Ansprache im Goethejahr 1949 - Thomas Mann - E-Book

Ansprache im Goethejahr 1949 E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

Die Entscheidung, Thomas Mann im Jahr 1949 den Goethepreis der Stadt Frankfurt zu verleihen, erfolgte nicht ohne Widerspruch. Aber auch Mann gab wegen seiner kritischen Haltung zu Deutschland seine Zusage zu einer Festrede nur zögerlich. Die sowohl im Westsektor in der Frankfurter Paulskirche als auch im Ostsektor in Weimar gehaltene Rede bindet die eigene Existenz an den Menschen und das Werk Goethes und zeigt so die historische Rolle Goethes und selbstbewusst auch die eigene aktuelle Signifikanz für das zertrümmerte, zerrissene, in die Zonen der Siegermächte aufgeteilte Deutschland. Manns Rede zielt auf die Überwindung von Gegensätzen (»Ich kenne keine Zonen.«) und nimmt hierzu Goethe, den »musterhaften« Deutschen, zum Vorbild.

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Thomas Mann

Ansprache im Goethejahr 1949

Essay/s

Fischer e-books

In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk

{670}Ansprache im Goethejahr 1949

Meine Damen und Herren,

ich glaube, Sie würden es mit mir als unnatürlich empfinden, wenn ich, nach so freundlicher, so ehrenvoller Einführung, nun einfach, als handelte es sich um nichts anderes, einen der obligaten Goethe-Vorträge begänne, wie sie in diesen Tagen, diesem ganzen Jahr überall in der Welt gehalten werden. Das habe ich drüben in meiner neuen Heimat, dann in England, Schweden und in der Schweiz getan; hier und heute, in dieser seltsamen Lebensstunde, voller beklommener Traumhaftigkeit, kann ich es nicht. Zuviel des Persönlichen – und des mehr als Persönlichen auch wieder – drängt sich vor den historisch-festlichen Gegenstand und verlangt zuerst nach dem Wort, dem die Zeit überbrückenden, das das Einst mit dem Jetzt verbinden, der Entfremdung wehren, die Verschiedenartigkeit der Erlebnisweisen versöhnen möchte.

Wie mir zumute ist beim Wiedersehen mit dem Altvertraut-Vergangenen, das mir nach sechzehn von Geschehen überfüllten Jahren wieder Gegenwart und Wirklichkeit wird, – ich versuche gar nicht, es Ihnen anzudeuten. Die Erschütterung wird mir zuteil, die vor mir andere Emigranten beim Wiederbetreten des heimatlichen Bodens erfuhren, und die ihnen im Bilde von den Gesichtern abzulesen war. Ich sehe Arturo Toscanini, bevor er in der Scala zum erstenmal wieder den Taktstock hebt, dastehen, den Blick nach innen gerichtet, in bleicher Benommenheit. Ich sehe Fritz von Unruh, den Dramatiker und Pathetiker, als Redner bei der Paulskirchen-Gedenkfeier, im Kampf mit einer anwandelnden Ohnmacht sich an das Pult klammern. Ich glaube, er mußte hinausgestützt werden und sich niederlegen, bevor er fortfahren konnte. Nun, ich gedenke {671}auf den Beinen zu bleiben bei meiner kleinen Allokution, – meine viel berufene Nüchternheit wird mir dazu verhelfen, oder sagen wir: die Gefaßtheit und Gesetztheit des Erzählers, ein episches Phlegma, oder auch ein Sinn für Humor, der sich durch langen Aufenthalt in angelsächsischer Lebenssphäre eher noch verstärkt hat. Aber glauben Sie nicht, daß ich darum der erregenden Phantastik und Abenteuerlichkeit der Stunde und der Tragik, die ihr beigemischt ist, weniger zugänglich bin, als jene Schicksalsgenossen!

Im Fluge ziehen die Erlebnisse dieser anderthalb Jahrzehnte, in denen ich sechzig und siebzig wurde, mir durch die Seele: Die Abreise am 11. Februar 1933 zu Vorträgen im Ausland – eine Reise, unternommen wie hundert frühere, mit leichtem Gepäck, ahnungslos, ohne die leiseste Vorstellung davon, wie das Schicksal es mit dieser Ausfahrt meinte. Es gab keine Heimkehr. Ein Sturz von Ereignissen, die ich nicht zu nennen brauche, versperrte mir den Rückweg – für einige Zeit, wie ich zu glauben versuchte, für lange, für immer, wie ich langsam zu begreifen lernte. Wogegen ich zehn Jahre lang nach meinen Kräften gekämpft, wovor ich in den letzten Jahren mit wachsendem Grauen, auf Kosten meiner Ruhe und dessen, was man Popularität nennt, gewarnt hatte, das war durch Gewalt und List in Deutschland zu unumschränkter Macht gelangt. Ein Rausch, mir unheimlich in tiefster Seele, hob das Volk auf und nannte sich »nationale Revolution«. »Der Rausch« – was für ein zweideutig deutsches Wort! Wie mischen sich darin Begeisterung mit Entgeistung, das Höchste mit dem Niedrigsten, das Glück der Enthemmung, das Elend der Vernunftlosigkeit. Andere Sprachen haben dies Zauberwort gar nicht; sie setzen dafür ein sehr sachliches und nüchternes wie: Intoxikation, Vergiftung. Vergiftet schien mir Deutschland, nicht erhoben. Wild-fremd geworden über Nacht und verfratzt, bot es mir {672}keine Stätte und Atemluft mehr. Ich war nicht emigriert, ich war nur auf eine Reise gegangen. Und plötzlich fand ich mich als Emigrant.