomen sadistischer Mehrfachmörder darstellt: Wie anfangs erwähnt, liegen zahlreiche wissenschaftliche Studien vor, die – empirisch-statistisch abgesichert - genau diese Verknüpfung mit hoher Wahrscheinlichkeit für ein breites Spektrum abweichenden Verhaltens belegen. Abschließend sei in diesem Kontext Charles Patterson, der Autor von „Eternal Treblinka“ erwähnt (Patterson, 2002), der auf eine fortschreitende Verrohung und das Sinken der Gewalt-Hemmschwelle durch die routinemäßige Tötung von Tieren aufmerksam macht, was in der Folge ebenfalls fatale Konsequenzen für interne Konflikte der Spezies Mensch zeitigt:

„Es geht um die Gleichheit in den Einstellungen und Methoden die hinter der Behandlung von Tieren durch unsere Gesellschaft stecken und die Art, in der Menschen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch häufig gegenseitig misshandelt haben, in aller stärkster Form während des Holocausts. Manche Leute werden über diese Parallele vielleicht überrascht sein, aber wie ich in dem Buch darlege, war die Ausbeutung von Tieren das Modell und die Inspiration für die Grausamkeiten die Menschen sich gegenseitig angetan haben, dabei sind die Sklaverei und der Holocaust sicher zwei der wohl dramatischsten Beispiele dessen.“ (URL Schwartz)

1.4. Zusammenschau tentativer Überlegungen

Ohne die Parallelen zum fiktiven Wilhelm Tell weiter zu strapazieren, bleibt zum Abschluss die Frage, welche offensichtlichen Kriterien die nachstehend charakterisierten Amokläufer auszeichnen? Ohne einer wissenschaftlichen Begriffsklärung vorzugreifen, lassen sich folgende Merkmale benennen:

a)

Da Amokläufe stets unvorhersehbar, überfallartig geschehen, sind die Zielpersonen arg- und wehrlos. In dieser Situation kommt es in der Regel zu zahlreichen (schwer-)verletzten und / oder getöteten Opfern. Dieses hinterhältige, den Tatbestand der Heimtücke erfüllende Vorgehen, um Personenschaden so groß wie nur möglich zu generieren, ist ein wesentlicher Teil des Modus Operandi.

b)

Die Motive sind nicht auf illegalen Besitzerwerb bzw. gewaltsame Aneignung von Sachen ausgerichtet: Der Amoklauf geschieht, um sich zu rächen, um unter eine unerträgliche Lebenssituation einen öffentlich plakatierten Schlusspunkt zu setzen oder – wie im Fall der Dschihadisten – um mit der Ausübung von ideologisch fundierten Mordtaten Andersgläubige zu bestrafen, einzuschüchtern und zu eliminieren, um derart religiöse / politische Meriten zu erwerben und Zeichen zu setzen. Grundsätzlich ist zu sehen, dass auf fast allen diesen Motivebenen Machtausübung und Terror eine Hauptrolle spielen.

c)

Wie vorstehend erörtert, lässt sich erkennen, dass Amokläufer*innen ihre Tat oftmals mit dem Notwehrkonzept rechtfertigen: Man habe den durch andere zugefügten Leidensdruck ertragen, bis die Grenze der individuellen Belastbarkeit erreicht war und aufgestaute Emotionen sich in Gewalt entladen mussten.

d)

Zentrales Merkmal der Täter*innen: Sie sind bereit, bei Durchführung ihrer Anschläge das eigene Leben zu opfern. Oftmals ist der Suizid als „Kontrapunkt" dieser Gewaltaktionen langfristig eingeplant. Man nimmt also nicht nur die Auslöschung der eigenen Existenz billigend in Kauf, sondern strebt diese in vielen Fällen direkt an.

e)

Ein weiteres Kriterium – fachwissenschaftlich abgesichert für Mehrfachmörder*innen - ist die häufig erkennbare wiederholte Gewalt gegen Tiere als Vorlauf der Gewalt gegen Menschen. Es wird angenommen, dass mit der Routine der Tiertötungen auch die Hemmschwelle zur tödlichen Gewalt gegen die eigene Spezies signifikant sinkt (sog. Verrohungsthese“).

f)

Abzuklären bleibt der juristische Unterschied zwischen Serienmorden und Amokläufen. Beides sind Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang, und in beiden Fällen sind mehrere unschuldige Opfer zu beklagen. Worin aber besteht der Unterschied?

Amokläufer*innen verüben juristisch gesehen per definitionem tateinheitliche, (scheinbar) willkürliche Mordanschläge auf beliebige Menschen und nehmen dabei ihre eigene Tötung in Kauf. Sie fallen damit aus der gebräuchlichen Definition „Serienmörder*in“ heraus, weil ihre Mordtaten zeitlich dicht aufeinander folgen und somit ein und derselben Handlung zugerechnet werden (Tateinheit nach § 52 StGB). Das Etikett „Serienmörder*in“ impliziert dagegen einen deutlichen zeitlichen Abstand zwischen den einzelnen Gewalttaten (etwa Tage, Wochen, Monate, Jahre). Nach Harbort ist nur von einem Serienmord auszugehen, wenn ein „jeweils neuer, feindseliger Tatentschluss“ vorliegt. Jedoch gerade das ist bei Amokläufer*innen nicht der Fall: Es besteht aus juristischer Sicht ein einziger Tatentschluss, der dann – allerdings in enger Folge – (man könnte fast sagen: „in Serie“) ebenfalls eine Gruppe Opfer fordert (mindestens drei Menschen). Damit rechnet man Amokläufer*innen auf Grund theoretischer Setzung nicht zu den Serienmörder*innen (zur Definition „Serienmörder*in“ siehe: Harbort, 2016, S. 20).

In diesem Kontext problematisch: Die Zeitspanne zwischen den Taten eines Serienmörders wie etwa Peter Kürten, Manfred Wittmann oder Ronny Rieken interpretiert die Main-Stream-Kriminologie als sog. „cooling-off-Phase". Danach führen die Täter*innen (denn es gibt in dieser Gruppe auch Frauen wie Christa Lehmann) in diesem Zeitraum ein unauffälliges, sozial angepasstes und somit „normales" Leben. Aussagen zur Länge dieser „cooling-off-Phase“ bleiben jedoch stets verborgen im Dunkel der Theorie.

Diese „Tarnung“ durch Alltagsroutinen würde anhalten, bis Gewaltfantasien übermächtig werden, erneut durchbrechen, und zu neuen Morden zwingen. (Siehe z. B.: Paulus, 2016, S. 9) Paulus schreibt dazu (a. a. O.):

„Und diese bereits in früher Kindheit angelegten Gewaltfantasien und die damit verbundene Suche nach Macht und Überlegenheit sind auch die zentrale Motivation von Serienmördern.“

Dass diese Sichtweise zu kurz greift, zeigen zahlreiche Biografien von Serienmörder*innen, die eben nicht auf Grund von Gewaltfantasien handelten, sondern völlig andere Beweggrunde hatten. Ein Beispiel dafür ist die dreifache Giftmörderin Christa Lehmann, die zunächst ihren Ehemann (Ehebrecher, Schläger, Alkoholiker) tötete, um der häuslichen Gewalt ein Ende zu bereiten, sodann den nicht weniger tyrannischen Schwiegervater eliminierte, um sich den erkämpften sozialen Freiraum zu erhalten, dann schließlich einen Giftmord als beabsichtigte Verdeckungstat beging, weil die „Zielperson“ (die Mutter ihrer Freundin) bezüglich der Todesfälle Verdacht schöpfte. Christa Lehmann wurde als voll schuldfähig eingestuft. Sie war weder paranoid noch schizophren. Gewaltfantasien und Wahnvorstellungen (der Theorie entsprechend möglichst noch in Kindestagen angelegt) waren hier sicher nicht der Auslöser ihrer Taten.

Teil 1

Amok - Versuch einer Phänomenologie

2. Notwendige Begriffsklärungen – Thematische Einführung

Die aufgezeigten Vorab-Überlegungen sind nützlich, weil sie in den Problemkreis „Amoklauf“ einführen. Sie ersetzen jedoch keine tiefere fachwissenschaftliche Betrachtung und Begriffs-Definition. Im nachfolgenden Textabschnitt wird diese eingehendere Erörterung angestrebt.

2.1. Amok: Zur Herkunft des Begriffes

Aus Medienberichten und oftmals eigener bitterer Erfahrung ist den meisten Bürger*innen der Bundesrepublik der Begriff „Amoklauf“ vertraut. Tatsächlich scheint es kaum Personen zu geben, die nicht eine recht dezidierte Meinung zum Thema „Amok“ besitzen. Aber landläufige Klischees führen im Regelfall in die Irre: So sind zum Beispiel Amokläufer*innen keineswegs unzurechnungsfähige, plan- und ziellos mordende Berserker-Typen, sondern oft genug Mehrfachmörder*innen, die ihre Anschläge präzise und langfristig vorbereitet haben und keineswegs „im Rausch" handeln. Die irrtümliche Interpretation der im Vollrausch handelnden Amokläufer*innen wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in renommierten Enzyklopädien vertreten. Im Vokabular von „Meyers Konversations-Lexikon" des Jahres 1888 lautet die Erklärung:

„Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.“

(URL Seite „Amok“; Quelle: Meyers Konversations-Lexikon, 1888, Stichwort: „Amucklaufen“)

Dass selbst noch im Jahre 2017 ein Kompendium wie der bekannte „Duden“ folgende irreleitende Auskunft beinhaltet, stimmt nachdenklich. Dort heißt es unter dem Stichwort „Amok“:

„[…] (malai.); Amok laufen ([in einem Anfall von Paranoia] umherlaufen und blindwütig töten)“ (Duden, 2017, S. 191)

Nun handeln Amokläufer*innen im Regelfall weder „blindwütig“, noch sind alle diese Täter*innen paranoid bzw. zum Tatzeitpunkt einem paranoiden Anfall ausgesetzt. Diese Tatsache wird anhand der nachstehenden Kurzbiografien und Fallbeschreibungen deutlich erkennbar sein. Immerhin finden sich in unserer Zeit zu diesem Thema zahlreiche fachwissenschaftliche Texte mit aktuell-solider Erklärung:

Der Ursprung des Begriffes „Amok" ist zunächst im malaiischen Kulturraum zu verorten. So bedeutet das malaiische Wort „Amuk" in unserer Sprache soviel wie „zornig“ oder „rasend". In der sehr informativen Forschungsarbeit zu Amokläufen an deutschen Schulen von Elstermann und Buchwald führen die Autorinnen aus:

„Nach Adler bezeichnet der daraus abgeleitete Ausdruck „mengamuk“ (Hatta, 1996) einen spontanen, ungeplanten und mörderischen Angriff gegen unbeteiligte Personen. Der Soziologe Wolfgang Sofsky übersetzt den Begriff mit »im Kampf sein Letztes geben« (Sofsky, 2002, S. 41).

Der Ruf »Amok, Amok« ist als Kampfschrei der Malaien bekannt und analog zu dem »Attacke-Ruf« europäischer Soldaten (Adler, 2000), während Schrieke »amokan« als Kampfruf der Javanesen mit »stab them to death« umschreibt (vgl. Schrieke, 1957). Die verschiedenen Übersetzungen mögen von den unterschiedlichen Erscheinungsformen herrühren.

Laut Adler hat der Amoklauf seinen Ursprung in Malaysia. Er ist aber auch bei Malaien ethnisch und sprachlich nahe stehenden Völkern im gesamten malaiischen Archipel zu finden, zu denen die modernen Staaten Malaysia, Indonesien, Singapore, Brunei und Teile von Thailand und den Philippinen sowie Südindien gehören. Erste Berichte über dieses Phänomen stammen aus dem 14./15. Jahrhundert und beschreiben zwei verschiedene Formen des Amoks: den kriegerischen Amoklauf von Gruppen und den individuellen Amoklauf (vgl. Adler, 2000).“ (URL Elstermann u. Buchwald)

In einem weiteren Fachtext wird auf eine ältere, indische Herkunft verwiesen: Das Wort „Amok“ hat danach seinen Ursprung im Kampfruf der „Amucos“, einer hinduistisch geprägten Einheit von Elitekriegern. Diese Krieger-Gruppe war auf ihren König eingeschworen und hatte sich ihm rituell verpflichtet, ihren Kampf bedingungslos und mit Todesverachtung zu führen. Für den Feind bedeutete dieser Schwur: Würden seine Kämpfer den gegnerischen König töten, dann hätten sie mit der rückhaltlosen Rache der Amucos zu rechnen. Man hütete sich daher, den König zu verletzten oder gar zu töten. Vor diesem Hintergrund strebten Könige danach, sich mit möglichst zahlreichen Amuco-Kämpfern zu umgeben und stellten derart ihr Prestige und ihre militärische Macht zur Schau. Materielle Zuwendungen und ein hoher gesellschaftlicher Status garantierten die Motivation der Krieger-Elite (URL Seite „Amok“, Quelle: Adler, 2015, S. 52; ebenso: URL Faust, „Amok“) Bei Volker Faust heißt es dazu:

„Die so motivierten Amok-Krieger sollen militärisch und zahlenmäßig weit überlegene Heere angegriffen und dabei fürchterliche Blutbäder angerichtet haben.

Damals wurden diese Heldentaten in volkstümlichen Sagen verherrlicht, wobei auch schon einmal einzelne Amokläufer eine heroische Verklärung erfuhren (siehe unten), besonders wenn sie Schande oder erlittene Schmähungen mit einem Massenmord zu vergelten suchten, um anschließend selbst den Tod zu akzeptieren - und meist zu finden.“

(URL Faust, „Amok“)

Faust weist in seinem historischen Abriss des „Amok“ ausdrücklich daraufhin, dass dieses Phänomen nicht auf den Fernen Osten beschränkt war, sondern zum Beispiel auch im skandinavischen Raum auftrat. Und dort kam es ebenfalls zu einem Bedeutungswandel:

„Einen ähnlichen Bedeutungswandel wie Amok erlebte das in den altnordischen Sagas belegte Wort Berserkr, ursprünglich für ‚Krieger, die in Bärenfälle gekleidet waren’, später für jene Menschen, die das Wesen eines Bären anzunehmen versuchten. Ursprünglich waren es gewaltbereite Haudegen, die im Dienste skandinavischer Fürsten des Mittelalters - in Ekstase versetzt – ‚mit übermenschlicher Stärke wütend kämpften’. Manche von ihnen trugen auch Wolfsfelle und wurden deshalb Ulfhednar, ‚Wolfshäupter’, später Werwölfe’ genannt.

Hier spielt auch die schamanische Vorstellung von wilder ‚Tierbesessenheit’ durch das ‚Anlegen eines Bären- oder Wolfsfelles’ eine Rolle.

Neben diesen gefürchteten Elitetruppen skandinavischer Berserker-Krieger (die sogar von byzantinischen Kaisern im Mittelalter in Sold genommen wurden) berichteten auch hier die altnordischen Sagas von individuellen Berserkrgangr, also ekstatischen Anfällen von Berserkerwut, in denen der Betreffende ‚wahllos mörderisch raste’. Das hat sich bis in das moderne Englisch gehalten, und zwar durch den Ausdruck ‚to go berserk’ für aggressives Toben.“ (URL Faust, „Amok“)

Aus der klassisch-indischen Militärtradition vererbten sich Begriff und Phänomen des „Amok“ ebenfalls auf malaische und javanische Krieger-Gruppen. Wie Adler anmerkt, zeigten sich parallel zum Amok als militärischer Strategie im malaiisch-indonesischen Kulturkreis auch individuelle Amokläufe. (URL Seite „Amok“, Quelle: Adler, 2015, S. 52) Angeführt wird das Beispiel insolventer Schuldner, die ihrer Versklavung zuvorkommen wollten, indem sie im Alleingang tödliche Angriffe solange fortführten, bis sie selbst den Tod fanden. Vermerkt wird in den Quellen, dass diese Handlungen ebenfalls eine Form des blutigen sozialen Protestes bildeten: Allein die Drohung mit dem beabsichtigten Amoklauf – etwa bei eindeutig ungerechter Behandlung durch die Oberschicht (begüterter Adel bis hin zum despotischen Herrscherhaus) – zeigte Wirkung und war in dieser Gesellschaftsform kulturell positiv besetzt: Diese Protestaktion wurde traditionell sozial akzeptiert. (URL Seite „Amok“, Quelle: Jilek u. jilek-Aall, 2013, S. 406 f.) Der dann tatsächlich verübte Amoklauf durch wahllos vollzogene Mordattacken trug den Charakter der Ultima Ratio: Er führte zu einem „ehrenvollen“ Tod. (URL Faust, „Amok“; URL Seite „Amok“, Quelle: Adler, 2015, S. 52)

Im 14. Jahrhundert prägte der Islam den malaisch-indonesischen Kulturkreis. Im Verlaufe dieser Islamisierung geriet der „Amoklauf“ gegen die andersgläubigen Feinde des Islam zu einer Handlung, in der sich religiöser Fundamentalismus und das Sendungsbewusstsein der Kämpfer ausdrückte.

Der Tod für die Sache des Islam erhielt derart – im Gegensatz zu dem für Muslime geächteten Suizid - die Anerkennung der „Rechtgläubigen" und war aus islamischer Sicht Allah wohlgefällig. (URL Seite „Amok“, Quelle: Jilek u. jilek-Aall, 2013, S. 406 f.; ebenso: URL Faust, „Amok“) Wie zum Beispiel Faust berichtet, hielt sich diese blutige Tradition bis in die späte Kolonialzeit. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die an den holländischen Kolonialherren auf Sumatra verübten „Aceh-Morde“ durch islamistische Fanatiker. Weiterhin gab es amok-ähnliche, rituell geprägte Handlungen auf den südlichen Philippinen, die im Kern nur als eine Form des indirekten Suizids gewertet werden können. Ergänzend zu diesen historischen Hinweisen findet sich bei Faust eine Bemerkung zum sog. „Gruppen-Amok“, der in diesem Kulturbereich etwa zur Kampftaktik der Piraten gehörte. Erst entschiedene militärische Eingriffe der Kolonialmacht setzten dieser Praxis bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ende. (URL Faust, „Amok”)

Insbesondere mit den europäischen Forschern und Fernreisenden des 17- bis 19. Jahrhunderts kamen der Begriff und die inhaltliche Interpretation in den westlichen Kulturkreis. Genannt wird in den Quellen zum Beispiel der britische Seefahrer, Kartograf und Entdecker James Cook. Das Phänomen „Amok“ wurde aber weiterhin primär der malaiisch-indonesischen Kultur zugeordnet – nicht zuletzt durch damals aktuelle Amokläufe, die aus Fernost stammende Täter zu verantworten hatten. Faust nennt hier das Beispiel „Kapstadt 1786“ und den dortigen Amoklauf eines exilierten Javaners. (URL Faust, „Amok“, ebenso: Jilek u. Jilek-Aall, 2013, S. 406 f.) Mit Blick auf unsere Zeit und den westlichen Sprachgebrauch verweisen die Quellen auf eine inflationären Verwendung des Begriffes „Amok". Im Alltagsverständnis ist „Amok" nun gekennzeichnet durch blindwütige Aggression – unabhängig davon, ob Todesopfer zu beklagen sind oder nicht. (zum Beispiel in: URL Faust, „Amok“) Im „Kriminologie-Lexikon“ finden sich ähnliche Hinweise. Es heißt dort:

„Im Laufe der Zeit löste sich der Begriff von der ursprünglich historischen, religiösen, geographischen und kulturellen Verwurzelung.

Aktuell wird der Begriff Amok häufig inflationär gebraucht. Die Medien orientieren sich in ihrer Berichterstattung an keiner eindeutigen Definition.

Die Definitionsansätze sind jeweils von der wissenschaftlichen Disziplin, der sie entstammen, geprägt.“ (URL Thier: „Amok“)

2.2. Amok – fachdisziplinäre Definitionsversuche

Es ist bemerkenswert, dass mit dem kulturellen Phänomen „Amok“ primär medizinisch-psychologische Forschungsarbeit in das Auge fällt. Psychiatrie hat hier sicher ein gewichtiges Wort mitzureden und sollte an wissenschaftlichen Entscheidungen zur Interpretation - und wenn möglich Prävention – beteiligt sein, aber es darf für diese Disziplin kein Alleingang werden, wenn angemessene Resultate erwünscht sind.

Wenn also Faust (URL Faust, S. 5) hier kritisch anmerkt, dass man in der Psychiatrie bisher vorwiegend „das äußere Erscheinungsbild“ betrachtet hat, während Ätiologie (Krankheitsursachen), Pathogenese (Krankheitsentstehung und –entwicklung) sowie psychologische Aspekte weiterhin nur hypothetische Grundlagen besitzen, dann muss zudem gefragt werden, ob andere Disziplinen aktuell solidere Erkenntnisse vorweisen können, da der Amoklauf eben nicht verkürzt auf Persönlichkeitsstörungen usw. zurückzuführen ist. Wohl leider viel zu wenig Beachtung findet in diesem Kontext eine Anmerkung Adlers, die im Deutschen Forum für Kriminalprävention (DFK) noch einmal aufgegriffen wird:

„Nach Adler (2002) soll Amok ‚erst im Verlauf der Kolonialisierung zum krankhaft abweichenden Verhalten erklärt und gesellschaftlich negativ bewertet worden sein’“

(URL Deutsches Forum Kriminalprävention, 2009; Adler-Zitat: Adler, 2002, S. 4)

Mit Blick auf die kulturspezifische Prägung des Amok-Phänomens in Malaysia definierte der niederländische Neurologe und Psychiater Feico Herman Glastra van Loon (1886-1971) damals wie folgt:

„Amok ist, kurz gesagt, der ganz unerwartete Mordangriff des malaiischen Mannes, der plötzlich und ohne direkten Grund aufspringt, eine Waffe (den ‚Keris‘ oder einen ‚Parang‘ oder ein anderes Messer oder sein Gewehr, wenn er ein Soldat ist) ergreift und einen jeden ersticht oder niederschlägt oder erschießt, der in seinen Weg kommt, auch wenn es sein Bruder, Vater oder seine Mutter ist. Bis der ‚Amokläufer‘ selber erlegt oder gefangen wird.“

(van Loon, 1931, S. 23; zitiert bei: Sell, 2021, S. 8 f.) Abgesehen von der hier betonten Kulturgebundenheit des Phänomens Amok (Malaysia) zeichnet van Loon das Bild einer Gewaltaktion, die sich durch ihren überfallartigen, emotional-explosiven Charakter auszeichnet, in der Sicht Außenstehender unvermittelt, grundlos geschieht und zufällige Opfer fordert. (Vgl. Sell, 2021, S. 9)

Wie sehen nun die offiziell-wissenschaftlichen Definitionen des Phänomens „Amok“ in jüngster Zeit aus? Eine der wichtigsten fachlichen Deutungen stammt von dem deutschen Psychiater Lothar Adler. Seine Definition des Amok benennt vier Schlüsselkriterien, die dieses spezielle Anschlag-Muster von herkömmlichen Gewalttaten mit Tötungsabsicht abgrenzen:

„1. Amok muss so konzipiert sein, dass es zur Tötung mindestens einer Person kommt oder hätte kommen können, wenn äußere Einwirkungen den Taterfolg nicht verhindert hätten. Darüber hinaus muss die typische Ein-Täter-Ein-Opfer-Konstellation aufgebrochen werden.

2. Die Tat muss über den gesamten Verlauf oder zumindest zeitweise ohne Rücksicht auf das eigene Leben vollzogen werden oder zum Tod durch Suizid oder Fremdeinwirkung führen.

3. Die Tathandlung muss von außen betrachtet impulsiv und raptusartig beginnen. Sowohl sui- als auch homizidale Absichten müssen erkennbar sein.

4. Die Tat darf nicht politisch, ethnisch, religiös oder kriminell motiviert sein.“

(Adler, 2000, S. 50-51; zitiert bei: Sell, 2021, S. 9)

Die Problematik dieser Definition ergibt sich aus den Kriterien Nr. 3 und Nr. 4: In der Regel wurden die in Deutschland verübten Amokläufe langfristig und sorgfältig geplant. Es waren keineswegs „impulsive“ und „raptusartige“ Aktionen des Augenblicks. Sie wurden in kaltem Hass und zumeist mit schrecklicher, überlegener Ruhe durchgeführt. Dies gilt insbesondere für die sog. School Shootings. Gerade in dieser - auch für Außenstehende - „coolen“ Angriffs-Aktion (oftmals nach dem Muster der „Ego-Shooter“ vorgeübt) lag die fatale Effektivität dieser tödlichen Gewalt. Weiterhin: Die suizidale Absicht lag bei den nachstehend erörterten Amokläufern nicht in jedem Fall vor (Flucht / Fluchtversuch vom Tatort, sich selbst der Polizei stellender Täter).

Das 4. Kriterium schließt fast alle Motive aus, die bei bekannten Amokläufen eine primäre Rolle spielten: Zu nennen sind etwa der Fall Heinz Schmidt (Jesuitenhasser / Kulturkampf fortgesetzt), der Fall Walter Seifert (Ämterfrust und Rache am politischen System), der Fall Karel Charva (Integrations-Debakel und Rache an der aufnehmenden Gesellschaft), der Fall Adam Labus (ebenfalls gescheiterte Integration und Rache am „System“).

Sinnvollerweise in die Kategorie der Amokläufe einzubeziehen sind die Attentate der islamistischen Fundamentalisten wie Anis Amri oder Rafik Mohamed Yousef (Dschihad / religiöser Fanatismus). Wir werden später sehen, dass es nicht vorteilhaft ist, diese Gewalttäter herauszurechnen, um sie dann einer eigenen Gruppe der „Terroristen“ zuzuordnen.

Festzuhalten bleibt mit Blick auf die Definition Lothar Adlers, dass in praxi damit fast alle Amokläufer*innen aus seinem Erklärungsraster herausfallen. Denn selbst die jungen Attentäter der School Shootings richteten ihren Vernichtungswillen gegen die gesellschaftliche Institution der Schule, wollten ein Zeichen setzen gegen Ungerechtigkeiten wie Schüler*innen-Mobbing und ungesetzlichem Schulverweis – und waren derart durchaus politisch motiviert. Gemäß der Definition Adlers wäre sogar der malaiische Mann kein Amokläufer, der als insolventer Schuldner mit seinen Mordanschlägen Zufallsopfer trifft, gegen die ungerechte Behandlung durch Höhergestellte und erbarmungslose Gläubiger protestieren will, und schließlich auf diese Art einen „ehrenvollen“ Tod der Sklaverei vorzieht.

Denn: Auch dieser Attentäter handelt nicht ohne politisches Motiv. Im Erklärungsraster des Lothar Adler bleibt somit nur ein „Bodensatz“ von Gewalttäter*innen, die man wohl als rational motivationslos und psychisch vollkommen gestört bezeichnen dürfte. Hauptfehler dieser Definition ist die totale Ausblendung gesellschaftlich bedingter Motive.

Zwei weitere Erklärungen des Begriffs „Amok“ benennt der renommierte Psychiater Volker Faust. Zum einen heißt es dort mit Bezug auf das „klassische" Vorbild der malaiisch-indonesischen Tradition:

„Nicht materiell-kriminell motivierte, tateinheitliche, mindestens in selbstmörderischer Absicht durchgeführte, auf den unfreiwilligen Tod mehrerer Menschen zielende plötzliche Angriffe".

(URL Faust, „Amok“, S. 5)

Diese auf das generalisiert Offensichtliche verkürzte Definition deckt wichtige Aspekte ab, ist aber nicht hinreichend: Denn nicht jeder Amokläufer / jede Amokläuferin sucht zum Schluss der Mordanschläge den eigenen Tod. Die Festschreibung „mindestens in selbstmörderischer Absicht“ entspricht einfach nicht der Realität. So zeigen bereits die wenigen Beispiele der folgenden Kurzbiografien, dass Täter sich nach den Amok-Morden auch gezielt den Polizeikräften stellen oder mit großer Umsicht und raffinierter Nachtatplanung die Flucht ergreifen. Zum anderen verweisen Faust und weitere Quellen auf die zentral bedeutsame Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO). Zusammengefasst wird bei Faust dazu ausgeführt:

„Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht man unter Amok eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und / oder Erschöpfung.

Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, d. h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid (Selbsttötung).

Die meisten Amok-Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf. In einigen Fällen finden sich ausgeprägte Angstzustände oder feindselige Reaktionen.

Über die psychologischen Hintergründe besteht keine Einigkeit. Es fällt aber auf, dass Amok-Zustände offensichtlich dort öfter auftreten, wo extreme Aggressionen oder selbstzerstörerische Angriffe (z. B. im Rahmen von Kriegshandlungen) eine traditionell hohe Wertschätzung erfahren.

Amok-artige Zustände, die wahrscheinlich ähnliche Ursachen haben, nennt man in Neu Guinea Ahade idzi be, in einigen südafrikanischen Gegenden Benzi mazurazura, in Skandinavien einen Berserker-Gang, in Polynesien Cafard, in den Anden, z. B. Bolivien, Kolumbien, Ecuador und in Peru Colerina, in Korea Hwa-byung und bei den Ureinwohnern des Südwestens der USA Ii'aa.“

(URL Faust, „Amok“, S. 5, zitiert nach: WHO Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen, 2001, siehe auch: URL Deutsches Forum Kriminalprävention, 2009, S. 2; weiterhin: URL Stangl, 2023, Stichwort: „Amok“)

Deutlich erkennbar ist in dieser Definition die Ausrichtung auf eine Erklärung des Amok als kulturgebundenes Phänomen. Und ebenso klar wird konstatiert, dass die „psychologischen Hintergründe" bisher fachwissenschaftlich nicht einheitlich geklärt werden konnten. Eine Begriffsdeutung derselben Richtung findet sich sowohl im amerikanischen „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen)” als auch in der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD; Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme):

In der 4. Version des DSM (DSM-IV) und in der 10. Version der ICD (ICD-10) wird Amok ebenfalls als kulturgebundenes Syndrom aufgeführt. (URL Seite „Amok“) Während dieses übereinstimmende Deutungsmuster im Fall der ICD nicht erstaunlich ist, weil die ICD-Klassifikationsliste eben auch zur WHO gehört, erhält die Aussage des DSM einen eigenen Wert, da hier die fachlich weitgehend unabhängige Meinung der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (APA) bekundet wird. Dort heißt es, Amok sei …:

„Eine dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet. Eine solche Episode scheint durch eine wahrgenommene Herabsetzung oder Beleidigung ausgelöst zu werden und nur bei Männern vorzukommen. Die Episode geht oft einher mit Verfolgungsideen, Automatismen, Amnesie und Erschöpfung sowie einer anschließenden Rückkehr zum prämorbiden Status.

In einigen Fällen tritt Amok während einer kurzen psychotischen Episode auf oder kann den Beginn oder die Verschlechterung eines chronisch verlaufenden psychotischen Prozesses kennzeichnen"

(Saß u. a., 1996, S. 897; ebenso: Sell, 2021, S. 9)

Wie sich aus dem Zitat erschließt, und wie auch Sell (2021, S.10) ausführt, bekommt das Phänomen „Amok“ hier keinen eigenen DSM-Schlüssel: Die Zurechnung geschah in den Kategorien „Dissoziative Störungen“ (300.13 Dissoziative Fugue) und „Störungen der Impulskontrolle“ (312.34 Intermittierende Explosible Störung). Amok wird dabei gewertet als ein Sonderfall, als Episode, die sich oftmals durch betont dissoziative Merkmale auszeichnet. (Sell, a. a. O.)

Die Klassifikation nach der ICD-10-Einstufung der WHO rät zur Aufnahme des Amok-Phänomens in das vorhandene System, und dort in die Kategorie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (ICD-10 / Kodierung F68.8). Nach Sell geschah diese Empfehlung, da bisher noch keine zuverlässig-soliden Studien mit epidemiologischer Ausrichtung vorliegen: Weder unter der Kodierung F44 (Dissoziative Störung), noch unter der Kodierung F63 (Störungen der Impulskontrolle). (Sell, 2021, S. 10) Der Wortlaut der Definition entspricht natürlich weitgehend den bereits bei Faust zitierten Sätzen. Der Vollständigkeit halber sei er hier noch einmal wörtlich benannt:

„Eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie oder Erschöpfung. Viele Episoden gipfeln im Suizid. Die meisten Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf; einigen geht ein Zeitraum mit intensiver Angst oder Feindseligkeit voraus.

Einige Studien lassen daran denken, dass diese Fälle im Zusammenhang stehen mit einer traditionell hohen Wertschätzung extremer Aggression und suizidaler Attacken im Rahmen von Kriegshandlungen.“

(Sell, 2021, S. 10; zitiert aus: Dilling, Mombour und Schmidt, 2016, S. 223)

Als Fazit lässt sich festhalten, dass sowohl das DSM-IV-TR als auch die ICD-10 der WHO von einer psychischen Störung ausgeht, die sich u. a. kulturspezifisch erklären lässt. Es bestehen jedoch wesentliche Unterschiede in den beiden Definitionen: So unterscheidet sich die Klassifikation des Amok im ICD-10 deutlich von der Einstufung im DSM-IV / DSM-IV-TR. Bemerkenswert, weil von grundsätzlicher Bedeutung: In der aktuellen Auflage des DSM (DSM-5) erfasst man das Amok-Phänomen nicht mehr als eigenständige psychische Störung. (Sell, 2021, S. 10; Falkai u. Wittchen, 2015) Dasselbe gilt für das „Glossar kulturell gebundener Leidenskonzepte“, in dem das Phänomen „Amok“ jetzt gänzlich fehlt. (Siehe dazu: Falkai u. Wittchen, 2015, Glossar … S. 1139-1146) Sell geht nachvollziehbar davon aus, dass nun auch in der 11. Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11 der WHO) entsprechende Korrekturen durchgeführt werden. (Sell, a. a. O.) Generell: Im Mainstream der aktuellen Fachliteratur spricht man dem Phänomen „Amok" das Etikett der psychischen Störung ab. Es wird nur noch als „Syndrom“, als Krankheitszeichen anderer psychischer Störungen gewertet. (Siehe dazu z. B.: Scheithauer u. Bondü, 2011, S. 51; weiterhin: Adler, 2015, S. 24)

Wie in den Quellen betont, zeigen sich offensichtlich widerstreitende Konzepte der Erklärung von „Amok“. So finden sich mittlerweile Forschungsarbeiten, die auf deutliche Parallelen bei Amokläufer*innen im südostasiatischen Raum und in den USA hinweisen. (Sell, a. a. O.; siehe dazu auch: Hempel, Levine, Meloy, Westermeyer, 2000, S. 582 – 588). Diese Studien blieben nicht ohne Kritik.

Hinterfragt wurde zum Beispiel die Vergleichbarkeit der analysierten Taten mit dem ursprünglichen Phänomen „Amok“: Beanstandung fand eine unzulässige Ausweitung des Begriffes, der nun mit dem ehemals malaiischen Bedeutungsgehalt nicht mehr vereinbar war. (Sell, a. a. O.; siehe dazu auch: Hatta, 1996, S. 505-510)

Dieser problematisch-inflationäre Gebrauch des Begriffes wurde bereits angesprochen. Er findet sich für eine Vielzahl von Geschehnissen, die nicht in den Kulturregionen Malaysia und Indonesien erfolgten: Diese hatten mit dem ursprünglichen Amok nur eine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit. (Sell, a. a. O.; mit Verweis auf: Braun, 2018, sowie Peter, 2014) Grundsätzlich erscheint die Deutung des Amok als kulturspezifisches Syndrom sinnvoll, bleibt aber nicht ohne Widerspruch. Das Argument wird hier gewendet: Weltweit – so heißt es aus den Reihen der fachlichen „Opposition" – gäbe es ähnliche Phänomene („Trigger", Tatabläufe, Opferkonstellationen und damit die Berechtigung, auch hier von Amok zu sprechen. (Zu diesem Diskurs vgl. Scheithauer u. Bondü, 2011, S. 20; vgl. auch: Adler, 2015, S. 24 f.)

Eine weitere Definition des Amok legt der Kriminalpsychologe und Leiter des Darmstädter Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement (IPBm), Jens Hoffmann, vor. Seine ausdrückliche Einbindung innerfamiliärer Gewalttaten, die jedoch im öffentlichen Raum erfolgen, gestattet ebenfalls die Aufnahme von Mehrfachmorden, wie sie von Adrian S. in Rot am See verübt wurden (24. 01. 2020). Hoffmann führt aus:

„Wohlwissend um die Schwierigkeit einer eindeutigen Abgrenzung von verwandten Formen der Gewalt lautet mein Vorschlag für eine Arbeitsdefinition von Amok wie folgt:

,Die intentionale und nach Außen hin überraschende Tötung und / oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden’ (Hoffmann 2002a). Durch das Merkmal des öffentlichen Raumes wird zumindest ein Großteil von rein familieninternen Taten ausgeschlossen. Immer wieder zu beobachtende Verläufe, in denen zunächst Familienmitglieder und dann noch weitere Personen attackiert werden, bleiben jedoch berücksichtigt. Die Zielpersonen besitzen meiner Ansicht nach für den Täter fast immer auch symbolische Qualität.

Selbst wenn hier zuvor ein Konflikt festzustellen ist, wie zum Beispiel eine Kündigung bei manchen Amokläufen an früheren Arbeitsplätzen, steht doch die Reaktion in ihrer extremen Gewalttätigkeit in keinerlei nachvollziehbarem Verhältnis zur Aktion.

Außerdem findet oftmals eine Erweiterung des Zieles der Wut statt, so dass etwa nicht mehr nur der Vorgesetzte, mit dem der Täter Ärger hatte, sondern mehrere Mitarbeiter in Führungspositionen angegriffen werden.“

(Hoffmann, 2003, S. 399 f.)

In der von Hoffmann vorgestellten Definition zeigen sich – abgesehen von der Möglichkeit auch innerfamiliäre Gewalttaten unter dem Begriff Amoklauf zu subsumieren – weitere wichtige Unterscheidungsmerkmale im Vergleich mit „konkurrierenden“ Deutungen. So wird hier das intentionale, oftmals durchgeplante Handeln der Täter*innen betont. Dies steht zum Beispiel in krassem Widerspruch zu der Meinung Adlers, ein wahrer Amoklauf sei „impulsiv" und „raptusartig". Amok ist bei Hoffmann kein plötzlicher Gefühlsausbruch, kein Tobsuchtsanfall, keine Attacke des Jähzorns. Hoffmann trägt damit insbesondere den langfristig eingeübten School Shootings Rechnung, die am Ego-Shooter und im Schießsportverein erworbene Routinen auch für Außenstehende aufzeigen.

Der Hinweis auf die fehlende Abkühlungsperiode ist zentral bedeutsam, wenn man das Phänomen Amok vom Serienmord unterscheiden möchte. Wie fraglich und willkürlich allerdings dieses Abgrenzungsmerkmal ist, wird später noch zu erörtern sein. Ob sich - wie in einigen Quellen angenommen – im Nachtatverhalten eine Amnesie bzw. ein epileptischer Dämmerzustand der Täter*innen in die Hoffmann'schen Definition hineininterpretieren lässt, ist anzuzweifeln (siehe dazu etwa: URL Stangl, Stichwort: „Amok“; vgl. auch: Peters, 2007, S. 28). Für alle Fälle vom Amok-Taten ließe sich diese Annahme eindeutig nicht halten.

Gewissermaßen als Kontrastprogramm dazu bietet sich in der Arbeit von Weilbach eine abweichende Definition. Weilbach sieht den Amoklauf …:

„[…] als planmäßige homizidal-suizidale Aktion eines einzelnen Akteurs auf mehrere Menschen im öffentlichen Raum. Der bewaffnete und mit Tötungsintention durchgeführte plötzliche Angriff richtet sich gegen gezielt wie zufällig ausgewählte extrafamiliäre Opfer, die angesichts der Aktionsmacht des zum Suizid bereiten Akteurs kaum Möglichkeiten zur Gegenwehr haben." (Weilbach, 2008)

Hier wird mit dem Wort „extrafamiliär“ erneut ein Ausschluss von Gewalttaten bestimmter Art versucht: Aus der Klassifizierung als Amoklauf würden nach dieser Definition alle Mord-Anschläge herausfallen, die Familienmitglieder des Täters / der Täterin betreffen. So wäre danach zum Beispiel der bereits erwähnte Anschlag des Adrian S. in Rot am See nicht als Amoklauf einzuordnen, weil er ausschließlich Familienangehörige betraf. Aber auf Grund welcher Logik sollte diese Bluttat ausgeschlossen werden? Wenn hier allein versucht wird, auf zufällige Opfer einzugrenzen, dann verfehlt die Definition ihren Zweck: In Rot am See wurden neben den eigentlichen Zielpersonen auch entfernte Verwandte zu Opfern. Dies geschah zufällig: Sie waren im Weg, der Täter befand sich schießwütig im Rausch der Tötung. Folgt man dieser Interpretation, so ist natürlich auch die ursprüngliche von van Loon dargelegte Erklärung des malaiischen Amoks Makulatur. Denn dort hieß es doch, dass der Amokläufer …:

„[…] einen jeden ersticht oder niederschlägt oder erschießt, der in seinen Weg kommt, auch wenn es sein Bruder, Vater oder seine Mutter ist. Bis der ‚Amokläufer‘ selber erlegt oder gefangen wird.“

(Sell, 2021, S. 8 f.; zitiert aus: van Loon, 1931, S. 23)

Das zweite Kriterium, welches sich ebenfalls infrage stellen lässt, stellt ab auf die Suizid-Bereitschaft des Akteurs bzw. der Akteurin. Wie bereits ausgeführt, ist längst nicht jeder dieser Täter / jede dieser Täterinnen bereit und willens, Suizid zu begehen. Vom Versuch. sich den Fluchtweg freizuschießen bis hin zur geplanten Aufgabe nach der Tat und zum Anruf bei der Polizei ist jede Alternative bereits genutzt worden.

In dem fachlich vielbeachteten Online-Lexikon des JuraForums findet sich ein weiterer Definitionsversuch von Bretschneider, der allerdings gängige Kriterien aus den Fachdisziplinen Psychiatrie und Psychologie erneut aufnimmt. Es heißt dort zum Stichwort „Amok“:

„Amok ist die Bezeichnung für einen aus einem Affekt oder einer Verwirrung heraus begangenen, blindwütigen Tötungsdelikt, einen impulsiven Gewaltausbruch. Er richtet sich immer gegen mehrere Menschen.“

Und dann wird näher erklärt:

„Amok läuft in mehreren Phasen ab: Einer persönlichen Krise durch Kränkung oder Verlust folgt meist eine Grübel- und Rückzugsphase. Aus dieser heraus kommt es plötzlich zu einem Ausbruch von Gewalt. Danach töten sich die Amokläufer entweder selbst oder sie können sich an nichts mehr erinnern.

Unter den von L. Adler in den Jahren 1980 bis 1989 analysierten 196 Fällen von Amok befanden sich lediglich 10 Frauen. Amokläufer sind also meistens Männer, bei denen sich unbewältigte Probleme angehäuft haben. Angst, Eifersucht, Scham oder Demütigungsind bei ihnen nicht verarbeitet, sondern so lange aufgestaut, bis die Wut über diesen Zustand für sie nicht mehr beherrschbar ist. Es bedarf dann nur des bekannten ‚Tropfens auf den heißen Stein’, der mit dem Konflikt nicht unbedingt im Zusammenhang stehen muss. Der genaue Auslöser des Wutausbruchs kann oft nicht mehr festgestellt werden, weil sich viele Amokläufer selbst töten oder beim Polizeieinsatz umkommen.“

(URL Bretschneider, 2022, Stichwort „Amok“)

Wie bereits in Kommentaren zu vorstehenden Definitionsversuchen angemerkt, trifft die Unterstellung, alle Amokläufe wären blindwütige, impulsiv erfolgende Tötungsdelikte schlicht nicht zu. Selbst in der ursprünglichen kulturhistorischen Bedeutung des Amok zeigen sich im malaiischen Raum geplante, überlegte Vorgehensweisen – bereits erwähntes Beispiel: Wenn ein malaiischer Schuldner sich entschließt, einen in seiner Gesellschaft als ehrenvoll anerkannten Tod zu suchen. Dieser Mann ist sicher verzweifelt, aber er muss weder psychisch gestört sein, noch in einem unkontrollierten Wutausbruch handeln. Zudem ist es durchaus möglich, dass Amokläufe keine Todesopfer fordern, sondern lediglich Verletzte verursachen. In diesen Fällen darf somit nicht von Tötungsdelikten ausgegangen werden. In der näheren Erläuterung zur Entstehung des Amok wird ausgeführt, die Täter würden entweder Suizid begehen oder sie hätten nach der Tat Amnesie. Auch diese Festellung gilt nicht für alle Amokläufe. Weiterhin: Natürlich ist es richtig, dass Adler einen sehr geringen Frauenanteil in seiner Stichprobe fand – aber Frauen gab es nun einmal ebenfalls darin.

Und daher darf man nicht vereinfachend nur von männlichen Amokläufern ausgehen, sondern muss von Amokläufer*innen sprechen. Im Fazit finden sich in dieser Definition psychiatrische / psychologische Klischees, die einer Revision bedürfen, bevor sie auf den falschen wissenschaftlichen Weg führen.

Die aufgezeigte Definition aus dem JuraForum hat aber auch ihre Meriten: So verweist sie als einer der wenigen Deutungsversuche von Amok ausdrücklich auf den Komplex der gesellschaftlichen bzw. sozialen Determinanten, die als Prämissen des Amoklaufes fungieren:

„Die Ursachen für Amok müssen nicht in der Person des Amokläufers allein liegen, sondern können auch in gesellschaftlichen Bedingungen verankert sein. Allerdings sind schlechte soziale Bedingungen allein keine Ursache für Amok. Sie können jedoch bestimmte Menschen überfordern. Kommen dann noch psychische Erkrankungen hinzu, so entsteht ein Bedingungsgefüge, aus dem mehr Frustrationen und Aggressionen erwachsen. Außerdem gibt es gesellschaftliche Bedingungen, die einen Amoklauf begünstigen und ihn technisch’ ermöglichen.

So lange in einer Gesellschaft die Verfügbarkeit von Waffen zum Alltag gehört und es keine ausreichenden Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung gibt, ist bei einzelnen Problembetroffenen damit zu rechnen, dass sie durch Amok versuchen, ihren Konflikten und Problemen auszuweichen.“

(URL Bretschneider, 2022, Stichwort „Amok“)

Diese Ausführungen sind sicher zutreffend: Amokläufe geschehen nicht im „luftleeren Raum“. Sie sind das fatale Resultat gesellschaftlicher Fehlleistungen und Zwänge – etwa im schulischen Bildungssystem. Niemand wird mit dem „Mörder*innen-Gen“ geboren. Das sollte mit Blick auf den heutigen Stand der Wissenschaften offensichtlich sein. Abschließend sei eine Definition von Christoph Paulus angesprochen, die speziell auf auf sog. School-Shootings abstellt. Paulus schreibt dazu (Paulus, 2016, S. 10 f.):

„Häufig werden in der Literatur Amokläufe nur auf schoolshootings reduziert. Dies hat natürlich den Vorteil, dass die Tätergruppe und die Taten selbst sich besser analysieren lassen. So lassen sich die gemeinsamen Faktoren von schoolshootings recht übersichtlich wie folgt beschreiben (vgl. Brumme, 2011, S. 15):

• Der Täter ist / war Schüler / Student an der Bildungseinrichtung.

• Die Bildungseinrichtung wurde bewusst für die Tat ausgewählt und der Tötungsversuch wird mit direktem, zielgerichtetem Bezug zur Institution begangen.

• Es kommt zu einer multiplen (gezielt, aber auch zufälligen), auf einzelne Menschen aufgrund ihrer Funktion bezogenen Opferwahl.

Nicht explizit genannt, aber im Weiteren bei Brumme impliziert’ wird dabei als Ausschlusskriterium u. a. das Alter des Täters. Dies wird ausdrücklich auf Jugendliche begrenzt. In ähnlicher Weise verwenden zum Beispiel Robertz & Wickenhäuser (2011) oder Robertz (2004) diese Terminologie.“

Wie aus dem Zitat hervorgeht, beschreibt Paulus hier die Kriterienauswahl und Vorgehensweise ausgewählter Forschungsteams, die sich bemühen, das Phänomen der School-Shootings von anderen Formen des Amok abzugrenzen. Auch, wenn Paulus in seiner Bewertung meint, dass dagegen nichts einzuwenden sei (Paulus, 2016, S. 11), so zeigt sich auch hier nur eine willkürliche, logisch angreifbare Auswahl, die der Realität recht bedingt entspricht. Selbst in der hier vorgestellten Stichprobe der zwölf zufällig ausgewählten Amokläufe finden sich allein vier Fälle von Schulattentaten, die eindeutig auf das Konto erwachsener Täter zu zählen sind:

a)

Heinz Schmidt, 29 Jahre alt, Attentat auf die katholische St. Marien-Grundschule in der Stadt Bremen am 04. 09. 1913,

b)

Walter Seifert, 43 Jahre alt, Flammenwerfer-Attentat auf die katholische Volksschule Volkhofen (Köln) am 11.06.1964,

c)

Karel Charva, 35 Jahre alt, Attentat auf die Freiherr-von-Stein-Gesamtschule Eppenheim (nahe Hofheim / Taunus) am 03. 06. 83,

d)

Adam Labus, 23 Jahre alt, Attentat auf die Wirtschaftsschule in Freising am 19. 02. 2002.

Diese Übersicht zeigt vom zornigen, im „Ämter-Kampf“ frustrierten Frührentner bis zum privat und beruflich gescheiterten Immigranten bereits die mögliche Vielfalt der Altersgruppen und Motive. Und von diesen vier erwachsenen Schul-Attentätern stark unterschiedlichen Alters war nur einer, Adam Labus, ehemaliger Schüler der im Amok angegriffenen Bildungseinrichtung. Fazit: Es mag kurzfristig analytisch opportun sein (um nicht zu sagen: bequem), die School-Shootings Jugendlicher aus der Amok-Definition herauszunehmen. Langfristig verbaut man sich den Weg zu solider Erkenntnis über das Gesamt der Amok-Phänomene. Dass es mit Blick auf diese Form begrenzter Amok-Forschung dann auch im Bereich der Fach-Lexika zu Fehlinformationen kommt, zeigt sich etwa bei Stangl. Dort heißt es mit Bezug auf Hoffmann und Wondrak:

„In Abgrenzung von anderweitigen schweren Gewalttaten an Schulen handelt es sich bei School shootings um Tötungen oder Tötungsversuche von Jugendlichen an Schulen, die mit einem direkten und zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden. Konkreter formuliert muss bei einer Tat entweder mehreren Opfern an einer Schule gleichzeitig nach dem Leben getrachtet werden, oder es muss versucht werden, einen einzelnen Menschen zu töten, der erkennbar aufgrund seiner Funktion innerhalb der Schule ausgewählt worden ist (vgl. Hoffmann 2007, S. 12).“

(URL Stangl, Stichwort: „Amok“; mit Verweis auf Hoffmann u. Wondrak, 2007, S. 12)

Auch hier wird auf Jugendliche eingegrenzt und zudem die direkte bzw. persönliche Bindung des Täters / der Täterin an das Zielobjekt Schule postuliert. Beides liegt realiter nicht in allen Fällen der Schul-Anschläge vor.

Im Fazit zeigt sich auch für wissenschaftlich fundierte Definitionsversuche ein „Potpourri“ verschiedenster, sich häufig widersprechender und oftmals die Gewalt-Realität verkürzt darstellender Erklärungen. Dies ist natürlich bekannt. So führt Jens Hoffmann zum Beispiel zu diesem Dilemma aus (Hoffmann, 2003, S. 397):

„Amok findet häufig als ein recht unscharfer Begriff Verwendung, wobei in den meisten Beschreibungen die Tötung mehrerer Personen innerhalb eines Tatereignisses als zentraler Punkt genannt ist. Es ist allerdings bei weitem nicht immer gegeben, dass in Forschungsarbeiten überhaupt eine explizite Definition getroffen wird, sondern dass stattdessen stillschweigend davon ausgegangen wird, dass der Begriff selbsterklärend ist. Das hat dazu geführt, dass so unterschiedliche Formen der Gewalt, wie beispielsweise die Tötung der eigenen Familie mit anschließendem Selbstmord oder die wahllose Ermordung unbekannter Personen an einem öffentlichen Platz, in einer Kategorie zusammengefasst werden. Ob eine derartige Spannbreite unter psychologischen Gesichtspunkten wirklich einen einzigen Untersuchungsgegenstand umreißt, ist unklar, die Vermutung liegt nahe, dass definitorisch somit ein Sammelbecken für möglicherweise zwar verwandte, nicht aber gleichartige Phänomene geschaffen wird.“

Angesprochen werden hier zwei grundsätzliche Probleme der Amok-Definitionen: Zum einen darf keine ernst zu nehmende, fundierte Studie die Festlegung der Begriffsinhalte als angeblich „selbsterklärend" übergehen, weil die Präzisierung und Strukturierung des Forschungsgegenstandes integraler Bestandteil wissenschaftlich-logischer Vorgehensweise sein muss, um überhaupt nachprüfbare Ergebnisse liefern zu können. Oder um mit Helmut Kromrey zu sprechen (Kromrey, 1986, S. 70):

„Intersubjektive Überprüfbarkeit des Forschungsprozesses setzt präzise Definitionen voraus. Diese haben üblicherweise die Form von Nominaldefinitionen: ‚Wir verstehen unter x einen Gegenstand mit den Eigenschaften E1 bis En’.“

Und weiter sollte man beherzigen:

„Je besser, je verläßlicher die Theorie, nach der wir den Gegenstandsbereich strukturieren, desto präziser werden die Beschreibungen; und umgekehrt: je präziser die Beschreibungen, desto besser werden wir unsere Theorie über den Gegenstandsbereich formulieren können. Deshalb sind wir bei jeder Begriffsbildung nicht nur auf eine vorab vorhandene Theorie angewiesen, sondern formulieren zusätzlich die Forderung: auch die für deskriptive Zwecke verwendeten Begriffe sollen so definiert werden, daß sie theoretisch verwertbar sind; nur dann sind die Ergebnisse der Beobachtungen auf die ‚Vorab-Theorie’ beziehbar,“ (Kromrey, 1986, S. 62)

Dies ist eine Binsenweisheit der empirischen Sozialforschung, die jedes wissenschaftlich geschulte Hochschulteam kennen und beachten müsste. Von scheinbar selbsterklärenden