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Eine unsterbliche Seele, gefangen in einem sterblichen Körper. Ein zerstörtes Land, das auf seine Retterin wartet. Eine Aufgabe, die den sicheren Tod bedeutet. Und eine Liebe, die die Zeit überdauert. Seit frühster Kindheit wurde Lijana im Kampf trainiert, doch nichts konnte sie auf das Schicksal vorbereiten, das ihr bevorsteht. Ein schöner Fremder entführt sie in seine Welt: In ein Reich, das einst von den Elfen bewohnt war und in dem die Elemente der Quell der Macht sind. Sie zu finden und in dem heiligen Turm zu vereinen ist die Aufgabe der Elementträgerin. Doch bisher hat jede Auserwählte auf dieser Suche ihr Leben verloren. Lijana wird zur entscheidenden Figur in einem grausamen Spiel um Herrschaft, Liebe und Tod. Während ihrer Reise durch die fremde Welt droht sie mehr zu verlieren, als nur ihr Herz …
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Seitenzahl: 303
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Anam Fear
Für Tom, weil du mein Seelengefährte bist. Für Henrik, weil du mich jeden Tag glücklich machst. Für Melli, weil du mich zu dieser Geschichte ermutigt hast.
Jessica Strang Stapenhorststraße 15 33615 Bielefeld www.tagtraeumer-verlag.de E-Mail: [email protected]
Buchsatz: Asuka Lionera Umschlaggestaltung: Asuka Lionera www.asuka-lionera.de Lektorat/ Korrektorat: Lena Knodt
Bildmaterial: © Shutterstock.com
Printed in Germany ISBN: 978-3-946843-67-2
Alle Rechte vorbehalten © Tagträumer Verlag 2019
Keuchend und schweißgebadet erwachte ich aus meinem Traum. Schon wieder. Schon wieder diese schwarzen Augen. Dieser intensive Blick. Der unbekannte Mann, der jede Nacht meinen Puls beschleunigte. Eine Insel mit einem aufragenden weißen Turm, die von tosendem Wasser umgeben war. Ich konnte niemanden an diesem mystischen Ort erkennen. Da waren nur der Fremde und ich. Ein Blick auf meinen Wecker ließ mich den Traum vergessen und holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich hatte verschlafen. Um pünktlich zur Vorlesung zu kommen, musste ich mich beeilen. Auf wackeligen Beinen ging ich ins Bad. Das kalte Wasser der Dusche weckte mich vollends, sodass ich mich gedanklich auf den anstehenden Tag konzentrieren konnte. Es spülte die Gedanken an den Traum fort. Ich zog mir einen locker fallenden Pullover und eine Jeans über. Bei der Wahl meiner Kleidung war Bequemlichkeit stets das Wichtigste. Schließlich wollte ich mich einfach wohl in meiner Haut fühlen. Mein Handy vibrierte und zeigte mir in einer Textnachricht an, dass meine beste Freundin schon seit zehn Minuten an unserem täglichen Treffpunkt auf mich wartete. Ich hastete aus der Wohnungstür und machte mich auf den Weg zu ihr. Zum Bahnhof brauchte ich zu Fuß lediglich ein paar Minuten, meine kleine Wohnung lag kaum fünfhundert Meter entfernt. Ich strich meine Kleidung glatt und befreite das Oberteil von einzelnen dunkelblonden Haaren. In der Menschenmenge, die sich immer im Bahnhof tummelte, entdeckte ich rasch Livs schwarzen Haarschopf. Mit ihren dunkelbraunen Augen und dem wohlgeformten Körper war sie ein Blickfang für alle Männer. Als wir uns kennengelernt hatten, hatte ich mich dabei erwischt, dass ich eifersüchtig auf ihr Aussehen gewesen war. Dieses Gefühl war mit der Zeit verblasst. Ich schätzte sie als Mensch und unsere Freundschaft bedeutete mir sehr viel, auch wenn es Momente gab, in denen sie mir Angst einjagen konnte. So wie in diesem Augenblick, als sie ihre roten Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste und mich finster ansah. „Du bist spät dran“, rief sie mir entgegen, als ich näher kam. Liv hatte schon für uns beide einen Kaffee besorgt und ging los, ohne dass ich die Chance hatte zu antworten. Ich trotte ihr schuldbewusst hinterher und blieb an der Bushaltestelle neben ihr stehen. Endlich richtete sie den Blick auf mich. „Deinetwegen müssen wir wieder während der Vorlesung auf dem Boden sitzen. Sicherlich werden alle Plätze besetzt sein.“ „Ich weiß, aber ich habe so fest geschlafen, dass ich den Wecker nicht gehört habe.“ Sie würde mich vermutlich für irre halten, wenn ich ihr erzählte, dass ich seit meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag jede Nacht denselben Traum hatte. Das waren schon drei Monate ohne friedlichen Schlaf. Gedankenverloren und schweigsam stiegen wir in den Bus, der wie immer heillos überfüllt war. Zum Glück dauerte die Fahrt nur zehn Minuten. Der Campus war riesig, da fast alle Fakultäten hier zu finden waren. Allein, um von einem zum anderen Ende zu gelangen, benötigte man manchmal fast eine halbe Stunde. Auf dem Weg zum archäologischen Institut begegneten wir zahlreichen Studenten, die ebenfalls pünktlich zu ihren Kursen kommen wollten. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass man manchen Menschen wahrhaftig ansah, welche Studienrichtung sie gewählt hatten. Wenn ich allerdings an eine Archäologin dachte, dann wäre mir nie das Bild von mir oder Liv in den Sinn gekommen. Wir bildeten wohl die Ausnahme. Von allen Fakultäten, die auf dem Campus vertreten waren, war unsere die mit den am schlechtesten ausgestatteten Räumlichkeiten. Die Einrichtung der einzelnen Zimmer hatte die besten Jahre bereits hinter sich und es lag immer ein modriger Geruch in der Luft. Ich konnte allerdings nie genau sagen, wo dieser Duft seinen Ursprung hatte. Erleichtert stellte ich fest, dass wir es noch pünktlich zur Vorlesung über die Pikten geschafft hatten. Professor Kingsley legte so viel Leidenschaft und Enthusiasmus in sein Referat, dass ich den holprigen Tagesanfang vergaß und gefesselt seinen Worten lauschte. Er beendete seinen Vortrag über eine Ausgrabungsstätte in Schottland mit der Aussicht, dass er eine Gruppe von Studenten gern dorthin mitnehmen würde, damit sie praktische Erfahrungen sammeln konnten. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich meinen Namen auf die Liste setzte. Liv tat es mir gleich. Wir würden in zwei Monaten, wenn die Semesterferien begannen, nach Schottland fliegen und uns dort auf den Weg zur Ausgrabungsstätte machen.
Die Buchhandlung befand sich in einer kleinen Nebenstraße in der Altstadt. Das Backsteinhaus versprühte seit jeher einen erhabenen Charme und das Schaufenster des Ladens war stets liebevoll dekoriert. Die Symbole auf dem Türsturz konnte ich keiner bekannten Sprache zuordnen. Chris, der Besitzer des Ladens, hüllte sich in Schweigen, wenn es um deren Bedeutung ging. Als ich eintrat, ertönte eine kleine Glocke und mir schlug der Geruch von antiquarischen Büchern entgegen. „Chris?“ Statt einer Antwort hörte ich, wie ein Stapel von Büchern umstürzte. „Ich bin im Lager und sortiere die aktuelle Lieferung ein. Kümmere dich bitte um Kunden, wenn denn welche kommen.“ Ich ging zur Kasse, steckte mir mein Namensschild an und betrachtete die Wände mit den Bücherregalen. Es verirrten sich nur selten Leute in diese kleine Buchhandlung und ich fragte mich oft, wie Chris mich von den mageren Einnahmen bezahlen konnte. Aber mein Lohn war stets pünktlich da und ich liebte die Arbeit, daher stellte ich ihm auch keine Fragen über seine finanzielle Lage. Langsam schritt ich durch die Gänge auf der Suche nach einem neuen Lieblingsbuch. Plötzlich verspürte ich ein Kribbeln im Nacken. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab. Ich blickte aus dem Schaufenster direkt in die bernsteinfarbenen Augen eines blonden Mannes, der mich mit seinem Blick fixierte. Seine vollen Lippen formten ein Lächeln und in meinem Inneren schrillten sämtliche Alarmglocken. „Lijana, was tust du denn da?“ Ich wandte mich ab und sah Chris, der mich mit einem tadelnden Blick bedachte. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte. Als ich wieder hinaussah, war der mysteriöse Typ verschwunden und mit ihm auch das ungute Gefühl. Chris ging zurück ins Lager. Ich hätte gern über seine staubige Kleidung und die zerzausten grauen Haare gelacht, wenn ich nicht noch mit dieser unheimlichen Begegnung beschäftigt gewesen wäre. Fünf Stunden später beendete ich meine Schicht, verabschiedete mich und ging nach Hause.
Als ich endlich in meinen Schlafsachen auf dem Bett lag, konnte ich dem Drang nicht widerstehen, ein neues Buch anzufangen. Ich liebte Fantasy-Geschichten und hatte als Kind oft davon geträumt, selbst Teil einer solchen Welt zu sein. Ein Abenteuer zu erleben erschien mir schon immer verlockend. Das war auch der Grund, warum ich Archäologie studierte. Ich wollte auf einer Ausgrabung verloren geglaubte Schätze finden und deren Geschichte niederschreiben. Meine Familie hatte diesen Wunsch nie nachvollziehen können, aber sie unterstützten mich so gut sie konnten. Nachdem ich ihnen offenbart hatte, dass ich zum Studium an einer Universität angenommen worden war, die hunderte von Kilometern entfernt lag, hatten sie darauf bestanden, dass ich mein Training hier weiter fortführte. Seit meiner Kindheit hatten sie mich zu verschiedenen Selbstverteidigungskursen und Kampfsportarten geschleppt. Wenn ich daran zurückdachte, gab es sogar Zeiten, in denen es mir Freude bereitet hat. Aber je älter ich wurde, desto mehr verlor ich das Interesse daran. Die Angst, dass mir etwas in einer Großstadt passieren könnte, war bei meiner Familie jedoch so tief verankert, dass ich versprochen hatte, hier damit weiterzumachen. Besonders mein großer Bruder war um mich besorgt. Er hatte sogar Liv beauftragt, mit mir zum Training zu gehen, dabei war das gar nicht nötig. Ich stand immer zu meinem Wort und konnte sehr gut selbst auf mich aufpassen. Für meine Familie war ich aber immer noch ein kleines, schüchternes Mädchen und keine junge Frau, die ihren eigenen Weg ging.
„Berichte!“ Der Herrscher des Lichtreiches betrachtete seinen Sohn angespannt. Er schien jeden Augenblick bereit, ihn vor dem versammelten Rat zu bestrafen, sollte er Ungehorsam zeigen. „Ich glaube, dass ich sie gefunden habe. Sie stand in einem kleinen Geschäft und verströmte die Magie des Mals. Ich konnte aber nicht hinein gehen und mich davon überzeugen, da sich Schutzzeichen des Schattenreiches auf dem Türsturz befanden, die mir den Zutritt verwehrten.“ Schweigen erfüllte den prunkvollen Saal, dessen meterhohe Wände durch zahlreiche Gemälde verziert waren. Sie zeigten die vergangenen Herrscher und die glorreichen Siege, die sie errungen hatten. Der goldene Stuck an der Decke spiegelte nur einen Bruchteil der Kostbarkeiten wieder, die in diesem Schloss zu finden waren. An einem großen Tisch aus Rosenholz saßen die Mitglieder des Rates, alles hochangesehene Adlige und Offiziere, die es vermieden, dem König direkt in die Augen zu sehen. Als die Stille schier unerträglich wurde, brach dieser das Schweigen und wandte sich wieder seinem Sohn zu. „Ragnar, du wirst dich an ihre Fersen heften, um ganz sicher zu sein, dass sie die Elementträgerin ist. Wir können es uns nicht erlauben, einen Fehler zu machen. Sonst wird diese Welt so zerrüttet bleiben, wie sie ist. Sobald sich deine Vermutung bestätigt, wirst du sie in unser Reich bringen, damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann. Uns rennt die Zeit davon.“ Die Rede seines Vaters war zu Ende und alle Augen richteten sich auf Ragnar. Wortlos stand dieser auf, verbeugte sich und verließ den Saal mit schnellem Schritt. Auf dem Weg zu seinem Zimmer begegneten ihm Soldaten und Bediensteten des Schlosses, welche ihn mit Ehrfurcht betrachteten. Er schloss die Zimmertür hinter sich und atmete hörbar aus. Ragnar hielt einen Moment inne und überflog mit seinem Blick die Kostbarkeiten seines Zimmers. Wo man auch hinsah, erblickte man goldene Verzierungen und kunstvoll gefertigte Möbel. Manchmal war ihm dieser ganze Prunk zuwider. Er war nicht gemacht für ein Leben in einem goldenen Käfig. Mit großem Schritt ging er durch den Raum und hielt vor dem Kleiderschrank inne. Rasch verstaute er genug Kleidungsstücke für die Mission in einer Tasche. Der Prinz wandte sich einer anderen Ecke in seinem Zimmer zu, in der seine Waffen lagerten. Wenn man nicht wusste, wie man den Mechanismus auslöste, verbarg der Raum sein Geheimnis vor fremden Blicken. Im Schloss gab es mehrere Räume, die eine verborgene Waffenkammer besaßen. Ragnar verstaute einen Dolch sicher an der Innenseite seines Beines und dachte kurz über die ganze Situation nach. Er hatte seinem Vater verschwiegen, dass er genau wusste, dass sie die Auserwählte war. Tief in seinem Inneren spürte er es. Als er an ihren erschrockenen Blick dachte, huschte ein Lächeln über seine Lippen. Sie hatte keine Ahnung. Sie wirkte so in sich gekehrt und wollte scheinbar keine Aufmerksamkeit erregen. Die Aufgabe, die ihr bevorstand, würde alles von ihr verlangen. Dabei wusste sie von alledem nichts.
Die verbliebenen zwei Monate bis zur Ausgrabung vergingen rasch. Ich besuchte meine Veranstaltungen und schaffte es zur Abwechslung sogar, die meiste Zeit pünktlich zu sein. Nebenbei arbeitete ich öfter in der Buchhandlung, um den Flug und die Unterkunft in Schottland bezahlen zu können. Liv bot mir zwar an, mir Geld zu leihen, aber das Angebot schlug ich aus. Ich hasste es, bei jemandem Schulden zu haben. Wir hatten abgemacht, uns am Abend vor dem Flug noch in unserer Stammbar zu treffen. Also zog ich mich nach meiner Schicht um. Da es im Februar in unserer Stadt noch recht kalt war, entschied ich mich für einen dunkelgrünen Pullover und eine schwarze Hose. Ich kämmte mir die langen Haare und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ich erreichte die Bar und stellte mit einem Blick durch die Glasscheibe fest, dass Liv schon am Tisch saß. Ich registrierte den gutaussehenden Mann, der ihr gegenüber saß und mir vage bekannt vorkam. Ein paar Sekunden verstrichen, bis mir bewusst wurde, wer sich dort mit meiner besten Freundin unterhielt. Meine Knie wurden weich. Ich überlegte, schnurstracks nach Hause zu flüchten, da ich das dringende Bedürfnis hatte, mich in Sicherheit zu bringen. Aber das konnte ich Liv nicht antun. Sie hasste es, wenn man Verabredungen einfach so absagte und ich wusste, dass sie mich dann den ganzen Flug über anschweigen würde. Also atmete ich tief ein, schüttelte diese unerklärliche Furcht ab und öffnete die Tür zur Bar. Ihr Gespräch schien ziemlich angeregt zu sein. So wild hatte ich Liv noch nie gestikulieren gesehen und ihr Blick wirkte so leidenschaftlich, als ob sie für etwas kämpfte. Als meine Freundin mich entdeckte, wirkte sie erschrocken, als hätte sie nicht mit mir gerechnet. Vielleicht wäre es ihr lieber gewesen, ich hätte sie und den Fremden, der damals vor der Buchhandlung gestanden hatte, nicht unterbrochen. Liv winkte mich zu sich und gab dem Mann mit einer Geste zu verstehen, dass wir heute Abend unter uns bleiben wollten. Er stand auf und nahm sich noch die Zeit, mich ausgiebig zu betrachten. Ein Lächeln überzog sein markantes Gesicht, und wieder huschte ein Schauer über meinen Rücken. Er wirkte so elegant in dem Hemd. Der oberste Knopf stand offen und enthüllte einen Teil seiner muskulösen Brust. Die beiden würden wirklich ein schönes Paar abgeben. Gedankenverloren merkte ich dabei nicht, dass der Fremde schon verschwunden war. „Wer war das?“ Ich konnte meine Neugier nicht unterdrücken. „Sein Name ist Ragnar und wir kennen uns von früher.“ Mehr schien Liv zu diesem Thema nicht sagen zu wollen und ich ließ die Sache auf sich beruhen. Im Laufe des Abends redeten wir über alle möglichen Themen, aber besonders die anstehende Exkursion faszinierte uns beide. Liv wirkte verträumt. „Ich finde Schottland umgibt eine mystische Aura, so als ob das ganze Land magisch wäre.“ Ich nickte stumm und sie fuhr fort. „Meine Mutter hat mir als Kind erzählt, dass es mal eine Zeit gab, in der die Namen der Kinder nach ihrer Bedeutung ausgesucht wurden. Wenn ein Mädchen zum Beispiel Erfolg und Siege in ihrem Leben erringen soll, bekam sie den Namen Viktoria.“ Ich schmunzelte. „Müsste dann die Welt nicht voll von Viktorias sein? Alle Eltern wollen doch, dass ihre Kinder erfolgreich sind.“ „So meinte ich das nicht. Man sieht das Kind an und der Name manifestiert sich in Gedanken. Nicht jeder von uns ist dazu bestimmt, große Siege zu feiern, auch wenn fast alle sich das wünschen.“ Wir schwiegen eine Weile und ich dachte über ihre Worte nach. Die Vorstellung, dass der Weg eines jeden Menschen vorgezeichnet war, beunruhigte mich. Ich war der Überzeugung, dass ich selbst über mein Leben entschied und keine höhere Macht. „Welche Bedeutung hat dein Name, Liv? Wenn deine Mutter daran glaubt, wird sie sich doch etwas bei ihm gedacht haben.“ „Er bedeutet Beschützerin.“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Du wirst Archäologin und keine Polizistin. Wen sollst du denn beschützen?“ Eine unangenehme Stille trat ein und zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, Liv wäre in ihren Gedanken versunken. Ihr Blick wurde jedoch augenblicklich klarer. Sie sah mich an und ihre Lippen formten ein Lächeln. „Vielleicht dich“, sagte sie. Ich wollte etwas darauf erwidern, aber eine andere Frage erschien mir mit einem Mal wichtiger. „Was bedeutet der Name Ragnar?“ Livs Blick verfinsterte sich. „Er bedeutet Entscheidung der Götter. Aber in seinem Fall“, sagte sie und deutete mit dem Gesicht zum Ausgang, „bezieht es sich eher auf Ragnarök.“ Mein Blick muss die Fragezeichen in meinem Innersten widergespiegelt haben, denn sie fuhr fort. „Ragnarök bezeichnet den Weltuntergang.“ Angst umfing mich und ich musste unweigerlich an meinen Traum denken. Den restlichen Abend waren wir beide in unsere Gedanken versunken und wechselten nur noch ein paar Worte, bevor wir nach Hause gingen.
Am nächsten Morgen stand ich mit meinem vollgepackten Rucksack am Bahnhof und wartete auf Liv. Wir würden uns am Flughafen mit den anderen Studenten treffen und dann gemeinsam in den Flieger nach Schottland steigen. Der Rucksack auf Livs Rücken wirkte geradezu monströs im Vergleich zur ihr. Seit ich sie vor drei Jahren kennengelernt hatte, war sie schon immer zierlich gewesen. Ich hingegen überragte sie um einige Zentimeter, aber war nicht so durchtrainiert wie sie. Während Liv beim Essen immer darauf achtete, was sie zu sich nahm, vergötterte ich Pizza und Schokolade. Da half leider auch kein Training, aber das störte mich nicht. Für mich war es wichtig, zufrieden mit mir zu sein und Zeit mit Menschen zu verbringen, die mir etwas bedeuteten. Bei dem Gedanken an die erste Begegnung mit Liv grinste ich vor mich hin. „Woran denkst du gerade?“, fragte sie mich verwundert. „Ach, nur daran, wie wir uns kennen gelernt haben. Als der Wind meine Notizen über den kompletten Campus verteilt hat und du mir geholfen hast, sie einzusammeln.“ Sie funkelte mich amüsiert an. „Siehst du, auch damals hab ich dich schon beschützt.“ Ich blinzelte ungläubig. „Und wovor?“ „Durch deinen Kurs zu fallen, weil du ohne deine Notizen nicht für die Klausur hättest lernen können.“ Wir fingen beide an zu lachen und ich war so dankbar, dass wir uns damals begegnet waren. Ich hatte nicht viele Freunde, aber bei Liv hatte ich mich sofort wohlgefühlt. Bei ihr konnte ich so sein, wie ich war. Wir waren immer ehrlich zueinander und ich hatte keine Geheimnisse vor ihr. Mit den Jahren war sie für mich zu einer Schwester geworden. Während wir mit dem Zug zum Flughafen fuhren, waren wir beide in ein Buch vertieft. Liv liebte Fantasybücher genauso sehr, wie ich es tat. Noch eine Gemeinsamkeit, die ich sehr zu schätzen wusste. Im Flughafen mussten wir uns erst einmal anhand einer Karte, die die Aufteilung der unterschiedlichen Gebäude zeigte, orientieren. Eine Masse an Menschen strömte umher und es war schier unmöglich, einen Angestellten zu fragen, wo sich der Meeting-Point befand. Zum Glück hatten wir genug Zeit eingeplant, denn wir brauchten fast eine Dreiviertelstunde, um unsere Gruppe zu finden. Professor Kingsley hakte unsere Namen auf seiner Liste ab. Als ich selbst anfing, meine Kommilitonen zu betrachten, musste ich feststellen, dass wir bereits vollzählig waren. Nachdem wir weitere fünfzehn Minuten gewartet hatten, wandte ich mich zu meinem Dozenten. „Herr Kingsley, wollen wir uns nicht auf den Weg zum Gate machen? Alle zehn Studenten sind doch anwesend.“ Er sah mich einen Augenblick kritisch an. „Einer fehlt noch.“ Noch bevor ich fragen konnte, wer denn derjenige war, auf den wir warteten, tauchte Ragnar auf und gesellte sich wie selbstverständlich zu unserer Gruppe. Liv und mir stockte der Atem. Alle anderen schien es jedoch nicht zu stören, dass jemand, der noch nie zuvor unseren Kurs besucht hatte, an der Exkursion teilnahm. Ich hatte ihn noch nicht einmal auf dem Campus gesehen, geschweige denn in unserem Institut. „Was hat er denn hier zu suchen?“ Verwundert wandte ich mich an Liv. Sie schnaubte. „Er hat mir gestern nicht gesagt, dass er uns begleiten würde. Halt dich lieber fern von ihm, er bereitet nur Schwierigkeiten.“ Ich runzelte verwundert die Stirn, sagte aber nichts zu ihrer Warnung. Vielleicht war ich ja zu misstrauisch, aber ich glaubte nicht an diese ganzen Zufälle. Es musste einen Grund geben, warum er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war und nun scheinbar jeden unserer Schritte verfolgt. Während ich mir verschiedene Theorien zurecht legte, wurde unser Flug zum Boarding aufgerufen. Ich hatte bereits meinen Sitzplatz erreicht und wartete auf Liv. Ihr Platz wurde jedoch von jemand anderem besetzt. Neben mir saß Ragnar. „Ich hoffe du hast nichts dagegen, wenn ich mich zu dir setze.“ „Eigentlich schon“, erwiderte ich kühl. Hinter Ragnar ertönte plötzlich ein Räuspern. „Das ist mein Platz. Deiner befindet sich mit Sicherheit weiter hinten im Flugzeug“, wies ihn Liv zurecht. Er musterte mich wieder von oben bis unten, dann reichte er mir die Hand. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Ragnar und wie heißt du?“ Ich musste mich wohl verhört haben, denn er reagierte nicht auf das, was Liv zuvor gesagt hatte. „Liv, würden Sie nun bitte einfach einen Platz einnehmen? Der Gang im Flugzeug ist schmal genug und Sie halten hier alle auf.“ Professor Kingsley blickte Liv auffordernd an. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass sie anfangen würde, zu protestieren, aber dann ging sie zu einem anderen Platz. Belustigt schaute mich Ragnar an. „Wie lautet nun dein Name?“ „Lijana.“ „Freut mich, dich kennenzulernen.“ Er reichte mir seine Hand, aber ich ging nicht auf diese Geste ein. Es war ein kurzer Flug nach Schottland, aber ich befürchte, mit diesem Sitznachbarn würde es mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Liv Ragnar mit ihren Blicken förmlich durchlöcherte. Was war zwischen den beiden vorgefallen? Woher kannten sie sich? Ragnars Anwesenheit machte mich nervös und irgendetwas an ihm versetzte mich in Alarmbereitschaft. Er sah gut aus und die Art, wie er sich verhielt, legte den Gedanke nahe, dass er sich dessen durchaus bewusst war. Genau das missfiel mir. Zum Glück hatte ich genug Selbstwertgefühl, um nicht auf so einen narzisstischen Gockel hereinzufallen. Stattdessen war ich neugierig, was sich hinter dieser Fassade verbarg. „Ich habe dich noch nie zuvor in diesem Kurs gesehen. Wie kommt es, dass du an dieser Exkursion teilnehmen kannst?“ Er guckte mich kurz skeptisch an. „Ich habe vorher im Ausland studiert und bin dann nach Deutschland gekommen, um mein Studium zu beenden. Professor Kingsley kannte mich noch von früher, weil er an meiner alten Universität Kurse gegeben hat. Er wollte, dass ich an der Exkursion teilnehme, damit ich mein Spektrum erweitere und praktische Erfahrungen sammele.“ „Woher kennst du Liv?“ Die Frage verfehlte ihre Wirkung nicht und kurze Zeit schien er überrumpelt. Er sammelte sich jedoch in einem Sekundenbruchteil. „Hm, da sie dir offensichtlich nichts zu mir oder der Vergangenheit erzählt hat, kann ich deine Frage leider nicht beantworten.“ Ein wölfisches Grinsen zog sich über sein Gesicht. „Ich möchte ja nicht ihren Zorn zu spüren bekommen.“
Nach fast zwei Stunden Flug erreichten wir endlich Edinburgh. Die Aussicht war spektakulär, als wir uns im Landeanflug befanden. Die Dunkelheit der Nacht überzog bereits das Land und einzelne Lichter der Häuser strahlten in den Himmel. Vom Flughafen aus benötigten wir mit dem Taxi noch eine halbe Stunde zum Bed and Breakfast. Wir mussten uns auf drei Autos verteilen, um uns und unser Gepäck vollständig zu transportieren. Die Straßen wurden zunehmend holpriger, je weiter wir die Stadt verließen. Ich atmete erleichtert auf, als wir endlich unser Ziel erreicht hatten. Das Bed and Breakfast musste früher einmal ein altes Herrenhaus gewesen sein, zumindest ließ die opulente Größe keine andere Schlussfolgerung zu. Hinter dem Haus breitete sich ein dichter Wald aus, der durch die knorrigen und verwachsenen Bäume sehr alt wirkte. Ich konnte kaum glauben, dass unsere Unterkunft nur so wenig Geld kosten sollte. Je länger ich das Haus betrachtete, desto mehr beschlich mich die Ahnung, dass wir hier falsch waren. Professor Kingsley ging jedoch zielstrebig zur Rezeption. Eine blonde Frau stand hinter dem Tresen und musterte uns nacheinander. Ragnar hatte es ihr scheinbar angetan, denn sie wandte erst den Blick von ihm ab, als Professor Kingsley sich räusperte und nach unseren Zimmerschlüsseln verlangte. Da es sich bei den Zimmern um Doppelzimmer handelte, konnte ich mir meins mit Liv teilen. Unser Dozent bezog ein Einzelzimmer und auch Ragnar konnte für sich allein ein Zimmer beanspruchen. Es lag vielleicht daran, dass er der Frau an der Rezeption ein paar Sätze zuflüsterte und sie daraufhin rot anlief. Das Haus verfügte insgesamt über zwanzig Zimmer und außer uns hatte niemand eine Buchung für das Bed and Breakfast vorgenommen. Unsere Räume befanden sich alle auf dem gleichen Flur. Als Liv und ich das Zimmer betraten, kamen wir aus dem Staunen nicht heraus. Der Raum war gigantisch und neben einem Kleiderschrank und einem kleinem Schreibtisch befanden sich zwei große Betten in ihm. Die Möbel waren in einem hellen Grauton gehalten und passten zu den mintfarbenen Wänden. Wortlos stellten wir unsere Rucksäcke auf den Boden und jede von uns ließ sich auf ein Bett fallen. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich Liv aufrecht hin und suchte meinen Blick. „Tut mir leid, dass ich im Flugzeug nicht neben dir gesessen habe. Ich glaube, wenn ich protestiert hätte, wären wir unangenehm aufgefallen.“ Sie schaute mich lange an. „Wollen wir uns das Herrenhaus angucken? Ich bin gespannt, ob es hier einen Geheimgang gibt.“ Bei dem Gedanken an einen versteckten Schatz, der sich vielleicht irgendwo in diesem Gemäuer verbarg, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen und nickte. Nachdem wir uns in ein paar Räumen umgesehen hatten, landeten wir in der Bibliothek des Hauses. In dem Raum befand sich neben deckenhohen Bücherregalen ein prasselndes Kaminfeuer, vor dem zwei alte Ledersessel zum Verweilen einluden. Der Geruch nach alten Büchern und verbranntem Kiefernholz löste vertraute Gefühle in mir aus und eine Sehnsucht nach Ruhe. Ich war den ganzen Tag mit anderen Leuten unterwegs gewesen und hatte jetzt das dringende Bedürfnis, mich in einen dieser Sessel zu setzen und dem Feuer beim Herunterbrennen zuzusehen. Natürlich durfte in diesem Szenario ein gutes Buch nicht fehlen. Liv musste meinen Blick bemerkt haben, denn sie ging langsam zum Ausgang. „Wir sehen uns dann morgen früh.“ Sie zwinkerte mir zu und war dann rasch verschwunden. Ich schlenderte zum Bücherregal und zog ein Buch über die schottischen Mythen hervor. Mit einem Seufzen ließ ich mich in einen der Ledersessel fallen und ließ meinen Blick zwischen Buch und Feuer wandern. So verging die Zeit und als ich bereits im Begriff war, ins Bett zu gehen, sah ich aus dem Augenwinkel einen Schatten im Eingang stehen. Ich drehte langsam meinen Kopf zum Türrahmen, in dem sich Ragnar angelehnt hatte. „Du scheinst deine Freizeit ja gern mit Büchern zu verbringen.“ Das Kaminfeuer ließ seine Augen noch intensiver strahlen. Sie schimmerten wie flüssiges Gold. Er fixierte mich und mir fiel erst jetzt auf, dass ich ihn die ganze Zeit anstarrte. Ich räusperte mich kurz. „Bücher enthalten nun einmal Geschichten, Erinnerungen und das Wissen so vieler Generationen, dass man davon nur fasziniert sein kann.“ Einen Augenblick lang sagte niemand von uns beiden etwas und ich hatte das Gefühl, dass er über meine Worte nachdachte. „Vor ein paar Tagen hast du mich im Buchladen beobachtet. Warum?“ Er verzog keine Miene und blickte kurz zur Seite. „Ich war auf der Suche nach einem bestimmten Buch über die Pikten und dachte, ich hätte es im Schaufenster erkannt. Dich habe ich nur am Rande wahrgenommen.“ „Aber dennoch genug, um sich daran zu erinnern“, erwiderte ich zynisch. „Du solltest dir lieber nichts einbilden. Du bist nicht so ganz mein Typ, obwohl ich zugeben muss, dass ich dein verträumtes Lächeln ganz niedlich finde.“ Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben und es bildeten sich kleine Grübchen in seinem Gesicht. Dann drehte er sich um und ging die Treppe hinauf in sein Zimmer. Idiot. So ein blöder, selbstverliebter Idiot. Immer noch fassungslos über sein herablassendes Verhalten ging ich auf mein Zimmer. Liv lag schon im Bett und schlief. Ich konnte eine lange Zeit nicht einschlafen, weil ich innerlich so vor Wut brodelte. Nur weil er umwerfend aussah, gab ihm das nicht das Recht, andere so herablassend zu behandeln. Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein, weil ich merkte, wie mich jemand wachrüttelte. „Lijana, wach endlich auf, wegen dir verpassen wir noch das Frühstück.“ Aus zusammengekniffenen Augen sah ich Liv an, die über mir stand und zum Schlag ausholte. „Ich bin wach, lass den Mist!“ rief ich ihr erschrocken entgegen. „Gut, dann beeil dich bitte. Die Anderen sind bestimmt schon unten und warten auf uns.“ Rasch sprang ich aus dem Bett und zog mich im Badezimmer um. Liv war bereits vorgegangen und ich folgte ihr die Treppe hinunter in den Speiseraum. Der lichtdurchflutete Raum mit den bodenlangen Fenstern passte ganz zum Stil des restlichen Herrenhauses. An einer großen Tafel hatten bereits alle Platz genommen. Am Kopfende saß Professor Kingsley. Die anderen Studenten schauten kurz zu uns. Ich kannte nur drei von den restlichen neun Studenten mit Namen. Links neben unserem Professor saß Sarah, die angeregt mit Thomas diskutierte. Sarah mit ihrer zierlichen Figur, den blonden langen Haaren und den himmelblauen Augen war ein starker Gegensatz zu Thomas, der wie ein Hüne über allen aufragte. Er hatte kurze braune Haare und ebenfalls blaue Augen. Die beiden ergaben wirklich ein skurriles Paar. Als wir uns gesetzt hatten, war immer noch ein Platz frei. Ragnar fehlte. Sarah bemerkte meinen verwirrten Blick. „Er wird an der Ausgrabungsstelle zu uns stoßen. Zumindest hat der Professor das vorhin verkündet.“ „Oh, okay.“ Ich wusste nicht, was ich weiter dazu sagen sollte. Mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass ich seit der kargen Mahlzeit im Flugzeug nichts mehr gegessen hatte. Nach der Begegnung mit Ragnar am Abend zuvor war mir der Appetit vorerst vergangen gewesen. Also betrachtete ich den gut gedeckten Tisch mit den Croissants, Pancakes, Brötchen und den zahlreichen Marmeladensorten und schaufelte mir meinen Teller voll. Nachdem wir uns alle satt gegessen hatten, beendete der Professor das Frühstück. In fünfzehn Minuten würden wir zum Ausgrabungsort aufbrechen. Rasch gingen Liv und ich auf unser Zimmer und packten unsere Unterlagen zusammen. Die Fahrt dauerte fast zwei Stunden und jede Minute zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin. Es war die erste Ausgrabung, an der ich teilnehmen würde und ich war schon gespannt auf die Artefakte, die sich noch in den Tiefen der Erde versteckten. Als das Taxi endlich anhielt, sprang ich aus dem Wagen. Ich wollte so schnell wie möglich zu der Ausgrabungsstätte. Plötzlich stellte sich mir ein großer Mann in den Weg. Professor Kingsley kam zu uns und räusperte sich. „Lijana, ich möchte nicht noch einmal erleben, dass Sie aus dem Auto springen wie ein kleines Kind. Wir sind hier nicht auf einem Spielplatz und ich dulde ein solches Verhalten nicht. Sollten Sie sich nicht an meine Regeln halten, fliegen Sie unverzüglich zurück.“ Das hatte gesessen. Ich wusste, dass er recht hatte, aber meine Neugier und der Entdeckerdrang waren einfach zu groß. Er wandte sich um und betrachtete nun den Wachmann. „Wir haben eine Genehmigung und dürfen an der Ausgrabung teilnehmen. Es ist also unnötig, sich meinen Studenten in den Weg zu stellen.“ Der Mann verzog keine Miene. „Es kam zu einem Diebstahl in der vergangenen Nacht. Solange wir nicht wissen, wer der Täter ist, finden keine weiteren Ausgrabungen statt.“ Sowohl ich als auch alle anderen Anwesenden waren viel zu überrascht, um uns über die Tragweite dieser Aussage bewusst zu werden. Professor Kingsley durchbrach das Schweigen. „Was wurde gestohlen? Haben Sie schon einen Anhaltspunkt, wer der Täter ist?“ „Es tut mir leid, aber dazu darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben.“ Der Professor wollte gerade zur Widerrede ansetzen, als Ragnar hinter der Absperrung hervortrat. „Ragnar, kommen Sie unverzüglich zu unserer Gruppe. Es ist uns momentan nicht gestattet, die Ausgrabungsstätte zu betreten. Ich möchte keine Verwarnung wegen Ihres Fehlverhaltens riskieren.“ Der Wachmann schien völlig überrumpelt von Ragnars Erscheinen und wir entschieden, dass es wohl das Beste war, so schnell wie möglich zu verschwinden. Wir stiegen wieder in das Taxi und Professor Kingsley hielt Ragnar eine Standpauke, die jeden anderen zum Weinen gebracht hätte. Im Anschluss setzte Ragnar sich neben mich. Schon wieder. „Wie hast du es geschafft, unbemerkt zur Ausgrabung zu gelangen?“ Ich flüsterte, weil ich nicht wollte, dass uns die anderen Studenten belauschten. Ein Mundwinkel zog sich leicht hoch und das schiefe Grinsen wurde noch durch das Funkeln in seinen Augen verstärkt. „Wenn du möchtest, kann ich es dir heute Nacht zeigen.“ Beim Klang seiner tiefen Stimme stellten sich meine Nackenhaare auf. „Nein danke. Ich möchte keine Strafe riskieren.“ Ich schaute kurz zum Professor und fuhr dann fort, ohne Ragnar anzusehen. „Außerdem habe ich keine Lust, aus seinem Kurs zu fliegen und am Ende mein Studium in den Wind schießen zu müssen.“ Ragnar lachte leise. „Ich wusste doch, dass dir das Zeug dazu fehlt, Archäologin zu werden.“ Ich wollte gerade protestieren, aber er fuhr einfach fort. „Du liest zwar gerne.“ Er musterte mich kurz von oben bis unten. „Aber du siehst nicht so aus, als würdest du dich gerne bewegen und ein Abenteuer im wirklichen Leben bestreiten wollen. Wahrscheinlich gehörst du zu den Menschen, die sich von Angst beherrschen lassen“ Dieser eingebildete Mistkerl! Wie konnte er es wagen, sich so über mich lustig zu machen? Ragnar hatte nicht das Recht, sich ein Urteil über mich zu erlauben. Schließlich kannte er mich kaum. Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, rief mich mein Verstand zur Vernunft. Sollte er doch von mir denken, was er wollte.
Der restliche Tag verging nur zäh, da wir gezwungenermaßen frei hatten. Liv und ich entschieden uns dazu, mit den anderen nach Edinburgh zu fahren und ein bisschen in den Läden herumzustöbern. Die Stadt war wirklich zauberhaft. In jeder Straße gab es etwas zu entdecken und ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Auf einem kleinen Hügel befand sich die Burg. Von dort aus hatte man einen fantastischen Ausblick. Meine Laune war jedoch immer noch gedrückt und ich war froh, dass Ragnar uns nicht begleitete. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich erst spät bemerkte, dass Liv mir eine Frage gestellt hatte. „Lijana, jetzt zum dritten Mal. Was möchtest du trinken? Die Kellnerin war schon ein paar Mal bei uns und du starrst die ganze Zeit auf die Karte und hast dich immer noch nicht entschieden.“ Wir hatten uns in ein kleines Restaurant gesetzt und bei dem Gedanken an Ragnar hatte ich meinen Durst komplett verdrängt. „Ich nehme ein Cola“, sagte ich schließlich und Liv nickte zufrieden. „Was ist denn los mit dir? Seit der Rückfahrt bist du in Gedanken ganz woanders.“ Sarah und Thomas saßen mit uns an einem Tisch und nickten zustimmend. „Ach, ich hab nur an die Zeit nach dem Studium gedacht. Wo ich gerne arbeiten würde.“ Ich wollte nun wirklich nicht mit ihr über Ragnar sprechen. Liv schien zu spüren, dass ich nicht die Wahrheit erzählte, aber sie ließ mich in meiner Gedankenwelt. Nach dem Abendessen fuhren wir zurück zum Herrenhaus. Professor Kingsley deutete zwischenzeitlich an, dass er noch versuchen wollte, zur Ausgrabungsstelle zu gelangen. Sollte es uns nicht möglich sein, diese zu betreten, würde die Exkursion frühzeitig abgebrochen werden und wir müssten wieder nach Hause fliegen. Das sorgte bei uns allen für schlechte Laune.
Es war noch dunkel, als ich aufwachte. Liv lag in ihrem Bett. Draußen wütete ein heftiges Gewitter und verhinderte, dass ich wieder einschlief. Ich beschloss, mich etwas zu bewegen und dann mein Glück nochmal zu versuchen. Als ich die Tür einen Spalt breit öffnete, sah ich jemanden die Treppen hinuntereilen. Es war Ragnar. Ich wollte nicht neugierig sein, musste aber unbedingt wissen, was er vorhatte. Als ich sah, dass er das Haus verließ, schnappte ich mir eine Jacke, die vergessen an der Garderobe im Flur hing. Ich würde sie später wieder zurückbringen. Vorsichtig öffnete ich die Tür nach draußen und sah gerade noch, wie Ragnar hinter der Hausecke verschwand. Ich tastete mich langsam vor und folgte ihm. Erschrocken stellte ich fest, dass er schnurstracks Richtung Wald ging. Bei dem Gedanken daran, während eines Sturms dorthin zu gehen, bekam ich eine Gänsehaut. Der Wald war circa zweihundert Meter vom Haus entfernt und ich musste mich beeilen, damit ich Ragnar einholen konnte.