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Kennst du den Mann, den du liebst, wirklich?
Der spannende Krimi für mitreißende Lesestunden
Endlich kehrt Ruhe in Lena Borowskis Leben ein. Nach dem Umzug vom Rhein-Main-Gebiet nach Norddeich, kann sie sich zurücklehnen und entspannen. Doch dann wird das ruhige Leben von Lena und ihrem Lebensgefährten Gerhard erschüttert. Nach einem Mordanschlag auf die ehemalige Rotlichtgröße muss sich Lena fragen, was sie über ihren Geliebten wirklich weiß. Bei der Suche nach der Wahrheit taucht sie tief ein in Gerhard Rohloffs Vergangenheit und rührt an Dingen, die sie selbst in Gefahr bringen. Kann sie den Täter finden, bevor er einen weiteren Versuch unternimmt Gerhard umzubringen?
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„Eine überraschende Wendung folgt auf die nächste – ich bin begeistert!“
„Packender Krimi mit spannender Handlung und sympathischen Ermittlern.“
„Vielschichtig, mitreißend und nicht aus der Hand legbar!“
„Die Krimi-Reihe rund um Lena Borowski kann ich uneingeschränkt empfehlen.“
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Seitenzahl: 392
Endlich kehrt Ruhe in Lena Borowskis Leben ein. Nach dem Umzug vom Rhein-Main-Gebiet nach Norddeich, kann sie sich zurücklehnen und entspannen. Doch dann wird das ruhige Leben von Lena und ihrem Lebensgefährten Gerhard erschüttert. Nach einem Mordanschlag auf die ehemalige Rotlichtgröße muss sich Lena fragen, was sie über ihren Geliebten wirklich weiß. Bei der Suche nach der Wahrheit taucht sie tief ein in Gerhard Rohloffs Vergangenheit und rührt an Dingen, die sie selbst in Gefahr bringen. Kann sie den Täter finden, bevor er einen weiteren Versuch unternimmt Gerhard umzubringen?
Erstausgabe März 2022
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-968-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-497-6
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © Ensuper, © Klanneke, © dimmitrius, © Pakhnyushchyy shutterstock.com: © Vera Larina, © Eky Studio Lektorat: Lektorat Reim
E-Book-Version 17.05.2024, 16:41:31.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Sie waren gekommen, um zu töten.
Am Horizont kämpfte die Dämmerung mit der dunklen Nacht, der Wind vom Meer her war salzig und kühl. Den Wagen hatten sie abgestellt, gingen die letzten Meter zu Fuß. Der Mann war noch nicht da. Sie kannten seine Gewohnheiten. Die hohe Hecke, die den Garten des Grundstücks von der schmalen Uferstraße trennte, bot ihnen Schutz. Am Strand tollte ein Hund herum, der Mensch dazu lief beruhigend weit entfernt am Wasser entlang, nicht mehr als ein dunkler Schatten im Dunst.
Im Haus bewegte sich jemand. Die große Glastür, die zur Terrasse hinausführte, wurde aufgeschoben. Der Mann trat heraus. Er trug eine Tasse in einer Hand. Mit der anderen tastete er in der Tasche des edlen, gemusterten Morgenmantels herum. Darunter sah man die Beine seiner Pyjamahose. Seide, vermutlich. Er zog eine Packung Zigaretten hervor, schüttelte einen Glimmstängel heraus, ließ ein Feuerzeug aufschnappen. Genüsslich sog er den Rauch ein, mit leicht zurückgelegtem Kopf, stieß ihn wieder aus. Einen Moment lang stand er ganz still, wandte sich dann der Meerseite zu. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Ahnte er etwas?
Er nahm zwei, drei weitere Züge, trank dazwischen aus der Tasse. Jede seiner Bewegungen war ruhig. Entspannt. Mit dem Fuß angelte er nach einem Stuhl, stellte die Kaffeetasse auf dem Holzboden der Terrasse ab und setzte sich.
Er hatte keine Ahnung, wie nah der Tod ihm in diesem Moment war.
Er stand am Strand und schaute aufs Meer hinaus. Der schmutzigweiße Hund saß zu seinen Füßen. Meistens folgte er dem Blick des Menschen, gelegentlich sah er zu ihm hinauf, als wollte er sagen: »Komm jetzt. Gut is. Lass uns wieder spielen.«
Seit sie hierhergezogen waren, in dieses flache Haus in Norddeich, direkt hinter dem Dünenweg, sah Lena Gerd fast jeden Nachmittag dort draußen, am Saum des Wassers stehen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, eine Aura von Ruhe um sich. Sie selbst hatte diese Ruhe bisher nicht gefunden. Sie kam ihr aber täglich näher. Immer noch fragte sie sich, wie es kam, dass er diesen Schalter so schnell hatte umlegen können.
»Weil es das ist, was ich mir wünsche. Bei dir zu sein. Hier zu sein, solange wir es wollen.«
Lena ging auf ihn zu. Die Luft war feucht von dem feinen Nieselregen, der vor einer Stunde kurz niedergegangen war. Der Sand knirschte unter ihren Schritten. Gerd drehte sich mit einem Lächeln zu ihr um.
»Hi«, sagte sie und schlang die Arme um seine Hüfte. Er hatte ein bisschen zugelegt, seit er sich nicht mehr die Tage, und vor allen Dingen die Nächte, in einem seiner Frankfurter Clubs im Bahnhofsviertel – SM, Striptease, Tabledance – um die Ohren schlug. Sie fand es sexy, so wie den ganzen Mann. Ihren ersten und bisher einzigen. Noch immer gab es Momente des Erstaunens, wenn sie darüber nachdachte. So viele Dinge hatten sich in ihrem Leben geändert. Dass sie einen Mann liebte, gehörte dazu. Ebenso wie die Tatsache, nicht mehr zu arbeiten. Jeder Tag war lediglich bestimmt von dem, was sie tun wollten. Nicht mehr von dem, was sie tun mussten.
»Ich glaube, dein Freund will wieder spielen.« Der Hund merkte, dass sie zu ihm herübersah. Sein Schwanz wedelte freudig Sand auf. Er fiepte. »Weißt du inzwischen, wem er gehört?«
»Ich glaube, er ist herrenlos.« Gerd schaute ebenfalls auf die Promenadenmischung. Nicht besonders gepflegt, aber anhänglich.
»Lass uns ein Stück gehen«, schlug sie vor. Hand in Hand, den Hund neben sich, liefen sie den Strand entlang in Richtung Ostermarscher Watt. Es gab nur noch wenige Häuser hier am Rand der Ortschaft, an denen sie schnell vorüber waren. Bisher hatten sie nicht entschieden, ob sie längerfristig bleiben oder nach diesem Sommer woanders hinziehen wollten. Alles geht, sagte er immer. Nichts hat Eile. Wir haben alle Zeit dieser Welt.
Eine halbe Stunde später kehrten sie um. Gerd warf dem Hund Stöckchen zu, denen er eifrig hinterherrannte, um sie zurückzubringen. Lena ließ die beiden irgendwann hinter sich. Sie war als Erste wieder am Haus, betrat das Grundstück durch das halbhohe Gartentor, das in die Sichtschutzhecke eingelassen war. Der Garten war gepflegt, vermisste aber die liebende Hand einer Gärtnerin aus Leidenschaft. Das war Lena gewiss nicht. Die beiden Gestalten am Strand trennten sich. Der Hund blieb immer an einer bestimmten Stelle sitzen, als gäbe es eine unsichtbare Linie, die er nicht überschreiten wollte. Gerd kam herangestapft, ein Leuchten in den Augen, das erst hier gewachsen war.
»Kaffee?«, rief sie ihm zu, bereits an der Terrassentür.
»Unbedingt!«, gab er zurück. Während sie schon ins Haus ging, in der Küche das Fenster kippte und das Kaffeepulver aus dem Schrank nahm, hörte sie, wie er sich mit einem genüsslichen Prusten auf einen der Terrassenstühle plumpsen ließ. Gleich würde der würzige Duft einer der wenigen Zigaretten, die er sich pro Tag gönnte, durchs gekippte Küchenfenster zu ihr hereinziehen. Sie stellte Tassen auf ein Tablett und spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln hoben. Sie war glücklich mit diesem Leben, so fremd es ihr auch immer noch schien. So glücklich wie nie zuvor.
Die Schüsse fielen kurz nach vier Uhr am Morgen.
Etwas hatte Lena aus einem angenehmen Traum geweckt. Verschlafen und noch halb in einer Zwischenwelt schob sie die Hand auf die andere Seite des Bettes. Es war leer, das Laken warm. Sie drehte sich um, als sie Glas splittern hörte.
»Gerd?«, rief sie in die Dunkelheit des Schlafzimmers hinein. Niemand antwortete. Von draußen drang das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens an ihr Ohr. Es entfernte sich schnell. Plötzlich fing ihr Herz an, heftig zu schlagen. »Gerd?«, rief sie, dieses Mal lauter. Gleichzeitig hob sie die Beine aus dem Bett, tastete nach ihren Flip-Flops, fand sie nicht und ging, auf einmal beunruhigt, barfuß zur Schlafzimmertür. Sie stand offen, wie immer. Gerd mochte keine geschlossenen Türen im Haus. Mit Ausnahme seines Arbeitszimmers, das er sich auch hier eingerichtet hatte. Der weitläufige Bungalow, in klarem, skandinavisch anmutendem Design, war dunkel. Lena lief durch den Flur ins Wohnzimmer, dessen verglaste Längsseite in den Garten zeigte. Die Solarleuchten warfen ein mattes messingfarbenes Licht auf die Rasenfläche. Lena näherte sich der Tür. Sie wunderte sich, Gerd dort draußen nicht sitzen zu sehen. Sie kannte seine Gewohnheiten inzwischen genau. Er stand fast immer zwischen vier und fünf Uhr morgens auf. Ging auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Manchmal trank er einen frühen Kaffee dazu, bevor er sich für eine weitere Stunde zu ihr legte.
»Es ist die perfekte Zeit für mich. Die Nacht begibt sich zur Ruhe und der Lärm des Tages hat noch nicht begonnen«, sagte er immer. Es war die Zeit, zu der er früher häufig nach Hause, nach Bad Homburg, gekommen war aus einem seiner Clubs. Seine Entscheidung, sie aufzugeben, war vor wenigen Monaten gefallen. Sie hatte viel mit Lena und seiner Liebe zu ihr zu tun. Auch wenn diese Liebe anfangs kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hatte.
Das Licht sickerte grau wie flüssiges Blei durch die große Fensterfront. Die Schiebetür zur Terrasse war halb geöffnet, die kühle Nachtluft drang herein. Lena fröstelte. Nicht nur deswegen. Dort draußen lag etwas. Es hatte die Form eines Körpers. Auf einen Schlag war die Angst da und Lena rannte. Der Stuhl, auf dem Gerd gesessen hatte, war mit ihm umgekippt. Einer seiner Lederslipper war ihm vom Fuß gerutscht. Eine glimmende Zigarette lag auf den Holzplanken. Ein Becher stand daneben, fast noch voll mit schwarzem Kaffee. Gerd lag auf der Seite, unter seinem Kopf hatte sich eine rote Lache gebildet. Auf seiner Brust zerfloss das Paisleymuster seines Morgenmantels und Lena erkannte schockiert, dass es ein schnell größer werdender Blutfleck war. Sie schrie entsetzt auf, bevor sie neben ihrem Freund auf die Knie fiel, sein Gesicht berührte. »Gerd! Gerd! Hörst du mich?« Er antwortete nicht und ihr wurde so kalt, als hätte man sie mit Eis übergossen. Sie sprang auf, rannte zurück ins Haus und wählte den Notruf.
Polizei und Notarzt waren fast gleichzeitig gekommen, und das sonst so behaglich stille Haus hatte sich in einen Ort voller nervöser Anspannung verwandelt, an dem Menschen eilig hin- und herliefen, sich fremd klingende Worte zuriefen oder sich gedämpft unterhielten. Jemand hielt Lena an den Schultern fest, als Gerd auf einer Trage zuerst durch den Raum und dann in den Krankenwagen geschoben wurde.
»Sie dürfen später zu ihm, im Moment können Sie nichts für ihn tun. Aber wir brauchen Sie hier. Wir haben Fragen.« Ein Polizist mit beruhigender Stimme, er war ungefähr in Gerds Alter.
»Sind Sie seine Ehefrau?«
»Lebensgefährtin.«
Ihre Hände wurden auf Schmauchspuren untersucht. Man nahm ihre Fingerabdrücke. Sie ließ es wie in Trance geschehen. Sie wurde gefragt, ob sie jemanden gesehen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Die Nachbarn vielleicht? Alle weiter entfernt. Das Haus zu ihrer Linken stand zudem leer. Die Besitzer kamen meist nur am Wochenende. Rechts von ihrem Bungalow lebte ein älteres Ehepaar. Beide so schwerhörig, dass sich Lena gewundert hätte, wenn sie überhaupt die Sirene des Krankenwagens wahrgenommen hätten.
Irgendwann ließen die Beamten von ihr ab. Lena saß zusammengesunken auf der Couch im Wohnzimmer. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie hatte Angst. Sie konnte einfach nicht begreifen, was mit Gerd, diesem starken Mann, passiert war. Sie nahm alles, was um sie herum geschah, wie durch eine Wand aus Watte wahr. Die Männer und Frauen der Spurensicherung, die in ihren weißen Schutzanzügen wie überdimensionierte Maden aussahen, die Fragen, die ein Kripo-Beamter ihr zwischendurch stellte, die Morgenkälte, die durch die von der Kugel zerborstene Glastür ins Haus drang. Jemand drückte ihr eine Tasse in die Hand. »Trinken Sie das.« Sie trank, obwohl der Tee für ihr Empfinden viel zu süß war.
Irgendwann trat eine große schlanke Frau in einem dunklen Kostüm neben sie.
»Hauptkommissarin Paula May. Können wir irgendwo ungestört reden?«
Lena nickte und ging voran in Gerds Arbeitszimmer. Dort ließen sie sich auf der ledernen Sitzgruppe einander gegenüber nieder. Hier drangen die Laute von draußen nur gedämpft herein.
»Was ist mit Gerd?«, fragte Lena ihr Gegenüber. Die Frau zog ein Brillenetui, einen Rekorder sowie Notizblock und Stift aus ihrer geräumigen Tasche.
»Herr Rohloff lebt. Mehr kann ich Ihnen noch nicht sagen. Er befindet sich bereits im OP des Krankenhauses.« Paula May setzte eine Brille auf, deren breites Gestell genauso dunkel war wie ihr strenger Haarknoten.
»Wir müssen schnell handeln. Es scheint, als ob niemand in Ihrer unmittelbaren Umgebung etwas gehört oder gesehen hat. Wir sind momentan ganz auf Ihre Wahrnehmungen angewiesen. Darf ich?« Sie hob den Rekorder. Lena nickte.
Der Blick aus den tiefbraunen Augen der Frau lag mit seltsamer Ruhe auf ihr.
»Ich habe Ihren Kollegen schon alles gesagt«, antwortete Lena bedauernd. »Ich muss vom Geräusch des splitternden Glases geweckt worden sein. Gerd …«, sie brach ab, weil ein heftiger Schmerz sie durchfuhr. Paula May saß ruhig da, den Block auf den übereinandergeschlagenen Beinen abgelegt.
»Wir schauen jetzt mal, woran Sie sich noch erinnern können. Erfahrungsgemäß ist unsere Wahrnehmung sehr viel feiner, als gemeinhin angenommen wird. Ich bin nicht nur Polizistin, sondern auch Psychologin. Jetzt bin ich hier, um mit Ihnen diese Feinheiten zu finden.« Sie lächelte flüchtig. »Frau Borowski, schließen Sie doch bitte mal die Augen.«
Lena, die sich vor wenigen Minuten noch gefühlt hatte wie von einem Hurrikan in die Luft geschleudert, wurde ruhiger.
»Was machen Sie mit mir?«
»Was meinen Sie?« Paula May hob fragend die Brauen.
»Hypnotisieren Sie mich?«
»Nein, Frau Borowski. Ich versuche, mit Ihnen gemeinsam Zugang zu momentan verschütteten Erinnerungen zu erhalten. Damit wir den oder die Täter schneller finden können.«
Wieder ein schnelles Lächeln.
Lena schloss die Augen.
»Kehren Sie nun bitte zu Ihrer ersten Wahrnehmung zurück.«
»Ich bin von dem Geräusch aufgewacht«, wiederholte Lena das, was sie bereits gesagt hatte. Um sich sofort zu korrigieren. »Nein. Das stimmt nicht. Ich war ja schon wach.« Paula May sagte nichts und Lena fühlte sich merkwürdig geborgen in diesem Schweigen. »Ja. Ich war bereits wach.«
»Warum sind Sie aufgewacht?«
»Möglich, dass ich Gerd gehört habe, als er auf die Terrasse hinausging.«
»Tat er das öfter?«
»Ja. Eigentlich jeden Morgen. Es ist seine Zeit, wie er immer sagt. Die Zeit, die nur ihm alleine gehört. Eine alte Angewohnheit von früher.«
»Gut. Haben Sie ihn an den anderen Tagen gehört?«
Nein, nie. Gerd war sehr leise, wenn er aufstand. Mit Rücksicht auf ihren Schlaf warf er nicht einmal die teure Baristamaschine in der Küche an, sondern goss sich seinen Kaffee von Hand auf.
»Gehen wir davon aus, dass Sie sich bereits daran gewöhnt hatten oder Ihr Lebensgefährte sehr rücksichtsvoll ist. Was könnte Sie dann geweckt haben?«
Lena versuchte, sich zu erinnern. Im Traum war sie an einem Strand entlanggegangen. Das türkisfarbene Wasser hatte ihre Füße benetzt, während auf der anderen Seite die Sanddünen immer höher wurden. So hoch, dass sie den Wagen nicht sah, dessen Motor angelassen worden war.
»Ein Wagen. Ich habe den Motor eines Wagens gehört. Davon bin ich wach geworden.«
»Gut«, sagte Paula May leise. »Weiter.«
»Fast zeitgleich fielen die Schüsse. Also – ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es Schüsse waren. Ich hörte nur das Glas splittern.«
»Gut. Weiter.«
Lena schilderte, wie sie aufgestanden war und Gerd gefunden hatte.
»Haben Sie noch einmal einen Wagen gehört? Oder etwas anderes?«
Hatte sie? Sie wusste es nicht mit Sicherheit.
Die Psychologin ließ ihr Zeit.
»Ja. Doch. Als ich aufstand. Ein Hund. Ich habe einen Hund bellen gehört. Von weitem. Und eine Wagentür wurde zugeschlagen. Bevor sich das Motorengeräusch entfernte.«
»Gut. Weiter.«
Weiter? Sie konnte sich nur noch an die kalte Hand erinnern, die sich um ihr Herz gelegt hatte, als sie Gerd auf der Terrasse hatte liegen sehen. Das Blut. Ihre Hände, rot davon. Sie riss die Augen auf, ihr Herz hatte wieder begonnen, zu rasen.
»Hat Ihr Lebensgefährte noch etwas gesagt? Hat er Sie wahrgenommen?«
»Nein. Gerd war ohne Bewusstsein, als ich auf die Terrasse kam. Er hat nichts gesagt und im ersten Moment glaubte ich, er wäre tot.«
Eine kalte Hand schien sie zu streifen bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Moment.
»Haben Sie ihn bewegt? Vielleicht seinen Kopf zu sich gedreht oder die Wunde berührt?«
Hatte sie? Sie wusste es nicht mehr genau. »Ich glaube, ich habe seinen Kopf umfasst, aber dann, als ich das Blut auf meinen Fingern spürte, sofort wieder losgelassen.«
»Wie lange waren Sie bei ihm, bis Sie den Notruf wählten?«
Sekunden. Eine Ewigkeit. Sie schüttelte den Kopf. »Meiner Meinung nach rief ich sofort an. Vermutlich hockte ich aber doch länger neben ihm, als ich dachte.«
»Und es war niemand mehr bei der Hecke?«
»Nein! Ich habe niemanden gesehen oder gehört.«
»Haben Sie zur Hecke hinübergeschaut?«
Lena überlegte. »Nein. Es war wie ein Tunnel. Ich sah Gerd da liegen und habe nichts anderes mehr wahrgenommen.«
»Auch nicht aus den Augenwinkeln? Manchmal streift unser Blick etwas, ohne es direkt wahrzunehmen.«
Lena schloss noch einmal kurz die Augen, obwohl sie es nicht musste. In dem Moment, als sie vom Wohnzimmer aus Gerd auf der Terrasse liegen sah, die Glassplitter am Boden, hatte sich die Welt um sie herum verdichtet. Sie öffnete die Augen.
»Ich weiß nichts mehr. Da war nichts und niemand. Ich will zu Gerd. Sofort.«
Die Psychologin erhob sich, um in einem anderen Bereich des Raumes leise zu telefonieren. Danach wandte sie sich ihr wieder zu.
»Selbstverständlich kann Sie jemand in die Klinik bringen. Vor allen Dingen benötigt man dort noch ein paar Angaben zur Person. Aber Herr Rohloff ist zurzeit nicht ansprechbar. Sie werden ihn nicht sehen können.«
Lena barg aufstöhnend den Kopf in den Händen.
»Hatte Herr Rohloff Feinde, hier im Ort vielleicht? Jemanden, mit dem er in Streit geraten ist?«
»Nein. Wir kennen hier kaum jemanden. Er traf sich ab und zu mit ein paar anderen Männern zum Boule. Einmal die Woche spielte er Schach in einem Café. Soweit ich weiß, nicht mit einem festen Partner.«
»Und Sie? Haben Sie jemanden kennengelernt?«
Lena musste nicht lange überlegen. »Nur lockere Bekanntschaften. Friseur, ein paar Frauen aus einem Yogakurs, den ich anfangs besucht habe. Die Betreiberin des Naturkostladens, in dem wir häufig einkaufen.«
»Gut. Wir müssen den Personenkreis eingrenzen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das ist meistens der Fall, sobald der erste Schock vorüber ist, rufen Sie mich an. Jederzeit.«
»Kann ich jetzt trotzdem ins Krankenhaus?«
Lena schien, als zögere die Frau einen Moment, bevor sie nickte. »Ich begleite Sie, wenn Sie möchten.«
Das Krankenhaus, in das man Gerd gebracht hatte, unterschied sich in nichts von allen anderen Krankenhäusern, die Lena kannte. Viel Glas, ein paar verloren wirkende Grünpflanzen in der Lobby, umherschlendernde Menschen in Bademänteln, manche führten einen Infusionsständer neben sich her. Dazwischen Besucher mit Blumen oder Tüten voller Obst in den Händen, umhereilendes Klinikpersonal. Der Geruch nach Putzmitteln und Desinfektionsgel lag in der Luft. Inzwischen ging es auf elf Uhr zu und Lena wunderte sich, wie schnell die Zeit vergangen war. War ihr doch jede Sekunde seit dem Anschlag unendlich lang vorgekommen. Am Empfang füllte sie ein Formular mit Gerds persönlichen Daten aus und übergab ein kleines Lederetui, das er in der obersten und stets unverschlossenen Schublade seines Schreibtischs aufbewahrt hatte. Es enthielt alles, was gebraucht wurde: die Karte seiner privaten Krankenkasse, die Visitenkarte eines Anwalts mit dem Vermerk »Im Notfall zu benachrichtigen. Patientenverfügung«, sowie einen Organspendeausweis. Sie hatte nicht gewusst, dass Gerd einen solchen Ausweis besaß und ein leichtes Unbehagen verspürt, als sie ihn entdeckt hatte.
»Wer sind die nächsten Angehörigen von Herrn Rohloff?«, wollte die Frau hinter der Glasscheibe wissen.
»Er hat keine«, antwortete Lena. Um sich innerlich sofort zu korrigieren. Gerd hatte einen Bruder. Die beiden standen nicht in Kontakt. Sie waren zerstritten. Soweit sie wusste, lebte der Bruder irgendwo in Südamerika. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, geschweige denn eine Kontaktadresse. Sie schwieg.
»Wir benachrichtigen Sie«, versprach die Empfangsmitarbeiterin. Doch Lena hatte nicht vor, sich gleich wieder wegschicken zu lassen.
»Ich will den Arzt sprechen, der meinen Lebensgefährten behandelt.« Ihr war, als wechselte Paula May mit der Klinikangestellten einen Blick, woraufhin die zum Telefon griff.
»Er kommt gleich zu Ihnen. Nehmen Sie doch solange Platz.« Ihre Hand wies auf eine leicht ramponiert wirkende Kunstledergarnitur, die ein paar Meter weiter zwischen kopflastigen Yuccapalmen an der Wand stand.
Paula May nahm Platz, Lena war zu nervös, um sich zu setzen. Sie lief auf und ab und zerrte so fest an der Nagelhaut ihres Daumens, dass es blutete.
»Dr. Köhler. Guten Tag.« Sie fuhr herum. Der Mann war einen halben Kopf größer als sie und leicht gebeugt. Scharfe Falten zogen sich von der Nase zum Mundwinkel. Die blassblauen Augen hinter den Brillengläsern wirkten wach.
»Ich bin der behandelnde Arzt. Herr Rohloff wurde operiert. Er ist jedoch noch nicht ansprechbar.«
»Wie geht es ihm?« Lena hatte auf einmal das Gefühl, sich nicht mehr aufrecht halten zu können und sank neben Paula May auf das Sofa.
»Sie sind nicht verheiratet?«
»Wir leben zusammen.«
Der Arzt fuhr sich mit einer müden Geste übers Gesicht. »Ihr Lebensgefährte wurde angeschossen, aber das wissen Sie ja. Eine Kugel hat den Kopf oberhalb des Ohrs gestreift. Eine zweite sollte wohl das Herz treffen, drang aber neben der Schulter ein. Wir haben sie operativ entfernt.«
»Wird er … wird er wieder gesund?«
Dr. Köhler sog die Oberlippe zwischen seine Zähne. »Das steht zumindest zu hoffen. Wir müssen warten, bis er aus der Narkose erwacht.«
»Wann darf ich zu ihm?«
Wieder wurde ein Blick gewechselt, Lena nahm ein leichtes Nicken neben sich wahr. »Sobald er ansprechbar ist.«
»Wir haben einen Polizisten vor seinem Zimmer postiert«, ergänzte Paula May. »Das Krankenhaus ist angewiesen, nur Personen zu Herrn Rohloff zu lassen, deren Identität von uns bestätigt ist.«
Natürlich. Gerd musste bewacht werden. Jemand hatte versucht, ihn zu töten. Würde es vielleicht erneut tun.
Irgendwann hatte die Spurensicherung ihre Arbeit beendet. Als Lena ins Haus zurückkehrte, waren alle gegangen. Zurück ließen sie ein Durcheinander im Raum und auf der Terrasse, das angesichts dessen, was geschehen war, jedoch unerheblich war. Lena sammelte Reste von Klebebändern, Verpackungen von Einmalhandschuhen und ein Stück Kreide ein und warf alles in den Müll. Sie betrachtete den Schrank, in dem die Patrone des Streifschusses gesteckt hatte. Jetzt war da ein größeres Loch. Beim Gedanken, dass die Kugel für Gerd bestimmt gewesen war, schauderte es sie. Sie ließ den Rollladen vor der zerstörten Terrassentür herab; am nächsten Tag würde sie eine Glaserei beauftragen, alles wieder herzurichten. Paula May hatte ihr empfohlen, ein paar Sachen zu packen und in ein Hotel zu ziehen. »Nur für ein paar Tage.« Aber Lena wollte nicht. Etwas hielt sie fest in dem Haus, an das sie sich vor ein paar Monaten so schwer gewöhnt hatte. So anders war hier alles als in der ihr vertrauten Umgebung. Was ihr abging, war natürlich nicht der Fluglärm, es war auch nicht die vergleichsweise schlechte Luft des Rhein-Main-Gebiets. Eher die Tatsache, dass ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Korsett eines Arbeitsalltags fehlte. Sie hatte ihren Job als Sozialarbeiterin geliebt. Die Frage, ob sie sich hier eine Stelle suchen sollte, hatte sie in den ersten Wochen dennoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Es war, als ob jedes Mal eine kleine warnende Stimme in ihrem Hinterkopf angeschlagen hätte, sobald sie darüber nachdachte. Wer wusste schon, ob sie bleiben wollte? Ob ihre Beziehung hielt? Doch dann, eines Tages, hatte sie morgens die Augen aufgeschlagen und festgestellt, dass sie angekommen war. Sie hatte eine unbändige Lebenslust verspürt und damit verbunden die Gewissheit, mit Gerd fortan hier an diesem Ort leben zu wollen.
Er hatte sein altes Leben leichter hinter sich gelassen. Seine Clubs im Frankfurter Bahnhofsviertel, sein Haus in Bad Homburg, das er zwar noch besaß, aber ebenfalls verkaufen wollte.
»Ich will mir dir zusammen sein, für den Rest meines Lebens. Das ist alles, was für mich wichtig ist.« So klar, so einfach. Nur dass der Rest seines Lebens an diesem Morgen für einen Moment sehr überschaubar gewirkt hatte.
Das Schwein ist tot.
Endlich hat dieser Kerl bekommen, was er verdient hat. Menschen zu quälen, das ist einfach krank. Ich weiß, wovon ich rede. Habe einen solchen Hass auf diese Typen, die immer davonkommen. So, wie der lebt, hat er es sich sehr bequem gemacht. Aber das ist ja meistens so. Andere sind für den nur Fußabtreter. Gut, dass er jetzt niemandem mehr wehtun kann. Ihn da liegen zu sehen, wie er seinen letzten Atemzug getan hat, war ein grandioses Gefühl. Ich frage mich, warum ich das nicht früher schon ausgekostet habe.
Ich bin kein Opfer.
Ich wehre mich.
Wer sich mit mir anlegt, bekommt, was er verdient hat.
Jetzt fühle ich mich fast beschwingt. Es ist ein gutes Gefühl, etwas getan zu haben, das Dinge zwar nicht ungeschehen macht, sie aber zumindest ein bisschen geraderückt.
In der Nacht nach dem Mordanschlag tat Lena kaum ein Auge zu. Dementsprechend müde und zerschlagen fühlte sie sich, als sie am nächsten Morgen erneut Besuch von Paula May bekam. Die beiden Frauen gingen in die Küche, wo sie stehen blieben. Die Kaffeemaschine zischte und Lena holte zwei Tassen aus einem Schrank.
»Es sieht so aus, als ob der oder die Täter sich hinter der Hecke, die Ihr Grundstück zum Meer hin umläuft, aufgehalten haben. Die Schüsse sind wohl über das Gartentor hinweg abgefeuert worden. Leider kann uns Herr Rohloff momentan nichts dazu sagen. Aber es ist davon auszugehen, dass er den Täter kurz gesehen hat. Vielleicht sich sogar vom Stuhl erheben wollte. Ein Umstand, dem er vielleicht sein Leben verdankt, denn keine der beiden Kugeln hat ihr Ziel erreicht.«
Lena fühlte sich immer noch wie betäubt. Den Film, der bei Paula Mays Worten vor ihrem inneren Auge ablief, sah sie mit einer Schärfe, die sie schmerzte.
»Wir gehen nicht von einem Zufallsopfer aus. Das heißt, dass Herrn Rohloffs Gewohnheit, sich so früh am Morgen auf der Terrasse aufzuhalten, bekannt gewesen sein muss. Gibt es jemanden, außer Ihnen, der davon weiß?«
Lena schüttelte den Kopf. »Wir kennen kaum jemanden hier im Ort so gut.«
Die Beamtin nickte und notierte etwas auf ihrem Block. »Ein früher Spaziergänger am Meer hat um die fragliche Zeit einen Wagen wegfahren gesehen. Ein weißer Kleinwagen, der auf dem schmalen Weg von Ihrem Haus weg ein Stück entlangfuhr, bevor er abbog. Er soll sehr schnell gefahren sein, das ist ungewöhnlich auf dem Dünenweg, daher fiel es dem Zeugen auf. Sagt Ihnen das etwas? Kennen Sie jemanden, der ein solches Auto fährt?« Paula May dankte stumm für den Kaffee, den Lena vor ihr abstellte.
Lena dachte kurz nach. Der schmale Weg, der zwischen Strandwall und den hinteren Hecken der Gärten der reetgedeckten, niedrigen Häuser entlangführte, wurde überwiegend von Fußgängern und Radfahrern genutzt. Von Autos war er kaum befahren. Stellplätze und Garagen befanden sich an der Straße auf der vom Meer abgewandten Seite. Doch niemand von den Nachbarn oder ihren Bekannten fuhr einen solchen Wagen.
»Nach allem, was wir zurzeit wissen, waren es mindestens zwei Täter. Einer wartete im Wagen, der ein Stück entfernt geparkt war. Es scheint, als ob derjenige, der den Wagen fuhr, ihn angelassen hat, kurz bevor geschossen wurde. Möglicherweise sollte das Motorgeräusch dazu dienen, den Schuss zu übertönen. Danach hatten es die Täter eilig, wegzukommen. Es sieht so aus, dass der Schütze direkt nach der Tat von einem Komplizen aufgesammelt wurde.«
Es passte zu Lenas Wahrnehmungen.
»Hatte Herr Rohloff Feinde?«
Lenas Hand zitterte so stark, dass sie die Kaffeetasse abstellen musste. Es war diese Frage, über die sie sich selbst die ganze Nacht den Kopf zermartert hatte. Steckte jemand aus dem Frankfurter Rotlichtmilieu hinter dem Anschlag? Oder gab es private Streitigkeiten?
Oder familiäre?
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Wir sind erst seit ein paar Monaten zusammen.«
»Herr Rohloff war der Betreiber einiger Clubs im Frankfurter Bahnhofsviertel. Vielleicht eine alte Rechnung, die noch offen war?«
»Er hat sich komplett zurückgezogen. Was vorher war, darüber kann ich nichts sagen.«
Paula May nickte, als verstehe sie Lena sehr gut.
»Wie gut kennen Sie Ihren Lebensgefährten?«
»Was? Wie … gut ich ihn kenne?« Was sollte diese Frage denn bedeuten?
»Sie sind noch nicht lange zusammen. Vielleicht gab es Dinge in seinem Leben, über die Sie beide nie gesprochen haben?«
Himmel! Die gab es bestimmt. Aber etwas, das einen Anschlag rechtfertigte?
Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Möglich«, murmelte sie. Hätte Gerd ihr gesagt, wenn es anders wäre?
»Und von Ihrer Seite aus? Gibt es jemanden, der vielleicht eifersüchtig war auf Ihre Verbindung?«, fuhr Paula May fort.
Lena brauchte einen Moment, bis sie die Frage begriff. »Nein«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Warum fragen Sie das?«
»Frau Borowski, es gibt nicht wirklich viele Motive dafür, einen Menschen zu töten. Neben Geld und Rache ist Eifersucht eines davon.«
»Niemand war eifersüchtig.«
»Sie hatten also keine Beziehung, in die Herr Rohloff eingedrungen ist?«
Ihr Kopfschütteln fiel etwas lahm aus.
»Ich meine nur, weil es vor einigen Monaten eine Reihe von Zeitungsartikeln gab. In Zusammenhang mit dem Tod eines Kindes.« Paula May fixierte sie nun regelrecht mit dem Blick aus ihren dunklen Augen.
Verdammt! Lena sah wieder die ekelhafte Schlagzeile einer Boulevardzeitung schlimmster Sorte vor sich: »Lesbische Sozialarbeiterin. Trägt sie eine Mitschuld an dem, was geschehen ist?«
Paula Mays Blick ruhte fragend auf ihr.
»Als Gerd und ich uns kennenlernten, befand ich mich nicht in einem festen Liebesverhältnis«, antwortete sie schließlich. »Meine damalige Freundin und ich hatten eine eher lockere Beziehung. Sie ist darüber hinaus auch nicht eifersüchtig gewesen.«
Na ja, am Anfang schon. Aber das hatte sich gelegt. Weil Tamae nie etwas Festes wollte. Genauso wenig wie ich damals.
»Sie kennt Gerd und schätzt ihn.«
Nicht von Anfang an. Aber für Tamae hätte Lena sowieso die Hand ins Feuer gelegt.
»Gut. Wir werden das Alibi dieser Freundin überprüfen.«
»Das können Sie sich sparen. Sie hält sich seit Wochen beruflich in Japan auf. Das wird Ihnen der Arbeitgeber bestätigen.« Nur dass Tamae trotzdem fuchsteufelswild werden würde, wenn man versuchte, hinter ihre Fassade zu blicken.
Paula May zog die Brauen hoch und notierte sich den Namen des Arbeitgebers, bevor sie fortfuhr.
»Hatte Herr Rohloff Familie?«
»Nein. Seine Eltern leben nicht mehr. Er war verheiratet, aber seine Ehefrau starb vor einigen Jahren. Die beiden hatten keine Kinder. Von anderen Verwandten weiß ich nichts.«
Auf keinen Fall darf dieser kriminelle Bruder hier auftauchen und über Gerds Geschick bestimmen! Als Lebensgefährtin habe ich keinerlei Rechte.
Paula May nickte bei jedem Wort, das sie mitschrieb.
»Wir müssen im Moment jeder Spur nachgehen, und sei sie auch noch so vage.« Falls Paula Mays Worte beruhigend wirken sollten, verfehlten sie ihre Wirkung.
»Glauben Sie, dass auch ich in Gefahr bin?«, wollte Lena, plötzlich beunruhigt, wissen.
»Ausschließen können wir es nicht. Der Täter hatte Herrn Rohloff offensichtlich beobachtet und wusste mit Sicherheit, dass er mit jemandem zusammenlebt. Er hätte nur zu warten brauchen, bis Sie die Terrasse betreten, um auch Sie zu töten. Er hat es nicht getan. Also gehen wir davon aus, dass es nur um Herrn Rohloff ging. Trotzdem haben zwei Kollegen heute Nacht das Haus beobachtet. Es blieb alles ruhig.«
»Was werden Sie jetzt tun?«
»Die Spuren auswerten. Was und wie genau, darüber kann ich Ihnen nichts sagen.«
Die Psychologin schob ihr eine Karte zu.
»Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Sei es auch noch so vage oder banal. Wir arbeiten mit winzigen Puzzleteilchen.« Sie lächelte schwach.
»Danke für den Kaffee.«
Der Anruf der Klinik kam am Nachmittag.
Neben Dr. Köhler erwarteten sie Paula May und ein ihr unbekannter, kleiner untersetzter Mann mit spärlichem Haarwuchs.
»Dr. Heinrich Gorg. Anwalt und Notar. Unserer Kanzlei liegt eine Vollmacht von Herrn Rohloff vor.« Er reichte Lena die Kopie eines Schriftstücks.
»Unser Mandant hat verfügt, dass er im Falle eines Unfalls oder anderer Umstände, die eine freie Willensäußerung nicht möglich machen, in die unserer Entscheidung nach bestmögliche Umgebung gebracht wird.«
Lena starrte verständnislos auf das Papier. »Er scheint hier doch in guten Händen zu sein.«
Dr. Köhler zog die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. »Frau Borowski, Herr Rohloff ist noch immer nicht aus der Narkose erwacht. Er liegt im Koma. Auslöser ist nicht der Schuss. Vermutlich ist er beim Fallen ungünstig mit dem Kopf aufgeschlagen.«
In Lenas Kopf spukten sogleich Erinnerungen herum. Eine junge Frau, die vor einem Schnellimbiss in Offenbach nach einem Schlag zu Boden ging und so unglücklich aufschlug, dass sie nicht mehr erwachte. Ein berühmter Sportler, der beim Skifahren in der Schweiz stürzte und monatelang im Koma lag; wie es ihm seither ging, wusste nur das engste Umfeld.
»Heißt das, er wird nicht mehr erwachen?« Ihr Hals war trocken geworden, die Worte schmerzten.
»Das können wir derzeit nicht sagen. Es sind noch eine ganze Reihe von Untersuchungen nötig.«
»Und wann …«
Dr. Gorg hob die Hand. »Er wurde vor einer Stunde in eine Privatklinik in Bayern geflogen. Die Komastation dort ist eine der besten Deutschlands und hervorragend ausgerüstet.«
Die Worte trafen sie wie ein Schlag. »Gerd ist nicht mehr hier?«
Gorg schüttelte den Kopf. »Wir haben so gehandelt, wie Herr Rohloff es sich gewünscht hat.« Als er ihr fassungsloses Gesicht sah, fügte er hinzu: »Das übrigens schon vor Jahren. Nach dem Tod seiner Ehefrau.«
Er beugte sich über seine Aktentasche und zog ein weiteres Blatt Papier heraus. »Seit einigen Monaten liegt uns jedoch noch ein weiteres Dokument vor. Es bevollmächtigt Sie, jederzeit Einblick in die Krankenakte zu erhalten. Ebenso wie bestimmte Entscheidungen zu treffen.« Er überreichte ihr einen Umschlag, der ihren Namen trug.
»Entscheidungen?«, stammelte Lena, über der gerade der Himmel einzustürzen schien.
Paula May hatte ihr beim Packen geholfen. Lena warf ein zweites Paar Jeans, einige T-Shirts, einen leichten Pullover, Sportsachen und einen Beutel mit Körperpflegemitteln in ihren Koffer. Selten in ihrem Leben hatte sie sich so fahrig gefühlt. Einmal stand sie minutenlang da, unfähig, etwas zu tun. Dabei rasten in ihrem Kopf die Gedanken wie Porsches auf einer Autobahn.
»Bad Reichenhall. Liegt an der österreichischen Grenze. Waren Sie schon einmal dort?«, holte die Psychologin sie aus ihrer Erstarrung.
Lena schüttelte den Kopf. Sie würde sich zusammenreißen müssen, um alles zu bewältigen, was vor ihr lag.
»Nehmen Sie einen Charterflug bis Hamburg«, hatte der Anwalt ihr geraten und gleichzeitig erklärt, wie er selbst es in der Kürze der Zeit geschafft hatte, von Frankfurt aus herzukommen. Erst war sie zusammengezuckt. Viel zu teuer, wollte sie einwenden. Jetzt starrte sie auf die Kreditkarte in ihrer Hand. Kein Limit. Ein Geschenk von Gerd, als sie hier einzogen. Bisher kaum genutzt. Fühlte sich immer noch fremd an. Jetzt war es ein Segen.
»Von Hamburg aus fliege ich nach Salzburg«, antwortete sie nun Paula May.
Zurück über die Grenze würde es mit dem Zug gehen. Ein Katzensprung. In Bad Reichenhall stand dann schon ein Mietwagen bereit. Die Klinik lag außerhalb der Stadt. Ruhig, inmitten einer weitläufigen Grünanlage. Mit Blick auf die Alpen. Wenn man denn wach war. Ganz in der Nähe gab es ein Hotel, in dem sie bereits ein Zimmer reserviert hatte. Sie funktionierte wie eine Maschine. Effizient. Es half ihr, die Angst zu verdrängen. Die Angst davor, was sie in dieser Privatklinik erwartete. Die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren über das Leben, in dem sie sich eben gerade eingerichtet hatte.
Eine Sozialarbeiterin und ein Rotlichtkönig. Das hatte anfangs nicht nach einer guten Kombination ausgesehen. Zu fremd waren sich die Welten, in denen sie unterwegs waren. Lenas Einsatzgebiete befanden sich in den Brennpunktvierteln des Frankfurter Umlands. Sie hatte es dabei tagtäglich mit vernachlässigten Kindern, misshandelten Frauen und sozial Abgestürzten zu tun. Mit Menschen, die irgendwann aus dem System gefallen waren und mal mehr aber auch mal weniger energisch darum kämpften, sich auf der sozialen Leiter wieder nach oben zu bewegen. Gerds Leben fand in der Nacht statt. In seinen Clubs, die alles boten, was man in einem Amüsierviertel erwartete. Striptease, Tabledance, SM-Spiele. Und wer wollte, konnte sich danach ein Zimmer in seinem Stundenhotel nehmen. Doch trotz dieses unterschiedlichen Hintergrunds, trotz der Tatsache, dass Gerd nach dem Tod seiner Frau keine Beziehung mehr gewollt hatte und Lena auf Frauen stand, hatte es schon bei ihrer ersten Begegnung gefunkt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Fast schien es ihr, als ob sie den leichten Stromschlag, den die Berührung ihrer Finger ausgelöst hatte, immer wieder spüren würde, sobald sie an Gerd dachte. Die Monate danach waren teils schön, teils schwierig gewesen. Für eine Weile hatten sie sich sogar getrennt. Tatsächlich zusammengefunden hatten sie jedoch erst nach dem Umzug. Ob es die Nähe der See war, die Gemächlichkeit, mit der das Leben im neuen Haus voranschritt, oder einfach die Tatsache, dass sie sich gegenseitig so viel zu geben hatten, war von Lena nie hinterfragt worden. Sie genoss es einfach. Die langen Spaziergänge am Meer, die Abende zu Hause, wenn Gerd das Essen selbst zubereitete – er war ein hervorragender Koch –, entspannte Stunden am Kaminfeuer. Lange Gespräche, die nie zu enden schienen, weil sie sie gedanklich immer weiterführten. Sein Humor, der trocken und pointiert war. Und sein Blick, der ihr in jeder Sekunde ihres Zusammenseins signalisierte, wie wichtig sie ihm war. Nun war mit einem Schlag, innerhalb von Sekunden, alles so zerbrechlich geworden. Sein Leben. Und damit auch ihres.
Sie verließ das Haus, in dem sie die vergangenen Monate so glücklich gewesen war, am frühen Morgen. Lena warf einen Blick in den Spiegel im Flur. Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Ihre grünen Augen waren dunkel umschattet und wirkten matt, ihr Kinn spitz. Sie fuhr sich mit der Hand durch das fast schwarze kurze Haar und trat durch die Tür auf die Straße. Nachdem die ersten Apriltage sich ungewöhnlich warm gezeigt hatten, legte das Wetter inzwischen einen Schwenk ein, die Luft war deutlich abgekühlt. Sie zog die Lederjacke eng um sich, als sie zum Taxi ging. Es brachte sie zu dem kleinen Flughafen, von dem normalerweise die Inselflieger abhoben. Von dem Moment, in dem sie in die kleine Chartermaschine stieg, fokussierte sie sich ganz auf ihr Ziel, blendete sie alles aus, was sie beunruhigte. Sie war nicht die einzige Passagierin, ein Mann in der üblichen Managerkluft wollte ebenfalls zum Flughafen Hamburg. Beide schwiegen den Flug über, der aufgrund des starken Windes etwas wackelig war. Er, weil er mit seinen Unterlagen beschäftigt war. Lena, weil sie gar kein Interesse an einem Gespräch hatte. Sie funktionierte wie ein Roboter. Alles zog an ihr vorüber wie hinter einer Milchglasscheibe. Mechanisch brachte sie das Umsteigen in Hamburg und Salzburg hinter sich. Erst, als sie am Ende ihrer Reise gegen Mittag ihren Mietwagen auf den Parkplatz der Privatklinik außerhalb Bad Reichenhalls lenkte, fing ihr Herz an, vor Angst wie verrückt zu schlagen. Als sie den Zündschlüssel abzog, zitterten ihre Finger so sehr, dass sie einen Moment lang warten musste, bevor sie ausstieg. Auf einmal lag die überwiegend schlaflose Nacht schwer wie Blei auf ihr. Eine Müdigkeit, die nicht von dieser Welt schien, erfasste sie und als sie auf das rechteckige vanillefarbene Gebäude zuging, verspürte sie wieder die diffuse Angst, die Heinrich Gorgs Worte am Vortag ausgelöst hatten.
Das Schreiben bevollmächtigt Sie, jederzeit Einblick in die Krankenakte zu erhalten. Ebenso, wie bestimmte Entscheidungen zu treffen.
Entscheidungen! Ein Wort, das eine düstere Note in sich trug, die so gar nicht zu dem frühsommerlich blauen Himmel und der milden Luft zu passen schien. Bevor Lena den mit Glas überdachten Eingang erreicht hatte, fuhr dort eine Limousine mit getönten Scheiben vor. Ein uniformierter Chauffeur stieg aus und öffnete den Schlag für ein arabisch aussehendes Paar, das aus der Klinik kam.
Unser Mandant hat verfügt, dass er im Falle eines Unfalls oder anderer Umstände, die eine freie Willensäußerung nicht möglich machen, in die unserer Meinung nach bestmögliche Umgebung gebracht wird.
Die bestmögliche Umgebung war also eine Privatklinik für sehr gut betuchte Patienten.
Die Limousine fuhr mit ihrer reichen Fracht davon und Lena betrat das Gebäude und steuerte auf den Empfang zu, wo sie sich auswies. Offenbar wusste man hier bereits Bescheid. Schon wenige Minuten später kam eine blonde Frau in einem blassblauen Kostüm auf sie zu und stellte sich als Ines Witt vor.
»Ich bin die Assistentin der Geschäftsleitung und bringe Sie jetzt zu Herrn Rohloff.«
Doch zuvor wurde Lena angewiesen, sich vor und nach jedem Besuch die Hände zu desinfizieren und auf das Mitbringen von Schnittblumen und Topfpflanzen zu verzichten.
Gerd lag in einem großen Zimmer im ersten Stock. Vor der Tür saß ein Polizeibeamter, der sich Lenas Ausweis ebenfalls zeigen ließ, bevor sie eintreten durfte. Durch das große Fenster neben dem Bett hatte man einen ausgezeichneten Blick auf die Berchtesgadener Alpen. Nur dass Gerd davon nichts hatte. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sein Kopf war bandagiert. Kanülen und Schläuche führten zu seinem Körper hin oder weg, so genau konnte Lena das nicht erkennen. Neben dem Bett standen Türme voller Geräte, Monitore zeigten Zahlen und Kurven an. Überraschenderweise roch es angenehm im Raum. Lena trat langsam näher und mit jedem Schritt schien die Faust, die ihr Herz umklammerte, fester zuzudrücken. Als sie vor ihm stand, seufzte sie unwillkürlich laut auf.
»Sprechen Sie mit ihm«, sagte Frau Witt leise und legte Lena kurz die Hand auf die Schulter. »Sie können bleiben, solange Sie wollen. Der behandelnde Arzt kommt gleich noch zu Ihnen.«
Im selben Moment öffnete sich die Tür, und ein dunkelhaariger Mann in einem weißen Arztkittel betrat den Raum. Er war kaum mehr als mittelgroß, etwas untersetzt und trug eine Hornbrille mit einem breiten dunklen Rahmen. Er stellte sich als Konrad Riess vor. Nachdem er Lena kurz erklärt hatte, warum Gerd ausgerechnet in diese Klinik gebracht worden war (»wir sind hochspezialisiert, unter anderem im Bereich der Behandlung von Komapatienten«), was sie und der Patient hier erwarten konnten (»eine personalintensive Rund-um-die-Uhr-Betreuung mit hochmodernen Geräten und Diagnosemethoden«) und was nicht (»Wunder können auch wir leider nicht vollbringen«), erläuterte er ihr noch weitere Details.
»Ihr Lebensgefährte wird eventuell gelegentlich die Augen öffnen. Das kommt vor, ist aber nicht unbedingt ein Zeichen davon, dass er ›wach‹ ist. Ebenso normal ist es, dass sich die Finger hin und wieder bewegen, kleine Kratzbewegungen machen. Auch das kennen wir, es sind Reflexe. Sie bedeuten weder, dass die Patienten etwas mitbekommen, noch, dass sie kurz davor sind, aus dem Koma zu erwachen.« Es folgten Ausführungen zur Bedeutung von Gehirnströmen, besonderen Untersuchungsmethoden und der Tatsache, dass niemand wirklich wissen könne, ob und wenn ja was Komapatienten von der Außenwelt mitbekommen. »Es gibt Menschen, die erwachen nie mehr. Diejenigen, die aus dem Koma zurückkehren, berichten ganz unterschiedliche Dinge. Manche glauben, sie hätten einen langen Schlaf hinter sich. Andere berichten davon, Stimmen und Berührungen wahrgenommen zu haben.« Lena, die sich tatsächlich gefragt hatte, ob Gerd etwas von ihrem Gespräch mitbekäme, nickte wie betäubt.
»Die Frage, ob und wann Maschinen in bestimmten Fällen abgestellt werden sollen, treffen im Übrigen viele Patienten selbst, indem sie eine Verfügung hinterlassen. An die wir, das möchte ich noch ausdrücklich betonen, gebunden sind. Auch Ihr Lebensgefährte hat ein Dokument aufgesetzt. Darüber sind Sie ja im Bilde.« Er blickte sie fragend an.
»Ja«, sagte Lena leise.
»Auch darüber, dass es im Zweifelsfall auf Ihre Entscheidung ankommt.«
Sie nickte, etwas schnürte ihr den Hals zu.
Ines Witts Finger drehten sich nervös ineinander. Sie hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt, aber ihr Mitgefühl stand im Raum wie eine fünfte Person.
»Frau Borowski. So ungut sich die Situation verständlicherweise gerade für Sie anfühlt, so ruhig sollten wir ihr ins Auge sehen. Im Moment können Sie nichts anderes tun, als für Herrn Rohloff da zu sein. Indem Sie ihn besuchen. Mit ihm reden. Ihn berühren. Dinge tun, die ihm gefallen würden. Mag er Musik?«
Lena räusperte sich. »Ja, er mag Klassik und Jazz.« Sie würde später ein paar seiner Lieblingsstücke herunterladen. Beethoven. Arvo Päth. Chet Baker.
»Dann spielen Sie ihm gerne zwischendurch was vor. Wir sind hier ja in der komfortablen Lage, Einzelzimmer zur Verfügung zu haben. Es gibt auch ein Badezimmer.« Er zeigte auf die Wand neben der Tür des L-förmigen Raumes. Der Zugang musste zum Fenster hin liegen, von ihrem Standort aus konnte sie ihn nicht sehen. »Sie können also stunden- oder tageweise bleiben. Falls Sie übernachten möchten, stellen wir Ihnen ein Zusatzbett herein. Aber ehrlich gesagt, rate ich Ihnen davon ab. Die Patienten werden auch nachts versorgt und unausgeschlafen sind wir Menschen meist ängstlicher und nervöser als sonst.«
Nun wandte er seinen Blick dem Bett zu. »Er atmet von alleine, benötigt also keinen Sauerstoff. Wir ernähren ihn künstlich. Sämtliche Körperfunktionen werden überwacht.«
Er trat ans Bett und sah auf den Mann hinunter, der kaum älter war als er selbst. Dann berührte er mit den Fingerspitzen Gerds Hand, als wolle er dessen Temperatur prüfen. »Ich bin guter Dinge«, sagte er, als er sich zu den beiden Frauen umwandte. »Der Patient ist, ganz allgemein, in einem guten gesundheitlichen Zustand. Das ist auf jeden Fall erfreulich. Wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie zu mir. Jederzeit.«
Dann, nach einer kleinen Pause, fügte er hinzu:
»Auch für Sie selbst werden die Besuche auf der Intensivstation belastend sein. Ihr Alltag wird durcheinandergeraten. Sie dürfen sich selbst dabei nicht vergessen. Sorgen Sie gut für sich. Das ist wichtig.«
Er gab Lena nicht die Hand, nickte ihr lediglich zu und verließ den Raum.
Ines Witt straffte den Rücken. »Wenn Sie weitere Fragen haben, bin auch ich für Sie immer ansprechbar. Ich lasse Sie jetzt alleine mit ihm. Das ist Ihnen doch recht, oder?«
Lena ging die paar Schritte bis zum Bett. Sie nickte beklommen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Gerds bleiches Gesicht wirkte eingefallen, auch sein Körper unter der weißen Decke erschien ihr furchtbar zerbrechlich. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn, während hinter Frau Witt die Tür zuglitt.
»Gerd«, sagte sie leise. »Wenn du mich hören kannst, gib mir ein Zeichen.«
Der Mann vor ihr rührte sich nicht. Seine Hand war kühl, viel kühler, als sie sie kannte. Gerds Hände, sie waren immer so warm gewesen. So beschützend. So stark. Lena schluckte hart, als sie seine Linke zwischen die Finger nahm. So saß sie über Stunden. Sie redete mit ihm, anfangs stockend. Dann immer flüssiger. Gerade so, als säßen sie gemeinsam irgendwo und unterhielten sich. Nur dass dieses Mal keine Antwort kam.
Lena verließ Bad Reichenhall am nächsten Morgen nach einem erneuten Besuch in der Klinik. Das Gespräch mit dem Arzt hatte ihr keine neuen Erkenntnisse gebracht. Man müsse abwarten. Selbstverständlich würde sie sofort informiert, sobald sich Gerhard Rohloffs Zustand ändere. Das Wetter an diesem Tag war trocken. Erfreulicherweise kam sie zügig voran. Inklusive zweier Kaffeepausen erreichte sie Frankfurt sechs Stunden später, gegen 16 Uhr. Der Aufenthalt in den Autobahnraststätten hatte Erinnerungen an eine ähnliche Situation geweckt. Gerd hatte ihr an einem solchen Ort von seinem Bruder erzählt.
»Schon von Kindheit an standen wir uns besonders nahe, waren unzertrennlich. Als Teenager dann kamen wir beide auf die schiefe Bahn. Nichts Großes. Zigarettenschmuggel, kleinere Diebstähle. Mein Bruder verzockte seine Kohle jedes Mal schnell wieder. Eines Tages kam er nicht nach Hause. Ich fand ihn in der Nähe einer illegalen Pokerstätte. Man hatte ihn so zusammengeschlagen, dass er nicht mehr laufen konnte. Spielschulden. Meine Mutter brach fast zusammen, als sie ihn sah. Es war furchtbar, denn die Schläger drohten, auch ihr etwas anzutun. Um das Geld zu beschaffen, ließ ich mich auf einen Raubüberfall auf einen Geldtransporter ein. Es ging gründlich schief, am Ende lag ein toter Wachmann auf dem Boden und wir erbeuteten nicht annähernd so viel, wie wir erhofft hatten.«
Gerds Stimme sprach aus der Erinnerung zu ihr.
»Ab dem Moment war Schluss mit unserer gemeinsamen kriminellen Energie. Wir bezahlten seine Schulden, ich zog mich von ihm zurück und er verschwandein paar Jahre. Später kam er zurück, als sei nie etwas gewesen. Ich hatte damals gerade ein Haus im Frankfurter Bahnhofsviertel gekauft. Mit legal verdientem Geld. Und ich hatte meine Frau kennengelernt.«
Marie. Die große Liebe seines Lebens. Viel wusste Lena nicht über sie. Nur dass sie nichts mit dem Rotlichtmilieu zu tun, sondern eine Kunstgalerie geführt hatte.