Anatomie eines Spielers - Jonathan Lethem - E-Book

Anatomie eines Spielers E-Book

Jonathan Lethem

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Beschreibung

Der große Berlin-Roman von Jonathan Lethem Alexander Bruno kann Gedanken lesen. Sein Beruf ist es, reichen Männern bei Backgammon- Partien ihr Geld abzuluchsen. Er trägt Smoking und sieht ein bisschen aus wie James Bond. Doch er hat sein Glück überreizt und einen Tumor im Kopf. Auf seiner Irrfahrt durch die globalisierte Welt wird Bruno am Ende selbst zum Spielstein eines Systems, dessen Interessen genauso unsichtbar und tödlich sind wie sein Tumor. In Singapur von einer langen Pechsträhne verfolgt, fliegt der sonst vom Erfolg verwöhnte Alexander Bruno nach Berlin, um dort an einer Backgammon-Partie der besonderen Art teilzunehmen. Doch während der Partie in der Villa des undurchschaubaren Herrn Köhler geht alles schief. Der blinde Fleck in Brunos Blickfeld wird noch größer und er schließlich ohnmächtig. Die deprimierende Diagnose: ein Tumor im Kopf, der unbedingt behandelt werden muss. Die komplizierte Operation in San Francisco würde sich Bruno aber kaum leisten können, wäre da nicht ein alter Bekannter, der ihm scheinbar selbstlos unter die Arme greift. Jonathan Lethem erzählt von einem Leben, das so fragil ist wie ein ungeschützter Backgammon-Stein.  

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Seitenzahl: 462

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Jonathan Lethem

Anatomie eines Spielers

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Der Übersetzer dankt dem Fachausschuss Literatur der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft für die substanzielle Förderung der Arbeit an diesem Buch.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Gambler’s Anatomy« im Verlag Doubleday, New York

© 2016 by Jonathan Lethem

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Abbildung von © Gettyimages/Jens Karlsson

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50154-4

E-Book ISBN 978-3-608-11711-0

Für Bill Thomas

Buch Eins

Eins

I Er war da, wenn er aufwachte. Wahrscheinlich auch, wenn er schlief. Der Fleck. Als er allein hinten auf der spärlich besetzten Fähre nach Kladow stand, vom Sicherheitsglas zum Glück gegen die abendliche Kühle auf dem See geschützt, konnte Alexander Bruno den Fleck nicht mehr leugnen, der in seinem Gesichtsfeld gewachsen war, ihn nicht mehr verließ und eine Lücke bildete, die seinen Blick auf das zurückweichende Ufer verzerrte. Er musste um seine Ränder herumsehen, wenn er die Villen und Biergärten, den Sandstreifen des über hundert Jahre alten Strandbads und die mit Planen abgedeckten Segelboote sehen wollte. Vor zwei Wochen war er um die halbe Welt geflogen, ohne zu wissen, ob er seinem Schicksal in Berlin entgehen oder es annehmen wollte.

In Charlottenburg hatte er den rechten Augenblick abgewartet, in den ruhigen Cafés gefrühstückt, miterlebt, wie die Tage allmählich länger wurden, mehr Englisch gehört, als ihm lieb war, und seine letzten Mittel aufgebraucht. Den Smoking hatte er im Kleidersack gelassen, das Backgammonspiel zugeklappt. Uneingestandenermaßen hatte der Fleck ihn die ganze Zeit begleitet. Bruno war sein Träger, sein Wirt. Mit der Unschuld des Zufallsschmugglers war er durch den Zoll gegangen: Nothing to declare. Schließlich rief er aber doch die Nummer an, die Edgar Falk ihm gegeben hatte, erklärte sich bereit, zum Haus des reichen Mannes in Kladow zu kommen, und erst als er an diesem Tag aufwachte und Smoking und Backgammonspiel abstaubte, beharrte der Fleck darauf, dass Bruno seine Existenz endlich anerkannte. Die eines alten Freundes, den er nie getroffen hatte, aber trotzdem wiedererkannte.

Warum ein Brimborium darum machen? Vielleicht war er todgeweiht.

Unter dem Eindruck seiner Angst schien sich die S-Bahn-Fahrt über die endlosen Stationen vom Westend bis zum Wannsee genauso lang hinzuziehen wie seine Reise von Singapur nach Berlin. Die deutsche Stadt hatte mit ihren Graffiti und Baustellen, den planlosen Parklandschaften und den unverkleideten rosa Wasserleitungen ihre eigene Ausdehnung. Berlin schlängelte sich durch die Zeit. In der S-Bahn zum Wannsee waren die in Charlottenburg und Mitte noch vorherrschenden hochgewachsenen jungen Frauen in schwarzen Leggings mit Fahrrädern und Ohrhörern ausgedünnt und durch mürrische preußische Geschäftsleute und gaffende Großmütter ersetzt worden, die mit Aktenkoffern und Einkaufstüten nach Hause latschten. Als die Fähre ablegte, wurde er den Eindruck kaum noch los, dass die Stadt erneut besiegt und in Sektoren aufgeteilt worden war und dass die vorherrschende Stille und Schwermut von Schuldgefühlen und Entbehrungen herrührten, die nicht siebzig Jahre zurücklagen, sondern so frisch waren wie rauchende Trümmerhaufen.

Als Bruno seinen Gastgeber angerufen und sich erkundigt hatte, wie er am besten nach Kladow käme, hatte der reiche Mann ihm erklärt, die abendliche Fährfahrt über den See sei eine Erfahrung, die er sich nicht entgehen lassen solle. Auf der rechten Seite, hatte der Deutsche gesagt, solle Bruno nach dem berühmten alten Strandbad Wannsee Ausschau halten, und auf der linken Seite nach der Villa der Wannsee-Konferenz. Dem Ort, an dem die Endlösung geplant worden war, allerdings hatte sich Bruno diese historische Altlast vom Hotelportier erst erklären lassen müssen. Als er jetzt nach ihr suchte, wusste Bruno natürlich nicht, wie er sie von den anderen Villen hätte unterscheiden sollen, die das Westufer des Sees säumten und sich eine nach der anderen ins leere Zentrum seines Blickfelds schoben.

Wie lange hatte Bruno den Fleck nur für eine verrückt gewordene Glaskörpertrübung oder das heraufziehende Gespenst seiner Unaufmerksamkeit gehalten? Nur ein Idiot hätte keine Verbindung zu den dauernden Kopfschmerzen hergestellt, die ihn beim Gang vom S-Bahnhof Wannsee durch die Parkböschung zur Anlegestelle hinab in der Innentasche des Smokingjacketts nach der Packung Paracetamol hatten tasten lassen, diesem einzigartigen britischen Aspirin, von dem er abhängig geworden war. Dann schluckte er zwei Tabletten, wobei er als Wasser nur den glänzenden See vor sich hatte. Er ließ sich gern als Idiot beschimpfen, wenn das Paracetamol nur sein Gesichtsfeld wiederherstellte. Wieder einen ganzen Kuchen aus dem machte, was jetzt nur ein Doughnut war: die Welt. Er hob die Hand. Der Fleck verdeckte seine Handfläche wie zuvor das Ufer. Bruno merkte, dass er einen Manschettenknopf verloren hatte.

»Entschuldigung«, sagte er zu einem großen Mädchen in schwarzen Tights. Sie war schon die ganze Strecke aus dem angesagten Stadtteil Mitte im selben S-Bahn-Waggon wie Bruno mitgefahren, um dann ebenfalls die Fähre zu besteigen. Ihr Fahrrad hatte sie im Ständer der Fähre eingestellt, bevor sie an den Heckfenstern neben ihn getreten war. Bruno entschuldigte sich, weil er neben ihren Knien in die Hocke gegangen war und dort den Boden absuchte in der Hoffnung, der Manschettenknopf sei ihm vielleicht eben erst hinabgefallen. Ein aussichtsloser Impuls wie der des Betrunkenen im Witz, der nachts in einer Seitenstraße unterwegs ist, feststellt, dass er seinen Schlüssel verloren hat, und ihn nicht dort sucht, wo er ihn verloren haben könnte, sondern unter einer Laterne, wo er besseres Licht hat.

Der Witz fiel ihm ein, weil das Mädchen sich hinhockte, um ihm zu helfen, ohne zu wissen, wonach es zu suchen hatte. Im Witz wird der Betrunkene von einem Polizisten unterstützt, der eine Weile unter der Laterne mitsucht. Als sie sich jetzt neben ihn hockte, sah Bruno, dass Mädchen das falsche Wort war. Ihre fein geschnittenen Gesichtszüge waren herb und attraktiv. Viele Frauen in Berlin waren sportlich schlank, kleideten sich nach derselben Mode, und ihr Alter ließ sich nicht nach dem Äußeren bestimmen.

»Kontaktlinsen?«

»Nein … nein …« Alle Berliner sprachen Englisch, und auch wenn nicht, bekam man mit, was sie meinten. In Singapur hatten die fremden Zungen aus Mandarin, Malaiisch und Tamilisch ihn glücklich in seinem Kokon des Nichtverstehens eingesponnen. Hatte sie erraten, dass er Augenprobleme hatte, weil er den Boden wie ein Blinder abtastete?

»Kuffenlinksen …«, bluffte er und tippte sich auf den offenen Ärmel. Nein, das Wort gab es wohl in keiner Sprache. Außerdem werde ich wahrscheinlich bald sterben, fügte er in telepathischem Pidgin hinzu, einfach um auszuprobieren, ob sie zuhörte.

Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie seine Gedanken gelesen hatte. Bruno war erleichtert. Er hatte die Gedankenübertragung vor Jahren aufgegeben, schon zu Beginn der Pubertät. Aber er war wachsam geblieben.

»Engländer?«, fragte sie.

Bruno wurde gern für einen Briten gehalten. Seiner Größe und seiner hohen Wangenknochen wegen war er schon mit Roger Moore und dem Bassisten von Duran Duran verglichen worden. Aber wahrscheinlich erkundigte sie sich nur nach seiner Muttersprache.

»Ja«, sagte er. »Ich habe ein Schmuckstück verloren. Tut mir leid, ich weiß nicht, wie es auf Deutsch heißt. Herrenschmuck.« Er zeigte seine fleckige Manschette vor, die vom Bügeln im Hotel angesengt war. Das konnte sie ruhig sehen. Von seinem äußeren Erscheinungsbild war der Lack ab, das wusste Bruno. Hals und Kiefer, hatte er jüngst im Spiegel festgestellt, waren die des Vaters, den er nie getroffen hatte. Die Haut über dem Kinn spannte sich auf die vertraute Weise nur noch, wenn er den Unterkiefer vorschob und den Kopf leicht in den Nacken legte, eine Haltung, die er inzwischen als die Eitelkeit angejahrter Männer durchschaute. Er ertappte sich öfter dabei.

Jetzt sah er aber nicht in den Spiegel, sondern ins Gesicht der potentiellen Finderin seiner inexistenten Kontaktlinse. In das mit weißen Haaren durchsetzte Blond. Lockende Lippen, gerahmt von tiefen Falten – die Bruno ausdrucksstark fand, ihr jedoch Kummer machen mussten. Zwei Menschen, die ihre beste Zeit hinter sich hatten, aber durchhielten. Er musste beiseitesehen, um sie überhaupt sehen zu können, was ihn wahrscheinlich schüchterner wirken ließ, als er sich fühlte. »Vergessen Sie’s«, sagte er. »Ich hab ihn bestimmt schon in der Bahn verloren.«

Das Flirten gelang so mühelos. Die Erwähnung der Bahn genügte. Nicht mal »S-Bahn«; beide wussten, was er meinte. Sie waren zusammen hergekommen, jetzt standen sie an Bord derselben Fähre, und obwohl in den letzten beiden Wochen vor seinem Caféfenster in Charlottenburg Tausende ihresgleichen vorbeiflaniert sein dürften, wirkte das gemeinsame Ziel wie ein dürftiges Wunder. Und beide waren sie groß. Das bisschen reichte schon, um Begehren als Schicksal auszugeben.

Bruno hatte sich immer eine Zukunft ausgemalt, in der er nicht mehr so leicht abzulenken sein würde. Stattdessen hatte sich, je mehr er auf die Fünfzig zuging, das Fenster seines Interesses vergrößert. Frauen, die für ihn früher unsichtbar gewesen wären, ätzten sich jetzt flammend seiner Phantasie ein. Dabei ging es nicht um erotischen Anstand. Bruno konnte immer noch junge Frauen begehren, die seine Blicke – in aller Regel – nicht erwiderten. Aber Frauen in seinem Alter, deren anhaltende Tauglichkeit für das tierische Spiel ihm neuerdings auffiel, fesselten ihn inzwischen mehr, weil sie entweder Verzweiflung oder totale Verweigerung ausstrahlten. Ob er irgendwann Großmüttern nachschmachten würde? Vielleicht hatte sich der Fleck in seinem Blickfeld bis dahin zu völliger Blindheit ausgewachsen und ihn so befreit.

Sie erhoben sich. »Ich heiße Alexander«, sagte er und gab ihr die Hand.

»Madchen.«

Die Frage war, in welcher Sprache sie ihr gemeinsames Schicksal ausbauen würden. Englisch, oder …? Kein Deutsch, denn das sprach Bruno nicht. Englisch oder die Sprache keiner Sprache, was ihm lieber war. Langsam und bedächtig, damit sie beide nicht als Idioten dastanden, setzte er an: »Ich habe einen Termin in Kladow. In einem Privathaus. Ich bin allein angemeldet, aber mein Gastgeber wäre sicher entzückt, wenn ich Sie als Gast mitbrächte.«

»Wie bitte?« Sie lächelte. »Sie möchten –?«

»Ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten, Madchen.«

»Zu einem Abendessen, ja? Tut mir leid, dass ich nicht gutes Englisch spreche.«

»Da habe ich mehr Grund, um Entschuldigung zu bitten. Ich bin zu Gast in Ihrem Land. Es ist eigentlich kein Abendessen. Eher ein … Termin.« Er deutete auf sein Backgammonspiel. Wenn sie das Kästchen für einen Aktenkoffer hielt, lag sie auch nicht ganz falsch. Sein Handwerkszeug. »Aber wenn Sie Hunger haben, gibt es bestimmt etwas zu essen. Oder wir gehen hinterher noch in ein Restaurant.«

Ich werde dich nie belügen, versprach er ihr stumm, wieder für den Fall, dass sie ihn hören konnte. Bruno war nur vereinzelt Menschen begegnet, die die Gabe der Telepathie besaßen, der er abgeschworen hatte. Aber man konnte ja nie wissen.

»Es ist sehr freundlich, was Sie mich bitten, aber ich denke, ich kann nicht.«

»Sie wären äußerst willkommen.«

»Wenn das Ihre Arbeit ist?«

»Ich bin ein Spieler«, sagte er. »Sie würden mir Glück bringen.« Beharrlichkeit und Selbstvertrauen waren von jeher Brunos Methoden gewesen. Er würde sich von dem Fleck nicht verrückt machen lassen.

Sie schwieg, lächelte aber wieder verwirrt.

»Sie sind schön«, sagte er.

Die Fähre hätte eine Bar haben und einen Ozean überqueren sollen. Stattdessen ging die Überfahrt zu Ende. Die Fähre hatte ein Inselchen umrundet und legte in Kladow an. Die Passagiere drängten zu den Ausgängen.

»Oder hinterher«, gab er nach. »Ich kann Sie anrufen, wenn wir fertig sind.« Er deutete auf das Städtchen, das hinter dem Fähranleger in der Abenddämmerung lag. »Haben Sie eine Lieblingsbar für einen letzten Drink?«

»In Kladow?« Madchen fand das anscheinend amüsant. Sie hob das Vorderrad ihres Fahrrads aus dem Ständer.

Er zog sein Smartphone aus der Innentasche des Smokingjacketts. »Würden Sie mir Ihre Nummer geben?«

Sie zog die Augenbrauen hoch und sah beiseite. Dann nahm sie sein Smartphone, tippte mit konzentriert gerunzelter Stirn ein paar Zahlen ein und gab es ihm zurück. Die Fähre leerte sich schnell. Sie bildeten die Nachhut und schoben sich über den kurzen Landungssteg, an dem sich schon die Passagiere für die Fahrt in Gegenrichtung anstellten. Unter den Hafenanlagen von Kladow tanzte eine Familie von Schwänen auf den Wellen. Etwas weiter entfernt sah er hinter den Booten einen tauchenden Kormoran. Der Vogel schien Bruno an etwas erinnern zu wollen, aber er bekam es nicht ganz zu fassen …

Er suchte die Uferumgebung nach dem Wagen ab, den der reiche Mann ihm hatte schicken wollen. Der Anblick bestätigte, dass die Fähre die Macht einer Zeitmaschine hatte, die sie aus dem Trendstadtteil Mitte, dem urbanen internationalen Berlin mit seinem heutigen Ruf verschleppt hatte. Oben auf dem Hügel lag das Häuserensemble von Alt-Kladow, einem verschlafenen Dorf aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht zog sich das wahre deutsche Leben an Orte wie diesen zurück und schürte Feuer gegen die Geschichte. Bruno glaubte jetzt zu verstehen, warum Madchen auf den Vorschlag, hier noch etwas trinken zu gehen, so amüsiert reagiert hatte. Der Uferstreifen wurde zwar von lauschigen Biergärten gesäumt, aber es sollte ihn überraschen, wenn die an einem normalen Mittwochabend nach Sonnenuntergang noch lange offen waren. Die Menschen von der Fähre trotteten mit gesenkten Köpfen an den Gartenlaubenpforten der Biergärten vorbei, ganz versessen auf die heimischen Zielgeraden.

»Wohnen Sie hier?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin für Babysitten hier. Für das Mädchen von meiner Schwester.«

»Ihre Nichte.«

»Ja.«

Sie überquerten die Straße, Madchen schob ihr Fahrrad. Sie kamen an einem Arbeiter vorbei, der neben einem Häufchen loser, fast kubischer Steine kniete, die er mit einem großen Blockhammer zu dem vertrauten Gittermuster festklopfte, aus dem Berlins Gehwege bestanden. Bruno hatte diese Steine bisher noch nie in loser Form gesehen. Sie erinnerten ihn an sein Metier und sein Vorhaben in dieser Stadt. Berlin war mit ungezählten Würfeln gepflastert, die mit Holzhammern im Boden auf Linie geschlagen wurden.

Als die wenigen Autos, die auf die Fähre gewartet hatten, gefahren waren und die Fußgänger den Hügel hochgingen, sah Bruno den Wagen, den er erwartet hatte, den Wagen, den der reiche Mann ihm entgegengeschickt hatte. Ein Mercedes-Benz, zwei Jahrzehnte alt, aber tadellos in Schuss. Noch ein Produkt der Zeitmaschine. Der Chauffeur mit Bürstenschnitt und Stiernacken musterte Bruno, der zu der Beschreibung passte, die er dem reichen Mann durchgegeben hatte, nur dass er in Begleitung kam. Bruno hob einen Finger, und der Chauffeur nickte und kurbelte seine Fensterscheibe hoch. Madchen folgte seinem Blick.

»Madchen –« Sanft, wie man ein schiefhängendes Bild an der Wand zurechtschiebt, hob er mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn an. Je näher ihr Gesicht dem seinen war, desto unwichtiger wurde der Fleck. Als würde er sie hinter seinen Vorhang einladen. »Einen Kuss, als Talisman.«

Sie schloss die Augen, als er sich vorbeugte und ihre Lippen sich trafen. Bruno merkte überrascht, dass seine Lippen taub waren. Er hatte nicht gemerkt, dass ihm kalt war. Du bist von einer Vision im Smoking geküsst worden, Madchen. Auch wenn die nicht so gut in Schuss war wie der Wagen, der ihn abholte.

»Ich ruf dich an, wenn wir fertig sind.« Er dachte an sein Versprechen von vorhin. Das eine verstärkte das andere.

Madchen wich zurück, lächelte ihn ein letztes Mal neugierig an, schwang sich in den Sattel und verschwand, ins Zentrum seines Flecks und den Hügel hinauf. Als Bruno im Fond des wartenden Wagens Platz genommen hatte, war sie verschwunden. Er warf noch einen Blick auf den See, die andrängenden Schwäne und den furchtlos auf und ab hüpfenden Kormoran, dann nickte er dem Chauffeur zu. Der Benz schlug denselben Weg wie sie ein und fuhr auf dem einzig möglichen Weg nach Alt-Kladow hinein.

II Wolf-Dirk Köhler, der reiche Mann, öffnete persönlich die Tür zum Herrenzimmer. Der Chauffeur hatte Alexander Bruno ins Haus geführt, in die vornehme, abgedunkelte Diele, und leise an die Tür geklopft, die jetzt aufging und Licht, Wärme und Holzrauch freigab. Ein Feuer flackerte im Kamin.

Köhler, den Edgar Falk als »potentiell historischen Wal« angekündigt hatte, reichte Bruno kaum bis zum Kinn. Aber den hätte nichts überraschen können. Betrugsopfer, verschwendungssüchtige Bluter, Spieler mit falsch kalibrierter Eitelkeit: Er kannte die Spielarten in den verschiedensten menschlichen Verpackungen. Ein Wal konnte wie ein Wal oder wie eine Elritze aussehen. Köhlers Protzvilla war sein wahrer Körper. Sein Geld seine wahre Garderobe. Bruno war hier, um ihm im Lauf eines Abends möglichst viel davon abzunehmen. Geld adelte nichts, außer wenn man es brauchte. Seit den Ereignissen in Singapur und seiner Flucht in diese zweifelhafte Zufluchtsstadt brauchte Bruno es dringend.

»Edgars geheimnisvoller Mann«, sagte Köhler in akzentfreiem Englisch. Er streckte ihm die Hand hin und grinste, ein zur Glatze neigender Kobold in einem Abendanzug aus blauem Samt. »Ich habe mir so lange gewünscht, Sie kennenzulernen. Der wahrhaftige Fürst der Steine, hat Edgar gesagt. Bitte treten Sie ein.«

»Das Glück ist der Fürst«, sagte Bruno. »Ich bin sein Diener.« Es war nicht das erste Mal, dass er diesen Spruch oder eine seiner Varianten anbrachte: Das Glück ist der Gebieter, es ist der Zauberer, der Kalif, Samurai oder Brahmane und Bruno nur sein Lakai, Lehrling, Pilger …

»Ha! Sehr gut! Ich glaube, Sie haben gerade den ersten Punkt gewonnen. Immer hereinspaziert.«

Das Zimmer war mit Büchern in Ledereinbänden isoliert, vornehmen Möbelstücken, Eichentäfelung, alles vom Alter poliert und nach Zigarren riechend. Auf einem Servierwagen standen Kristallkaraffen mit bernsteinfarbenem Whisky, Gläser und eine Schale mit Eiswürfeln auf einem Zinntablett. Brunos Blick wanderte zum Tisch weiter, auf dem zwischen zwei bequemen Sesseln ein aufgeklapptes Backgammonspiel aus Filz und Leder lag.

»Sie haben Ihr Spiel mitgebracht«, sagte Köhler und zog die Augenbrauen hoch. »Bezaubernd.«

»Das hab ich immer dabei. Man weiß ja nie. Wir können sehr gern mit Ihrem spielen.«

»Auf Ihrem Spiel zu bestehen, wäre ja auch reiner Aberglaube!«

»Es wäre zwecklos«, sagte Bruno zweideutig. Er spielte lieber mit seinem eigenen Spiel, mochte seine Zungen in den glatten Intarsien, die schlichten Holzsteine, das gebeizte Hell und Dunkel. Kein Elfenbein oder Porzellan, keine Zungen aus abgestepptem Filz oder Leder, um das Spiel in falschem Glanz oder Komfort zu dämpfen. Das Klacken der Steine auf den Hartholzzungen war die ins Schweigen nachhallende Musik ehrlichen Denkens, wenn die Steine gemäß dem Schicksal gelenkt wurden, das die Augen auf den Würfeln voraussagten. Bruno hatte Backgammon sein Leben lang mit Offenheit assoziiert; die Würfel entschieden nicht über das Schicksal, sondern sagten etwas über den Charakter aus.

Brunos Holzspiel war die Grundlinie, das reine Gehäuse. Alle anderen, so auch das filzgedämpfte Luxusspiel des deutschen Geschäftsmanns, waren Euphemismen für die wahre Wirklichkeit. Wenn er seines bei sich hatte, genügte das als Maßstab.

»Mit meinen Bekannten kann ich nicht mehr spielen«, sagte Köhler. Seine Stimme klang lüstern. Diese Gier würde ihn heute Abend umbringen. »Nicht um Geld – und ohne Einsatz verlieren wir alle schnell das Interesse.«

»Ja, das verstehe ich«, sagte Bruno und mimte Mitleid. »Das ist oft so, wenn meine Dienste gefragt sind.« Er fügte nicht hinzu, dass er diverse reiche Müßiggänger kannte, die das Backgammonspiel aufgegeben hatten, nachdem sie in die Kluft gestolpert waren, die das Spielniveau, auf dem sie ihre Clubmitglieder besiegten, von dem trennte, das erforderlich war, um einen Abend lang gegen Alexander Bruno durchzuhalten. Solchen Männern ihre Anmaßung zu nehmen: Das war Brunos Dienstleistung.

Köhler war so berechenbar, dass Brunos Zuversicht stieg. Der Fleck war egal. »An welchen Einsatz denken Sie?«, fragte er beiläufig. Er hatte Blut geleckt und musste seinen eigenen Eifer zügeln.

»Sagen wir, wir fangen bei hundert Euro pro Punkt an?«

Bruno hatte kein Finanzpolster und keine sechzig in der Tasche. Er musste unbedingt schon das erste Spiel gewinnen und dann weitersiegen. »Lieber bei tausend, wenn Sie nichts dagegen haben.« Einsätze, um den Reichen anzustacheln, wenn auch noch nicht, um ihn auszubluten.

»Sie haben es aber eilig!« Doch Köhler war entzückt. »Möchten Sie etwas trinken? Ich kann Ihnen ein paar ausgezeichnete Single Malts anbieten oder Sie können sich selbst etwas mischen, wenn Sie möchten.«

»Ich schließe mich gern Ihrer Wahl an.«

»Dann setzen Sie sich doch.« Köhler deutete auf den Sessel mit Blick auf den Kamin. Er spielte also lieber mit den schwarzen Steinen und bewegte sich im Uhrzeigersinn. Mit jeder solchen Vorliebe zeigte sich eine weitere Schwäche. Abgesehen von seinem Holzspiel, das er neben seinem Sessel abstellte, hütete sich Bruno vor Vorlieben.

Der Whisky war gut. Bruno schwenkte ihn im Glas, fragte aber nicht nach Name oder Reifezeit. Die ersten drei Spiele gewann er zurückgelehnt, die Kaminflammen umspielten die Ränder seines Flecks, und er betrachtete, wie sie sich im gesenkten glänzenden Schädel seines Gegners spiegelten. Bruno blitzte hauptsächlich, machte Punkte, ohne groß Primes zu bauen, und gewann gegen den Reichen dreimal in Folge, nicht auf dem Brett, aber mit dem Dopplerwürfel. Er bot an, die Einsätze zu erhöhen, als seine eigene Position wenig erfolgversprechend aussah, und beaverte jedes Mal – drehte den Dopplerwürfel beim Annehmen noch eine Stufe höher, um die Kontrolle zu übernehmen –, wenn Köhler den Dopplerwürfel auch nur anfasste.

Köhler war ein »reiner Spieler«. Er slottete die Steine, versuchte, sie zu decken, und baute Primes mit der gusseisernen Entschlossenheit, unter der Menschen litten, die glauben, ein System entdeckt oder einen Code geknackt zu haben. So, wie das Herrenzimmer des Reichen einen Anflug von Ritual und Fetisch aufwies, hätte Bruno sich das schon denken können, die Bücher, die exakt auf die Vorderkanten der Regalbretter ausgerichtet waren, die staubfreien Kristallkaraffen der steinalten Single Malts, die schweren Vorhänge, die den Raum zu einem Mutterschoß des Komforts machten. Er hätte es sich auch schon beim Anblick von Köhlers Auto denken können, wenn er darauf geachtet hätte, aber er hatte ja nur einen letzten Blick auf seine Begleiterin von der Fähre erhaschen wollen.

Der reine Stil hatte irgendwann in den siebziger Jahren seinen Zenit erreicht. Bruno selbst hatte ihn mit siebzehn aufgegeben. Vielleicht war das reine Spiel gut genug für einen Köhler, der an Clubabenden, die von Zigarren und Single Malt vernebelt wurden, routinemäßig seine wohlhabenden Landsleute abzockte. Vielleicht sogar in genau diesem Raum. Das hätte Bruno überrascht, aber er wäre nicht zum ersten Mal überrascht worden. Vielleicht reichte Berlins Spielniveau nicht an das in Singapur, London oder Dubai heran, obwohl sich Bruno keinen Grund dafür denken konnte. Vielleicht hatte Köhler beschränkte Landsleute, oder er hatte bei der Aussicht darauf, einem Spieler wie Bruno gegenüberzusitzen, die spielerische Lockerheit verloren. Vielleicht war er auch ein Masochist. Bisher spielte er jedenfalls wie ein Fisch, aber Bruno hatte ihn noch nicht so weit in der Tasche, dass er ihn zum Wal hätte erklären können.

»Die Boys!«, feixte Köhler, als er einen Sechserpasch würfelte, obwohl er eigentlich zu einem für ihn ungelegenen Zeitpunkt kam. »Die Girls!«, als ein Fünferpasch kam. »Ich tanze«, sagte er traurig, als er seinen Stein von der Bar nicht wieder ins Spiel bringen konnte. Der reiche Mann war ein Jargonfanatiker, sonst hätte er sich nicht sowohl im Englischen als auch im Deutschen so gut ausgekannt. In den ersten beiden Spielen quasselte er ununterbrochen. Er kannte den Unterschied zwischen einem »Backgame«, bei dem man mehrere Anker im Heimfeld des Gegners hält, und einem »Haltespiel«, bei dem von einem Blockadepunkt aus Druck auf gegnerische Punkte ausgeübt wird – nicht, dass dieses Wissen ihm gegen Bruno etwas genützt hätte. Einen ungedeckten Stein, der allein auf einer Zunge stand, nannte Köhler blot. Der Ausdruck war im Backgammon allgemein gebräuchlich, und Bruno hatte ihn schon aus den Mündern von Scheichs und capos de la droga in Panama gehört, von Männern, die auf englisch nicht mal thank you oder motherfucker sagen konnten. Als »Fleck« hatte blot für ihn inzwischen natürlich eine andere Bedeutung bekommen. Bruno garnierte sein Spiel grundsätzlich nicht mit Turnier- oder Clubjargon. Mit dem Aufkommen von Backgammon-Seiten im Netz war die Sprache des Spiels eine Lingua Franca geworden, aber sie verriet einem nichts über die Spielerfahrung des Gegners.

Am Ende des dritten Spiels war der Deutsche dann aber verstummt. Im vierten verwirrte er Bruno, als er ein logisch zwingendes Aufgeben verweigerte. Bruno verdoppelte mit dem Würfel bis 8 und spielte das Match dann aus, weil der reiche Mann offenbar glaubte, er hätte noch eine Chance, seine Steine hinauszuwürfeln. Er war weit abgeschlagen. Entweder hoffte Köhler auf eine Paschserie, die seine Entscheidung legitimiert hätte, oder er konnte die Augen auf den Würfeln einfach nicht lesen. Nicht, dass Bruno noch Augen gezählt hätte. Ein Blick genügte. Nachdem Köhler die weitere Verdopplung angenommen hatte, musste Bruno den Kopf aber ab und zu von einer Seite zur anderen drehen, um am Fleck vorbei das ganze Spielbrett überblicken zu können. Er musste sichergehen, dass er nichts übersehen hatte, so schlecht war Köhlers Entscheidung. Er hatte nichts übersehen.

Als Bruno die Zahlen würfelte, die seine letzten Steine vom Brett brachten – natürlich hatte er verdoppelt, und der Spielfehler seines Gegners hatte seine gerechte Strafe empfangen –, knurrte Köhler und stand jäh auf. Sein kleiner Kopf schien auf einmal zu schrumpfen, als steckten die Schläfen in einem Schraubstock. »Wie viel schulde ich Ihnen jetzt?«

»Achtundzwanzigtausend Euro.« Bruno hütete sich, den Schlag abzumildern, was den anderen nur beleidigt hätte. »Ich hoffe, Edgar hat erwähnt, dass ich heute Abend Bargeld brauche. Ich bin nur vorübergehend in Berlin.« Bruno hatte in Wahrheit keinen blassen Schimmer, wohin und wann er weiterreisen würde. »Es wäre mir lieber, keinen großen Scheck einlösen zu müssen.«

»Ich decke meine Verluste.«

»Tut mir leid, das zu erwähnen.«

»Aber nein!«, sagte Köhler, wieder übersprudelnd vor Jovialität. »Da haben Sie mich ja schön in die Bredouille gebracht! Mal sehen, ob es Abhilfe gibt!« Er schenkte sich noch einen Whisky ein und füllte auch Brunos Glas wieder auf. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Musik auflege?« Der Deutsche trat zu einer verzierten Vitrine, öffnete sie, und ein alter Plattenspieler kam zum Vorschein.

»Ganz und gar nicht.«

»78er Schellackplatten«, sagte Köhler. »Ich sammle die. Jede klingt anders.«

»Eine bestimmte Musikrichtung? Oder allgemein 78er Schellackplatten?«

»Ich bin überzeugt davon, dass der Jazz mit Charlie Parker gestorben ist. Er war ein Revolutionär, dessen Neuerungen abgelehnt gehört hätten.«

»Wo stünden wir dann?«

»Oh! Ein Anhänger des Fortschritts!«

Bruno hatte nur eine flapsige Bemerkung gemacht. Er wusste nicht, inwiefern Charlie Parker den Jazz verändert hatte, und wollte das auch gar nicht wissen. Wenn Köhler mit der Musik eine strategische Absicht verfolgte und hoffte, Bruno damit ebenso wie mit dem Whisky aus dem Konzept zu bringen, dann ließ ihn das kalt. Seit er mit sechzehn Jahren Backgammon entdeckt hatte, hatte das Spiel Brunos Aufmerksamkeit kanalisiert und die Verwirrungen und die Verführungskunst eines Universums jenseits der Steine und Zungen ausgesperrt. Er hatte eher den Eindruck, dass das Plattenauflegen ebenso wie der Whisky und der Spielerjargon zum Ausdruck brachte, dass Köhler eine Vorliebe für hochgradig aufgeladene Atmosphären hatte.

Bruno wollte das nächste Spiel verlieren und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einen Aufschub erzielen, während er überlegte, wie weit er Köhler treiben wollte, und den Deutschen mürbe machen, bevor er ihm dann den Gnadenstoß versetzte. Bruno stellte ihm waghalsige Fallen, seine Lieblingsform mutwilligen Irrtums. Heute Abend war er aber wirklich der Fürst des Spiels. Köhler war bei den Würfeln einfach in Ungnade gefallen, und er erreichte nie Brunos ungeschützte Einzelsteine, seine blots. Schon bald hatte Bruno drei von Köhlers Steinen auf der Bar und eine Prime gebaut. Der Dopplerwürfel war während seines Blitzspiels unangetastet geblieben. Jetzt bot Bruno ihn an, um das Spiel schneller zum Abschluss zu bringen, aber Köhler nahm an und spielte weiter.

Brunos nächstes Würfeln, ein Viererpasch, besetzte die letzte Zunge in seinem Heimfeld. Hätte er das nicht getan, wäre das unübersehbar gewesen und hätte etwas Schlimmeres als Mitleid zur Schau gestellt. Verachtung. Bruno hatte die Hälfte seiner Männer hinausgewürfelt, bevor sich Köhlers gefangenem Stein eine Fluchtmöglichkeit bot. Der Jazz war längst zu seinem Schluss gejault, die 78er knisterte und knackte unter der Nadel in der Innenrille. Vor diesem Hintergrund waren Köhlers Grunzer jedes Mal deutlich zu hören, wenn er würfelte und auf ein Wunder hoffte. Es kam keins. Bruno war mit dem Hinauswürfeln fertig, bevor Köhlers letzter Spielstein ins Heimfeld lahmte.

Ich weiß, dass ich wie ein absolutes Arschloch gespielt habe. Bruno sendete diesen Gedanken zu Köhler, obwohl es in puncto Empfänglichkeit für seine alte Gabe der Telepathie keinen unwahrscheinlicheren Kandidaten hätte geben können, und sonst wandte er die ja auch gar nicht mehr an. Köhler blieb unbefleckt im Schrein seines Selbsts. Ich hab sogar versucht, das Spiel zu Ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Würfel haben es nicht zugelassen. Sie sind Ihnen nicht sehr gewogen.

Das Gammon ließ Köhlers Schuld auf sechsunddreißigtausend steigen. Bruno hatte nicht den Eindruck, dass er dem anderen damit wehtat. Er sagte sich, dass die kostbarsten Scheiben in Köhlers Shellac-Sammlung den Deutschen wahrscheinlich halb so viel gekostet hatten. Trotzdem war es Brunos erster guter Abend in zwei Monaten. Wenn er jetzt ausstieg, konnte er seine Schulden bei Edgar Falk tilgen und die Hotelrechnung begleichen. Und er hatte genug übrig, um in Ruhe seinen nächsten Schritt und die Aussichten auf wahre Unabhängigkeit von Falk überlegen zu können.

Das Ergebnis war zu gut – zu viel zu schnell. Für die Summe, die er an diesem Abend mitnehmen würde, musste er Köhler etwas bieten, er musste ihn einen Abend lang unterhalten, für ein bisschen Hin und Her sorgen, ein Fünkchen Hoffnung und nicht diese Katastrophe. Die jetzige Lage mochte Bruno an seinem Beruf am wenigsten. In solchen Situationen wurde er eine Art Kurtisane. Eine männliche Geisha, die der Eitelkeit des Kunden schmeichelte, bis sie sich mit der Knete aus dem Staub machen konnte. Die Schönheit von Backgammon lag in seiner Offenheit. Anders als beim Poker gab es keine verborgenen Karten und kein Bluffen. Die Würfel unterschieden es aber auch vom Schach: Auch ein Genie konnte keine zwölf oder dreißig Züge voraussehen. Jede Backgammon-Aufstellung war ein unumstößlich gegenwärtiger Sachverhalt, dazu verurteilt, geändert zu werden, und unmöglich zu falsifizieren. Jeder Würfelwurf erschuf einen neuen Sachverhalt. Das einzige wirkliche Spielelement des Spiels, der Dopplerwürfel, diente einem Ausdruck reinen Willens. Aber jetzt, da er den deutschen Geschäftsmann ins Spiel zurückholen musste, um den Abend in die Länge zu ziehen, musste Bruno ein bisschen Budenzauber veranstalten.

»Sie haben einen Manschettenknopf verloren!«, sagte Köhler.

»Ist mir auf der Fähre runtergefallen … oder schon in der S-Bahn …«

Bruno spürte bleierne Müdigkeit. Er war wirklich mit jeder Menge Handicaps angekommen: einer Pechsträhne, praktisch leeren Taschen und einer Sehstörung, als ginge er auf einen dunklen Tunnel zu, in den er vielleicht bald eintauchen würde. Was musste er dem reichen Mann denn noch alles bieten, um seinerseits zu verlieren? Mit geschlossenen Augen spielen? Wenn er imstande gewesen wäre, im Schlaf zu würfeln, hätte Bruno seinen Kopf nur zu gern ins hohe Polster seiner Sessellehne sacken lassen. Nachdem er in Singapur sein Jammertal durchschritten hatte, sollte es ihn beleben, endlich wieder zu gewinnen. Stattdessen schien es ihn in den Schraubstock einer Müdigkeit zu spannen, die schon etwas Verzweifeltes hatte. Er trank einen Schluck und stellte sich vor, der Whisky könne in seinen Kopf fließen und den Fleck auflösen wie ein Lösungsmittel für Möbelflecken.

»Fletcher Henderson«, sagte Köhler, kehrte Bruno den Rücken zu und legte eine neue Platte auf.

»Aha.« Bruno stellte die Anfangsaufstellung der Steine wieder her.

»Wollen wir die Einsätze erhöhen?«

Bruno zuckte die Achseln und versuchte, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Er sollte nicht so naiv sein. Wenn dem Deutschen wirklich noch nichts wehtat, war das nur ein weiterer Hinweis darauf, dass wahres Geld, wie Bruno es nie kennenlernen würde, unversieglich war. Da Bruno hier nicht Leine ziehen konnte, sollte er sich wenigstens so weit wachrütteln, dass er Köhlers Toleranzgrenze ausfindig machen und dem reichen Mann das dünne Echsenlächeln aus dem Gesicht wischen konnte.

»Zwei? Drei?«

»Fünf.«

Bruno nickte, was die Luft im Raum ein wenig unter Strom zu setzen schien.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen, Mr. Köhler? Das hat Edgar nicht erwähnt, als er den Kontakt zwischen uns hergestellt hat.« Bruno nahm an, dass hinter der zur Schau gestellten Mischung aus Pracht, Bequemlichkeit und Passivität altes Geld oder zumindest eine Erbschaft stand. Vermögen ausschließlich aus eigener Kraft wurden üblicherweise von aggressiven, ja wilden Männern angehäuft. Nicht, dass Bruno eine Beichte erwartete. Altes Geld erhielt in aller Regel einen fleißig klingenden Anstrich.

»Nennen Sie mich doch Dirk. Und Sie sind …?«

»Alexander.«

»Alexander. Haben Sie 1989 ferngesehen, als der antifaschistische Schutzwall durchbrochen wurde?«

»Der was?«

»Die Berliner Mauer«, sagte Köhler und fletschte die Zähne bis aufs Zahnfleisch. »The Wall.«

»Ach so. Ja natürlich.«

»Na, das muss Ihnen nicht peinlich sein, die Deutschen, die nicht mit Spitzhacke oder Schweißbrenner auf der Straße waren, haben ebenfalls ferngesehen. Bis auf mich. Ich hab telefoniert.« Köhler setzte sich wieder, würfelte mit einem Würfel und gewann die Eröffnung mit 6+4. Er begann wie immer und verteilte Helfer im Außenfeld. »Ich gehörte zu einem Interessenkonsortium, das schon eine ganze Weile etwas erworben hatte, was viele Leute für völlig wertlos hielten – das Land unter verschiedenen Teilen der Mauer.«

»Grundbesitz. Sie sind in der Immobilienbranche.« Bruno würfelte und verfehlte Köhlers Einzelsteine. Er teilte seine hinteren Steine auf und wollte zur Abwechslung einen No-Brainer spielen. Vielleicht konnte er dieses Spiel abgeben, obwohl es ärgerlich wäre, den ersten Wettstreit mit erhöhtem Einsatz zu verlieren.

»Etwas in der Art.«

»Und da haben Sie dann ganz viele ganz dünne Mietshäuser draufgestellt?«

»Der ist gut! Aber zwischen der Ostgrenze und dem, was man sich im Westen unter der berühmten Mauer vorstellte, mit Graffiti überzogen und von Tanzenden überrannt, lagen Tausende von Quadratmetern.«

Bruno hatte Köhler ein bisschen schmeicheln wollen, damit er über sich und sein Geld sprach, von dem er heute Abend einen Teil abgeben würde. Köhler wirkte auch wie neu belebt. Er monologisierte, als hätte er ein Skript auswendig gelernt. »Dieses Ödland bestand aus Ruinen, zugeschütteten Kanälen und Minenstreifen und wurde von Wachtürmen aus überwacht – das war das sogenannte Niemandsland. Alles natürlich auf der Ostseite und von der Volksregierung beansprucht, aber im Hintergrund lauerten verschiedene Privateigentümer, Familien, die gar nicht mehr in Berlin lebten und nichts gegen einen Verkauf einzuwenden hatten … wir brauchten damals ganz schön viele Anwälte! Ich selber habe nicht gebaut, darauf hatte ich keinen Appetit, aber jeder, der das wollte, bekam es zwangsläufig irgendwann mit mir und meinen Partnern zu tun.«

»Also ein einmaliger Reibach.«

»Die Mauer? Ja. Ein solches Bombengeschäft bietet sich nur einmal im Leben. Aber irgendwie hab ich mich immer durchgewurstelt. Diese Stadt legt großen Wert auf die Rechte von Mietern und Hausbesetzern sowie auf das Privileg, bestimmte Orte als Gedenkruinen bestehen zu lassen. Nur wenige Menschen bringen für die Kunst der Spekulation genug Geduld auf, es ist ein sehr langsames Spiel. Aber wissen Sie, irgendwann müssen auch die Gräber weichen …«

»Stadterneuerung.«

»Genau. Ein schöneres Wort als das deutsche ›Kahlschlagsanierung‹. Stadterneuerung. Alles, wie es sich gehört!« Köhler würfelte wieder 6+4 und baute eine Dreierblockade vor Brunos gesplitteten Läufern. Als Bruno diese Hürde beim nächsten Würfeln nicht nehmen konnte, griff der Deutsche nach dem Dopplerwürfel.

Bruno nahm an, womit der Einsatz auf zehntausend Euro stieg und Bruno in den Besitz des Dopplerwürfels kam. Jetzt konnte er Köhler übel kleinkriegen, oder er ließ ihn erst aufholen und entschied sich dann für den langsameren und potentiell ergiebigeren Mord. Das konnten die Würfel entscheiden. Bruno würde seine hinteren Steine spielen, bis die Würfelaugen ihm anderes auftrugen.

Vorher schlug Köhler allerdings zwei von Brunos ungedeckten Steinen aus dem Feld, und Bruno konnte sie von der Bar nicht wieder ins Spiel bringen.

»Jetzt tanzen Sie mal!«, sagte Köhler mit kindlichem Vergnügen. »Hab ich Sie in die Enge getrieben?«

Verärgert reagierte Bruno mit dem Dopplerwürfel. Zwanzigtausend. Verlor er, musste er den halben Erlös seiner Glückssträhne wieder rausrücken, ein Phänomen, das, wie er nur zu gut wusste, nicht nur dem Talent seines Gegners zuzuschreiben war. Bisher waren die Würfel auf Brunos Seite gewesen. Egal. Köhler hatte gezeigt, dass er geschlagen werden konnte. Bruno drehte den Kopf hin und her, um das gesamte Spielfeld zu studieren. Lass den Fleck in Ruhe, empfahl er sich selbst, als könnte er wie bei einem Pickel oder einer Warze mit den Fingerspitzen daran herumpulen. Dabei war der Fleck noch unwichtiger als ein Pickel, denn außer Bruno konnte ihn ja niemand sehen.

»Apropos Appetit«, sagte Köhler. »Ich habe die Küche angewiesen, uns ein paar leckere Sandwichs zurechtzumachen. Wir können sie hier servieren lassen, dann müssen wir dieses wunderbare Spiel nicht unterbrechen.«

»Danke.«

»Alexander, mögen Sie Frauen?«

»Ja.«

»Dann habe ich noch eine reizende Überraschung für Sie parat!«

Sie sind dran. Jetzt ärgerte Köhler Bruno, weil er nicht weiterspielte. Beim aktuellen Einsatz wollte Bruno wieder einsteigen. Er musste ein zähes Haltespiel einfädeln und wollte damit vorankommen. Oder hatte er einen Schnitzer gemacht? Köhler griff nicht nach den Würfeln, sondern nach dem Dopplerwürfel. Ja, ein Schnitzer. Bruno lehnte das Angebot ab; er hatte den Deutschen zwar wieder ins Spiel holen wollen, dazu hatte er den Reichen aber überhaupt erst ermuntern müssen, weiterspielen zu wollen; jetzt war Köhler Feuer und Flamme. Brunos ergiebigerer Mord war in weitere Ferne gerückt, als ihm lieb war. Seine Schläfen pochten.

Brunos zweite Niederlage war halb besiegelt, als die Frau ins Herrenzimmer kam. Sie trug eine strenge Ledermaske mit abgesteppten Öffnungen für Augen und Nasenlöcher und mit einem ungerührten Reißverschluss, der ihre Lippen versiegelte. Ansonsten ein schwarzes Hemd, ein bis oben zugeknöpftes Herrenhemd mit Kragen, und darunter nichts bis auf flache schwarze Schuhe. Ihre Beine waren elegant und geschmeidig und schimmerten im Halbdunkel wie angestrahlt. Das Haar zwischen ihren Beinen war rehfarben und kurzgeschoren. Als sie ihnen auf Spielbretthöhe ein Silbertablett mit kleinen Sandwichs hinhielt, sah Bruno zwischen ihren Knien das orangefarbene Glühen des Kamins. Dank dem Fleck wandte sich sein Blick von selbst ab.

Zwei von Brunos Steinen lagen auf der Bar, ein verlorenes Spiel. »Nach Ihnen«, sagte Köhler. Brunos Gastgeber gab die Würfel nicht her, hielt das Spiel als Geisel zugunsten seiner atemberaubenden Vorführung.

Bruno nahm sich ein Dreieck vom Tablett. Krabben krümmten sich in Dressing und Salat auf Toast ohne Kruste. »Danke«, sagte er, ohne eine bestimmte Person anzusprechen; seine Aufmerksamkeit galt halb der Hüftpartie ihrer Bedienung und halb dem Grinsen des reichen Mannes. Sein Blick fiel auf sein eigenes Backgammonspiel, das unberührt an einem Stuhlbein lehnte. Er biss eine Sandwichecke ab und schmeckte keine Krabben, sondern nur Dressing. Er schob das restliche Stück in den Mund und spülte mit Whisky nach. Seine Lippen waren wieder seltsam taub, obwohl es warm im Raum war.

»Sehen Sie, es geht darum, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet«, sagte Köhler.

»Wie bitte?«

Der reiche Mann deutete unverfroren auf die Frau. »Wenn das Gesicht und die Brüste verborgen sind, muss man dort hinschauen. Das erstaunliche Mysterium liegt direkt vor einem.«

Bruno glaubte zu verstehen. Hätte Köhler es einrichten können, den Körper der Frau ohne Kopf auf einem Silbertablett hereintragen zu lassen, dann hätte er das gemacht. Bruno fragte sich, ob die hochgewachsene Frau es als eine Geste der Solidarität empfinden würde, wenn er hochsah und durch die Maske Blickkontakt mit ihr suchte, oder ob sie dann erst recht vor Scham vergehen würde. Es gab sowieso nichts, was Bruno direkt anschauen konnte. Die Kopfschmerzen, die in seinen Schläfen begonnen hatten, pochten jetzt genau zwischen seinen Augenbrauen, als wollte sich ein drittes Auge zur Oberfläche durchkämpfen – eines, das im Gegensatz zu den anderen zur Wirklichkeit hinter dem Fleck durchdringen konnte.

»Wenn Sie wollen, können Sie sie anfassen.«

»Ich werd’s mir merken«, sagte Bruno.

»Natürlich, gut Ding will Weile haben …«

»Spielen wir?«, fragte Bruno gereizt. Köhler war wieder zum Plattenspieler getreten und senkte die Nadel auf eine noch zerkratztere Aufnahme. Die Frau stand stumm neben ihnen, das Tablett zerteilte sie an der Taille, und der Hemdzipfel verhüllte nichts. In seiner Phantasie machte Bruno aus dem Silbertablett ein Spielbrett und aus den dreieckigen Sandwichs Zungen. Köhlers Angebote hatten keinen Reiz für ihn, er wollte nur spielen, zu den Zungen und Steinen zurückkehren, seinem vorrangigen Geschäft. Er wusste, dass das unhöflich war. Köhler hatte Unterhaltungsangebote für den Abend organisiert, damit sich Bruno ganz und gar darauf konzentrieren konnte, ihn um sein Geld zu bringen. Aber der Abend lief aus dem Ruder.

Der Jazz gellte und keckerte. Köhler stürzte zum Brett zurück, schnappte sich die Würfel, schüttelte sie übertrieben und warf einen Sechserpasch. Seine Steine zogen an Brunos schwacher und gebrochener Blockade vorbei. Als Köhler die Verdoppelung anbot, gab Bruno auf.

»Bix Beiderbecke!«, rief Köhler; offenbar griff der reiche Mann auf irgendwelche geheimnisvollen Sticheleien in seiner Muttersprache zurück.

»Neues Spiel«, brummte Bruno.

»Natürlich«, sagte Köhler. Merkwürdigerweise stand er aber auf und setzte die Nadel wieder auf den Anfang der Platte, und Bruno durfte derweil die Steine auf ihre Zungen zurückstellen. Die Frau stand mit ihrem Tablett da und bekam an den Beinen Gänsehaut, als die Flammen zu orangefarbenen Kohlescherben verglommen. Bruno war allerdings warm. Köhler kam zurück, würfelte zur Spieleröffnung und rief ihr zu: »Komm her!«

Sie trat zu ihnen, und das Sandwichpuzzle war unberührt bis auf das eine Dreieck, das Bruno sich genommen hatte. Dieser hatte das Gefühl, er würde es an dieselbe Stelle zurückwürgen, wenn sie mit dem Dillgeruch nur einen Schritt näher kam. Er gewann die Eröffnung mit einem schwachen 4+1 und splittete damit seine Läufer. Köhler fiel sofort mit einem anarchischen Blitzspiel über sie her. Bruno und er hatten die Positionen getauscht. Köhler war unberechenbar geworden.

Ohne bewusst zu merken, dass er sie anblickte, sah Bruno plötzlich, dass sich die Lippen der Frau unter dem zugezogenen Reißverschluss im Leder bewegten. Sollte Bruno unter diesen Umständen vielleicht Lippen lesen? War das ein Hilferuf? Nein. Er durfte nicht naiv sein, sie war ein Profi, genau wie Bruno. Das hier war Berlin. Hier gab es Traditionen, die Bruno als selbstverständlich voraussetzen sollte. Also eine Warnung? Sein Gastgeber hatte sich noch immer kein Sandwich genommen. War Bruno vergiftet worden?

Köhler gelang ein Gammon. Brunos Glück war vergiftet worden. Sein Geld, das nie seins und nie Geld gewesen war, war weg. Er hatte Schulden und verlor den Überblick. Es ging nur um Zahlen im Kopf, nicht mal ein Groschen war auf den Tisch gelegt worden. Ein Spiel unter einander wohlgesonnenen Gentlemen mit Rollen, die Bruno nur zu gut kannte: ein Hai und ein Wal. Bruno musste sich wappnen, Zeit schinden. Das hier durfte nicht Singapur werden, das konnte er nicht zulassen. Er hatte gegen Falk rebelliert und war nach Europa geflohen, und jetzt musste er es wiedergutmachen, musste den Abend weiterverfolgen und seinen Schnitt machen. Beim jetzigen Einsatz sollte das nicht lange dauern. Er würfelte zum Spielauftakt mit einem Würfel und drehte den Kopf, um die Augenzahl zu erkennen: 3.

Köhler schien die Hand nach einem Sandwich auszustrecken, griff aber am Tablett vorbei. Er rieb seine Hand an den Pobacken der Bedienung, als wäre sie sein Maskottchen, und begleitete das hektische Solo des Trompeters mit Scatgesang. Dann würfelte er eine 4, gewann die Eröffnung und verteilte seine Helfer. Wie von der Schlange gebissen, schlug Bruno nicht zu. Köhler legte den Kopf auf die Seite, als Bruno nach dem Würfeln, einer nutzlosen 4+1, zu ziehen zögerte. Wollte der Deutsche schon wieder nach dem Dopplerwürfel greifen? Wollte er ihn in Bockshorn jagen?

Stattdessen fragte Köhler: »Alexander, ist alles in Ordnung?«

»Warum?«

»Ich frage mich gerade, ob mit Ihren Augen etwas nicht stimmt.«

»Nein.«

»Es ist, als würden sie die Aktionen der Backgammonsteine … belauschen. Oder ist das unter Spielern Ihres Kalibers so üblich? Ich muss zugeben, dass ich mit der Methode nicht vertraut bin.«

Bruno fing sich. Sein Kopf verharrte Zentimeter über dem Spielbrett. Er hatte gedacht, wenn man seine Schräglage überhaupt bemerkte, würde man sie für Spannen halten. Verstohlene Blicke auf das kosmische Mysterium zwischen den Beinen der maskierten Frau. Jetzt überfiel ihn die Erkenntnis: sein Verdrängen des Flecks. Seit wie vielen Wochen ging er nun schon mit dieser Qual um? In Singapur hatte er auch schon darunter gelitten, auch wenn es jetzt schlimmer war. Es war definitiv schlimmer.

Bruno hatte Lektionen erhalten, ohne es zu merken. Wenn ein Fisch wie der Deutsche Brunos Spielverhalten studieren, übernehmen und nachahmen konnte, was hatten die schlaueren Spieler in Singapur ihm dann wohl alles weggenommen? Aber vielleicht war Köhler auch gar nicht so bescheuert. Für einen Abgezockten hatte er ganz schön viel vom Zocker. Bruno hatte alles verloren, auch den Einsatz, den er bei Betreten des Raums gar nicht in der Tasche gehabt hatte. Er wollte seine hiesigen Schulden und gleich auch die in Singapur begleichen, aber das ging nicht. Aber dann fiel ihm ein, dass Falk versprochen hatte, seinen Schandfleck in Singapur aus der Welt zu schaffen; nur dieser Abend zählte.

»Wenn ich ihnen lausche, höre ich das Meer«, sagte Bruno flapsig. Können Sie nicht endlich diese grauenvolle Musik abstellen?

»Ich habe die Meerjungfrauen füreinander singen hören«, sagte Köhler. Aus dem Handgelenk würfelte er die perfekte Zahl. Der Deutsche baute seine Blockaden jetzt wie am Schnürchen.

»Wie bitte?«, sagte Bruno. Er antwortete mit dem nächsten katastrophalen Würfelwurf. Das Pech klebte richtig an seinen Fingerspitzen; er brauchte die Würfel nur anzufassen. Normalerweise kam es nur in einzelnen Backgammonspielen zu so abrupten Umkehrungen. Hier war der ganze Abend unumkehrbar in die Niederlage abgekippt.

»The mermaids singing, one after the next natürlich. T. S. Eliot!« Und jetzt bot der Deutsche den Dopplerwürfel an.

»Each to each«, korrigierte Bruno, der den Vers aus irgendeinem Gedächtnissumpf zutage förderte. Er gab sich geschlagen, weil es ihm reichte. Wieder fünftausend den Bach runter, aber es löschte das Spiel zugunsten eines neuen aus. Bruno griff in die Brusttasche seines Smokingjacketts, drückte mit einem Finger eine Paracetamol heraus und steckte sie sich unauffällig in den Mund. Um sie hinunterzuspülen, ließ er sich Whisky über die taube Zunge laufen. »Neues Spiel.«

Die Frau mit der Maske hatte sich Bruno zugewandt. Sie rieb sich mit einem Finger über dem Reißverschluss, unter den Nullen der Nasenlöcher. Ein neues Signal? Oder musste sie niesen? Wie machte sie das hinter der Maske? Bruno stellte sich hinter der Verschleierung aus Leder jetzt keine überirdische Schönheit oder eine hässliche Entstellung vor, sondern beschwor das Bild verquollener Augen und aus den Nebenhöhlen die Kehle hinabrinnenden Schleims herauf, einen unterdrückten Husten. Das Leben eines professionellen, halbnackten, maskierten Hausmädchens; ein Arbeitstag wie jeder andere.

Aber nein. Das Problem war nicht die Nase der Frau, sondern Brunos. Er spürte das Rinnsal und die Kühle auf der Oberlippe im selben Moment, in dem Köhler sprach.

»Ihre Nase, Alexander. Sie blutet.«

»Nicht der Rede wert«, sagte Bruno, und seine Finger zierte Scharlachrot. Er wusste nicht, wo er sie abwischen sollte. Dann sah er übergangslos vom Teppich zu Köhler und der maskierten Frau hoch. Er stützte sich auf die Ellenbogen – wo war sein Sessel? Weg. Es musste Zeit vergangen sein, und als die Ellenbogen das Gewicht seines Oberkörpers nicht mehr tragen konnten, merkte er, dass man ihm ein großes Kissen unter den Kopf geschoben hatte. Köhler hatte sich über ihm aufgebaut und hielt ein Smartphone in der Hand. Der Plattenspieler war gnädigerweise verstummt. Stattdessen unterhielten sich Köhler und die Frau auf Deutsch, schienen zu streiten – oder lag das nur daran, dass sich Deutsch immer wie Streiten anhörte?

»Ich kenne ihn. Ich kann ihm helfen.«

»Halt dich zurück, Schlampe. Bitte!«

»Kann ich ihm nicht wenigstens –«

»Ich lass ihn in die Charité bringen. Da wird man sich um ihn kümmern.«

»Ich fahre mit ihm –«

»Auf gar keinen Fall! Und das sag ich nicht noch mal.«

Das Blut an Brunos Fingern war getrocknet. Als er seine Nase betastete, wurden sie frisch gefärbt. Er hatte Blut auf seinem weißen Hemd, vielleicht auch auf dem schwarzen Smoking, allerdings hatte er das Jackett offen getragen; mit etwas Glück war es also verschont geblieben. Die Frau stand ganz nah bei ihm, bestand nur aus Beinen und Mysterium. Eigentlich eine absurde Situation für sie, aber Bruno war nur peinlich, dass es ihr überhaupt nicht peinlich war, als hätte sein Nasenbluten ihn entmannt.

Als Köhler merkte, dass Bruno den Kopf wieder vom Kissen hob, kniete er sich neben ihn und sprach ihn in sorgfältig akzentuiertem Englisch an.

»Hören Sie mich, Alexander? Sie haben eine Art Anfall erlitten. Wissen Sie, wo Sie sind?«

»Ja.«

»Der Chauffeur, der Sie an der Fähre abgeholt hat, kommt mit dem Wagen.«

»Mir fehlt nichts – wir können weiterspielen –« Es lag nur an der Musik, wollte er sagen.

Köhler überhörte das. »Er fährt Sie zur Notaufnahme, so spät abends sollte die Autofahrt nicht lange dauern. Das Krankenhaus heißt Charité, da wird man sich um Sie kümmern –«

»Ich bin kein Fall für die Charity.«

»Nein, nein, das ist bloß der Name. Die Charité gehört zu den berühmtesten Krankenhäusern von ganz Europa.«

Na dann nichts wie hin, dachte Bruno in seiner Verzweiflung. Ein berühmtes Krankenhaus ist ja wohl das Mindeste.

Trotz Blendung und Verwirrung bekam Bruno mit, dass man ihn wieder auf den Rücksitz der Limousine verfrachtet hatte und auf dem langen Landweg aus Kladow hinausfuhr, um die Fähre zu vermeiden. Lichter zuckten über die Decke des Wagens, als er auf dem Rücksitz lag. Und da fiel ihm wieder ein, woran ihn der Watvogel, der Kormoran, zunächst nur vage erinnert hatte.

Als Bruno sechs Jahre alt war, hatte seine Mutter June das Anwesen der Sekte ihres Gurus in Marin County verlassen und war mit ihm nach Berkeley gezogen. Aus der Zeit vor Berkeley hatte er praktisch keine Erinnerungen, was ihm ganz lieb war; noch lieber hätte er auch Berkeley und sein ganzes Leben in Kalifornien vergessen. Die Kommune in San Rafael fiel ihm nur in aufzuckenden Einzelbildern wieder ein: ein verschwatztes Durcheinander, Hippies bei großen verqualmten Spaghettimahlzeiten, ihre Stimmen und geistigen Offenheiten, die seine Grenzen überfluteten, und die Freiluftduschen der Kommune, unter denen andere Frauen, nicht seine Mutter, ihn zusammen mit ganzen Scharen schlammiger Kinder schrubbten. Brunos deutlichste Erinnerung an die Zeit, bevor June ihn aus der Kommune rausholte, war, wie der bärtige Guru seiner Mutter ihn nach Stinson Beach mitgenommen hatte, den sie an dem kalten Morgen ganz für sich hatten. Falls es eine Erklärung oder einen Grund für diese besondere Zuwendung gab, bekam er sie weder damals noch später je zu hören.

In Köhlers Wagen fiel es Bruno wieder ein: Der Guru hatte ihm die Kormorane auf den Felsklippen am Rand des unendlichen Pazifischen Ozeans gezeigt.

»Du bist ein besonderes Kind, Alexander«, hatte der Guru gesagt und versucht, ihm tief in die Augen zu sehen, aber Brunos ganze Konzentration galt den Wellen, die auf den Strand plätscherten, und den schwarzen, tauchenden Blässhühnern, die auf den Wellen wippten. »Ich sehe, wie du June beobachtest, ich sehe, wie du alle beobachtest. Du bist sehr tiefgründig.«

Ich will nicht tiefgründig sein, hatte das Kind gedacht. Ich will die Stimmen zum Schweigen bringen, die verrückten Kreischstimmen von euch allen, auch von June. Ich will so ein Vogel da werden.

III Alexander Bruno saß inzwischen seit fünf, sechs Stunden im Wartezimmer der Notaufnahme, drückte sein hölzernes Backgammonspiel an die blutgetränkte Hemdbrust, lehnte den Kopf an die feste, schlafverhindernde Rückenlehne des Stuhls und war dazu verurteilt, sich zu fragen: Wofür waren die roten Fußabdrücke da? Sie waren auf den Boden gemalt oder geklebt worden. Unter grellen Neonlampen saß er an einer Resopaltischplatte und betrachtete nachdenklich die Abdrücke, die Wandverkleidung des Raums war aus Holzimitat, oberhalb seines Kopfes hing ein Flachbildschirm, über den stummgeschaltete deutsche Nachrichten flackerten, hinter ihm lag die ungenutzte Tür zur Unfallstation. Die Minuten starben und häuften sich zu Stunden.

Bruno teilte sich diesen Bereich hauptsächlich mit Frauen, immer wieder anderen, nicht mehr den jüngsten, immer vier bis fünf. Er hätte ihr Kommen und Gehen tabellarisch ordnen können, ergründen können, welche von ihnen krank waren und welche auf andere kranke Angehörige warteten, um die feinen Unterschiede herauszubekommen, aber nein. Sie verschmolzen zu eintöniger Ähnlichkeit: Ältere Frau im Wartezimmer, eine Serie. Der Fleck machte das natürlich nicht besser, blieb mitten in seinem Sichtfeld und verdeckte ihre Gesichter.

Eine kurze Abwechslung war ein junges Paar mit einem in Decken gewickelten Baby gewesen, das hineingebeten worden und nicht zurückgekommen war. Ein paar Polizisten waren vorbeigeschlendert, außerdem jede Menge müde Sanitäter, aber ohne jede Hektik, alle wirkten nur sehr gelangweilt. In den frühen Morgenstunden schoben sie eine ruhige Kugel. In Berlin wurde anscheinend nie jemand angeschossen, niedergestochen oder überfahren. Oder jedenfalls nicht in dieser Nacht. Brunos Blutfleck fiel da auf. Hätte er eine nützliche deutsche Wendung auswendig gelernt, was er natürlich nicht getan hatte, wäre Das ist nur ein Nasenbluten eine gute Wahl gewesen.

Brunos Absonderung von den Übergriffen menschlicher Sprache war so allumfassend, wie er es sich nur wünschen konnte. Niemand sagte ein Wort. Wenn doch, dann unhörbar. Wenn hörbar, dann deutsch. Bruno hatte ein Strohfeuer der Wichtigkeit auskosten können, aber das schien Jahre her zu sein. Einst hatte er die Menschen hier erregt; er klammerte sich an die Erinnerung. Als Köhlers Chauffeur ihn abgesetzt hatte, war man von einem Schlaganfall ausgegangen. Die Notaufnahmeschwester hatte ihn zu einem Arzt gebracht, und der hatte in kaltem, deutlich artikuliertem Englisch die Anamnese aufgenommen, ihm einfache Fragen gestellt, die Bruno vergleichsweise selbstbewusst beantworten konnte. Der Fleck selbst hatte die Aufregung verursacht – hinzu kam seine kurze Bewusstlosigkeit oder der Anfall. Dabei hatte Bruno natürlich nur die Aussage Köhlers, der von einem Anfall gesprochen hatte. Der reiche Mann stand für eine Erklärung nicht mehr zur Verfügung, und als man Bruno fragte, was er mit dem Wort meine, wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte.

Der Arzt untersuchte Brunos Gesichtsfeld. Was bisher Brunos Privatüberlegungen zum Fleck gewesen waren, sein eigenes kleines esoterisches Mysterium, wurde jetzt zum Allgemeingut – aber immerhin: ein Gut. In jeder anderen Hinsicht hatte er das Gefühl, den Arzt nur enttäuscht zu haben. Taubheit oder ein Kribbeln in den Gliedern? Nein. Wortfindungsstörungen? Nein, tut mir leid. Unfähigkeit, bestimmte Routinebewegungen durchzuführen, Gehen, Armeheben, Anweisungen des Arztes zu befolgen? Nein, Bruno war leider imstande, all diese einfachen Bewegungen durchzuführen. Während er das tat und dem Arzt wenig oder keinen Anlass gab, auf seiner Klemmbretttabelle etwas anzukreuzen, spürte Bruno die Energie aus dem Untersuchungszimmer abfließen. Er enttäuschte weiter, als er die Kopfschmerzen beichtete, das Trinken von unverdünntem Whisky und die Einnahme – das übermäßige Einnehmen – von Paracetamol. Im letzten Augenblick, vor der Entlassung, erwähnte Bruno noch die Taubheit in den Lippen. Der Arzt zog eine Augenbraue hoch. Ein Anflug von Interesse, nein, doch nicht. Bruno erfüllte zu wenige Begutachtungskriterien für einen Schlaganfall, und so war es, als existierte er gar nicht. Er war in die Wartezone zurückgeschickt worden.

Die Frage, wie er die roten Fußspuren zu interpretieren hatte, die vom Eingang quer durch die Wartezone und den einen Krankenhausflur entlangführten, war nun Brunos einzige Beschäftigung, sein einziger Trost. Sonst gab es nichts zum Nachdenken. Oder nichts außer dem Fleck oder dem seltsamen Verlauf des Abends bei Köhler – dessen Ergebnis, auch wenn die Ursachen verwirrend blieben.

Die plötzliche Schicksalswende, zeitgleich mit Köhlers Erhöhung des Einsatzes: Konnte Köhler Bruno abgezockt haben? Das war doch unmöglich. Aber Bruno wurde die irrationale Gewissheit nicht los, dass Köhler der Hai gewesen war. Er fragte sich jetzt, ob der Deutsche womöglich mit genauso wenig Bargeld in den Taschen wie Bruno selbst ins Spiel eingestiegen war. Vielleicht gehörte die Villa in Kladow gar nicht Köhler. Vielleicht hieß der Mann, den Bruno getroffen hatte, gar nicht Köhler. Solche Gedanken führten in den Wahnsinn; da dachte man lieber über rote Fußspuren nach. Es gab in der Wartezone außerdem noch gelbe Fußspuren, die in eine andere Richtung führten. Bruno würde schon noch dahinterkommen. Warum nicht? Er hatte Zeit und offenbar auch die Gabe, hinter die Dinge seines Lebens zu kommen.

Der Eingang zur Notaufnahme lag unter einer Fußgängerbrücke, und von draußen fiel nur wenig Naturlicht ins aseptische Fegefeuer des Wartezimmers. Trotzdem waren erste Anzeichen der Morgendämmerung zu sehen. Die Uhr zeigte 4:45. Wenn Bruno die Ohren spitzte, konnte er einen Vogel tschilpen hören. Die älteren Frauen regten sich nicht, hatten aber genauso wenig geschlafen wie Bruno. Als ein junger Arzt im minzgrünen Kittel auftauchte und mit einem Klemmbrett vor seinem Stuhl stehen blieb, begriff Bruno nicht gleich, dass er ins Reich der Sichtbarkeit zurückgezogen wurde. Der junge Mann war spindeldürr und hatte blondes, lockiges Haar. Die lange Nacht hatte ihm anscheinend nicht zugesetzt, aber vielleicht hatte seine Schicht auch gerade erst begonnen, oder er hatte sich ein erfrischendes Nickerchen auf einem OP