Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II - Volker Mariak - E-Book

Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II E-Book

Volker Mariak

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Beschreibung

Es besteht die Binsenwahrheit, dass die zivilisatorische Tünche des modernen Menschen mit ihrem Credo der Friedfertigkeit, der Gleichberechtigung aller und der Fairness im Zusammenleben auch in vermeintlich ethisch hochentwickelten Demokratien oft genug nur hauchdünn ist. Wirklich krass zeigt sich diese Tatsache in den amtlich aufgedeckten Straftaten gegen eigene Familienmitglieder (Hellfeld). Aber: Wie viele Kindesmisshandlungen geschehen tatsächlich jährlich bei uns im Land? Wie oft findet häusliche Gewalt in den Familien / Beziehungen statt? Und besteht die Chance, häusliche Gewalt gegen Menschen zu verhindern oder zumindest einzudämmen, indem man Gewaltakte gegen Tiere in diesen Haushalten als Warnsignal ("red flag") begreift und präventiv handelt? Haben die Behörden der Exekutive, hat die deutsche Kriminologie, überhaupt die Möglichkeit, das immense Dunkelfeld häuslicher Gewalt effektiv zu erfassen? Dies sind Kernfragen, die in der 2. Auflage dieser Arbeit erneut diskutiert werden, um dem interessierten Kreis der Leser*innen einen wenigstens rudimentären Einblick in zwei brisante gesellschaftliche Probleme bieten zu können: Die physische bzw. psychische Gewaltausübung und, damit eng verbunden, Gewaltdelikte an Tieren. Letzteres geschieht speziell im Rahmen häuslicher Konflikte. Die sozialen Mechanismen dieser Machtausübung sind ebenfalls Gegenstand der Diskussion und werden anhand von Fallbeispielen aufgezeigt. Es handelt sich dabei um Kurzbiografien bekannter deutscher Gewalttäter*innen, die bereits in der voraufgegangenen Studie zur "Gewaltspirale" diskutiert oder hier neu hinzugefügt wurden (Beispiele: Friedrich Haarmann, Peter Kürten, Christa Lehmann, Jürgen Bartsch, Frank Gust).

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Volker Mariak:

Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II

Kriminologische Fallbeispiele verdeckter Gewalt in dysfunktionalen Familien / Gewalt gegen Tiere als Indikator häuslicher Konflikte

2., überarbeitete Auflage

© 2022 Volker Mariak

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg Umschlaggestaltung, Illustration: tredition GmbH, Hamburg

ISBN 978-3-347-11436-4 (Paperback)

ISBN 978-3-347-11437-1 (Hardcover)

ISBN 978-3-347-11438-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Volker Mariak

Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II

Kriminologische Fallbeispiele verdeckter Gewalt in dysfunktionalen Familien / Gewalt gegen Tiere als Indikator häuslicher Konflikte

2., überarbeitete Auflage

„Aus forensisch-psychiatrischer Sicht ergeben sich deutliche Hinweise, dass Tierquälereien als frühes Warnsignal für eine spätere deviante Entwicklung gelten müssen, die - wie Einzelfallanalysen gezeigt haben – bis hin zur späteren Mehrfachtötung von Menschen als Umsetzung einer ‚Maximalfantasie’ gehen kann.“

(Heubrock, Dietmar, und Parildayan-Metz, Dorothee: „‚Wer tut denn nur so etwas?’ Zur Kriminalpsychologie des norddeutschen ‚Pferderippers’“, in: Kriminalistik, Heft 1, 2007, Stichwort: Kriminalpsychologie, S. 13)

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„We must, as prosecutors, recognize that it is unacceptable to excuse and ignore acts of cruelty toward animals. Anyone who can commit such cruelty is in desperate need of incarceration, counseling or other immediate attention. We cannot afford to accept such violence, nor will the public let us.”

(Ritter, A. W., Jr.: „The cycle of violence often begins with violence toward animals.“, in: The Prosecutor, Nr. 30, S. 31 ff., 1996; zitiert nach: Ascione 1998, a. a. O., S. 299)

***

„Determining the forms and prevalence of such cruelty is important since abuse of pets may be a method batterers use to control their partners, may be related to batterers’ lethality, and may result in children in such families being exposed to multiple forms of violence, a significant risk for mental health problems.”

(Ascione, F. R.: „Battered Women’s Reports of Their Partner’s and Their Children’s Cruelty to Animals”, in: Lockwood und Ascione [Hrsg.]: „Cruelty to Animals and Interpersonal Violence. Readings in Research and Application”, Purdue University Press, Indiana, S. 290,1998. Bereits erschienen 1998 in: Journal of Emotional Abuse, Vol. 1, S. 119 ff.)

Inhalt

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

1. Vorwort – zwei brisante gesellschaftliche Themen und die Probleme der Gewaltdefinition und der Ethik

Teil 1 Lebenskatastrophen

2. Deutsche Fallbeispiele: Häusliche Gewalt und der Indikator „Tierquälerei / Tiertötung“

2.0 Einführung in die Fallbeispiele

2.1 Carl Friedrich Großmann

2.1.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.1.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.2 Friedrich Haarmann

2.2.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.2.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.3 Peter Kürten

2.3.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.3.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.4 Christa Lehmann

2.4.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.4.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.5 Rudolf Pleil

2.5.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.5.2 Warnsignal: Tierquälerei und Tiertötung

2.6 Joachim Kroll

2.6.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.7 Manfred Wittmann

2.7.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.7.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.8 Jürgen Bartsch

2.8.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.8.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.9 Ronny Rieken

2.9.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.9.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

2.10 Frank Gust

2.10.1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2.10.2 Warnsignal: Tierquälerei / Tiertötung

Teil 2 Die Etikettierung der Persönlichkeit Straffälliger und das Dunkelfeldproblem

3. Ein Käfig voller Psychopath*innen ?

3.1 Vom Leichtsinn falscher Etikettierung

3.2 Der kleinste gemeinsame Nenner

3.3 Repräsentativitätsproblem und Skandalisierungsfalle

4. Die Dunkelfeldproblematik

4.1 Anzeigebereitschaft - Subkultur der Indolenz ?

4.2 Häusliche Gewalt – Recht, Reform und Relativität

4.3 Häusliche Gewalt – Spiel mit „trockenen" Zahlen

4.4 Im Dunkelfeld - Das Böse ist immer und überall…

4.4.1 Häusliche Gewalt – ubiquitär oder nicht ?

4.4.2 Gewalt gegen Tiere – ubiquitär oder nicht ?

4.5 „Die im Dunkeln sieht man nicht“

4.5.1 Zum ersten Teil der Arbeit (Kurzbiografien)

4.5.2 Zumzweiten Teilder Arbeit (primär Dunkelfeldproblem)

4.5.3 Schlussfolgerungen aus Überblick und Diskussion

5. Literaturverzeichnis

6. Literaturverzeichnis, Fachtermini in Tabelle 5 - Quellenhinweise

7. Tabellenverzeichnis

8. Verzeichnis der Internetverbindungen (URL)

Über den Autor:

Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld II

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

2. Deutsche Fallbeispiele: Häusliche Gewalt und der Indikator „Tierquälerei / Tiertötung“

4. Die Dunkelfeldproblematik

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1. Vorwort – zwei brisante gesellschaftliche Themen und die Probleme der Gewaltdefinition und der Ethik

Ach nein - noch ein Fachbuch über häusliche Gewalt? Muss das sein? Besteht nicht mittlerweile auch in Deutschland eine wahre Flut wissenschaftlicher Texte zu diesem Thema (Täter*innen- u. Opferbefragungen, offizielle Kriminalstatistiken, fachtheoretische Erklärungsansätze der einzelnen Disziplinen)? Ist dieses Sonderforschungsgebiet nicht allmählich „abgegrast“ und ausgeschöpft?

Für die Leser*innen (kaum überraschend?) lautet die klare Antwort hier „Jein“. So kommt es stets darauf an, mit welcher wissenschaftlichen Intention und Blickrichtung die Muster familiärer Gewalt untersucht werden. Wie so oft besteht auch hier kein Königsweg, der alle Tatvarianten, sozialen Kontexte und Präventionsziele mit gleich guter Erklärungskraft ethisch, pädagogisch, soziologisch, psychologisch und (straf-)rechtlich abdeckt.

a)

So führen Lamnek u. a. in ihrer umfassenden, informativen Studie (der hier weitgehend gefolgt wird) zum Beispiel mit Blick auf den früheren Tabubereich „Gewalt gegen Kinder“ aus:

„Nicht nur in quantitativer Hinsicht, was die Anzahl an Publikationen zu diesem Thema betrifft, sondern auch qualitativ, was die theoretische Durchdringung anbelangt, ist dieser Bereich aus dem Themenkomplex ‚Gewalt in der Familie’ relativ gut erschlossen (was man in Bezug auf andere Ausrichtungen häuslicher Gewalt nicht unbedingt feststellen kann).“ (Lamnek, Luedtke, Ottermann, Vogl, 2012, S. 133)

b)

Die „anderen Ausrichtungen häuslicher Gewalt“ betreffen zum Beispiel die wissenschaftlich bestätigte Opferrolle auch von Männern. So schreibt Gemünden in seiner Arbeit zur Gewalt in Lebensgemeinschaften im Hell- und Dunkelfeld:

„In der häuslichen Sphäre stehen Frauen den Männern bezüglich (körperlicher) Gewalt in nichts nach, im Gegensatz zu ihrem außerhäuslichen Verhalten.“

(Gemünden, 2003, S. 342 und S. 351, Opladen, 2003)

Tatsächlich hat sich bisher gezeigt, dass die weitgehend verbreitete Meinung, familiäre Gewalt sei fast ausschließlich männliche Gewalt schlicht nicht auf die vorgefundene Realität zutrifft. Bei der Meinungsbildung kommen hier nach Lamnek u. a. Alltagstheorien in das Spiel, die zum einen auf Geschlechterstereotypen beruhen, also soziokulturell tradierten Bildern zu Unterschieden zwischen Mann und Frau, die etwa der Frau – genetisch oder hormonell bedingt – einen geringeren Aggressionstrieb zuschreiben und damit die größere Wahrscheinlichkeit der „Opferrolle“ (Lamnek u. a., 2012, S. 64 f.).

Zum anderen wirken auf die Meinungsbildung Geschlechtsrollenstereotypen ein, die über (sub-)kulturell vermittelte Erwartungen dem Mann und der Frau spezielle gewaltrelevante Verhaltensweisen unterstellen: Der Mann hat eher aktiv und aggressiv zu handeln, die Frau verstärkt passiv und defensiv. Man denke nur an die Alltagsweisheiten „richtige Jungen dürfen nicht weinen“ und „ein artiges Mädchen prügelt sich nicht“ (siehe dazu die ausführlichen Darlegungen bei Lamnek u. a., 2012, S. 64 f.). Dass vorgenannte Meinungsbilder sich auch auf das strafrechtliche Anzeigeverhalten der Betroffenen und der Personen ihres Umfeldes auswirken, ist eine logische Folge: Die Kriminalisierung der Gewalt geschieht geschlechtstypisch (Lamnek u. a., 2012, S. 66). Wir werden später sehen, dass diese Problematik bei der Erfassung intrafamiliärer Gewaltkriminalität ein bedeutendes Hemmnis bildet und Kriminalstatistiken stark verfälscht.

c)

Entsprechende Hürden und Forschungsdefizite finden sich ebenfalls bezüglich sozialer Phänomene wie der Gewalt unter Geschwistern. So betonen Steck und Cizek noch 2001, dass dazu nur wenige Studien verfügbar sind und zum Beispiel die psychische Gewalt unter Geschwistern bis heute praktisch unerforscht blieb (Steck und Cizek, 2001, S. 184 ff. Ebenfalls in: Lamnek u. a., 2012, S. 166). Diesen dürftigen Erkenntnisstand sehen Lamnek u. a. auch mit Blick auf die sexuelle Gewalt zwischen Geschwistern oder die Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern: Im letzteren Fall konstatiert die Forschungsgruppe, dass ein öffentlicher oder wissenschaftlicher Diskurs kaum stattfindet. Hierbei läge ein Themenbereich vor, der in der Gewaltdiskussion nur wenig Beachtung fände (Lamnek u. a., 2012, S. 166 sowie S. 169).

Es ist fast unnötig, zu sagen: Alle diese Mängel tragen dazu bei, dass ein angemessenes Bild über die Realität der Gewalt in Familien auch heute nicht erstellbar ist. Die ungenügende Erforschung „anderer Ausrichtungen häuslicher Gewalt“ verweist nicht zuletzt auf wissenschaftliche Defizite genereller Art. Ein entscheidendes Handikap der Forschungsarbeit ist, wie erwähnt, die begrenzte, besser gesagt: völlig unzureichende Datenlage. Bereits im Jahre 1995 konstatierte Schneider, es stehe …:

„… kein geeignetes Datenmaterial zur Verfügung, auf dessen Grundlage Aussagen über die Entwicklung von Gewalt in der Familie gemacht werden können.“ (Schneider, U.: „Gewalt in der Familie“. In: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 26 [1], S. 45)

Diese Aussage wird von der Forschungsgruppe um Lamnek gut fünfzehn Jahre später weiterhin bestätigt (Lamnek u. a., 2012). Ihre Bewertung der Situation in der Bundesrepublik im Gegensatz etwa zur US-amerikanischen Forschung:

„In Deutschland hingegen gab es bislang nur wenig Forschung über Ausmaß und Wahrnehmung häuslicher Gewalt in der allgemeinen Bevölkerung und damit Versuche, auch jene Personen zu erreichen, die nicht durch offizielle Kriminalstatistiken oder das Aufsuchen familien- oder frauenpolitischer Hilfseinrichtungen bzw. staatlich geförderte Begleitforschung erfasst wurden.“ (Lamnek u. a., 2012, S. 51)

Gerade im Bereich der dringend benötigten Langzeitstudien bestünden fatale Forschungs- und Datendefizite: Lamnek u. a. führen in diesem Kontext aus, dass im deutschsprachigen Raum offensichtlich keine Arbeiten zur Gewalt in den Familien durchgeführt wurden – mit wenigen Ausnahmen im Forschungsbereich Gewalt in der Erziehung (Lamnek u. a., 2012, S. 54). Als Fazit lässt sich festhalten:

Bereits diese knappe Situationsbeschreibung zum Forschungsstand „häusliche Gewalt“ zeigt, dass ein allgemein befriedigendes Erkenntnisniveau in weiter Ferne liegt. Damit ist zugleich aber auch die gesellschaftlich hochrelevante Zielsetzung der Reduzierung von Gewaltbelastung in den Familien nur stark eingeschränkt erfüllbar.

Diese Zielsetzung wäre effektiver zu erreichen durch kluge Nutzung des Indikators „Gewalt gegen Tiere“, der nachstehend kurz skizziert werden soll und neben „häuslicher Gewalt“ das zweite brisante Thema abdeckt.

Die vorliegende Arbeit bietet keine umfassende neue Datenquelle und ebenfalls kein elaboriertes fachtheoretisches Erklärungsmodell und könnte dennoch zu einem weiteren (zugegeben: recht kleinen) Schritt auf dem Wege der Gewaltreduzierung in unserer Gesellschaft beitragen. Die Arbeitsziele lassen sich durch drei Hauptelemente definieren:

Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs

Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems

Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere"

Diese drei Kernthemen sind im nachfolgenden Text in knapper Form vorzustellen.

1. 1 Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs

Zunächst einmal gilt: Die Darlegungen zum Stand der aktuellen Gewaltforschung richten sich nicht ausschließlich an den engen Kreis damit befasster Fachwissenschaftler*innen. Vielmehr wird in besonderem Maße auch der öffentliche Diskurs angesprochen. „Häusliche Gewalt“ determiniert unsere angeblich so aufgeklärt-friedfertige deutsche Gesellschaft in unterschiedlichsten negativen Facetten, die nicht nur unserem ethischen Anspruch entgegenstehen. Damit wird das Gewalt-Thema - schlicht gesagt - viel zu wichtig, um es auf den universitären Elfenbeinturm zu begrenzen.

Es ist somit ein wesentliches Arbeitsziel, interessierte Laien und Fachleute jeder Couleur aus behördlichen Praxis-Bereichen und Initiativen der Sozialhilfe oder Pädagogik kritisch über wesentliche Fragen und markante Inhalte im Erkenntnisstand zu informieren. Die Arbeit steht damit in einer Linie mit dem bereits veröffentlichten Beitrag zur „Spirale der Gewaltkriminalität“ (Mariak, 2021). Sie ist, wenn man so will, also ein „Fortsetzungsroman" auf kriminologischer Basis.

1. 2 Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems

Es besteht die Binsenwahrheit, dass die zivilisatorische Tünche des modernen Menschen mit ihrem Credo der Friedfertigkeit, der Gleichberechtigung aller und der Fairness im Zusammenleben auch in angeblich ethisch hochentwickelten Demokratien wie der Bundesrepublik oft genug nur hauchdünn ist. Wirklich krass zeigt sich diese Tatsache in den amtlich aufgedeckten Straftaten gegen eigene Familienmitglieder (Hellfeld). Oftmals sind Frauen und Kinder als physisch schwächere Kontrahenten die Opfer häuslicher Gewalt, wenngleich sich auch eine Vielzahl von Fällen nachweisen lässt, in denen Männer in die Opferrolle gelangen - jedoch der Exekutive nur geringfügig bekannt und somit weitgehend ohne Sanktion.

Neben dem Hellfeld der polizeilich erfassten häuslichen Gewaltdelikte besteht ein immenses Dunkelfeld von familiären Gewalthandlungen, die - aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Anzeige gebracht werden und in den Familien bzw. den Privathaushalten für Außenstehende „nicht existent" sind. Wahrgenommen wird allein die heile, bürgerlich-normale Fassade. Schaut man also nur auf das Zahlenwerk der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), dann sollte jedem Interessierten bewusst sein, dass damit keinesfalls die „Kriminalitätswirklichkeit“ erfasst wird, sondern einzig und allein ein winziger Ausschnitt daraus. Wie sich die Relationen von Hellfeld und Dunkelfeld zueinander positionieren, veranschaulicht das nachstehende Schema:

Quellen:

Eigene Darstellung nach Abbildungen des Dunkelfeld-Hellfeld-Zusammenhangs in der kriminologischen Forschung. Siehe dazu zum Beispiel: Balschmiter u. a., 2015; S. 15, Abb. 1: Verhältnis von absolutem und relativem Dunkelfeld; zitiert nach: Bundeskriminalamt (BKA), 2015, S. 2.

Schema der Dunkelfeld – Hellfeld - Datenrelationen

Die vorstehende Übersicht zeigt das Datengefüge zum Kriminalitätsgeschehen im Hellfeld- und Dunkelfeldbereich. Auszugehen ist von einem absoluten Dunkelfeld, für das keine umfassenden Kenntnisse bestehen (1). Aus diesem Bereich entnimmt die Dunkelfeldforschung ihre Daten und deckt somit einen Bruchteil der Kriminalitätswirklichkeit auf (2). Zudem erfassen die Ermittlungsbehörden (primär die Polizei in der PKS) einen weiteren, wesentlich geringeren Teil der Kriminalität durch vorgelegte (Straf-)anzeigen. Dieser Ausschnitt „firmiert“ in der offiziellen Statistik unter dem Begriff Hellfeld (3). In wenigen Fällen besteht eine Deckungsgleichheit der Daten aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik. Diese Vermengung wird oft als gemeinsame Schnittmenge dargestellt (4). In beiden Datenerhebungen (Forschung und Polizei) finden jedoch auch Fälle ihren Platz, die strafrechtlich nicht relevant bzw. nicht zutreffend sind. „Fehlinterpretationen“ von Ereignissen entstehen sowohl bei Befragten als auch bei privaten Anzeigenden und Polizeikräften durch ihre individuell gefärbte Sicht auf soziale Konfliktsituationen (5 und 6). Nur am Rande: Verzerrungen resultieren auch durch Kriminalität, die nicht als solche gewertet und berichtet wird – etwa, weil man sich nicht mehr genau erinnert oder Ereignisse als „alltagsnormal“ und „Familiensache" interpretiert. In diesen Fällen findet sich oftmals die Bezeichnung „doppeltes Dunkelfeld“, und natürlich sind sie ebenfalls Bestandteil des absoluten Dunkelfeldes. Letztendlich ergeben sich auch im Bereich der „Fehlinterpretationen“ Datenüberschneidungen aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik (7). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass in der einschlägigen kriminologischen Literatur eine weitere Differenzierung genannt wird, welche die sog. „Grauzone" der Kriminalität umfasst (Balschmiter u. a., 2017, S. 16):

„Darüber hinaus zählt Schneider 35 Delikte, bei denen der Täter nicht abgeurteilt (Einstellung durch die Staatsanwaltschaft) oder nicht verurteilt wird (Freispruch mangels Beweises) zum relativen Dunkelfeld. Er bezeichnet Delikte bei denen der Täter nicht ergriffen bzw. überführt wurde auch als ‚Graufeld der Kriminalität’ […] Für die Kriminalitätsmessung im Hell- und Dunkelfeld ist dies von Bedeutung, weil bei diesen Sachverhalten nicht aufgeklärt werden kann, ob es sich tatsächlich um Kriminalität (oder z.B. um eine zivilrechtliche Angelegenheit und damit um eine falsche Sachverhaltseinschätzung) handelt - oder ob auch tatsächlich angezeigte Straftat vorliegt (z. B. Vortäuschung eines Sexualdelikts).“

Im Fazit ist die Feststellung wichtig, dass weder Dunkelfeld-Daten noch Hellfeld-Statistiken das deutsche Kriminalitätsgeschehen angemessen abbilden können und auch in gegenseitiger Ergänzung dazu nicht in der Lage sind.

1. 3 Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere“

Wie bereits in der oben erwähnten Arbeit (Mariak, 2021) wird Gewalt gegen Menschen mit voraufgehender oder parallel stattfindender Gewalt gegen Tiere verknüpft. Wie sich in einer Vielzahl US-amerikanischer Studien bestätigte, gehen Tierquälerei und Tiertötung oftmals einher mit Gewalthandlungen gegen Menschen. Leider hat sich diese Erkenntnis zunächst nur in wenigen deutschen Forschungsarbeiten etabliert. Deutlich wird jedoch - speziell für die Problematik „häusliche Gewalt“: Tierquälerei und Tiertötung sind wissenschaftlich haltbare Indikatoren, die frühzeitig Auskunft geben können über Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung im familiären Binnenbereich und im näheren sozialen Umfeld. Bei den US-Forscher*innen Spencer, Kohl und McDonald heißt es dazu:

„In recent years, a strong connection has been made between animal abuse and domestic violence. Because abusers target the powerless, crimes against animals, spouses, children, and the elderly often go hand in hand.”

(Spencer, Kohl und McDonald, 2012, S. 2; Zitat: URL Hodges, C.: „Why You Should Join The War On Animal Cruelty”, in: Coalition for Animal Justice) Und weiter führt die Forschungsgruppe aus:

„The deadly violence that has occurred in schools in recent years has, in most cases, begun with cruelty to animals. […] Many of the school shooters committed acts of animal cruelty before turning their aggression on classmates, teachers, and parents.” (Spencer, Kohl u. McDonald, 2012, S. 4)

Eine weitere Stimme aus dem Kreis US-amerikanischer Fachwissenschaftler*innen sei hier gehört.

Die erfahrene Kriminologin Prof. Karel Kurst-Swanger (Oswego State University of New York) betont, mit Blick auf vielfältig vorliegende Forschungsresultate, ebenfalls den Zusammenhang von häuslicher Gewalt und Tierquälerei / Tiertötung:

„However, the evidence is clear that there is a strong connection that should not be minimized. When humans are vulnerable to abuse and neglect, animals are likely to be as well.

When animals are identified as being abused or neglected, it is feasible that humans may also be at risk of victimization. The risk within abusive families appears to be of greatest concern. Yet, little has been done to document the extent, on a largescale basis, of the conditions in which animal mistreatment exists within abusive family environments. Animal welfare officials have long known that many victimized animals live with problematic families. At the same time, child and adult protective caseworkers and domestic violence advocates have observed or heard reports from their clients that animals have been mistreated. Most states have no protocols or formal policy to address the cross-system issues inherent when both animals and humans are at risk of abuse.” (Kurst-Swanger, 2007, S. 26)

Mittlerweile wird ebenfalls in der deutschsprachigen Forschung – wenn auch recht verhalten - auf die wichtige und (primär von US-Forscher*innen) belegte Indikatorfunktion der Gewalt gegen Tiere hingewiesen. So findet sich in der das weite und diffizile Feld familiärer Gewalt umfassend abdeckenden Forschungsübersicht von Lamnek u. a. immerhin der Hinweis, dass Formen psychischer Gewalt auch Drohungen und Nötigungen beinhalten, die sich auf mögliche Gewalt gegen Tiere beziehen:

„Weitere Formen psychischer Gewalt, die weit weniger auf Verständnis stoßen als der kurzfristige Liebesentzug, sind Drohungen, Nötigungen und Einschüchterungen. Auch die Androhung, Dritte zu verletzen (Verwandte, Haustiere) wird eingesetzt, um den eigenen Willen durchzusetzen.“ (Lamnek u. a., 2012, S. 115)

Mit Blick auf den „Klassiker“ physische Gewalt stellen Lamnek u. a. klar, dass dazu neben sexueller Gewalt wie etwa der Vergewaltigung auch die Gewalt gegen „Sachen“ zu rechnen ist, die für den Geschädigten einen Wert haben. In der Aufzählung heißt es dann: „… z. B. Kleidungsstücke, Andenken, Spielzeug oder auch Haustiere…“ (Lamnek u. a., 2012, S. 9. Hervorhebung durch V. Mariak). Am Rande interessant ist hier die Benennung der Haustiere als „Sachen“, wobei Lamnek u. a. dieses Wort immerhin in Anführungszeichen setzen und derart als bedenkenswert hervorheben. Man folgt hier wohl der immer noch aktuellen deutschen Rechtslage, nach der Tiere eben als „Sachen“ definiert werden (z. B. StGB § 242 (Diebstahl: Strafrechtlicher Begriff der Sache) oder rechtlich als solche zu behandeln sind (BGB § 90a Satz 3). Damit resultiert auch im Fall der ärgsten Tierquälerei – juristisch-logisch korrekt – nur eine Beschädigung „lebender“ Sachen (siehe dazu auch: Mariak, 2021, S. 32 ff.).

Insgesamt bleibt jedoch als positiv festzuhalten: Auch in deutschsprachiger Forschung (Deutschland und Österreich) wird nunmehr anerkannt, dass angedrohte oder ausgeführte Tierquälerei und Tiertötung (psychische oder physische Gewalt) in das Spektrum der bestimmenden Faktoren „häuslicher Gewalt“ zu zählen ist. Nun rechtfertigt sich Sozialforschung nicht als Selbstzweck: Sie ist grundsätzlich dem ethischen, soziokulturellen und auch (straf-)rechtlichen Nutzen der Gesellschaft und ihrer Teilgemeinschaften verpflichtet. Das bedeutet im konkreten Fall: Zielsetzung ist die Minderung innerfamiliärer Gewalt, die – zumindest anzustrebende – körperliche und geistige Unversehrtheit der Familienmitglieder. Der Indikator „Gewalt gegen Tiere“ wäre folglich in der Präventionsarbeit und praktischen Familienhilfe vor Ort einsetzbar. Polizeiliche Behörden und die Judikative könnten mit dieser Zusatzinformation ihre Eingriffe durch das Früherkennen häuslicher Gewalt effektiver gestalten und fatale Eskalationen verhindern.

Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich ist Tierschutz keinesfalls speziesistisch zu begrenzen auf ein soziales Vehikel zur Verminderung der Gewalt im rein zwischenmenschlichen Bereich. Wir wären dann wieder bei Immanuel Kant und seiner These: eine Verrohung des Menschen durch Tierquälerei führe ebenfalls zu Unbarmherzigkeit und Brutalität gegenüber seinen Mitmenschen.

Die gängige Interpretation der Kantischen Tierethik unterstellt, dass diese Aussage nicht etwa das Leid und Unrecht anprangert, welches betroffenen Tieren widerfährt. Vielmehr handeln nach dieser Tugendlehre Kants Tierquäler*innen nur verwerflich, weil sie ihre Pflicht gegen sich selbst und ihre Mitmenschen verletzt: Indem sie Tiere quälen, minderen sie zugleich ihre sozial wertvolle Fähigkeit zur Empathie gegenüber der eigenen Spezies (URL Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften [drze], Kapitel III.: „Kernfragen der ethischen Diskussion. Der moralische Status von Tieren und Menschen.“, Abschnitt: „1. Tiere haben keinen genuinen moralischen Status: sie sind nicht um ihrer selbst willen schützenswert“. Siehe dazu auch: Mariak, 2021, S. 18 f. Zur Kantischen Tierethik siehe: Kant, Immanuel: „Die Metaphysik der Sitten“, Teil: „Episodischer Abschnitt. Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten“, § 17, Sammlung Hofenberg, 2016. S. 224 f.)

Die Problematik dieser philosophisch üblichen Interpretation wurde in früherem Text bereits erörtert. Sie soll daher hier nicht weiter vertieft werden (siehe dazu: Mariak, 2021, S. 18 ff.). Es ist jedoch zu betonen, dass aus kriminologisch-pragmatischer Sicht Tierquälerei bzw. Tiertötung oftmals das „Probierfeld“ für die Gewalt gegen Menschen darstellt. Der Zusammenhang zwischen beiderlei Gewaltformen wurde, wie erwähnt, wissenschaftlich ausführlich belegt. So gesehen ist Tierschutz ebenfalls Menschenschutz: Die Beachtung des Indikators „Gewalt gegen Tiere“ bzw. „Tierquälerei / Tiertötung“ kann in gefährdeten Familien deutliche Warnzeichen für die Wahrscheinlichkeit weiterer Übergriffe aufzeigen. Tierschutz und Gewaltprävention als Primärziel dieser speziellen, familienbezogenen Sozialforschung? Das klingt zunächst einmal logisch und ethisch erstrebenswert, birgt aber soziologischen bzw. kriminologischen Sprengstoff und bedarf weiterer Vermittlungsarbeit in Forschung und Praxis.

Eine abschließende Bemerkung. Es heißt durchaus zu Recht: „Wer Tiere quält, der quält letztlich auch Menschen" bzw., er hätte keine Skrupel, die Gewaltspirale eine Drehung weiter zu treiben. Aber ist er damit automatisch auch ein Psychopath?

In jedem der folgenden Fallbeispiele begingen Täter*innen schlimmste Gewalt gegen Mensch und Tier und wurden aus forensischer Sicht prompt als Psychopath / Psychopath*in bezeichnet. Doch diese Definition hat ihre Tücken und scheint immer dort Anwendung zu finden, wo psychiatrische Gutachter*innen mit ihrem Latein am Ende sind. Um etwas Licht in dieses wissenschaftliche „Dunkelfeld" zu bringen, sind zentrale Fragen zu stellen: Welchen Erklärungswert hat die oftmalige, gern genutzte Psychopathie-Zuschreibung mit Blick auf (häusliche) Gewalt? Wird durch dieses Konzept das Gewalthandeln verständlicher? Oder erhalten wir hier nur eine Leerformel, einen praktischen Sammelbegriff ohne Krankheitswert? Und was genau sind Psychopath*innen, wie werden sie - wissenschaftlich fundiert - von „normalen“ Mitmenschen abgegrenzt?

Natürlich lässt sich hier keine erschöpfende Antwort geben, aber es soll doch versucht werden, dieses wichtige Erklärungsmuster kritisch zu hinterfragen, um ein erstes, bescheidenes Meinungsbild zu ermöglichen.

1. 4 Ein kurzes Wort zu Definitionsproblematik & Zitierweise

a)

Am Beginn jeder soliden wissenschaftlichen Studie steht die Definition des Forschungsgegenstandes und der relevanten Variablen. In diesem Fall ist die inhaltlich und logisch schlüssige Erklärung dessen, was man unter „häuslicher bzw. familialer Gewalt“ und der „Gewalt gegen Tiere“ versteht, natürlich ein Muss. Andernfalls redet man wie der Blinde von der Farbe und öffnet Missverständnissen und Analysefehlern Tür und Tor. Nur: wie lassen sich diese Begriffe angemessen fassen? Leider ist eine kurze Darlegung wissenschaftlicher Definitionsmöglichkeiten unvermeidbar, wenn die Verdeutlichung dieser Problematik ansteht. Um es mit einem Klassiker der empirischen Sozialforschung zu sagen:

„Intersubjektive Überprüfbarkeit des Forschungsprozesses setzt präzise Definitionen voraus. Diese haben üblicherweise die Form von Nominaldefinitionen: ‚Wir verstehen unter x einen Gegenstand mit den Eigenschaften E1 bis En.’“ (Kromrey, unter Mitarbeit von Ollmann, 1986, S. 70)

Gemeint ist damit eine wissenschaftliche Begriffsbildung, die es vermeidet, zum Beispiel in Realdefinitionen „das Wesen“ der Sache erfassen zu wollen. Im Gegensatz zu Nominaldefinitionen - die im Rahmen gegebener Forschung auf Zweckmäßigkeit und die Vereinbarung eines bestimmten Sprachgebrauchs abstellen – beinhalten Realdefinitionen den Anspruch, das Wesentliche eines Phänomens wie etwa „Gewalt“ hervorzuheben. Wie auch immer: Am Ende dieser zentralen Vorentscheidungen steht die Operationalisierung:

„Die Gesamtheit der operationalen Vorschriften wird häufig auch als ‚operationale Definition’ eines Begriffs bezeichnet. In dem hier gebrauchten Sinn ist ‚operationale Definition’ jedoch nicht eine weitere Definitionsmöglichkeit neben der Nominal- und der Realdefinition, sondern sie ist ein in der Forschung für jeden Begriff - gleichgültig, auf welche Art definiert; gleichgültig, ob mit direktem oder indirektem Bezug - notwendiger Übersetzungsvorgang in Techniken bzw. Forschungsoperationen.“ (Kromrey, 1986, S. 84)

Dieser „Übersetzungsvorgang" schafft jedoch ein zentrales soziologisches Problem: Es entsteht bei dem Versuch, den Gewaltbegriff möglichst präzise zu erfassen und für die Forschungspraxis der Surveys und Statistiken einzugrenzen: Die stets am Anfang stehende Kardinalfrage lautet hierbei: Welche Handlungen oder Unterlassungen müssen definiert und unter den Gewaltbegriff subsumiert werden, um überhaupt sinnvolle, inhaltsgenaue Aussagen treffen zu können? Schlicht gesagt: Was zählt als Gewalt?

In ihrer Erörterung des Gewaltbegriffs zeigen Lamnek und Boatcă (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 15) auf, welche Bandbreite der Definitionsversuche es in den Sozialwissenschaften bereits gegeben hat. Von der verbalen Gewalt über die strukturell-kulturelle Gewalt bis hin zur symbolischen Gewalt ist alles vertreten. Dieser Diskurs soll hier aber nicht Thema sein. In der Regel erfolgt die Unterscheidung recht pragmatisch nach physischer und psychischer Gewalt gegen Personen sowie nach der Gewalt gegen Sachen, wobei so manche deutsche Sozialwissenschaftlerinnen gern der dumm-verquasten, bundesrepublikanischen Gesetzgebung folgen und Tiere ebenfalls als („lebende") Sachen begreifen.

Mit Blick auf den angehäuften soziologischen „Erklärungsreichtum" wird daher auch vor einem inflationär genutzten Gewaltbegriff und daraus resultierenden „Thematisierungsfallen" gewarnt (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 15; siehe auch: Heitmeyer u. Hagan, 2002, S. 21). Lamnek und Boatcă führen dazu aus:

„Dieses Spektrum von Definitions(ver)suchen, das von der ‚minimalistischen' Vorstellung von Gewalt als Aktionsmacht bis hin zur Gewalt als ‚gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit' (Berger/Luckmann 1971) auf der mikro- wie auf der makrosozialen Ebene - und somit als Definitionsmacht - reicht, findet sich auf jedem Gebiet der Gewaltforschung in nuce wieder, […]“ (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 16)

Wer also meint, dass ein gut operationalisierbarer Gewaltbegriff durch die Definitionen des deutschen Strafgesetzbuches bereits vorgegeben und soziologisch sinnvoll nutzbar sei, wandelt auf einem schmalen Grat. Der juristische Gewaltbegriff wird durch die jeweilige Gesellschaftsform, ihre aktuellen Machtstrukturen und kulturellen Prägungen bestimmt. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Deliktform der in unseren früheren Gesellschaften durchaus legitimen körperlichen Züchtigung von Frau und Kind durch den „Paterfamilias". Es zeigt sich ebenfalls an der relativ neuen strafrechtlichen Sensibilität für Übergriffe wie dem sogenannten „Stalking". Fazit: Der strafrechtliche Gewaltbegriff ändert sich im Zeitablauf und primär mit dem Wechsel derjenigen, die in den Gemeinschaften das „Sagen" haben und somit auch legislative Definitionsmacht besitzen. Da dies lange Zeit eine nur von Männern gehaltene Position war (und auch heute sind wir noch ein gutes Stück von echter Gleichberechtigung entfernt), ist der Gewaltbegriff ebenfalls von Determinanten im Geschlechterverhältnis abhängig und weitgehend „männlich“ geprägt.

Um angesichts dieser Probleme nicht handlungsunfähig zu werden, hat man daher in der Forschung versucht, das Gewaltgeschehen durch Konzentration auf einen „unverzichtbaren Kern“ einzugrenzen (von Trotha, 1997, S. 14). Mit dieser Intention lassen sich etwa die Operationalisierungs-Ansätze von Neidhardt und Popitz verknüpfen, die auch bei Lamnek und Boatcă genannt werden. (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 16). So lautet der Definitionsvorschlag von Neidhardt zum Beispiel: Gewalt sei eine …:

„physische Zwangseinwirkung von Personen mit physischen Folgen für Personen“ (Neidhardt, 1986, S. 123; zitiert nach: Lamnek und Boatcă, 2003, S. 16)

Und Popitz spricht von Gewalt als einer… :

„Machtaktion, (…) die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“ (Popitz, 1992, S. 48; zitiert bei: Lamnek u. Boatcă, 2003, S. 16)

So klar gefasst diese engeren Definitionsversuche klingen: Es fehlt u. a. eine entscheidende Komponente – die Ausübung psychischer Gewalt. Aktionen des Psychoterrors in Familien und anderen Lebensgemeinschaften werden hier völlig ausgeblendet. Generell erfährt dieser eng begrenzte Gewaltbegriff eine wie folgt begründete Ablehnung (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 16):

„[…], dass sich erstens dadurch der Forschungsgegenstand seinerseits mit verengt, indem bestimmte Handlungen, die zum Kontext von Gewalt gehören, nicht mehr erfasst werden […]; und zweitens die grundsätzliche Kritik an der Objektivierbarkeit eines historisch und kulturell konstituierten Gewaltbegriffs, dessen Abhängigkeit von sozialen und normativen Kontexten selbst durch die Anbindung an die Materialität von Schmerz und Verletzung nicht aufgehoben werden kann […]“

Wie auch immer die Kritik bezüglich einer „Präzisierung der Reichweite" (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 17) des Gewaltbegriffs ausfällt (und diese Diskussion ist längst noch nicht abgeschlossen), so bleibt stets eine zentrale Problematik auch für die „verengte" Operationalisierung von Gewalt: Die unterschiedliche Sichtweise befragter Täter*innen und Opfer auf verübte Gewalthandlungen. Je nach persönlicher Sozialisation, nach subjektivem Rechtsempfinden und eigener Interessenlage wird der betroffene Personenkreis recht unterschiedliche Bewertungen verübter oder erlittener Übergriffe vornehmen und bekunden. Damit findet sich - abgesehen von Filterprozessen der Exekutive und der Judikative - auch auf dieser Ebene kein für alle verbindlicher, einheitlicher Maßstab der Gewalt.

Dass sich unter diesen Umständen polizeiliche Hellfeld-Statistiken und Resultate der Dunkelfeldforschung nicht 1:1 gegeneinander aufrechnen lassen und selbst Dunkelfeldstudie nicht stets auch mit Dunkelfeldstudie „kompatibel“ und „komparabel" ist, liegt auf der Hand.

b)

Zum Abschluss noch eine Überlegung, die nicht zuletzt dazu führte, dass exemplarische Darstellungen von häuslicher Gewalt anhand gut dokumentierter Kurzbiografien als Kern vorliegender Schrift gewählt wurden. Gewaltforscher*innen wie zum Beispiel der Rechtswissenschaftler und Soziologe Jürgen Gemünden betonen die Dringlichkeit einer tieferen wissenschaftlichen Sicht auf die Konfliktfelder in Familien und anderer Lebensgemeinschaften:

„Wir brauchen nicht nur quantitative Forschung wie in den USA, sondern auch qualitative Forschung, die Gewalt als Teil von Kommunikation in Partnerschaften begreift." (Gemünden, 2003, S. 351)

Genau diese Mechanismen der (Fehl-)Kommunikation, der Aggression, und die letztlich daraus erwachsende psychische und physische Gewalt lassen sich in den nachfolgenden Fallbeispielen besonders gut beobachten. Hierbei wird aber nicht nur Gewalt zwischen Erwachsenen aufgezeigt, sondern ebenfalls innerfamiliäre Kindesmisshandlung, welche oftmals die Wurzel für eigenes, späteres Gewalthandeln darstellt.

Ein letztes Wort zum Prozedere: Sowohl in den zehn Kurzbiografien als auch im folgenden zweiten Buchteil mit vorwiegend theoretischem Inhalt wurden längere Zitate genutzt. Dies geschah, um der Leserin / dem Leser Fachmeinungen und wissenschaftliche Darlegungen ohne fremden, sprachlichen Filter nahebringen zu können. Vielfach ist die spezielle Wortwahl von Gutachtenden und Gewaltforscher*innen entscheidend. In diesen Fällen sollte man auf die eigene „stille Post" verzichten, damit fachlich Interessierte möglichst aus erster Hand zu unverfälschter Information gelangen und sich ein angemessenes, persönliches Urteil bilden können.

Teil 1

Lebenskatastrophen

2. Deutsche Fallbeispiele: Häusliche Gewalt und der Indikator „Tierquälerei / Tiertötung“

2. 0 Einführung in die Fallbeispiele

In einer früheren Arbeit zum Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Menschen und der Gewalt gegen Tiere (Mariak, 2021) wurden Kurzbiografien bekannter Mehrfachmörder vorgestellt und ausgewertet. In diesem Kontext fiel bereits ein Sachverhalt auf, der kriminologisch Forschenden durchaus vertraut ist: Es zeigte sich zum einen für die Kindheits- und Jugendphase der Gewalttäter, dass diese selbst oft genug Opfer gravierender physischer und psychischer häuslicher Gewalt wurden: In der Regel fand sich hier ein überstreng und hochaggressiv reagierender und / oder unkontrolliert prügelnder Vater, der – oftmals nicht zuletzt durch sein Alkoholproblem – das Familienleben belastet, wenn nicht sogar zerrüttet hatte. Zum anderen zeigte sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Generationen übergreifende Tradierung von Gewaltmustern: Vereinfacht gesagt, wer als Minderjähriger selbst zum Gewaltopfer wurde, war sozial prädesteniert für die Ausübung eigener, vielfach häuslicher Gewalt: Das Opfer geriet zum Täter. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang ebenfalls die Gewalt gegen Tiere.

Einprägsame, kurze Beispiele sollen diese Beobachtungen auch hier erläutern helfen. Es handelt sich dabei um Fälle der deutschen Kriminalgeschichte – nachstehend geordnet nach dem Geburtsjahr der Täter*innen. In diesen Kurzbiografien werden teilweise Textsequenzen der früheren Arbeit verwandt. Dies ist nicht immer vermeidbar, da bestimmte Biografie-Inhalte sowohl für die ältere Studie zur Gewaltspirale als auch für die vorliegende Arbeit zur häuslichen Gewalt relevant sind und Tat-Berichte sich geringfügig überschneiden können. Für neu interessierte Leser*innen ist dieses Vorgehen vorteilhaft, da nicht zusätzlich die Studie des Jahres 2021 benötigt wird, um Fallbeispiele angemessen bewerten zu können.

Tabelle 1:

Fallbeispiele häuslicher Gewalt bei bekannten deutschen Gewalttäter*innen

Fall Nr.

Name des Täters / der Täterin

Geburtsjahr u. Sterbejahr

01

Carl Friedrich Großmann

1863 – 1922

02

Friedrich Haarmann

1879 – 1925

03

Peter Kürten

1883 – 1931

04

Christa Lehmann

1922 – ……

05

Rudolf Pleil

1924 – 1958

06

Joachim Kroll

1933 – 1991

07

Manfred Wittmann

1943 – ……

08

Jürgen Bartsch

1946 – 1976

09

Ronny Rieken

1968 – ……

10

Frank Gust

1969 – ……

2. 1 Carl Friedrich Großmann

Der 1863 in Neuruppin geborene Großmann war einer der berüchtigsten Sexualstraftäter und Mehrfachmörder (zumindest drei Morde) bis in die Weimarer Zeit hinein. Im Jahre 1922 beging er in seiner Gefängniszelle vor dem Abschluss der Hauptverhandlung gegen ihn Suizid durch Erhängen (zu den Details seiner Biografie siehe Mariak 2021, S. 62 ff.). Eine wichtige Quelle, der hier ebenfalls weitgehend gefolgt wird, ist die Großmann-Biografie von Matthias Blazek (Blazek, 2009). Zusätzliche wertvolle Information ergab sich aus der Dissertation von Anne-Kathrin Kompisch (Kompisch, 2008).

2. 1. 1 Stichwort: Häusliche Gewalt

2. 1. 1. 1 Kindheit & Jugend – Flucht aus dem Elternhaus

Carl Friedrich Großmann hatte sechs Geschwister - zwei Brüder, vier Schwestern - und wuchs als Sohn eines Lumpensammlers heran. Seine Familienverhältnisse galten als prekär: Der Vater wurde in damaligen Berichten als gewalttätiger Säufer bezeichnet: „ … für seine Familie unerträglich, wenn ergetrunken hatte.“ (Blazek, 2009, S. 13). Im Gutachten des Medizinalrates Dr. Störmer, datiert vom 20. Mai des Jahres 1922, heißt es dazu:

„Der Vater des G., der Händler & Hausbesitzer in Neu-Ruppin am neuen Markt 5 war, wird mir als ein ganz besonders brutaler und jähzorniger Säufer geschildert, der Hunderte von Krampfanfällen aller Grade gehabt hat bis zu den schwersten von stundenlanger Dauer. Er ist auch oft von anderen Leuten nach Hause gebracht worden. Seine Ehefrau hatte ausserordentlich schwer zu leiden.“ (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 84).

Der Gerichtsarzt Medizinalrat Prof. Dr. Curt Strauch bestätigte in seinem Gutachten ebenfalls die Information über das negative Persönlichkeitsbild des Vaters und konstatiert: Er sei „ein roher, brutaler Mann" gewesen. (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Curt Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 64). Nach Carl Großmann verkaufte der Vater Willhelm später mit großem finanziellem Verlust sein Haus.

Er wurde bei dieser Veräußerung betrogen und sei darüber „verrückt" geworden. Am Ende fristete Wilhelm Großmann sein Leben in einer psychiatrische Anstalt (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 64).

Bemerkenswert ist, dass die Ehefrau und Mutter Carl Großmanns als das genaue Gegenteil des gewaltbereiten, abnormen Vaters dargestellt wurde: So berichtete der Gutachter Dr. Störmer, Sofie Großmann, verwitwete Schulz, sei nach seiner Information eine gutmütige Frau gewesen, die sich „mit Sorgfalt und Liebe" um ihre Kinder kümmerte. Zur Zeit der Hauptverhandlung gegen Carl Großmann war sie allerdings bereits zehn Jahre nicht mehr am Leben. (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 84 f.) Diese beiden im Charakter und im Umgang mit ihrem Nachwuchs so grundverschiedenen Elternteile bestimmten Kindheit und frühe Jugend des Carl Großmann und seiner Geschwister. Die Annahme erscheint plausibel, dass nur der Vater für das prekäre Familienleben verantwortlich war. Dieser Sachverhalt wurde durch weitere Aussagen des Carl Großmann untermauert: Wilhelm Großmann prügelte nicht nur oftmals die Ehefrau, sondern misshandelte mit Faustschlägen auch seine Kinder.

Carl Großmann hatte zwei Brüder und vier Schwestern. Aus erster Ehe der Mutter stammten zwei Töchter und ein Sohn. Dieser Stiefbruder, August Schulz, wurde das erste Mal wegen Vergewaltigung zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt. Kurz nach seiner Entlassung verübte er Notzucht an einem Kind und musste erneut in Haft. Das Strafmaß: Weitere 15 Jahre im Zuchthaus zu Sonnenburg. Noch vor Verbüßung dieser Haftzeit starb er dort im Jahr 1919 oder 1920. Der zweite Bruder, Wilhelm, beendete sein Leben in der Landesirrenanstalt Eberswalde als unheilbar Geisteskranker. Im Gutachten des Medizinalrates Dr. med. Störmer heißt es dazu: „Paralytiker auf persönlicher syphilitischer Basis“. (Schweder, 1961, S. 260; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 90; ebenfalls: Blazek, 2009, S. 13, S. 64 sowie S. 85). Drei Schwestern des Carl Großmann führten, soweit den Gutachtern entsprechende Kenntnisse zur Verfügung standen, ein unauffälliges, straffreies Leben und waren selbst geistig gesund.

Für die vierte Schwester bestand hinsichtlich ihrer geistigen Gesundheit keine Information. Einige Kinder dieser Großmann-Geschwister waren jedoch eindeutig psychisch belastet: Wohl den Gerichtsgutachten folgend, erwähnt der Sexualwissenschaftler und Facharzt für Nervenkrankheiten Dr. Arthur Kronfeld, Leiter der Abteilung für seelische Sexualleiden im Berliner Institut für Sexualwissenschaft, in einem Fachbeitrag zwei Kinder der Stiefschwester aus erster Ehe, die „deutliche epileptische Episoden“ gezeigt hätten. Eine weitere Schwester hätte eine geisteskranke Tochter und eine dritte eine „epileptische Idiotin". Zudem wies er darauf hin, dass der an Paralyse in der Anstalt verstorbene Bruder ebenfalls ein geistesschwaches Kind hinterlies.

Das Fazit des Dr. Kronfeld: „Es handelt sich also um eine außerordentlich schwere Belastung von seiten beider Eltern.“ (Dr. Kronfeld, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 98). Er folgte damit sicher der generellen Gutachtermeinung. So schloss auch Medizinalrat Dr. Störmer aus der Grossmann’schen Familiengeschichte, „[…] dass G. in wirklich hohem Grade erblich belastet ist, namentlich vom Vater her, […]“ (Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 86). Nach einem endgültigen Zerwürfnis mit seinem Vater entlief Großmann im Alter von sechzehn Jahren zusammen mit einem früheren Schulkameraden nach Berlin und lebte dort zunächst vom Handel mit Streichhölzern und anderen Kleinwaren. Über das Vater-Sohn-Verhältnis berichtet der Gutachter Dr. Störmer:

„G. hat ursprünglich das Elternhaus verlassen, weil er sich mit seinem Vater nicht stellen konnte, und das ist auch kein Wunder; denn der Vater war eben ein ganz jähzorniger Säufer und zugleich Epileptiker, sodass es nicht wundernehmen kann, dass seine Kinder sich im Hause nicht wohlfühlten.

Es waren also nicht krankhafte Triebe und Beweggründe, die den G. zum Verlassen des Elternhauses drängten, man kann auch nicht etwa von Wandertrieb sprechen und von Zwangshandlungen, sondern wenn man den Dingen auf den Grund geht, handelt es sich um ganz natürliche Empfindungen eines eigentlich schlecht erzogenen und auch erblich belasteten Menschen, der den Einflüssen des Vaters naturgemäß zu entgehen trachtete, und den der Freiheitstrieb und der Drang, sein Leben sich nach eigenem Geschmack zu gestalten, in die Ferne trieb.“

(Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 92).

Natürlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Medizinalrat Dr. Strauch mit Blick auf das Vater-Sohn-Verhältnis Ähnliches berichtete. Es heißt dort kurz und bündig: Karl Großmann habe mit sechzehn Jahren das Elternhaus verlassen, weil der Vater ihn gezüchtigt hatte (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 64). Mit etwa 18 Jahren war Carl Großmann dann nach eigenen Angaben sechs Wochen als Hausdiener bei einem Schlachter am Alexanderplatz (Berlin) tätig.

2. 1. 1. 2 Intimpartnerschaft – MO: „Wirtschafterin“

Zu keinem Zeitpunkt existierte eine Ehe des Carl Großmann. Matthias Blazek schreibt dazu (Blazek, 2009, S. 14):

„Eine Frau fand er nicht, so nahm er sich wehrlose Opfer, um seinen Trieb zu befriedigen. Er machte sich mehrfach strafbar, unter anderem wegen Hausfriedensbruchs, Körperverletzung und Sexualdelikten, und verbüßte mehrere Gefängnisstrafen."

In den letzten Monaten des Erste Weltkrieges fand Carl Großmann Unterkunft in einer Laube mit Garten am Stadtrand Berlins. Den Kauf der Laube hatte er aus seinen Ersparnissen finanziert. (Blazek, 2009, S. 16) Dort in der Laubenkolonie „Klein Landsberg" begann wohl die Reihe der „Wirtschafterinnen", die sich Großmann in seine Behausungen holte, um sie seiner speziellen Sexualität gemäß (Folterspiele, Fesselungen), zu benutzen, zu missbrauchen - und bei ernsteren Widerständen und Konflikten zu töten. Dies war primär sein Modus Operandi (MO) und sollte dann auch ein „Markenzeichen“ des sadistisch-triebhaften Mannes werden. Der spätere Verteidiger Carl Großmanns, Dr. Erich Frey, rekonstruierte auf der Basis seiner Gespräche mit ihm und den Ermittlern der Berliner Polizei die Lebenssituation des Mehrfachmörders. Er berichtete auch über die „Masche", die es seinem Mandanten immer wieder erlaubte, naive, mehr oder weniger in Not geratene Frauen der unteren Schichten in seine Fänge zu bekommen. Nach einem ersten Kontakt, einem gutmütigen, mitfühlenden Ansprechen, welches schon ein wenig Vertrauen schuf, wurde der Köder ausgelegt (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 19):

„Und wenn die Kleine noch immer zögert, meint er nebenbei: 'Übrijens, bei mir is ne Stelle als ‚Wirtschafterin frei.’"

In der Darstellung des Großmann-Verteidigers Dr. Erich Frey heißt es dann weiter:

„Wirtschafterin – das ist das Zauberwort für ein Mädchen, das bestenfalls auf eine Anstellung als Hausmädchen gehofft hat. Und so kommt es, daß schließlich das obdachlose Mädchen mit dem einsamen Witwer Carl Großmann in Richtung Lange Straße davonschiebt.

Wieder hat Carl Großmann eine Wirtschafterin gefunden. Wie lange wird sie bleiben? Wird es schon nach einem Tag Krach in der Wohnküche geben oder wird es acht oder vierzehn Tage dauern? Wird auch die Kleine aus Oberschlesien eines Tages bei Nacht und Nebel aus der Langen Straße verschwinden wie ihre Vorgängerinnen? Wird Großmann auch nach ihrem Verschwinden zum Polizeirevier 50 in der Kleinen Andreasstraße laufen? Und dem Revieroberwachtmeister Klähn in den Ohren liegen: ‚Det Aas hat mich beklaut, wo ick ihr doch nur Jutes jetan habe.'" (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 19; siehe dazu die Anmerkung im Literaturverzeichnis)

In der damaligen „Zeitschrift für Sexualwissenschaft" veröffentlichte der bereits erwähnte Dr. med. et phil. Arthur Kronfeld seine fachlich prägnante Zusammenfassung des Mordfalls Großmann und beschrieb aus seiner Sicht den Modus Operandi des Gewalttäters wie folgt:

„Seine Opfer suchte er sich unter den halb verhungerten und obdachlosen Mädchen, die aus Furcht, mit der Polizei zu tun zu bekommen, als Prostituierte eingeschrieben zu werden, in Fürsorge zurückverbracht zu werden, irgendeine verhängte Strafe abzubüßen, vor der sie geflohen waren, und aus ähnlichen Motiven unangemeldet und ohne Beziehung zu ihren Angehörigen in jenen traurigen und finsteren Gegenden des Ostens herumlungerten. In der Regel war es der Hunger, den Großmann ihnen zu stillen versprach, oder das Geld, welches er ihnen zeigte, ohne es ihnen zu geben, oder das Obdach, das er ihnen als Wirtschafterin' in seiner Wohnung verhieß, was sie der Spinne ins Netz trieb.

Nach geschehener Tat zerstückelte Großmann die Leichname auf der gleichen Bank, auf der er seine Opfer festgebunden und gepeinigt hatte, und auf welcher er auch, nebenbei gesagt, sein Essen anrichtete.“ (Kronfeld, 1922; ebenfalls: Dr. Kronfeld, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 94).

Im Januar 1918 lernte Carl Großmann die 25-jährige Marie Felz in einem Lokal kennen. Die Frau hatte gerade ihre Stellung in Hohenschönhausen aufgegeben. Großmann spendierte ein belegtes Brot und ein Bier, hatte ein offenes Ohr für ihre Situation, nahm sie in seiner Laube auf und lebte kurze Zeit mit ihr zusammen. Sie wurde dann von Lucie Alt abgelöst. Diese Frau wurde im September 1918 durch Marie Felz mit Großmann bekannt. Auch mit ihr kam es zum Geschlechtsverkehr. Die Frau musste sich in der Folge im Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus wegen der Geschlechtskrankheit Syphilis behandeln lassen. Auch eine Margarete Knop fand sich im Sommer des Jahres 1918 bei Carl Großmann als „Wirtschafterin“ ein. Diese sagte dann später aus, dass sie noch zwei weitere Frauen bei ihm angetroffen habe – wohl frühere „Wirtschafterinnen" des Großmann. Matthias Blazek erwähnt in diesem Zusammenhang einen Zeugen, den Arbeiter August Conde, der mit Großmann im Weltspeisehaus Ullrich in der Nähe des Andreasplatzes bekannt wurde. Dieser Mann gab zu Protokoll: „So oft ich hierherkam, traf ich Großmann mit Frauenspersonen zweifelhaften Rufs." (Blazek, 2009, S. 16 f.).

Deutlich wird bereits bei dieser knappen Aufzählung früher Großmann’scher „Wirtschafterinnen" die hohe Zahl wechselnder Frauen, die sich auf eine intime Beziehung mit ihm einlassen mussten: Für jede dieser Kurzzeitbekanntschaften bestand eine persönliche Notsituation (obdachlos, hungrig, finanziell am Ende, usw.), die Großmann zur Befriedigung seiner starken, sadistisch geprägten Sexualität auszunutzen wusste. Sobald seinen Bekanntschaften der Weg aus ihrer Notlage möglich war, trennten sich die Wege. Dies war z. B. bei Marie Felz der Fall, die ihn verließ, als sie eine neue Arbeitsstelle bei einem Schlachtermeister in Spandau fand. Es zeigt sich auch im Fall der Margarete Knop, die knappe acht Wochen bei Großmann blieb und dann für ein Reinigungsunternehmen tätig wurde. (siehe dazu: Blazek, 2009, S. 16) Allerdings ist wohl auch belegt, dass Großmann selbst oftmals die kurze geschlechtliche Beziehung beendete. So heißt es im Gutachten des Prof. Dr. Strauch:

„Bald nach Vollziehung des Geschlechtsaktes wurde Grossmann dann abstossend und abweisend gegen die Mädchen, schalt mit ihnen herum oder entliess sie plötzlich schroff. Dass er jemals ihnen Geld gab, leugnet Grossmann und ergibt sich dies im Ganzen aus den Zeugenaussagen auch nicht, sondern als Aequivalent für den Geschlechtsverkehr bot er ihnen die nächtliche Unterkunft und die Verpflegung.“ (Gutachten des Medizinalrats Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 67).

Dann, wohl im August 1919, verkaufte Carl Großmann die Gartenlaube und wechselte in eine Wohnküche im vierten Stock eines Miethauses in der Langen Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg (Blazek, 2009, S. 17 f.). Diese „ganz geräumige, scheinbar auch gut eingerichtete Wohnung“, wie Gutachter Prof. Dr. Strauch anmerkte, wurde nun zum Schauplatz weiterer sexueller Gewalt. (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 66). Am Rande bemerkt: Wie präzise oder ungenau und falsch auch ein Gutachter informiert sein kann, zeigt sich allerdings an den Worten des Prof. Strauch über die „ganz geräumige Wohnung“. Es handelte sich dabei realiter eher um eine Kochstube. Folgt man den Informationen von Matthias Blazek, dann war Carl Großmann ohnehin nur Untermieter bei der Familie eines Schlossers, Manheim Itzig, und dieser Name stand ebenfalls auf dem Türschild (Blazek, 2009, S. 20). Ergänzend sei angemerkt, dass die Wohnküche des Carl Großmann in einem der berüchtigsten Armenviertel der Stadt lag. Der Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg war damals verschrien als das „Berliner Chicago“, ein Tummelplatz für Kriminelle jeder Art und zwielichtige Gestalten aus dem Rotlicht-Milieu. (Blazek, 2009, S. 18)

Interessant ist im Kontext der häuslichen Gewalttaten, warum Großmann die Laube an der Landsberger Chaussee aufgab und den Wohnsitz wechselte. Es finden sich hierauf in den biografischen Texten verschiedene Antworten. In den Erinnerungen des Strafverteidigers Dr. Frey heißt es lapidar, die Laube wurde gegen Kriegsende verkauft. Großmann selbst begründete den Verkauf wohl damit, dass er seiner Tochter eine angemessenen Aussteuer finanzieren wollte. Die Existenz dieser Tochter ist jedoch mehr als zweifelhaft und lässt sich aus keinem damaligen Text belegen. Wesentlich plausibler erscheint da schon die Version des psychiatrischen Gutachters der Verteidigung, Arthur Kronfeld, der konstatierte:

Carl Großmann habe die Laube 1920 aufgegeben, weil er bei seinen Nachbar*innen in Verdacht geraten sei, in der Laube Mädchen zu misshandeln. Diese aufmerksame und couragierte Gruppe habe gegen ihn „einschreiten“ wollen, und damit sei Großmann gezwungen gewesen, die Flucht zu ergreifen. (Dr. Frey, zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 59) Dass hier - wie es bei Kompisch heißt, und wie es der Strafverteidiger Dr. Frey in seinen Memoiren nahelegt, – ein „treusorgender Familienmensch“ seiner Tochter einen guten finanziellen Start in das Eheleben ermöglichen wollte, erscheint mit Blick auf die Persönlichkeit des Großmann kaum glaubhaft. Das Bild vom „gerissenen Täter“, der seiner Entdeckung und Anklage zuvorkommt, ist da wohl treffender. (siehe dazu: Kompisch, 2008, S. 59)

Tatsächlich fanden sich im Jahre 1921 bei einer Durchsuchung der Laube und des Gartens weitere Körperteile weiblicher Leichen. Und: Beim Durchgraben des Gartengrundstücks kam dann auch die Handtasche eines Opfers an das Tageslicht. Diese Tasche gehörte der Prostituierten Frieda Schubert, deren Ermordung Carl Großmann später zunächst gestand, vor Gericht aber wohl leugnete. Die Tötung der Frieda Schubert konnte ihm daher nie gerichtsfest nachgewiesen werden. Für sie galt - wie für viele andere hochwahrscheinliche Großmann-Opfer - sein Credo: „Aber beweisen könnse ma nischt!“. (Dr. Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 50 f., siehe auch: Kompisch, 2008, S. 58) Der 58-jährige Hauswarenhändler Carl Großmann galt seinem nahen sozialen Umfeld als ruhiger Mieter. Wer sich dennoch über den oftmaligen Wechsel seiner „Wirtschafterinnen" oder den zeitweisen Lärm aus der Wohnung im vierten Stock wunderte, fand ebenso rasch eine plausible Rechtfertigung. Es hieß dann oftmals: „Na, laß doch den ollen Herrn seinen späten Frühling". Der Strafverteidiger des Carl Großmann, Dr. Erich Frey, schrieb dazu in seinen Erinnerungen:

„Daß es in der Wohnküche im vierten Stock manchmal laut wurde, daß man Schläge und Schreie hörte - auch das nahm man in dieser grauen Elendsgegend nicht sehr tragisch: ‚Krach kommt in die besten Familien vor …'" (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 18)

Es scheint auch niemanden so recht verwundert zu haben, dass dieser ungepflegte, abgerissen gekleidete und von Gestalt unattraktive alte Mann eine kaum enden wollende Folge junger Frauen auf sein Zimmer locken konnte. Der Strafverteidiger Dr. Frey beschrieb in seinen Memoiren den Wortwechsel zwischen dem Schlosser Itzig und seiner Frau, als es in der angrenzenden Wohnküche des Großmann wieder einmal „rund“ ging: „Wo der alte Zausel die Meechens immer herbringt“, meinte der Ehemann und bekam zur Antwort: „Na, brauchste dir wundern! Marie hatter und ne warme Bude hatter. Und een Kafalier isser ooch …“ (Dr. Frey, zitiert bei Blazek, 2009, S. 19). Der Hinweis auf die „Marie“ bezog sich auf Bargeldbeträge, die Carl Großmann den Frauen zusätzlich als Köder zeigte.

Wie schon die Aussage des Zeugen Conde nahelegte, besorgte Carl Großmann sich seinen Bedarf an „Wirtschafterinnen" oft in Kneipen und billigen Speiselokalen rund um den Andreasplatz. Und wenn er nicht gerade als fliegender Händler seine Haushaltswaren vertrieb, fand er sich ebenfalls in Varieté- und Kino-Theatern ein oder suchte andere öffentliche Plätze auf, um entsprechende Kontakte zu knüpfen (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 66). In seinem Gerichtsgutachten sprach Prof. Strauch diese häufig wechselnden Zufallsbekanntschaften an, und man meint fast, aus seinen Worten die Verwunderung über die unersättliche Libido des Angeklagten herauszuhören (Gutachten Prof. Dr. Strauch, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 66):

„Trotzdem er an der Schwelle des Greisenalters stand, ging er seinen geschlechtlichen Begierden in geradezu ungeheuerlicher Weise nach, denn von vielen Zeuginnen wird bekundet, und er gab dies auch selbst mir zu, dass er fast täglich die Bekanntschaft einer neuen Frauensperson machte und sie zum Geschlechtsverkehr mit in seine Wohnung lockte. Es kam auch vor, dass Grossmann, wie er mir gestand, an einem Tage mit mehreren Frauenspersonen geschlechtlich verkehrte.“

2. 1. 1. 3 Die Wohnung als Tatort – Tod einer „Wirtschafterin“

Es ist Fakt, dass seit dem Jahr 1918 im Berliner Luisenstädtischen Kanal und im Engel-Becken insgesamt dreiundzwanzig zerstückelte Frauenleichen geborgen wurden (Blazek, 2009, S. 20). Der Großmann-Verteidiger Dr. Frey schrieb in seinen Erinnerungen zu dessen Verhaftung im Jahr 1921:

„Es gab nämlich in jenen Tagen keinen Berliner und erst recht keinen Kriminalbeamten, der nicht durch die Leichenfunde im Luisenstädtischen Kanal aufs äußerste beunruhigt gewesen wäre. Seit dem Mai des Jahres waren zwischen der Schillingsbrücke und dem Engel-Becken beinahe täglich Teile weiblicher Körper gefunden worden.“ (Strafverteidiger Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 34)

Zumindest in zwei Mordfällen wiesen die polizeilichen Ermittlungen bald auf einen einzigen Täter hin. Den Kripobeamten wurde zum einen klar, dass diese Morde in einem abgeschlossenen Raum geschehen sein mussten. Infrage kamen eine Wohnung, ein Keller oder ähnliche Gebäudeteile. Zum anderen konnte in beiden Fällen als Tatort die Gegend um den Schlesischen Bahnhof eingegrenzt werden. (Blazek, 2009, S. 21) Hier ganz in der Nähe hatte Carl Großmann seine Wohnung. Auch Kompisch weist darauf hin: Im Verlaufe der polizeilichen Ermittlungen hätten die Untersuchungsbehörden bald eine Verbindung zwischen Großmann und den geborgenen Leichenteilen aus dem Luisenstädtischen Kanal, dem Engel-Becken und dem Landwehrgraben aufdecken können. Über die Funde in der Spree habe dann auch die damalige Presse berichtet (Kompisch, 2008, S. 58). Als Beispiel wird die in Berlin gedruckte aber auch überregional erscheinende Tageszeitung „Rote Fahne“ erwähnt. Noch vor der Festnahme des Carl Großmann findet sich dort in den „Kleinen Lokalnotizen“ folgender kurzer Artikel:

„Der Leichenfund im Engelbecken ist noch nicht aufgeklärt. Merkmale sprechen dafür, daß für das Verbrechen ein Täter in Betracht kommt, der von der Polizei schon lange gesucht wird und im östlichen Südviertel, in der Gegend des Schlesischen Bahnhofs zu finden sein wird.“ (Tageszeitung „Rote Fahne“; Abendausgabe vom 18. August 1921, S. 4; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 69)

Kompisch schreibt, dass wenige Tage später in der Abendausgabe dieser Zeitung und nach einem weiteren Leichenfund sogar festgestellt wurde, dass „ein Massenmörder in der Gegend des Schlesischen Bahnhofs sein Unwesen treibt.“ (Tageszeitung „Rote Fahne“; Abendausgabe, 22. 08. 1921, S. 4; zitiert bei: Kompisch, 2008, S. 69).

Zu diesem Zeitpunkt waren Identität und tags zuvor erfolgte Festnahme des Großmann der Redaktion noch nicht bekannt. Erste konkrete Hinweise auf die Person des Täters gab eine ehemalige Intimbekanntschaft Großmanns mit Namen Martha Balzer. Großmann hatte ihr bei seinem perversen Geschlechtsverkehr heftige Schmerzen zugefügt, so dass die Frau laut aufschrie. Gemäß Aussage der Martha Balzer habe er dann gedroht, er würde noch etwas ganz anderes mit ihr machen, wenn sie nicht still wäre. Im Oktober 1920 durchsuchte die Polizei die Wohnung des Carl Großmann im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg – ohne Erfolg. Diesen Fehlschlag führte später die Leitung der Mordkommission auf eine zu oberflächlich vorgenommene Suche zurück: Hätte man zum Beispiel auch im Ofen der Wohnküche nachgeschaut, wären menschliche Leichenteile entdeckt worden. Als sich im Luisenstädtischen Kanal im August 1921 erneut Reste zerteilter Leichen fanden, darunter auch ein Kopf, ein Becken und zwei Füße, kam die Fahndungs-Maschinerie wieder auf Hochtouren. Im Fokus der Ermittler stand noch einmal Großmann. (Blazek, 2009, S. 24) In der Darstellung seines Strafverteidigers Dr. Frey geschah dann am 21. August 1921 der entscheidende Vorfall:

Um 23:00 Uhr abends erwacht die Ehefrau des Hauptmieters und Schlossers Itzig durch Schreie und lautes Stöhnen, das eindeutig aus der Großmann’schen Wohnküche kam. Sie rüttelte ihren Mann wach, der zunächst nur müde antwortete: „Laß doch den Ollen“. Doch seine Ehefrau ließ nicht locker, und so eilte der Nachbar Itzig die Treppen hinunter und um die Ecke zum Polizei-Revier 50 in der Kleinen Andreasstraße. Er traf dort auf den zunächst zögerlich-misstrauischen Oberwachtmeister Klähn, konnte ihn aber überzeugen: „[…] diesmal isset ernst bei den Jrossmann.“ (Dr. Erich Frey, zitiert bei: Blazek, 2009, S. 28 f.).

Oberwachtmeister Klähn und ein weiterer Beamter folgten dem verstörten Nachbarn zur Wohnung des Großmann, riefen „Machen Sie auf, Großmann, Polizei!“. Sie hämmerten gegen die Tür der Wohnküche, als sich nichts rührte. Dann antwortete Großmann mit verschlafener Stimme: „Könnt ihr denn een alten Mann nich schlafen lassen? Kommt morjen wieder […]“.