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Der humorvoll-vertraute Ton, der diesen Gratulationsartikel auszeichnet, verweist auf das außerordentlich gute Verhältnis Thomas Manns zu dem Jubilar. Bruno Walter war in München ab 1913 Generalmusikdirektor der Hofoper gewesen, hatte die Stadt aber bereits 1925 auf Grund zunehmender antisemitischer Anfeindungen verlassen. Mann hatte Walter mehrfach öffentlich unterstützt und ihm unter anderem den Artikel ›Musik in München‹ (1917) gewidmet. In seiner 1947 erschienenen Autobiographie beschreibt Walter in einem Abschnitt auch seine Beziehungen zur Familie Mann. Offenbar kannte Mann das Manuskript im August 1946 bereits und las laut Tagebuch während der Vorbereitung des Gratulationsbriefes darin. Der Text wurde am 13. September zunächst im New Yorker Aufbau (dt.) und im Oktober in Musical Quarterly (engl. Übersetzung) veröffentlicht. Thomas Mann nahm ihn zudem 1953 in den Sammelband ›Altes und Neues‹ auf.
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Seitenzahl: 16
Thomas Mann
An Bruno Walter zum siebzigsten Geburtstag
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Lieber Freund,
es ist sehr ärgerlich. Soeben sind wir, nach einer strengen Prüfungszeit von 34 Jahren, übereingekommen, fortan Du zu einander zu sagen, und nun muß ich Dir einen Geburtstagsbrief schreiben, in dem die schöne Neuerung garnicht zur Geltung kommt, da man ja in diesem verdammt übercivilisierten Englisch sogar seinen Hund mit »you« anredet. Sei es darum! Die kameradschaftlichen Gefühle, die ich Dir entgegenbringe, die festliche Herzlichkeit, mit der ich Dich auf der kürzlich auch von mir schon, nicht ohne verwundertes Kopfschütteln, beschrittenen Lebenshöhe, der Höhe der »70« begrüße, sie werden hoffentlich auch in der zwischen uns abgeschafften pluralischen Anredeform ihren Ausdruck finden – für uns und für alle, die irgendwie teilnehmen an unserem Dasein, irgendwann einmal davon berührt, beeindruckt wurden: Wenn man sie alle zusammenzählt, die von uns wissen, denen wir, jeder auf seine Art, etwas vorgespielt, etwas vorgelebt haben, so ist es nachgerade ja ein ganz ansehnlicher Ausschnitt der erdbewohnenden Menschheit.
Die größere Quote, versteht sich, kommt auf Dich. Das liegt, gesetzt, daß Du Deine Sache nicht einfach besser gemacht hast, als ich die meine, an der scheinbar allgemeineren Zugänglichkeit Deiner Kunst, der Musik, an ihrer scheinbaren Gutmütigkeit im Annehmen von »Genießern«, an ihrer gesellschaftlichen Festlichkeit und daran, daß auch bei ihren hohen Manifestationen an emotionellen, sinnlichen, sentimentalen, »erhebenden« Nebenwirkungen so viel für die Menge abfällt. Die Musik »läßt die Kindlein zu sich kommen«, – aber sehr nahe, unter uns gesagt, läßt sie sie nicht an sich heran. Sie ist im {153}