Amore für Fortgeschrittene - Cornelia Härtl - E-Book
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Amore für Fortgeschrittene E-Book

Cornelia Härtl

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Beschreibung

Großes Gefühlschaos und unerwartete Neuanfänge ...
Ein turbulenter Liebesroman vor der traumhaften Kulisse der italienischen Riviera

Hanni Roos ist mit 55 Jahren plötzlich Witwe und muss nicht nur den Tod ihres Ehemanns verarbeiten, sondern auch dessen Untreue. Trotz des Schocks macht sich Hanni auf die Reise an die italienische Riviera, um die uneheliche Tochter ihres verstorbenen Mannes ausfindig zu machen. Sie möchte sicherstellen, dass diese ihren Anteil am Erbe erhält. Begleitet wird sie dabei von ihren beiden besten Freundinnen, der lebenslustigen Gila und der ängstlichen Sieglinde – Chaos ist praktisch vorprogrammiert. Was als Zumutung beginnt, endet mit der Erkenntnis, dass es auch für Hanni nie zu spät für ein Rendezvous mit dem Leben ist …

Erste Leser:innenstimmen
„Eine herzerwärmende Geschichte, die zeigt, dass es für die wahre Liebe kein Alter gibt.
„Humorvoll, sommerlich und leicht – ein tolles Buch für den Urlaub!
„Dieser Roman hat alles, was man sich von einer Romantic-Comedy wünscht.
„Eine Liebesgeschichte, wie sie meine Oma erlebt haben könnte – absolut authentisch mit viel Witz und Charme!

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Seitenzahl: 297

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Über dieses E-Book

Hanni Roos ist mit 55 Jahren plötzlich Witwe und muss nicht nur den Tod ihres Ehemans verarbeiten, sondern auch dessen Untreue. Trotz des Schocks macht sich Hanni auf die Reise an die italienische Riviera, um die uneheliche Tochter ihres verstorbenen Mannes ausfindig zu machen. Sie möchte sicherstellen, dass diese ihren Anteil am Erbe erhält. Begleitet wird sie dabei von ihren beiden besten Freundinnen, der lebenslustigen Gila und der ängstlichen Sieglinde – Chaos ist praktisch vorprogrammiert. Was als Zumutung beginnt, endet mit der Erkenntnis, dass es auch für Hanni nie zu spät für ein Rendezvous mit dem Leben ist …

Impressum

Erstausgabe Mai 2022

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-983-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-362-7

Covergestaltung: Herzkontur – Buchcover & Mediendesign unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Alter-ego, © Stanislav Samoylik, © Maks Narodenko, © Valentyn Volkov, © Maya Kruchankova, © Gaspar Janos, © Krasimir Kanchev, © studiovin Lektorat: Larissa Wagnetter

E-Book-Version 03.04.2024, 12:18:44.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Amore für Fortgeschrittene

01

Es gibt Tage, an denen das Leben nur Ohrfeigen verteilt.

Ausgerechnet an meinem 55. Geburtstag bekam ich das schmerzhaft zu spüren.

Der 12. April fiel dieses Jahr auf einen Freitag, am Abend war Party angesagt. Mir hätte auch ein schickes Abendessen mit meinem Mann Gerald in einem schönen Lokal gereicht. Aber wenn man in einer Kleinstadt lebte, in einer gemütlichen Straße mit netten Einfamilienhäusern, in der sich die meisten Bewohner bereits ewig kannten oder zumindest zu kennen glaubten, kam man nicht drumherum, an einem solchen Tag Freunde und Bekannte einzuladen. Auch wenn ich den Eindruck hatte, mit jedem Lebensjahr unscheinbarer zu werden und das nicht unbedingt feiern zu müssen.

„Frauen werden mit dem Einsetzen der Wechseljahre unsichtbar. Das ist ein Naturgesetz“, erklärte mir meine Freundin Sieglinde dazu. Sie wusste es vermutlich besser als ich, weil sie erstens ein Jahr älter war und zweitens bereits mit Ende Vierzig in die Hitzewelle geraten war, die ein Frauenleben nachhaltig durcheinanderschüttelte. Auch Sieglinde hatte sich seit damals verändert. Sie engagierte sich ausdauernd ehrenamtlich, trug einen praktischen Kurzhaarschnitt, dazu bedenkenlos beigefarbene Hosen mit Gummizug und Gesundheitsschuhe.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Hanni!“, rief mir unser Nachbar Hugo übern Zaun hinweg zu, als ich an diesem Tag morgens um neun in Eile das Haus verließ. Dabei fuchtelte er wild mit der Gartenschere herum, mit der er gerade seinen Hartriegel bearbeitete. „Soll ich euch nachher das Zelt und die Heizpilze rüberbringen?“ Hugo war schon seit Jahren in Rente und wurstelte in der warmen Jahreszeit stets im Garten des kleinen, zartblau verputzten Hauses zu unserer Linken herum. Außerdem war er derjenige in unserer Straße, der für jedes Wetter und jedes Fest gerüstet war.

„Leg alles in unseren Garten, ich sag Gerald Bescheid, damit er dir später beim Aufbau hilft“, murmelte ich und fügte der Liste der Dinge, die ich an diesem Tag noch zu erledigen hatte, einen Punkt hinzu. Vor dem Feiern stand der Stress, das war leider immer so.

Einmal im Jahr, dachte ich dann bei mir. Und feiern ist nur für die Gäste wirklich entspannend.

Friseur, Kosmetik und Maniküre standen an diesem Vormittag auf meinem Plan. Schließlich wollte ich beglückwünscht und nicht bemitleidet werden. Danach musste ich bei Metzger und Bäcker die vorbestellten Würste, Koteletts, Steaks, und Brötchen abholen. Sieglinde würde ihren sensationellen Kartoffelsalat beisteuern. Um die Getränke wollte Gerald sich auf dem Heimweg kümmern.

Ich fühlte mich durch die gedanklichen Vorbereitungen bereits gestresst, als ich mich zehn Minuten später mit meinem roten Mini in eine Parklücke auf der an diesem Morgen viel befahrenen Bahnhofstraße quetschte.

Als erstes Ziel steuerte ich den cremefarben und schwarz designten Haarsalon Schneider an. Dort begrüßte mich die Chefin persönlich.

„Regina hat sich leider heute krankgemeldet, Sie müssen mit einer Vertretung vorliebnehmen“, empfing mich Frau Schneider mit Bedauern im Blick. Mir schwante nichts Gutes, denn bei dieser Ansage machte ich mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Aber das war nicht das Schlimmste. Regina war etwas ganz Besonderes. Wer, wie ich, eigenwillige Haare voller Wirbel und mit einem egozentrischen Eigenleben auf dem Kopf trug, wusste genau, wovon ich sprach. Zu viele unsägliche Frisuren musste ich im Laufe meines Lebens schon nach Hause tragen. Einmal hatte ich sogar einem Pudel geähnelt! Bis ich Regina fand. Sie war meine Frisurenflüsterin. Die Frau, die buchstäblich jede meiner Strähnen um den Finger wickeln konnte. Und ausgerechnet heute war sie krank!

„Ich bin Jessica-Marleen“, stellte sich mir mitten in meine schlimmsten Befürchtungen hinein Reginas Vertretung vor. Sie hätte nicht beunruhigender aussehen können. Ein junges Ding mit gewollt unordentlichem, ultrakurzem Haarschnitt, blinkendem Metall im Gesicht und einem extrem eng sitzenden T-Shirt mit der Aufschrift Love Victim am überschlanken Leib. Sie kaute konzentriert auf einem Kaugummi und starrte mit undefinierbarem Ausdruck auf meinen Kopf. Ängstlich folgte ich ihr zum Friseurstuhl und hielt mich dabei verkrampft an meiner Tasche fest. Was würde sie meinen Haaren antun?

„Heute Abend muss ich gut aussehen“, versuchte ich, ihr die Bedeutung der heutigen Frisur klarzumachen.

„Kein Problem. Wie möchten Sie es haben?“

Wir verständigten uns in den folgenden Minuten darauf, meinen herausgewachsenen Bob auf Kinnlänge zu kürzen, die grauen Ansätze mit dunkelblonden Strähnchen zu kaschieren und insgesamt etwas Schwung und Volumen hineinzubringen. Dazu ein wenig Glanz und Gloria. Während ich versuchte zu erklären, was Regina sonst noch so mit mir machte, nagte Jessica-Marleen beunruhigend intensiv an ihrer gepiercten Unterlippe. Würde sie mich verstehen? Oder würde ich hinterher auf dem Kopf so aussehen wie sie und den ganzen Abend über eine Kappe tragen müssen?

„Dazu Gesichtsmassage, Maske, Wimpernfärben und Maniküre.“

„Also, das ganze Programm. Dann fangen wir mal an.“ Wenigstens verlor sie keine Zeit.

Eine halbe Stunde später entspannte ich mit Farbe auf Wimpern, Brauen und Haar, sowie einer vanillegelben Maske auf dem Gesicht. Jessica-Marleen hatte trotz ihrer Jugend, ihrer Piercings und ihres Namens bisher einen ganz guten Eindruck auf mich gemacht. Sie redete nicht viel und schien zu wissen, was sie tat. Gerade feilte sie an meinen Nägeln.

„Es wird schon nicht so schlimm werden“, dachte ich bei mir. Rückblickend kann ich sagen, dass ich recht gehabt hatte. Es wurde nicht schlimm. Es wurde schlimmer.

***

Die erste Ohrfeige des Tages kündigte sich an, als Jessica-Marleen gerade den Nagellack mit dem schönen Namen Soft Coral Kiss auf meine Nägel strich. Es handelte sich, so hatte man mir versichert, um einen dezenten Korallenton, der wunderbar mit meinem Teint und meiner Haarfarbe harmonieren würde. Ich liebte Harmonie in jeder Lebenslage und nickte daher begeistert zu diesem Vorschlag. Doch während der Bemühungen der jungen Friseurin, den Lack auf meine frisch gefeilten und polierten Nägel aufzutragen, erwischte mich eine schreckliche Hitzewallung. Nicht eine derjenigen, die typisch für diese Zeit des Wandels waren und die ich schon fast hinter mir gelassen hatte.

„Es kribbelt“, informierte ich stattdessen Jessica-Marleen. „Auf meinem Gesicht“, fügte ich erklärend hinzu. Nicht, dass sie etwas Falsches von mir dachte!

Die junge Friseurin legte meine Hand auf einem Tuch ab, ich hörte, wie sie die Nagellackflasche zuschraubte und aufstand. Sie beugte sich über mich.

„Ach du Scheiße“, entfuhr es ihr unhöflich, dann hörte ich sie quer durch den Salon nach Frau Schneider rufen. „Chefin!“

„Was ist los?“, murmelte ich.

Die Maske spannte etwas um den Mund herum und wegen der Wimpernfarbe konnte ich die Augen nicht öffnen. Niemand antwortete mir, ich hörte eiliges Füßetrappeln und halblaut gemurmelte, immer panisch klingendere Worte. Meine Haut fing an zu jucken, und nur das frisch aufgetragene Soft Coral Kiss hielt mich davon ab, mich ausgiebig zu kratzen. Nun war auch Frau Schneider bei mir angekommen. Ich hörte, wie sie scharf die Luft einzog. „Die Maske muss sofort runter“, befahl sie ihrer Mitarbeiterin hektisch, bevor sie sich an mich wandte und mir dabei beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

„Frau Roos, ich fürchte, wir haben es mit einer allergischen Reaktion zu tun.“

Das erklärte einiges. Meine Haut fühlte sich an, als hätte ich einen Sonnenbrand allererster Güte. Hektisch fuhr mir nun jemand, Jessica-Marleen nahm ich an, mit einem feuchten Lappen übers Gesicht, während sich Frau Schneider laut darüber ausließ, dass ich doch diese Maske bisher immer gut vertragen hatte.

„Die haben doch alle Rezepturen geändert“, mischte sich jetzt eine weitere Mitarbeiterin ein. Halblaut gemurmelte Worte waren die Antwort.

Endlich hatte man mich von der Maske befreit und von der Wimpernfarbe gleich mit. Ich schlug die Augen auf, die inzwischen ebenfalls brannten. Langsam hoben sich die verquollenen Lider und gaben den Blick auf zwei erschrocken dreinblickende Gesichter frei. Schon bevor ich mein Konterfei im Spiegel erspähen konnte, war mir klar, dass ich schrecklich aussehen musste.

„Aloe Vera“, murmelte die Salonbesitzerin mit blassen Lippen, „Da hilft nur noch Aloe Vera.“

Eine Stunde später verließ ich den Salon Schneider mit immer noch brennendem Gesicht, roten Augen und einer großen Flasche Aloe Vera in der Tasche. Die hatten sie mir kostenlos mitgegeben, damit ich meine Haut im Laufe des Tages weiter kühlen konnte. Die Leute auf der Straße sahen mich seltsam an. Ein kleines Kind zeigte mit dem Finger auf mich und kreischte „Winnetou“. Am liebsten hätte ich mir eine Papiertüte über den Kopf gezogen und den ganzen Tag abgesagt. Mir war zum Heulen zumute.

Das war der vorläufige Tiefpunkt des Vormittags. Dann hatte ich mein Auto erreicht und stieg so eilig ein, dass ich mir das Knie anschlug. Fluchend blickte ich in den Innenspiegel. Es hatte sich in den vergangenen zwei Minuten nichts geändert. Mein Gesicht schimmerte krebsrot, die Augen waren verquollen. Aber die Frisur – tipptopp.

***

Hugo stand immer noch – oder schon wieder – am Zaun, als ich den Wagen schwungvoll in unsere Einfahrt setzte.

„Schicke Frisur“, rief er mir zu, als ich ausstieg. „Aber was ist mit deinem Gesicht los?“

Ich winkte hektisch ab und rannte so schnell es ging ins Haus. Mit etwas Glück würde ich am Abend einigermaßen normal aussehen. Aber jetzt ... schrecklich. Ich schrie sogar kurz auf, als ich mein verunstaltetes Antlitz im Spiegel erblickte. Panisch trug ich eine große Portion des kühlenden Gels auf. Danach sah ich immer noch rot und geschwollen aus, dazu jetzt feucht glänzend. Mein Gesicht erinnerte an einen der lackierten Paradiesäpfel, die es auf Jahrmärkten zu kaufen gab. So konnte ich unmöglich aus dem Haus! Gerald musste früher heimkommen, um mir die Fahrten zu Metzger und Bäcker abzunehmen.

„Ihr Mann hat das Büro bereits verlassen“, informierte mich seine Sekretärin wenige Minuten später. Verwundert schaute ich auf die Uhr. Es war gerade mal elf vorbei. War Gerald früher aufgebrochen, um die Getränke zu holen? Merkwürdig.

Ich bedankte mich für die Auskunft und wählte Geralds Handynummer. Es antwortete nur die Mailbox und ich hinterließ eine Nachricht.

Kurz entschlossen rief ich Hugo an, statt nach draußen zu gehen. Eine weitere Bemerkung über den unvorteilhaften Zustand meines Gesichts würde ich nicht ertragen!

„Kannst du jemanden auftreiben, der dir beim Aufbau hilft?“, fiel ich rhetorisch mit der Tür ins Haus. „Gerald muss ungeplant einige der Dinge erledigen, die eigentlich ich übernehmen wollte.“

Hugo brummte eine Zustimmung in den Hörer. Zehn Minuten später sah ich ihn in unserem Garten herumwuseln, zusammen mit zwei anderen Rentnern aus der Straße. Das war die positive Seite der Nachbarschaft. Wir halfen uns alle gegenseitig in Haus und Garten, hüteten Haustiere und Kleinkinder, leerten Briefkästen, gossen Blumen, nahmen Pakete an. Der Nachteil ergab sich genau daraus. Jeder wusste über jeden Bescheid, zumindest in den Dingen, die an der Oberfläche lagen. Nachbarschaftsstreit, Geldsorgen, Krankheiten, schlecht getarnte Affären, ungezogene Kinder. Allergien im Gesicht. Ich wandte mich wieder meinem Spiegelbild zu und hoffte dabei, das Rot hätte inzwischen ein wenig nachgelassen. So, wie es jetzt aussah, harmonierte mein Teint keinesfalls mit meinen frisch manikürten Nägeln!

Irgendwo im Haus klirrte es in diesem Moment gewaltig. Gleich darauf stob unser schwarzer Kater Mikesch mit einem unfreundlichen Fauchen an mir vorbei durch die Katzenklappe hinaus. Die Bescherung, die er angerichtet hatte, fand ich im Wohnzimmer. Die gläserne Vase lag zerschmettert am Boden, Wasser floss übers Parkett und garniert wurde das alles mit den Blütenblättern der roten Rosen, die Gerald mir am Morgen geschenkt hatte. 25 Stück, wie jedes Jahr. Denn an meinem 25. Geburtstag hatten wir uns kennengelernt. Die Erinnerung an diesen Tag zauberte mir wieder einmal ein Lächeln auf die Lippen. Mein Mann war schon damals ein Romantiker gewesen. Er hatte mir, gerade zu Beginn unserer Beziehung, fast jeden Wunsch von den Augen gelesen. Auch im Laufe der darauffolgenden Jahre überraschte er mich immer wieder mit kleinen Beweisen seiner Liebe. Blumen, Abendessen in schicken Lokalen, Wochenendtrips. Niemals hatte er einen Geburtstag oder Jahrestag vergessen. Und auch dieser Tag hatte mit einem ans Bett servierten, liebevoll hergerichteten Frühstück und eben diesem Rosenstrauß begonnen. Gerald hatte schon immer Freude daran gehabt, mich an besonderen Tagen zu verwöhnen. „Alles Gute, mein Schatz. Ich freue mich auf heute Abend“, hatte er noch gemurmelt und mir einen Kuss aufs zerdrückte Haar gehaucht, bevor er das Haus verlassen hatte. Nun lagen die schönen Rosen zerfleddert am Boden. Was auch immer Mikesch dazu gebracht hatte, die Blumen zu attackieren, er hatte eine riesige Sauerei veranstaltet!

Während ich die Bescherung aufräumte und dabei nicht nur meine Lieblingsvase, sondern dazu die Liebesbeweise meines Gatten in der Mülltonne entsorgte, schwor ich mir, Mikesch in Zukunft in die Diele zu sperren, wenn ich das Haus verließ. Nach der Aktion war ich in Fahrt und beschloss, schon einmal das Geschirr und Besteck zusammenzutragen. Als es zwei Stunden später an der Haustür klingelte, war mein beklagenswerter Zustand fast vergessen.

***

„Frau Roos?“ Vor mir standen zwei Männer. Beide trugen Polizeiuniform.

Automatisch ging ich beim Anblick der Gesetzeshüter mein Sündenregister durch. War ich zu schnell gefahren nach meinem vormittäglichen Schock? War mein Rücklicht defekt?

„Frau Hannelore Roos?“, konkretisierte der ältere der beiden. Der Jüngere schaute mir mit unverhohlenem Erschrecken im Blick ins Gesicht. Ich starrte zurück, verwirrt und ebenfalls irgendwie erschrocken.

„Ja. Ich bin Hannelore Roos“, antwortete ich endlich und unterbrach die gegenseitige Musterung.

„Es tut uns leid, Frau Roos. Wir haben eine schlechte Nachricht für Sie.“ Wieder der Ältere. Er blickte kurz auf seine Schuhspitzen, bevor er mich bat, eintreten zu dürfen. Völlig verdattert öffnete ich die Tür ganz und ließ die beiden herein. So standen wir da in der engen Diele, zwischen Kästen voller Senftuben, Papierservietten, Gläsern und Geschirr.

„Ich habe Geburtstag. Das ist für die Feier heute Abend“, erklärte ich.

Die Polizisten hatten inzwischen ihre Mützen abgenommen und drehten sie synchron in den Händen. Der Jüngere schaute unsicher zu seinem Kollegen hinüber. Der räusperte sich und blickte mich ernst an.

„Frau Roos, sind Sie die Ehefrau von Herrn Gerald Roos?“

Auf einmal schwoll in meinem Hals etwas an. Etwas, das vorher nicht da gewesen war, nahm die Größe eines Tennisballs an. Ich schluckte so angestrengt, dass aus meiner Kehle ein dumpfes, schwer klingendes Geräusch kam.

„Ja“, krächzte ich und stützte mich vorsichtshalber mit der Hand auf der Kredenz hinter mir ab. Im selben Moment erfasste mich heftige Panik und löste einen rasanten Schwindel in meinem Kopf aus.

„Was ist mit Gerald!? Was ist mit meinem Mann!?“, schrie ich die beiden an. Der Jüngere wich einen Schritt zurück und stieß dabei an eine der Geschirrkisten. Das laute Scheppern verursachte einen stechenden Kopfschmerz. Kleine Blitze zuckten vor meinen Augen. Das muss Migräne sein, schoss es mir durch den Kopf, noch bevor der Donnerschlag einsetzte.

„Es gab einen Vorfall“, versuchte der ältere Polizist mir beizubringen, was ich in diesem Moment mit unheimlicher Gewissheit schon kommen sah.

„Hat er ... ist er ...“, stammelte ich.

Die beiden Männer nickten, wieder synchron.

„Ja. Leider. Ihr Mann, Frau Roos, ihr Mann ist tot.“

Jetzt setzte der Schwindel erneut ein, dieses Mal so heftig, dass ich mich mit beiden Händen an die Kredenz klammerte.

„Tot?“, echote ich. „Aber ... wir wollten doch heute ... mein Geburtstag ... das Zelt ... unsere Tochter ... ich muss sie anrufen ...“ Mein sinnfreies Gestammel ging unter den mitfühlenden Blicken der beiden Polizisten noch eine Weile weiter, bevor ich einen Moment der Klarheit hatte.

„Wie ist es passiert?“, wollte ich wissen. Vor meinem geistigen Auge spielten sich dramatische Szenen ab. Ein Autounfall, ein verrückter Raser, vielleicht sogar ein Schusswechsel bei einem Banküberfall? Der ältere der beiden Polizisten blickte weg von mir und merkwürdigerweise war das der bisher schlimmste Moment des Tages. Bevor der Allerschlimmste kam.

„Also, ihr Mann, der Herr Roos, ist eines natürlichen Todes gestorben“, schwurbelte der Polizist. Sein jüngerer Kollege sah ihn von der Seite an wie ein hypnotisiertes Kaninchen.

„Kein Unfall? Keine Schießerei?“

Beim letzten Wort ruckten die Köpfe der beiden gleichzeitig nach oben. Die Männer sahen mich erschrocken an.

„Wieso Schießerei?“, fragte der Jüngere misstrauisch nach, bevor sein Kollege ihn mit einem Seitenhieb stoppte.

„Nichts dergleichen. Ihr Mann ist ohne äußere Gewalteinwirkung von dieser Welt gegangen“, verkündete er hochtrabend und schaute mich bittend an. Er wollte nicht, dass ich weiterfragte, ich tat es dennoch.

„Was ist passiert?“

Wieder ein Blick zwischen den beiden, ein kaum wahrnehmbares Achselzucken. Die Stimme des Älteren war kaum zu verstehen bei dem, was er als nächstes sagte.

„Ausnahmesituation ... Herzinfarkt ... ging ganz schnell ... Notarzt ... nur noch den Tod feststellen.“

„Herzinfarkt?“ Soweit ich wusste, war das Herz meines Gatten kerngesund.

„Das kann nicht mein Mann sein“, verkündete ich also mit neu gewonnener Zuversicht im Brustton der Überzeugung. „Vielleicht handelt es sich um eine Verwechslung?“

Herzinfarkt, so ein Blödsinn.

„Keine Verwechslung, Frau Roos.“

„Und wie und wo, bitte schön, soll das passiert sein?“

Was die Polizisten mir dann so schonend wie möglich beibrachten, war dies: Gerald hatte sein Büro im Frankfurter Westend früher als gewöhnlich verlassen. Er war von dort aus in ein nobles Innenstadthotel gefahren, wo er den Besuch einer Dame empfangen hatte. Zu eindeutigen Handlungen, da gab es kein Vertun. Mittendrin, quasi als und mit dem Höhepunkt der ganzen Chose, ereilte meinen Mann bei diesem Treiben der Herztod.

„Zack. Bumm. Tot“, hatte es die Liebesdienerin beim anschließenden Verhör durch die von der Hotelleitung herbeigerufene Polizei auf den Punkt gebracht. „Juhu!“, hätte er noch gerufen, bevor er verschied. Als ob ich es so genau hätte wissen wollen ...

Die Kredenz fing an zu schwanken, ich musste sie festhalten und ging dabei in die Knie. Das Letzte, was ich sah, bevor mich eine gnädige Ohnmacht umfing, waren die Polizisten, die mich mit einer Mischung aus Mitleid und Sorge ansahen. Dann trudelte ich in die Dunkelheit.

***

„Ich fasse es nicht!“ Ich lag auf dem Sofa. Sieglinde saß neben mir und klatschte mir dabei ständig einen nassen Waschlappen ins Gesicht. „Gerald. In einem Hotel! Mit einer … einer vom horizontalen Gewerbe!“

„Sei still!“, bat ich sie. Es hatte immer wieder kurze Momente in den letzten zwei Stunden gegeben, in denen ich geglaubt hatte, einfach nur schlecht zu träumen.

„Streck deine Zunge raus“, befahl meine Freundin und fuchtelte mit einer kleinen Flasche herum.

„Bachblüten. Notfalltropfen. Helfen bei Schockzuständen“, informierte sie mich, während sie tropfte. Ich zog die Zunge wieder ein und schluckte schwer. Ob in einer solchen Situation überhaupt etwas half?

„Ausgerechnet an deinem Geburtstag!“, fuhr Sieglinde fort.

Als ob das die Sache weniger schlimm machen würde, wenn sie an einem anderen Tag passiert wäre.

„Mit einer Escortlady!“ Sieglindes Stimme erreichte ungeahnt schrille Höhen.

Ich schlug den Waschlappen in ihrer Hand weg, bevor er erneut auf meinem Gesicht landen konnte.

„Verdammt!“, rief ich aus. „Das kann doch alles nicht wahr sein!“ Dann flossen mir die Tränen aus den Augen. Und ich fühlte mich unendlich erschöpft.

Die Party war natürlich abgesagt worden. Es gab niemanden, der nicht Verständnis dafür hatte. Das Zelt stand fertig aufgebaut im Garten, ein paar Wimpel hatten Hugo und seine Helfer noch drangemacht, bevor die schlimme Kunde von Geralds Ableben uns alle erreicht hatte.

Die Geschichte, und damit meine ich die ganze Geschichte, wäre in spätestens 24 Stunden in unserer Straße und vermutlich dem ganzen Viertel herumerzählt. Das war der Nachteil, wenn man in einer Kleinstadt mit überschaubarer Nachbarschaft lebte.

„Und jetzt?“, schniefte ich.

„Hoffentlich zahlt seine Lebensversicherung in so einem Fall“, sinnierte Sieglinde ebenso laut wie pietätlos. Ich warf ein Sofakissen nach ihr.

„Interessiert mich nicht“, antwortete ich schnaufend. Mir war elend, ich hätte selbst gleich sterben können. War der Mann, mit dem ich so viele Jahre verheiratet gewesen war, ein Monster, ein Lustmolch, ein Lügner und Betrüger?

„Männer“, kommentierte Sieglinde und schaute an die Decke.

„Ich bringe den Kerl um!“, schrie ich.

„Zu spät. Er ist ja schon tot“, konterte meine Freundin trocken wie eine altbackene Semmel.

„Was mache ich denn jetzt?“

„Du lebst weiter wie bisher, nur eben jetzt ohne Mann. Schließlich hast du mich und deinen Halbtagsjob“, riet meine Freundin und erhob sich. Ihre Gesundheitsschuhe quietschten.

Aber zunächst einmal kam die Beerdigung.

02

„Hast du etwas zum Anziehen?“ Gilas Stimme drang durch den Telefonhörer in mein gemartertes Hirn.

„Sündhaft schwarz und todschick“, konkretisierte sie ihre Vorstellungen.

Neben Sieglinde war Gila meine zweite beste Freundin. Sie und ich, wir kannten uns seit Urzeiten. Unsere Freundschaft bestand seit dem gemeinsamen Besuch einer Frankfurter Sprachenschule, wo wir gelernt hatten, englische und französische Geschäftsbriefe zu schreiben. Danach hatte Gila Germanistik und irgendetwas mit Wirtschaft studiert, bevor sie sich selbstständig gemacht hatte. Schon früh hatte sie erkannt, dass sie lieber für sich selbst als für irgendeinen Chef arbeitete.

Sie leitete in Bad Homburg ein florierendes kleines Unternehmen mit fünf Mitarbeiterinnen. Die räumten anderer Leute Büros auf, erledigten Schreibkram, Behördengänge und dergleichen. Auch privat war es für meine Freundin gut gelaufen. Heiraten war ihr nie in den Sinn gekommen, sie hatte zwei langjährige Liaisons mit gut betuchten Herren gehabt. Frei von den Niederungen des Alltags, durch die verheiratete Paare gelegentlich durch mussten, wurde sie nach Strich und Faden verwöhnt mit flotten Autos, Schmuck und luxuriösen Reisen. Dazu kümmerte sie sich engagiert um ihren Beruf. Neben Gila kam ich mir oft etwas hausbacken und langweilig vor. Nicht nur, weil ich zwei Jahre älter war als sie, sondern weil sie das Leben wie ein Spiel betrachtete, das nach ihren eigenen Regeln funktionierte.

Während sie dem Studentenleben gefrönt hatte, hatte ich einige Jahre in einem kleinen Fachbuchverlag gearbeitet. Dann war Gerald in mein Leben getreten, wir hatten geheiratet und uns gleich Nachwuchs gewünscht. Der hatte zu meinem Bedauern so lange auf sich warten lassen, dass wir die Hoffnung fast aufgegeben hatten. Als ich Jahre später doch noch schwanger geworden war, war ich überglücklich gewesen. Leider war Miriam unser einziges Kind geblieben. Was sowohl ich als auch Gerald und irgendwann ebenfalls unsere Tochter bedauert hatten. Miriams Geburt hatte einiges verändert. Unter anderem die Freundschaft mit Gila. Seit unsere Leben auseinandergedriftet waren, sahen wir uns naturgemäß nicht mehr so häufig. Zwar blieb die Verbundenheit bestehen, aber wir lebten in zwei unterschiedlichen Sphären. Während Gila ihre Unabhängigkeit genossen hatte, war ich irgendwann in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet festgesessen und hatte meinen Mann jeden Abend gefragt, was er im Büro erlebt hatte. Erst, als unsere Tochter aus dem Gröbsten raus gewesen war, war ich wieder arbeiten gegangen. Halbtags, in der Anzeigenannahme einer Zeitung, die man kostenlos im Briefkasten fand. Das machte ich immer noch.

„Wieso schick?“, schniefte ich. „Es ist die Beerdigung meines Mannes.“

„Eben. Der Kerl hat dich betrogen und dafür hat ihn der Schlag getroffen.“

Ich japste nach Luft, aber Gila fuhr ungerührt fort. „Du musst jetzt den Leuten zeigen, dass du keine verhuschte, tragische Witwe bist. Sondern eine selbstbewusste Frau. Sie werden dich sonst zwar bemitleiden, aber nie wieder etwas anderes in dir sehen als die arme, betrogene Frau.“

„Was soll ich denn bloß machen?“, jammerte ich.

„Genau das, was du willst. Trauere ihm nicht hinterher, mach das Beste aus dem Rest deines Lebens.“

Dazu war es definitiv noch zu früh, ich befand mich seit dem Besuch der beiden Polizisten in einer Art Schockstarre, die mich lediglich das Nötigste tun ließ. Daher kündigte Gila kurzerhand ihr Kommen an.

***

Es gab Momente, in denen sah man sich und sein Leben von außen, quasi durch die Augen anderer. Als ich Gila gegenüberstand, geschah genau das. Es war, als würden wir eine Sekunde lang die Plätze tauschen. Ich sah mich selbst an der Tür stehen, die zwei Tage zuvor frisch geschnittene Frisur zerdrückt, das Gesicht immer noch gerötet und verschwollen, jetzt allerdings durch mein fast ununterbrochenes Weinen. Verhärmt und abgekämpft sah ich aus, und – das war das Schlimmste an meiner Wahrnehmung - es hatte nicht nur mit Geralds Tod zu tun. Ich war eine trutschige Vorstadthausfrau mit Halbtagsjob und überschaubarer Restlaufzeit.

Gila hingegen ... ich konnte es nicht anders sagen, sah hinreißend aus. Obwohl ich in ihren Augen heftige Sorge um mich erkannte. Meine Freundin war erst Tage zuvor von einem Kurzurlaub auf Menorca zurückgekehrt. Der zarte Karamellton ihrer Haut harmonierte perfekt mit dem türkisfarbenen Top, das sie über einer weißen Jeans trug. Ihr Haar leuchtete wie lichtdurchfluteter Champagner, sie duftete dezent nach Flieder und trug Kirschrot auf Lippen und Nägeln.

So, wie ich heute aussehe, könnte sie fast als meine Tochter durchgehen, dachte ich im ersten Schreck.

„Hanni!“, rief Gila und riss mich, kaum im Haus, in ihre Arme, wo ich erneut in Tränen ausbrach.

„Jetzt ist aber mal gut“, unterbrach sie mich nach einer halben Stunde Gestammel und Gesabbere streng. „Gerald, Gott hab ihn selig, hat sich als ein anderer herausgestellt als der, den wir zu kennen glaubten. Er hat dich betrogen. Das ist schlimm. Aber ihr hattet auch gute Zeiten, das hoffe ich zumindest, und an die solltest du zwischendurch denken, sonst kommst du gar nicht mehr auf die Beine.“

Was war eigentlich entsetzlicher? Sich an die unwiederbringlich verlorene Harmonie vieler schöner Ehejahre zu erinnern oder über den miesen Betrug, mit dem sie endeten, zu grämen?

„Und außerdem“, fuhr Gila fort, „geht das Leben nicht nur irgendwie weiter, sondern du hast noch etliche Jahre vor dir, aus denen du das Beste machen kannst.“

Auch wenn es ein wenig oberflächlich klang, hatte Gila wohl tatsächlich nur mein Wohlergehen im Sinn, als sie versuchte, mir mit diesen Worten aus dem schmerzlichen Tief dieses Tages herauszuhelfen. Auch wenn es mir unmöglich war, in diesem Moment auch nur ein einziges Fünkchen Licht am Ende des Tunnels zu erkennen, versiegten meine Tränen wenigstens fürs Erste.

Danach gingen wir einkaufen. Natürlich fuhren wir nicht nach Frankfurt, denn dort befand sich nicht nur Geralds ehemaliger Arbeitsplatz, sondern auch das Luxushotel, in dem er von dieser Welt gegangen war. Ich würde in dieser Stadt ständig an ihn und das, was ihm widerfahren war, denken müssen.

Wir fuhren nach Wiesbaden. Während ich mit tränenumflortem Blick überhaupt kein Auge für Passformen und Chic hatte, dirigierte mich Gila von einer Boutique zur nächsten, von einer Anprobe zur anderen, bis sie endlich zufrieden war.

Vermutlich war ich am Tag von Geralds Begräbnis eine der elegantesten Witwen, die ich je in unserer Kleinstadt am Grab ihres Mannes hatte stehen sehen. Die Meute empfand das wohl auch so, denn einige Trauergäste starrten mich unverhohlen an. Ich hatte zwei Valium eingeworfen und stolzierte, derart gefühlsmäßig gedämmt, gewandet in ein elegant enges Seidenkleid mit einem hinreißend schwingenden Bolerocape darüber, frisch frisiert und manikürt, über den Friedhof.

Neben mir ging meine Tochter, die am Vorabend gerade noch rechtzeitig aus Neuseeland angereist war, um ihrem Vater das letzte Geleit zu geben. Miriam hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, wie genau Gerald gestorben war. Es wäre einfach zu viel für mich gewesen, sie in der Kürze der Zeit mit sämtlichen unappetitlichen Details vertraut zu machen.

Ähnlich unbelastet von der Wahrheit blieben meine Eltern und Geralds Mutter, die selbst schon seit vielen Jahren Witwe war. Sie glaubte, ihr Sohn sei bei einem Geschäftstermin verschieden, was vermutlich auf ihr schlechtes Gehör zurückzuführen war. Ich konnte nur hoffen, dass niemand von der Trauergemeinde so taktlos sein würde, den Dreien zu erzählen, was wirklich geschehen war. Wobei die grausame Wahrheit bereits als hartnäckiges Gerücht durch die Luft schwebte.

Mein Vater hatte ein schlechtes Gedächtnis und vergaß die meisten neuen Dinge inzwischen im Minutentakt. Aber meine Mutter … Augen wie ein Adler, Ohren wie ein Luchs … sie würde mich in die Zange nehmen und mich nach Strich und Faden über die Qualität meiner Ehe ausquetschen, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Aus vielerlei Gründen fühlte ich mich dieser Inquisition nicht gewachsen.

So standen wir da. Ich trotzte hoch erhobenen Hauptes allen sensationslüsternen und betroffenen Blicken. Miriam schluchzte leise. Neben ihr standen meine Eltern und meine Schwiegermutter, dahinter Sieglinde und Gila. Die Sonne schien, der Pfarrer redete, die Musik spielte und ich konnte nicht aufhören zu denken: Haltung, Hanni Roos und Warum hat er mir das angetan?

***

Für Miriam war es ein heftiger Schock gewesen, ihren Vater so unvermutet zu verlieren. Gerald war gerade mal 63 gewesen, noch nicht einmal in Rente, geschweige denn gebrechlich oder unheilbar krank. Sie hatte ihn in den letzten Jahren nur sporadisch gesehen und ihn stets als munter und guter Dinge erlebt. Dass er so schnell von uns gegangen war, konnte sie nicht begreifen.

Unsere Tochter war gleich nach dem Abitur in die Welt hinausgezogen. Eine lange Reise durch Asien, ein Jahr Au-pair in Australien. Dann war sie zum Sprachenstudium zurückgekommen, das sie ruckzuck durchgezogen hatte. Zurzeit lebte sie in Neuseeland.

„Miriam sieht nicht gut aus“, bemerkte meine Mutter, sobald wir den Friedhof verlassen hatten. „Hoffentlich hat sie nicht das schwache Herz ihres Vaters geerbt!“

Ich betrachtete meine Tochter, deren schmales Gesicht zwischen dem dunklen langen Haar tatsächlich sehr blass aussah.

„Mein Sohn hatte kein schwaches Herz“, giftete Geralds Mutter sofort zurück. Sie stand so nah bei uns, dass sie die Bemerkung unmöglich überhören hatte können.

„Er ist gerade daran gestorben.“ Die Stimme meiner Mutter klang, als würde sie direkt aus Geralds Grab sprechen.

„Es war ein anstrengender Geschäftstermin. Er war beruflich schon seit Jahren zu angespannt. Aber es blieb ja immer alles an ihm hängen.“

Jetzt würde gleich die alte Leier kommen. Geralds Mutter hatte sich irgendwann in die Idee verbissen, ihr Sohn habe zu früh geheiratet und ich hätte ihm zu viel aufgehalst. Normalerweise kamen wir gut miteinander aus. Aber jedes Mal, wenn meinen verstorbenen Mann ein Zipperlein geplagt hatte, mutierte seine Mutter zur Glucke, die ihn und mich mit ungebetenen Ratschlägen traktierte und mir Verantwortung für alles Mögliche zuschob.

„Lydia, ich bitte dich!“ Die Stimme meiner Mutter wurde schrill.

So sehr sie mich auch manchmal auf die Palme brachte, nach außen hin nahm sie ihr Küken doch immer sofort in Schutz. Endlich hatten wir den Ausgang erreicht und ich konnte mich mit ihr und Miriam in mein Auto flüchten.

Kaum zu Hause angekommen, ging das Verhör weiter.

„Hat er sich denn bewusst ernährt? Zu viel Cholesterin ist ja ungesund“, stellte Lydia fest und ließ ihren Blick über die Würste und Koteletts gleiten. Das Traueressen fand, der Einfachheit halber, im Festzelt statt, das immer noch voll aufgebaut in meinem Garten stand. Weil niemand daran gedacht hatte sie abzunehmen, wehten sogar die bunten Wimpel am Eingang. Mit der Verköstigung hatte ich es einfach. Die Würste, Koteletts, Steaks, hatten seit meinem verunglückten Geburtstag im Tiefkühler gelegen. Sie wurden nun von Hugo ihrer ursprünglichen Bestimmung auf dem Grill zugeführt.

„Geralds Cholesterinwerte waren in Ordnung“, antwortete ich.

Er hat einfach zu viel fremdgevögelt, lag es mir auf der Zunge. Ich schluckte es runter, es würde nichts nützen.

„Wann kommt denn Gerald?“, wollte unterdessen mein Vater wissen, der bereits wieder vergessen hatte, von wessen Beerdigung er gerade gekommen war. Bevor ich in Tränen ausbrechen konnte, zog mich Gila beiseite und drückte mir ein Glas Wein in die Hand.

Trauerfeiern hatten ihre eigene Dynamik. Ergingen sich alle anfangs in Trauer und Schmerz, wurden mit zunehmendem Alkoholpegel immer mehr Anekdoten der Verstorbenen präsentiert und es war nicht ungewöhnlich, dass irgendwann sogar Witze erzählt wurden. Bevor es hier und heute soweit war, musste ich mit Miriam reden.

Ich trank das Glas leer und zog meine Tochter in die Küche, als sie sich gerade zum Leichenschmaus setzen wollte. Ich musste ihr, um sie zu schützen, reinen Wein einschenken, bevor die Hemmschwellen gesunken waren und sie mit den Gerüchten um das Ableben ihres Vaters konfrontiert wurde.

„Ich muss dir etwas sagen“, flüsterte ich also zwischen Friedhof und Bratwurst. „Dein Vater, der ist zwar an einem Herzinfarkt gestorben. Allerdings nicht zuhause, im Bett oder im Büro. Auch nicht beim Sport oder bei einem Geschäftstermin ...“ Groß und aufmerksam blickte Miriam mich an.

„Er war in einem Hotel. Mit einer Escortlady.“

„O mein Gott!“ Miriam presste sich erschrocken die Hand auf den Mund. Sie war trotz ihres Schocks pietätvoll genug, nicht zu detailliert nachzufragen, wofür ich ihr sehr dankbar war. Wie sich herausstellte, war es gut, dass ich sie vorbereitet hatte. Später, nachdem das Fleisch gegessen, der Wein und diverse Schnäpse getrunken waren, verabschiedete sich so manch einer aus der Nachbarschaft mit einem zweideutigen Spruch. Gottseidank hatten meine Eltern da bereits den Heimweg nach Nordhessen angetreten und meine Schwiegermutter hörte immer noch schlecht und war überdies ein wenig angeschickert, bevor ich sie in ein Taxi in Richtung Frankfurt bugsierte. Gila verließ das Haus als eine der Letzten, Sieglinde als Allerletzte. Nachdem wir sie alle verabschiedet hatten, setzten Miriam und ich uns in die Küche. Ausnahmsweise war es mir mal gerade egal, dass um uns herum ein Tohuwabohu größeren Ausmaßes herrschte.

„Früher hättest du es keine Sekunde in einer solchen Unordnung ausgehalten“, verkündete meine Tochter, die bereits leicht schielte und aufgrund diverser Alkoholika ein wenig lallte.

„Früher war früher. Jetzt ist jetzt. Und morgen ist morgen“, verkündete ich mit unheilschwangerer Stimme und griff selbst nach dem Obstler, den ich mir im Laufe des Abends versagt hatte. Endlich konnte ich mich betrinken ohne Angst haben zu müssen, etwas Unangebrachtes zu sagen, hemmungslos zu weinen oder meinem verstorbenen Gatten nach oben zu drohen. Oder nach unten, so genau wusste ich nicht, wo er letztendlich landen würde.

„Mama, trink nicht so schnell“, warnte mich meine Tochter. Aber mir war alles egal. Ein Schnaps würde mir nicht schaden, dachte ich, und kippte das Zeug zügig hinunter.

„Keine Angst, ich weiß schon, was ich tue“, behauptete ich, obwohl der Obstler in meinem Hals brannte wie Feuer. Miriam fielen die Augen zu, sie seufzte und murmelte „Lass uns morgen weiterreden“, bevor sie nach oben schwankte, in ihr altes Mädchenzimmer. Jetzt saß ich alleine in einer Küche, die aussah, als habe eine Bombe eingeschlagen. Mein einziger Halt war die Schnapsflasche. Vor mir lag ein einsames, verbittertes Leben, das sich nach dem dritten Schnaps nicht mehr ganz so kalt anfühlte. Nach dem fünften schaukelte ich auf Wellen und nach dem sechsten, den ich vorsichtshalber schon auf der Bettkante sitzend trank, umfing mich eine gnädige Dunkelheit.

***

Durst, formulierte der Teil meines Hirns, der für die Umsetzung körperlicher Empfindungen in Sprache zuständig war. Das Erste, was ich am Morgen nach der Beerdigung meines Mannes fühlte, war eine heiße, brennende Wüste in meinem Inneren. Langsam rappelte ich mich auf. Herrje! Ich trug noch das Beerdigungskleid und es roch eindeutig nach Hochprozentigem. Der Anblick der leeren Flasche am Boden hämmerte mir die Wahrheit in den wehen Schädel. Ich hatte mich am Vorabend hemmungslos und am Ende ganz alleine betrunken.

Vorsichtig betastete ich meine Kopfhaut. Sie war noch da, ebenso wie meine Haare, obwohl es sich anders anfühlte. Sobald ich den Kopf hob, wurde mir übel und in meinem Magen krampfte sich etwas zusammen. Im Schneckentempo erhob ich mich vom Bett und ging ins Bad, indem ich einfach die Füße über den Boden schob. Alles andere wäre viel zu anstrengend gewesen.