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Verfilmung von und mit Edward Norton und Willem Dafoe, Bruce Willis und Alec Baldwin! »Lethem ist ein König der Sätze. Sein Talent ist riesig und sein Blick so scharf wie eh und je.« New York Times Ein ermordeter Mafioso mit großem Herz und großer Klappe. Ein kleiner Gangster mit Tourette-Syndrom auf der Spur des Verbrechens. Messerscharfe Dialoge und grandioser Sprachwitz vor der Kulisse der Unterwelt Brooklyns. Das Waisenhaus St. Vincents in Brooklyn, frühe siebziger Jahre. Für Lionel Essrog, der am Tourette-Syndrom leidet, ist Frank Minna so etwas wie ein Erlöser. Der im ganzen Viertel beliebte Ganove taucht eines Tages auf und nimmt Lionel und drei weitere Jungs mit auf seine mysteriösen Streifzüge quer durch Brooklyn. Aus den vier Waisen werden so die Minna Men, die von Detektei bis Fahrdiensten alles anbieten. Ihre Tage und Nächte drehen sich um Frank, den Prinzen von Brooklyn, der mit großer Klappe durchs Leben eilt. Dann kommt die furchtbare Nacht, in der Frank niedergestochen wird und Lionel auf sich selbst gestellt ist. Auf der Suche nach Franks Mörder verstrickt er sich tiefer und tiefer in Brooklyns Unterwelt und die geheimen und unüberschaubaren Gesetze dieses Viertels, in dem niemand ist, was er zu sein scheint. »Eine geniale Mischung aus Spannung, Intelligenz und Kunstfertigkeit.« Die Zeit
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Seitenzahl: 502
Motherless Brooklyn
Roman
Jonathan Lethem
Übersetzt von Michael Zöllner
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Tropen
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Motherless Brooklyn« im Verlag Doubleday, New York
© 1999 by Jonathan Lethem
Für die deutsche Ausgabe
© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
Foto: © GettyImages/rubberball
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50389-0
E-Book: ISBN 978-3-608-11080-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Für meinen Vater
Kontext ist das A und O. Verkleidet mich und ihr werdet staunen. Ich bin Jahrmarktschreier, Auktionator, Straßenkünstler, Wortverdreher, ein Abgeordneter bin ich, trunken vom vielen Reden. Ich habe Tourette. Mein Mundwerk lässt sich nicht zügeln, obgleich ich meist nur flüstere oder die Lippen bewege, als würde ich laut lesen, mein Adamsapfel springt auf und ab, unter meinen Wangen pocht die Kiefermuskulatur wie ein Miniaturherz, der unterdrückten Stimme entfliehen die Worte tonlos, reine Geister ihrer selbst, leere Hülsen ohne Laut und Atem. In dieser gedämpften Form fließen die Wörter aus dem Füllhorn meines Geistes, um über die Erdoberfläche zu jagen und die Realität zu kitzeln wie Finger die Klaviatur. Streichelnd, lockend. Eine unsichtbare Armee auf Friedensmission, eine friedfertige Horde. Ohne böse Absichten. Sie besänftigen, interpretieren, massieren. An allen Enden glätten sie Mängel, streichen Haare zurecht, ordnen die Dinge, treten den Rasen wieder fest. Zählen und polieren das Silber. Geben älteren Damen einen freundlichen Klaps auf den Po, ernten so ein Kichern. Wehe aber – und hier kommt der Haken –, alles ist zu perfekt, die Oberfläche zu glatt, alles bereits geordnet, die älteren Damen selbstgefällig, dann rebelliert meine kleine Armee und plündert die Läden. Die Wirklichkeit benötigt hier und da einen kleinen Kratzer, der Teppich eine Fluse. Meine Worte beginnen nervös am Garn zu zupfen, suchen nach Angriffsfläche, einem schwachen Punkt, einem verwundbaren Ohr. Dann bricht er los, der Zwang, in der Kirche zu schreien, in der Kinderstation, im überfüllten Kinosaal. Zunächst ist es nur ein Jucken. Unregelmäßig. Aber bald schon schwillt das Jucken an, türmt sich auf wie eine Flutwelle hinter einem berstenden Damm. Noahs Sintflut. Dieses Jucken ist mein Leben. Achtung jetzt. Haltet euch die Ohren zu. Baut eine Arche.
»Lutsch mich!«, schreie ich.
* * *
»Munischvol«, gab Gilbert Coney als Antwort auf meinen Ausbruch, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Ich konnte kaum die Wörter auseinanderhalten – »mein Mund ist voll« –, Wahrheit und Witz zugleich, wie lahm. An meine verbalen Tics gewöhnt, sparte er sich normalerweise jeden Kommentar. Zusammengeknüllt schubste er die Tüte White Castles über den Autositz in meine Richtung. »Stopfinsmaul.«
Coney erwartete keine besondere Reaktion von mir. »Lutschmichlutschmichlutschmich«, kreischte ich erneut, um noch mehr Druck aus meinem Kopf abzulassen. Dann war ich bereit, mich zu konzentrieren. Ich bediente mich und nahm einen der kleinen Burger. Beim Auspacken hob ich die obere Brötchenhälfte an, um die Lochstruktur im Belag unter die Lupe zu nehmen, den Überzug aus glänzenden Zwiebelstückchen. Dies war auch so ein Zwang von mir. Ich musste einen White Castle immer aufklappen, um den Gegensatz von maschinell hergestelltem Burger und dem Schmelz aus gebratener Pampe zu begutachten. Chaos und Ordnung. Dann befolgte ich mehr oder weniger Gilberts Rat – und stopfte mir das Teil ganz in den Mund. Den alten Slogan »Hol dir das Dutzend« summend im Hinterkopf, die Kiefer in Betrieb, um den Happen in verdaubare Portionen zu zermalmen, widmete ich mich wieder der Beobachtung des Hauses.
Essen macht mich wirklich friedlich.
Wir observierten die Nummer 109 East 84th Street, ein frei stehendes Wohnhaus, umgeben von riesigen Apartmentgebäuden, in deren Foyers Fahrradkuriere mit dampfendem chinesischem Essen verschwanden und wie müde Motten zurück ins verblassende Novemberlicht flatterten. Es war Abendessenszeit in Yorktown. Gilbert Coney und ich hatten unseren Teil zum Festmahl beigetragen, als wir hoch nach Spanish Harlem gefahren waren, um die Burger zu holen. Es gibt nur noch einen White Castle in Manhattan, oben auf der East 103rd Street. Er kommt nicht an die Filialen in den Vororten heran. Man kann auch nicht mehr bei der Zubereitung zuschauen, und um ehrlich zu sein, frage ich mich inzwischen, ob sie die Brötchen in die Mikrowelle tun, statt sie zu rösten. Sei’s drum. Unsere derart infrage gestellten Burger und Pommes frites im Gepäck, parkten wir vor der Zieladresse in zweiter Reihe, bis sich ein Parkplatz auftat. Es dauerte nur wenige Minuten, aber die Zeit reichte, um den Portiers zu beiden Seiten aufzufallen – aufzufallen als neugierige Fremde. Wir waren mit dem Lincoln unterwegs, der weder durch ein T-Zeichen noch durch irgendeinen anderen Aufkleber als Wagen eines Fahrdienstes gekennzeichnet war. Und da Gilbert und ich groß gewachsene Männer waren, dachten sie wahrscheinlich, wir wären Cops. Das machte nichts. Wir kauten und beobachteten.
Nicht, dass wir gewusst hätten, was wir dort taten. Minna hatte uns hinbeordert, ohne einen Grund zu nennen, was im Gegensatz zu der Adresse nicht unüblich war. Angelegenheiten der Minna-Agentur beschränkten sich in der Regel auf Brooklyn, auf die Umgebung der Court Street, um genau zu sein. Carroll Gardens und Cobble Hill ergaben zusammen genommen ein verzwicktes Spielbrett aus Frank Minnas Verbindungen und Feindschaften, und ich, Gil Coney und die anderen Minna Men waren die Spielfiguren – wie Monopolysteine, dachte ich manchmal, Autos oder Hunde (sicherlich keine Zylinder) –, die auf diesem Brett hin- und hergeschoben wurden. Hier auf der Upper East Side bewegten wir uns abseits des uns bekannten Spielfelds, »Auto« und »Hund« in »Sagaland« – oder vielleicht auch im Arbeitszimmer mit »Oberst von Gatow«.
»Was bedeutet das Schild da?«, fragte Coney. Er deutete mit seinem fettig glänzenden Kinn zum Eingang des Wohnhauses. Ich sah genauer hin.
»Yorkville Zendo«, las ich von dem bronzefarbenen Türschild ab, und mein fiebriges Gehirn verarbeitete die Wörter und biss sich am merkwürdigeren der beiden fest. »Lutsch mich Zendo!«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Gilbert reagierte gelassen auf meine Art, über Ungewohntes nachzudenken. »Genau, was heißt das, Zendo? Was ist das?«
»Vielleicht kommt das von Zen«, sagte ich.
»Kenn ich nicht.«
»Zen wie Buddhismus«, erklärte ich. »Zen-Meister, du weißt schon.«
»Zen-Meister?«
»Du weißt schon, wie Kung-Fu-Meister.«
»Hrrph«, antwortete Coney.
Und nach diesem kurzen Schwenk zu unseren Ermittlungen lehnten wir uns wieder zufrieden kauend zurück. Natürlich war mein Gehirn nach jedem Gespräch zumindest mit der Sparversion eines Echolalie-Salats beschäftigt: Zendo kenn ich nicht, Ken wie Zung-Fu, Feng-Shui-Meister, Funghi-Kleister, Zen-Scheißer, Leck mich! Aber es war nicht nötig, dies laut auszusprechen, nicht jetzt, wo noch White Castles darauf warteten, ausgepackt, untersucht und verzehrt zu werden. Ich war bei meinem dritten. Ich schob ihn in den Mund, blickte dann zum Eingang von Nummer 109 auf und drehte dabei erschrocken den Kopf herum, als hätte das Gebäude sich heimlich an mich herangeschlichen. Coney und die anderen Männer der Minna-Agentur gingen gern mit mir auf Beobachtungsposten, da meine Zwanghaftigkeit mich spätestens alle dreißig Sekunden dazu veranlasste, das fragliche Objekt in Augenschein zu nehmen, womit ich ihnen ersparte, sich ihre Hälse zu verrenken. Aus einem ähnlichen Grund war ich bei Abhörsitzungen ebenso beliebt: Wenn man mir eine Liste mit Schlüsselwörtern gibt, auf die hin ich ein Gespräch abhören soll, denke ich an nichts anderes, ja ich springe fast aus den Kleidern, sobald ich auch nur den kleinsten Hinweis höre, wohingegen diese Aufgabe jeden anderen früher oder später in seligen Schlummer sinken lässt.
Während ich an Nummer drei kaute und den ereignislosen Eingang des Yorkville Zendo nicht aus den Augen ließ, tasteten meine Hände geschäftig die Papiertüte von Castles ab, um sicherzugehen, dass noch drei für mich übrig waren. Wir hatten eine Tüte mit zwölf bestellt, und Coney war sich nicht nur darüber im Klaren, dass ich meine sechs haben musste, ihm war auch bewusst, dass er mir entgegenkam und meine tourettegesteuerten Instinkte besänftigte, indem er sich beim Essen stets meinem Rhythmus anpasste. Gilbert Coney war für mich ein großer Trottel mit einem Herz aus Gold. Oder vielleicht war er nur einfach abzurichten. Meine Tics und Obsessionen hielten die anderen Minna Men bei Laune, ermüdeten sie aber auch, machten sie seltsam nachgiebig und komplizenhaft.
Eine Frau verließ den Gehweg und ging den Treppenaufgang des Wohnhauses hinauf zur Tür. Kurzes dunkles Haar, eckige Brille, das war alles, was ich sehen konnte, bevor sie uns den Rücken zukehrte. Sie trug eine Seemannsjacke. Schwarze Haarsträhnen im Nacken, ansonsten ein jungenhafter Haarschnitt. Um die fünfundzwanzig, vielleicht auch erst achtzehn.
»Sie geht rein«, sagte Coney.
»Sieh mal, sie hat einen Schlüssel«, bemerkte ich.
»Wie lauten Franks Anweisungen?«
»Nur beobachten. Notizen machen. Wie viel Uhr ist es?«
Coney zerknüllte eine weitere Burgerverpackung und deutete aufs Handschuhfach. »Du machst die Notizen. Es ist Viertel vor sieben.«
Ich klappte das Handschuhfach auf – der Schnappverschluss des Plastikschlosses gab ein wunderbar dumpfes Geräusch von sich, das ich gern wiederholt hätte, zumindest annäherungsweise – und fand darin das kleine Notizbuch. MÄDCHEN, schrieb ich, um es dann durchzustreichen. FRAU, HAAR, BRILLE, SCHLÜSSEL. 18:45. Die Notiz war für mich selbst, denn ich musste nur in der Lage sein, Minna mündlich Bericht zu erstatten. Wenn überhaupt. Erfahrungsgemäß konnte es auch sein, dass er uns bloß hierhingeschickt hatte, um jemanden zu erschrecken oder um auf eine Lieferung zu warten. Ich ließ das Notizbuch auf dem Sitz neben den Castles liegen, klappte das Handschuhfach wieder zu und schlug dann noch sechsmal gegen das Fach, um den Druck aus meinem Kopf entweichen zu lassen, indem ich den angenehm dumpfen Klang nachahmte. Sechs war meine Glückszahl an diesem Abend, sechs Burger, sechs Uhr fünfundvierzig. Deshalb sechs Schläge.
* * *
Gegenstände zu zählen und anzufassen sowie Worte zu wiederholen, das ist für mich ein und dasselbe. Tourette ist im Grunde ein Etikett, das einem ein Leben lang anhängt. Die Welt (oder mein Gehirn – ein und dasselbe) zwingt mich dazu, immer und immer wieder. Also etikettiere ich ebenfalls.
Kann ich etwas dazu? Wer jemals dazugehört hat, kennt die Antwort.
* * *
»Jungs«, rief eine Stimme von der Seite des Autos her, die der Straße zugewandt war, und erschreckte uns beide.
»Frank«, sagte ich.
Es war Minna. Er hatte den Kragen seines Trenchcoats als Schutz vor dem Wind hochgestellt, ohne dadurch seine unrasierte Robert-Ryan-in-Wild-Bunch-Grimasse völlig zu verdecken. Er beugte sich zu meinem Fenster hinunter, als ob er vom Yorkville Zendo aus nicht gesehen werden wollte. Klapprige Taxis holperten hinter ihm über die Schlaglöcher in der Straße. Ich ließ das Fenster herunterfahren und streckte zwanghaft meinen Arm nach draußen, um seine linke Schulter zu berühren, eine gewohnte Geste, die er nie beachtet hatte. Wie lange das schon so ging? Schätze mal, es war zwanzig Jahre her, dass ich als Dreizehnjähriger zum ersten Mal diesen Drang verspürte und nach seiner damals fünfundzwanzigjährigen bomberjackenbewehrten Harte-Jungs-Schulter griff. Zwanzig Jahre Betatschen und Berühren – wäre Frank eine Statue und nicht aus Fleisch und Blut gewesen, ich hätte die Stelle längst auf Hochglanz poliert wie die Touristenhorden die Nasen und Zehen der Skulpturen in italienischen Kirchen.
»Was machst du hier?«, fragte Coney. Er wusste, dass es wichtig sein musste, wenn Minna hier oben auftauchte, und zwar aus eigenem Antrieb, obwohl er sich von uns irgendwo hätte auflesen lassen können. Irgendetwas Vertracktes ging vor sich, und – Überraschung! – wir Handlanger wussten mal wieder von nichts.
Mit schmalen Lippen flüsterte ich unhörbar: Überwachung, Mobilmachung, Hinterhalt Zendo.
Die Herren des Mobilhalt.
»Gebt mir eine Kippe«, sagte Minna. Coney lehnte sich mit einer Packung Pall Mall in der Hand über mich, von denen eine für den Boss ein Stück herausgeklopft war. Minna steckte sie sich in den Mund und zündete sie an, wobei er seine Brauen konzentriert zusammenzog und die Flamme mit seinem Mantel vor dem Wind schützte. Er nahm einen Zug und blies den Rauch zu uns hinein. »Okay, hört zu«, sagte er, als ob wir nicht sowieso schon an seinen Lippen hingen.
Minna Men durch und durch.
»Ich geh jetzt rein.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Zendo hin. »Sie werden mir aufdrücken. Ich werde die Tür weit öffnen. Ich möchte, dass du«, er nickte Coney zu, »dir die Tür schnappst, reingehst, nur reingehst und dort wartest, am Treppenabsatz.«
»Was ist, wenn jemand kommt, um dir aufzumachen?«, fragte Coney.
»Mach dir darüber Sorgen, wenn es passiert«, gab Minna barsch zurück.
»Okay, aber was, wenn …«
Minna winkte ab, bevor er ausreden konnte. Coney bemühte sich redlich, seine Rolle zu verstehen, aber es kam nicht viel dabei heraus.
»Lionel …«, begann Minna.
* * *
Lionel, mein Name. Frank und die Minna Men sprachen ihn so aus, dass er sich auf Vinyl reimt. Lionel Essrog. Li-nyl.
Lügnie Fresstrog.
Finaler Export.
Urinaler Pissstopp.
Und so weiter.
Mein eigener Name war das verbale Kaubonbon, das mittlerweile in fadendünnen Strängen auf dem Boden meiner Echohöhle Kopf verteilt lag. Ausgelutscht, lange schon ohne Geschmack.
* * *
»Hier.« Minna ließ ein Empfangsgerät mit Kopfhörer in meinen Schoß fallen, dann klopfte er auf seine Brusttasche. »Ich bin verkabelt. Ich komme über das Ding live rüber. Du musst gut zuhören. Wenn ich sag, äh, ›nicht mal, wenn mein Leben davon abhängt‹, steigst du aus dem Wagen und klopfst dort an die Tür, Gilbert lässt dich rein, ihr zwei lauft hoch und kommt zu mir, okay?«
Lutsch mich, Sackgesicht wäre mir vor Aufregung beinahe rausgerutscht, stattdessen holte ich tief Luft, schluckte die Worte herunter und schwieg.
»Wir haben nichts dabei«, sagte Coney.
»Was?«, fragte Minna.
»Ein Teil, ich hab kein Teil dabei.«
»Was soll das mit Teil? Sag Waffe, Gilbert.«
»Keine Waffe, Frank.«
»Das hoffe ich auch. Nur deshalb kann ich nachts ruhig schlafen, musst du wissen. Du ohne Waffe. Ich würde nicht wollen, dass ihr Holzköpfe auch nur mit einer Haarnadel hinter mir die Treppe hochkommt, nicht mit einer Mundharmonika und erst recht nicht mit einer Waffe. Ich hab eine Waffe. Ihr taucht bloß auf.«
»Sorry, Frank.«
»Nicht mit einer unangezündeten Zigarre, nicht mit einem verdammten Buffalo Chickenwing.«
»Sorry, Frank.«
»Hör zu. Wenn du mich sagen hörst, äh, ›erst muss ich noch mal kurz ins Bad‹, heißt das, wir kommen raus. Du holst Gilbert, ihr geht zurück zum Wagen und richtet euch darauf ein, uns zu verfolgen. Hast du verstanden?«
Stehen, stehen, stehen, VERSTANDEN! wiederholte mein Gehirn. Ibbe, dibbe, dab und AB!
»Leben davon abhängt, Zendo stürmen«, sagte ich laut. »Kurz ins Bad, Auto anlassen.«
»Du bist ein Genie, Freakshow«, kommentierte Minna. Er kniff mir in die Wange und warf seine Zigarette hinter sich auf die Straße, wo sie funkensprühend weiterrollte. Er starrte in die Ferne.
Coney stieg aus dem Wagen und ich rutschte auf den Fahrersitz. Minna fuhr mit der Hand über die Motorhaube, so wie man einen Hund tätschelt, nachdem man ihm »Sitz« zugerufen hat, schlenderte dann an der vorderen Stoßstange vorbei, ermahnte Coney mit dem Finger, sich zurückzuhalten, ging über den Gehweg zur 109 und drückte die Klingel unter dem Zendo-Schild. Coney blieb gegen den Wagen gelehnt zurück und wartete. Ich setzte den Kopfhörer auf, empfing deutlich das Geräusch von Minnas schlurfenden Schritten auf dem Asphalt und wusste, das Ding funktionierte. Als ich aufblickte, sah ich, dass der Portier vom Nachbargebäude rechts uns beobachtete, aber nichts weiter unternahm.
Ich hörte das Klingelgeräusch, live und über Kopfhörer. Minna ging hinein, nicht ohne die Tür weit aufzuschwingen. Coney sprang hinterher, griff nach der Tür und verschwand ebenfalls im Haus.
Schritte die Treppe rauf, noch keine Stimmen. Auf einmal befand ich mich in zwei Welten, mein zitternder Körper auf dem Fahrersitz des Lincoln, von unserem Parkplatz aus das geregelte Straßenleben der Upper East Side vor Augen, Spaziergänger mit Hunden, Lieferanten, Jungs und Mädels, die in ihrer Geschäftskleidung wie Erwachsene wirkten und sich mit dem nahenden Abend in aufgemotzten Bars verloren, während meine Ohren dem Geräuschteppich von Minnas Treppenaufstieg folgten, der immer noch niemandem begegnet war, sich aber anscheinend auskannte, Schuhsohlen, die über Holz schliffen, knarrende Treppenstufen, dann ein Zögern, ein Rascheln von Kleidung möglicherweise, dann zwei hölzerne Schläge und die Schritte setzten sich erheblich leiser fort. Minna hatte seine Schuhe ausgezogen.
Klingeln und dann reinschleichen? Das ergab keinen Sinn. Aber was ergab in dieser Sache schon Sinn? Ich fischte einen weiteren Castle aus der Papiertüte – sechs Burger, um die Ordnung in einer sinnlosen Welt wiederherzustellen.
»Frank«, kam eine Stimme über Mikro.
»Da bin ich«, sagte Minna schwerfällig. »Obwohl ich das nicht hätte tun müssen. Du solltest deine Angelegenheiten besser im Griff haben.«
»Ich weiß das zu schätzen«, fuhr die andere Stimme fort. »Aber es sind ein paar Komplikationen aufgetreten.«
»Sie wissen was von dem Vertrag über das Gebäude«, sagte Minna.
»Nein, das glaube ich nicht.« Die Stimme war ungewöhnlich ruhig, besänftigend. Erkannte ich sie wieder? Vielleicht eher über den Rhythmus von Minnas Antworten – es war jemand, den er gut kannte, aber wer?
»Komm rein, lass uns reden«, sagte die Stimme.
»Über was?«, fragte Minna. »Über was müssen wir reden?«
»Hör dich doch nur selber an, Frank.«
»Ich bin nicht hergekommen, um mir selber zuzuhören. Das kann ich auch zu Hause tun.«
»Und tust du das auch?« Ich konnte ein Schmunzeln in der Stimme hören. »Vielleicht nicht so gründlich, wie du solltest.«
»Wo ist Ullman?«, fragte Minna. »Ist er hier bei dir?«
»Ullman ist downtown. Du wirst ihn schon noch sehen.«
»Fuck.«
»Nur Geduld.«
»Du sagst Geduld, ich sag Fuck.«
»Charakteristisch, würde ich sagen.«
»Yeah. Lass uns die ganze Sache abblasen.«
Wieder gedämpfte Schritte, eine Tür ging zu. Ein Klirren, wahrscheinlich eine Flasche und ein Glas, ein Getränk wurde eingeschenkt. Wein. Ich selbst hätte jetzt auch nichts gegen einen Drink gehabt. Stattdessen kaute ich an einem Castleburger und starrte durch die Windschutzscheibe, während es in meinem Gehirn rumorte: charakteristisch autistisch mystisch mein Tic Dummfick Sackgesicht. Und ich beschloss eine weitere Notiz zu machen, schlug das Notizbuch auf und schrieb unter FRAU, HAAR, BRILLE noch ULLMAN DOWNTOWN, dachte dabei aber MÜLLMANN OUT OF TOWN. Als ich den letzten Bissen runtergeschluckt hatte, zogen sich mein Kiefer und meine Kehle zusammen, und ich schöpfte Atem für einen meiner unvermeidlichen koprolalischen Tics – lautstark, obwohl niemand da war, der es hören konnte. »Friss Scheiße, Bailey!«
Bailey war ein Name, der sich in meinem Tourette-Gehirn eingenistet hatte, obwohl ich nicht sagen konnte, wieso. Ich habe nie einen Bailey gekannt. Vielleicht war Bailey einfach Jedermann, wie George Bailey in »Ist das Leben nicht schön?«. Mein imaginärer Zuhörer war ganz allein der Wucht meiner zahlreichen einsamen Entgleisungen ausgesetzt – anscheinend brauchte ich eine Art Zielscheibe. Wenn ein Touretter im Wald flucht und niemand ist da, der ihn hört, macht er dann ein Geräusch? Bailey schien meine Antwort auf dieses Rätsel zu sein.
»Dein Gesicht spricht Bände, Frank. Du siehst aus, als ob du jemanden umlegen willst.«
»Du wärst ein ganz guter Anfang.«
»Du solltest nicht mir die Schuld geben, Frank, wenn du die Kontrolle über sie verloren hast.«
»Es ist deine Schuld, dass sie ihr Rama-lama-ding-dong vermisst. Du bist derjenige gewesen, der ihr den Mist eingetrichtert hat.«
»Hier, nimm das.« (Bietet er ihm einen Drink an?)
»Nicht auf nüchternen Magen.«
»Ach, stimmt. Ich habe vergessen, wie du leidest, Frank.«
»Pah, fick dich selber.«
»Friss Scheiße, Bailey!« Die Tics sind bei Nervosität am schlimmsten, bei Stress wird mein Tourette geradezu entfacht. Und irgendetwas an diesem Szenario machte mich nervös. Die Unterhaltung, die ich abhörte, war zu abgekartet, die Bezüge zu oberflächlich und durchsichtig, als läge eine jahrelange Zusammenarbeit hinter jedem Wort verborgen.
Außerdem, wo war das dunkelhaarige Mädchen? Im selben Zimmer wie Minna und sein herablassender Gesprächspartner, schweigend? Oder war sie ganz woanders? Meine Unfähigkeit, mir die Situation hinter der Tür von Nummer 109 vorzustellen, beunruhigte mich. War das Mädchen diejenige, auf die sich das Gespräch bezog? Wahrscheinlich nicht.
Und was war ihr »Rama-lama-ding-dong«? Ich konnte mir den Luxus nicht leisten, darüber nachzudenken. Ich hatte mit einer Welle von Anfällen zu kämpfen und versuchte, mich nicht weiter an Dingen aufzuhalten, die ich nicht verstand.
Ich warf einen Blick zur Tür. Höchstwahrscheinlich stand Coney noch dahinter. Ich wünschte mir ein »nicht einmal, wenn mein Leben davon abhängt«, um die Treppe hochstürmen zu können.
Ich schreckte auf, als jemand auf der Fahrerseite an die Fensterscheibe klopfte. Es war der Portier, der uns beobachtet hatte. Ich schüttelte den Kopf, er nickte. Schließlich gab ich nach, zog den Kopfhörer von einem Ohr, um ihm zuzuhören.
»Was?«, fragte ich gleich dreifach abgelenkt – der automatische Fensterheber hatte mein hyperaktives Gemüt in Versuchung geführt und verlangte nun, sinnlos hoch- und runtergefahren zu werden. Ich gab mir Mühe, das zu überspielen.
»Dein Freund, er will dich sprechen«, sagte der Portier und machte eine Geste in Richtung seines Gebäudes.
»Was?« Das war zutiefst verwirrend. Ich verrenkte mir den Hals, um an ihm vorbeizuschauen, aber niemand war im Eingang des Gebäudes zu sehen. In der Zwischenzeit sagte Minna etwas ins Mikro. Aber weder »kurz ins Bad« noch »Leben davon abhängt«.
»Dein Freund«, wiederholte der Portier in hartem osteuropäischen Akzent, vielleicht polnisch oder tschechisch. »Er fragt nach dir.« Er grinste und genoss ganz offensichtlich meine Verwirrung. Ich merkte, wie sich meine Augenbrauen übertrieben verzogen, ein Tic, und wollte ihm schon sagen, dass er das Grinsen gefälligst lassen sollte: Was er sah, war schließlich nicht sein Verdienst.
»Was für ein Freund?«, fragte ich stattdessen. Minna und Coney waren beide drinnen – ich hätte bemerkt, wenn die Tür des Zendo aufgegangen wäre.
»Er meinte, wenn du warten würdest, wäre er so weit«, antwortete der Portier, wieder nickend und gestikulierend. »Will reden.«
Jetzt sagte Minna gerade etwas wie »… versaut den ganzen Marmorfußboden …«.
»Ich glaub, du hast den Falschen erwischt«, meinte ich zu dem Portier. »Sackgesicht!« Ich zuckte zurück, verscheuchte ihn mit einer Handbewegung, versuchte mich auf die Stimmen zu konzentrieren, die aus dem Kopfhörer kamen.
»Hey, hey«, wehrte der Portier ab. Er hielt die Hände hoch. »Ich bring dir nur ’ne Nachricht, mein Freund.«
Ich spielte noch einmal mit dem Fensterheber und konnte endlich die Finger davon lassen. »Kein Problem«, sagte ich und unterdrückte ein weiteres Sackgesicht in einem hohen hundeartigen Bellen, etwas in der Art von yaketi!. »Aber ich kann den Wagen nicht verlassen. Sag meinem Freund, wenn er mit mir reden möchte, soll er rauskommen und das hier tun. Okay, mein Freund?« Es kam mir auf einmal vor, als hätte ich zu viele Freunde und würde nicht einmal all ihre Namen kennen. Ich wiederholte die impulsive, schlagende Bewegung mit der Hand, eine zweckmäßige Mischung aus Tic und Geste, um den Witzbold zurück zu seinem Eingang zu scheuchen.
»Nein, nein. Er sagte, du sollst reinkommen.«
»… einen Arm brechen …«, vermeinte ich Minna sagen zu hören.
»Dann frag ihn nach seinem Namen«, entgegnete ich verzweifelt. »Komm zurück und nenn mir seinen Namen.«
»Er möchte mit dir sprechen.«
»Okay, Lutschmichportier, sag ihm, dass ich gleich komme.« Ich ließ die Fensterscheibe direkt vor seinem Gesicht hochfahren. Er klopfte erneut, diesmal ignorierte ich ihn.
»… erst muss ich mal kurz ins Bad …«
Ich öffnete die Wagentür und stieß den Portier zur Seite, lief zur Tür des Zendo und klopfte, sechsmal, laut. »Coney«, zischte ich. »Komm da raus.«
Über den Kopfhörer hörte ich Minna die Badezimmertür hinter sich schließen, Wasser begann zu laufen. »Hoffe, du hast das gehört, Freakshow«, flüsterte er ins Mikrofon, direkt an mich gerichtet. »Wir nehmen einen Wagen. Verlier uns nicht. Bleib cool.«
Coney sprang aus der Tür.
»Er kommt raus«, sagte ich und zog den Kopfhörer herunter.
»Okay«, erwiderte Coney mit aufgerissenen Augen. Endlich waren wir wieder mittendrin im Geschehen.
»Du fährst«, bestimmte ich und tippte ihm mit der Fingerspitze auf die Nase. Er verscheuchte meine Hand wie eine lästige Fliege. Wir quetschten uns in den Wagen, und Coney brachte den Motor auf Touren. Ich warf die Tüte mit den kalt gewordenen Castles und den Papiermüll auf den Rücksitz. Der idiotische Portier hatte sich in sein Gebäude verzogen, also strich ich ihn vorläufig aus meinem Gedächtnis.
Wir starrten nach vorn, der Wagen wurde von seinen eigenen Abgasen eingenebelt, war startbereit, vibrierte. In meinem Kopf ging es: Verfolg den Wagen! Nur keine Klagen! Sonst schlägt’s dir auf den Magen! Mein Kiefer arbeitete, käute die Worte wieder, ließ sie aber nicht heraus. Gilberts Hände umklammerten das Lenkrad, meine trommelten still in meinem Schoß, kleines Kolibrigeflatter.
Das verstanden wir unter cool bleiben.
»Ich seh ihn nicht«, sagte Coney.
»Wart’s ab. Er kommt schon raus, mit einem anderen Typen wahrscheinlich.« Wahrscheinlich, unheimlich. Ich hob den Kopfhörer an mein rechtes Ohr. Keine Stimmen, nur hallende Geräusche, vielleicht die Treppenstufen.
»Und wenn sie in einen Wagen hinter uns steigen?«, fragte Coney.
»Es ist eine Einbahnstraße«, antwortete ich genervt, trotzdem blickte ich mich auf dieses Stichwort hin kurz um und nahm die Wagen hinter uns in Augenschein. »Lass sie einfach vorbeifahren.«
»Hey«, rief Coney aus.
Während ich noch nach hinten geblickt hatte, waren sie aus der Tür geschlüpft und liefen nun vor uns den Gehweg entlang: Minna und ein anderer Mann, ein Riese in schwarzem Mantel. Der andere war bestimmt über sieben Fuß groß, mit Schultern, die aussahen, als wären unter dem Mantel Footballpolster oder Engelsflügel verborgen. Vielleicht steckte auch das kleine kurzhaarige Mädchen zusammengerollt darunter und umklammerte die Schultern des Mannes wie ein menschlicher Rucksack. War dieser Riese derjenige, der so eindringlich gesprochen hatte? Minna lief eilig vor ihm her, als wäre er darauf aus, uns abzuhängen, anstatt sich Zeit zu nehmen, um uns im Spiel zu halten. Warum? Eine Pistole im Rücken? Die Hände des Riesen steckten verborgen in seinen Taschen. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir vor, wie sie ganze Laibe Brot und Stangen Salami aus den Taschen zogen, im Mantel versteckte Speisen, die einen Riesen über den Winter bringen konnten, Seelentrost Essen.
Oder vielleicht entsprang diese Fantasie nur meinem eigenen Wunschdenken: Ein Laib Brot konnte keine Pistole sein, womit Minna die einzige Schusswaffe im ganzen Geschehen gehabt hätte.
Wir schauten ihnen dumm hinterher, als sie zwischen zwei geparkten Autos auf die Straße traten und auf den Rücksitz eines schäbigen, schwarzen Plymouth rutschten, der von hinten angerauscht kam und sofort weiterfuhr. Übereifrig, wie wir waren, hatten Coney und ich unsere Reaktionszeit auf einen parkenden Wagen abgestimmt, und jetzt entwischten sie bereits. »Fahr los!«, sagte ich.
Coney scherte aus, stieß dabei mit dem Lincoln gegen eine Stoßstange, hart genug, um eine Beule zu hinterlassen. Natürlich waren wir zugeparkt. Er fuhr zurück, setzte das hintere Ende etwas sanfter gegen den nächsten Wagen und fand dann den Winkel, um uns aus der Lücke zu bugsieren, allerdings nicht, bevor ein Taxi an uns vorbeigeschossen kam und uns den Weg versperrte. Die schwarze Klapperkiste bog gerade um die nächste Ecke, auf die Second Avenue. »Fahr los!«
»Schau mal«, sagte Coney und deutete auf das Taxi. »Ich fahr ja schon. Halt lieber die Augen hoch.«
»Augen hoch?«, fragte ich. »Augen auf, Kopf hoch.« Ihn zu korrigieren war eine unfreiwillige Reaktion auf Stress.
»Yeah, das auch.«
»Augen auf, Blick auf die Straße, Ohren fest am Empfänger …« Ich musste auf einmal jede durchführbare Möglichkeit auflisten. So irritiert war ich durch das »Augen hoch«.
»Yeah, und Klappe halten«, sagte Coney. Er brachte uns direkt an das Heck des Taxis, was gar nicht schlecht war, da es recht schnell fuhr. »Was hältst du davon, Frank ein wenig zu belauschen, wo du schon mal hier bist?«
Ich setzte den Kopfhörer auf. Nichts außer Straßenlärm, der sich über den schob, den ich gerade ausgeblendet hatte. Coney folgte dem Taxi auf die Second Avenue, wo der Plymouth eingekeilt zwischen weiteren Taxis und dem restlichen Verkehr darauf wartete, dass die Ampel umsprang. Wir waren wieder im Spiel, ein berauschender und erbärmlicher Gedanke zugleich, denn schließlich hatten wir sie innerhalb nur eines Blocks verloren.
Wir wichen nach links aus, um am ersten Taxi vorbeizuziehen und uns hinter einem weiteren einzuordnen, das in derselben Reihe stand wie der Wagen mit Minna und dem Riesen. Ich sah die Ampel eine halbe Meile weiter vorn rot werden. Genau der richtige Job für jemanden mit zwanghaften Symptomen, dachte ich – Verkehrsregelung. Dann zeigte unsere Ampel Grün, und wir schlingerten alle gemeinsam über die Kreuzung, ein fließender Teppich aus graubraunen Privatwagen und strahlend orangefarbenen Taxis.
»Fahr näher ran«, sagte ich und zog den Kopfhörer wieder von den Ohren. Dann kämpfte sich ein furchtbarer Tic den Weg frei: »Lutsch mich Mister Latz-Gesicht!«
Das ließ sogar Coney aufhorchen. »Mister Latz-Gesicht?« Als eine Ampel nach der anderen auf Grün umsprang, schlängelten sich die Taxis frech an uns vorbei, um sich einen Vorteil zu erkämpfen, doch da die Ampeln auf eine Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen abgestimmt waren, gab es keinen Vorteil zu gewinnen. Der nach wie vor nicht sichtbare Fahrer der Klapperkiste war genauso ungeduldig wie die Taxifahrer und fuhr an die vorderste Haltelinie heran, doch die Ampelschaltung hielt uns dicht beisammen, zumindest solange sie nicht abbogen. Wir lagen weiterhin einen Wagen zurück. Coney hatte die Situation so weit im Griff.
Ich hingegen war ein anderer Fall.
»Sinister-Minister-Gesicht«, sagte ich in einem Versuch, Wörter zu finden, die meinen Zwang lindern würden. Es war, als ob mein Gehirn darauf aus wäre, einen völlig neuen Tic zu erzeugen. Tourettes Muse war mit mir. Verfluchtes Timing. Stress verschlimmert für gewöhnlich die Tics, aber wenn ich einer Aufgabe nachgehe, hält die Konzentration mich frei von Tics. Mir wurde klar, dass ich selber hätte fahren sollen. Diese Jagd war purer Stress, und es bestand keine Möglichkeit, ihn abzubauen.
»Gestörter-Besucher-Bericht. Bestört.«
»Yeah, ich werd langsam auch etwas bestört«, sagte Coney geistesabwesend, während er nach einer Lücke auf der rechten Spur Ausschau hielt.
»Knister …«, sprudelte es aus mir heraus.
»Verschon mich«, grollte Coney, als er uns schließlich direkt hinter den Plymouth brachte. Ich lehnte mich nach vorn, um ins Innere zu spähen. Drei Köpfe. Minna und der Riese auf dem Rücksitz, dazu ein Fahrer. Minna schaute stur geradeaus, ebenso der Riese. Ich setzte den Kopfhörer wieder auf, aber ich hatte richtig vermutet: Niemand redete. Irgendjemand wusste vielleicht, was sie vorhatten und wohin sie fuhren, aber wir waren das jedenfalls nicht.
Nach der 59th Street erreichten wir das Ende der grünen Welle sowie die üblichen Unannehmlichkeiten an der Zufahrt zur Queensborough Bridge. Der Verkehr geriet ins Stocken, schicksalsergeben ertrug man eine weitere Rotphase. Coney ließ uns zurückfallen, sodass wir nicht zu dicht hinter der Klapperkiste standen, und während wir Abstand hielten, schlüpfte ein weiteres Taxi dazwischen. Daraufhin schoss der Plymouth über Dunkelorange, gerade rechtzeitig vor dem anstürmenden Verkehr aus der 58th Street.
»Shit!«
»Shit!«
Coney und ich fuhren beide fast aus der Haut. Wir waren eingekeilt, ohne jegliche Chance zu folgen und dem Strom des Querverkehrs zu trotzen. Wir fühlten uns wie in eine Zwangsjacke gesteckt. Es war, als hätte uns das Schicksal eingeholt: Minnas Nieten, die ihn wieder einmal im Stich ließen. Versager, die versagen, weil sie das am besten können. Aber die Klapperkiste traf auf eine weitere Ansammlung von Fahrzeugen, die sich vor der nächsten roten Ampel gebildet hatte, und blieb einen Block weiter stehen. Der Verkehrsfluss war abgebrochen. Einen Moment lang hatten wir Glück, aber nur einen Moment lang.
Ich hielt Ausschau, panisch. Ihr Rot, unser Rot, meine Blicke flatterten hin und her. Ich hörte Coneys Atem und meinen eigenen, wie Pferde vor dem Gatter – unsere adrenalindurchströmten Körper machten uns glauben, wir könnten den Vorsprung von einem Block wettmachen. Wenn wir nicht aufpassten, würden wir beim Umspringen der Ampel beide mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe fliegen.
Unser Rot sprang um, ihres allerdings auch, und als wollten sie uns verhöhnen, rückte ihre Kolonne vorwärts, während unsere dahinkroch. Die Kolonne war unsere einzige Hoffnung – sie bildeten deren Abschluss, und solange alle eng genug beisammenblieben, würden sie nicht allzu weit kommen. Wir dagegen waren fast an der Spitze der unsrigen. Ich ließ die Klappe des Handschuhfachs sechsmal auf- und zuschnappen. Coney gab unbeherrscht Gas und stieß leicht an das Taxi vor uns. Wir wichen seitwärts aus, und ich sah einen silbernen Kratzer in der gelben Lackierung der Stoßstange. »Scheiß drauf, fahr weiter«, sagte ich. Der Taxifahrer schien ohnehin den gleichen Gedanken zu haben. Wir zogen alle gemeinsam über die 59th Street, ein idiotisches Rodeo aus Taxis und Privatwagen, vereint in der Hatz gegen die unabänderlichen Gesetze einer regulierten Ampelschaltung. Unsere Gruppe zog sich auseinander und fand Anschluss an das hintere Ende der ihren, und beide verschmolzen wie Raumschiffe eines altmodischen Videospiels. Der Plymouth wechselte immer aggressiver die Spur. Wir taten es ihm gleich und ließen nun davon ab, unsere Verfolgungsjagd zu verheimlichen. Die Häuserblöcke flogen an uns vorbei.
»Sie biegen ab!«, schrie ich. »Fahr rüber!« Ich umfasste den Türgriff, während Coney, der jetzt ganz bei der Sache war, alle topologische Wahrscheinlichkeit strapazierte und uns quer über drei Fahrbahnspuren mit quietschendem Gummi und schlitterndem Chrom manövrierte. Meine Tics hatten sich gelegt – Stress war eine Sache, Überlebensinstinkt eine andere. Ähnlich einer wackligen Flugzeuglandung, während derer alle Fluggäste ihre ganze Willenskraft darauf konzentrieren, das Flugzeug zu stabilisieren, hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, mir einzureden, dass ich Dinge unter Kontrolle hätte, die nicht meiner Kontrolle unterlagen (in diesem Fall: Lenkrad, Verkehr, Coney, Schwerkraft, Reibungskraft usw.). Ich bildete es mir mit jeder Zelle meines Körpers ein, sodass ich für den Moment genug in Anspruch genommen war. Mein Tourette war überlistet.
»Sechsunddreißigste«, sagte Coney, während wir eine Seitenstraße entlangratterten.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Weißnich. Irgendwas.«
»Midtown Tunnel. Queens.«
Darin lag etwas Beruhigendes. Der Riese und sein Fahrer steuerten auf unser Terrain zu, mehr oder weniger. Auf unseren Stadtbezirk. Nicht wirklich Brooklyn, aber immerhin. Wir holperten mit dem dichter werdenden Verkehr in die zwei überfüllten Spuren des Tunnels, die Klapperkiste saß zwei Wagen vor uns fest, die Fenster nun schwarz und glänzend von den Reflexionen der Leuchtbänder, die die schmutzige Kachelröhre einfassten. Ich entspannte mich ein wenig, atmete aus und quetschte, weil gerade Zeit dafür war, zwischen zusammengepressten Zähnen ein schrilles Lutsch mich heraus.
»Gebühren«, sagte Coney.
»Was?«
»Es gibt Brückengebühren. Drüben in Queens.«
Ich fing an, in meinen Taschen zu kramen. »Wie viel?«
»Dreifünfzig, glaub ich.«
Bevor der Tunnel zu Ende war und die zwei Spuren sich auf sechs oder sieben Kassiererhäuschen verzweigten, hatte ich es genau zusammen, ein Wunder, drei Scheine, ein Quarter, ein Dime und drei Nickel. Ich knüllte das Geld zusammen und hielt es Coney hin. »Bleib bloß nicht hinter ihnen zurück«, sagte ich. »Fahr auf eine schnelle Spur. Drängel dich vor.«
»Jaja.« Coney starrte durch die Windschutzscheibe und versuchte, in eine gute Ausgangsposition zu gelangen. Als er scharf nach rechts zog, scherte der Plymouth plötzlich aus und fuhr nach ganz links außen.
Für einen Moment waren wir beide fassungslos.
»Wasndas?«, fragte Coney.
»Easy-Pass«, antwortete ich. »Sie haben einen Easy-Pass.«
Die Klapperkiste glitt in die leere Spur für Abonnenten und direkt durch die Schranke. In der Zwischenzeit hatte uns Coney als Dritte in die Spur für ABGEZÄHLTES GELD ODER TICKET gelenkt.
»Ihnen nach!«, schrie ich.
»Versuch ich ja«, erwiderte Coney, deutlich verwirrt von dieser überraschenden Wendung.
»Fahr nach links rüber!«, befahl ich. »Fahr einfach durch!«
»Wir haben keinen Easy-Pass.« Coney verzog das Gesicht zu einem schmerzhaften Grinsen und zeigte damit wieder einmal sein besonderes Talent für den übergangslosen Rückfall in ein kindliches Entwicklungsstadium.
»Das ist mir egal!«
»Aber wir …«
Ich versuchte nach dem Lenkrad in Coneys Händen zu greifen, um uns auf die linke Spur zu bringen, aber es war bereits zu spät. Der Weg vor uns wurde frei, Coney fuhr den Wagen vor, dann ließ er das Fenster herunter. Ich klatschte das Geld in seine geöffnete Hand, und er reichte es weiter.
Als wir rechts aus dem Tunnel hinausfuhren, befanden wir uns plötzlich in Queens, vor uns ein Gewirr gleichartiger Straßen: Vernon Boulevard, Jackson Avenue, 52nd Avenue. Und so weiter.
Von dem Plymouth war nichts zu sehen.
»Fahr rechts ran«, befahl ich.
Niedergeschlagen parkte Coney auf der Jackson. Es war inzwischen völlig dunkel, obwohl es gerade erst sieben war. Die Lichter des Empire State Building und des Chrysler Building leuchteten über dem Fluss. Autos schwirrten aus dem Tunnel an uns vorbei in Richtung des Long Island Expressway und verspotteten uns dabei mit ihrer Entschlossenheit. Ohne Minna waren wir Niemande, nirgendwo.
»Lutschmichpass!«, entfuhr es mir.
»Es könnte auch sein, dass sie uns nur abschütteln wollten«, sagte Coney.
»Das würde ich auch so sehen, ja.«
»Nein, hör zu«, sagte er wenig überzeugend. »Vielleicht haben sie gewendet und sind zurück nach Manhattan gefahren. Vielleicht können wir sie erwischen …«
»Pst.« Ich lauschte in den Kopfhörer. »Wenn Frank sieht, dass wir nicht mehr hinter ihnen sind, gibt er uns vielleicht einen Hinweis.«
Aber nichts war zu hören. Nur Fahrgeräusche. Minna und der Riese waren vollkommen still. Mittlerweile glaubte ich nicht mal mehr, dass der Mann im Zendo und der Riese ein und dieselbe Person waren – diese geschwätzige, prätentiöse Stimme, die ich gehört hatte, wäre nicht so lange stumm geblieben, schien mir. Es war erstaunlich genug, dass Minna nicht quatschte, keine Witze riss oder irgendwelche Kommentare abgab. War er eingeschüchtert? Hatte er Angst, die Wanze würde entdeckt? Dachte er, wir wären noch immer hinter ihm? Warum hatte er uns überhaupt dabeihaben wollen?
Ich hatte keine Ahnung.
Ich gab sechs Grunzlaute von mir.
Wir saßen da und warteten.
Und warteten.
»Das ist anscheinend eine Angewohnheit von euch großen polnischen Trotteln«, sagte Minna, »immer in Schnüffelweite einer Pirogge.«
Dann: »Ummppf.« Als hätte ihm der Riese in den Magen geboxt.
»Wo gibt’s was Polnisches?«, fragte ich Coney, eine Seite des Kopfhörers lüftend.
»Hä?«
»Wo gibt’s hier in der Gegend was Polnisches? Lutsch mich Piroggen-Trottel!«
»Weißnich. Kommt mir alles polnisch vor.«
»Sunnyside? Woodside? Komm schon, Gilbert. Hilf mir. Er ist in der Nähe von was Polnischem.«
»Wo war der Papst bei seinem Besuch?«, grübelte Coney. Es hörte sich an wie der Anfang eines Witzes, aber ich kannte Coney. Er konnte sich Witze nicht merken. »Das ist polnisch, oder? Wo war das noch, äh, Greenpoint?«
»Greenpoint ist in Brooklyn, Gilbert«, bemerkte ich, ohne nachzudenken. »Wir sind in Queens.« Dann drehten wir beide unsere Köpfe wie Mäuse in einem Zeichentrickfilm, die eine Katze erblickt haben. Die Pulaski Bridge. Wir waren nur einen Steinwurf von dem Nebenfluss entfernt, der Queens von Brooklyn trennte, genauer gesagt Greenpoint.
Wir hatten wieder ein Ziel. »Fahr los«, befahl ich.
»Hör weiter zu«, sagte Coney. »Wir können nicht einfach ziellos in Greenpoint herumkurven.«
Wir fuhren bereits über die kleine Brücke, geradewegs in den Schlund von Brooklyn.
»Welche Richtung, Lionel?«, fragte Coney, als glaubte er, Minna gäbe mir unaufhörlich Anweisungen. Ich zuckte mit den Achseln, die offenen Handflächen zum Dach des Lincoln gedreht. Die Geste ging sofort in einen Tic über, und ich wiederholte sie, Achselzucken, Handflächen öffnen, Grimasse. Coney ignorierte mich, suchte die Straßen unter uns nach dem Plymouth ab, fuhr dabei auf der Brooklyner Seite so langsam die Schleife der Pulaski Bridge hinab, wie es nur eben ging.
Dann hörte ich etwas. Wagentüren öffneten sich, knallten zu, das Hallen von Schritten. Minna und der Riese hatten ihr Ziel erreicht. Ich erstarrte inmitten eines Tics, vollkommen konzentriert.
»Harry Brainum Jr.«, sagte Minna in seinem spöttischsten Tonfall. »Ich nehm an, wir gehen nur kurz rein, um uns die Leitungen anzusehen, was?«
Keine Antwort vom Riesen. Wieder Schritte.
Wer war Harry Brainum Jr.?
In der Zwischenzeit fuhren wir von der erleuchteten Brücke herunter, wo die Gewissheit, in unserem Bezirk zu sein, für kurze Zeit tröstlich auf uns gewirkt hatte. Unten auf dem McGuinness Boulevard hingegen, auf Straßenniveau, zeigten sich die dunklen Gebäude undeutlich und abweisend. Brooklyn ist groß, und das war nicht unsere Ecke.
»Du weißt, wann du verloren hast, Brainum, nicht wahr?« Minna behielt seinen provokanten Ton bei. Im Hintergrund hörte ich eine Autohupe – sie waren noch nicht reingegangen. Sie standen irgendwo auf der Straße, beängstigend nah.
Dann hörte ich einen dumpfen Ton, wieder ein Ausstoßen von Luft. Minna hatte einen weiteren Schlag einstecken müssen.
Dann Minna. »Hey, hey …« Eine Art Kampf, den ich nicht genauer definieren konnte.
»Beschissener …«, sagte Minna, und dann hörte ich, wie er wieder getroffen wurde und ihm ein langes, gequältes Keuchen entfuhr.
Erschreckend an dem Riesen war, dass er nicht sprach, er atmete nicht einmal so schwer, dass ich es hätte hören können.
»Harry Brainum Jr.«, sagte ich zu Coney. Dann, aus Angst, er könnte es für einen Tic halten, fügte ich noch hinzu: »Sagt dir der Name irgendwas, Gilbert?«
»Wie bitte?«, fragte er langsam.
»Harry Brainum Jr.«, wiederholte ich, rasend vor Ungeduld. Manchmal fühlte ich mich wie ein elektrisch aufgeladener Bolzen, der mit Gestalten kommuniziert, die schleppend durch ein Meer aus Sirup wateten.
»Klar«, meinte er, mit dem Daumen in Richtung seines Fensters deutend. »Wir sind grade dran vorbeigefahren.«
»Was? Woran vorbeigefahren?«
»Es ist ’ne Werkzeugfirma oder so was in der Art. Mit ’nem großen Schild.«
Mein Atem stockte. Minna sprach zu uns, er leitete uns. »Fahr zurück.«
»Was, zurück nach Queens?«
»Nein, Brainum, dorthin, wo du das gesehen hast«, sagte ich, mit dem Wunsch ihn zu erwürgen. Oder zumindest seine Vorspultaste zu finden und zu betätigen. »Sie sind aus dem Wagen gestiegen. Dreh um.«
»Sind nur ein oder zwei Blocks.«
»Na, dann mach schon. Bring ihn um, Junior!«
Coney wendete und schon waren wir da. HARRY BRAINUM JR. STAHLVERKLEIDUNGEN stand da in riesigen Zirkuslettern auf dem Gemäuer einer zweistöckigen Fabrik, die einen ganzen Block des McGuinness Boulevard einnahm, fast bis hoch zur Brücke.
* * *
BRAINUM an der Wand geschrieben zu sehen setzte eine ganze Clownsparade von Assoziationen frei. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind einmal Ringling Bros. Barnum & Bailey Circus missverstanden habe: Barnamum Bailey. Wie Osmium, Kardamom, Brainium, Barnamum, Woismeinemum: das Periodensystem der Elemente, die Schwermetalle. Barnamum Bailey könnte daher auch George und Lutsch Mich Baileys älterer Bruder sein. Oder waren sie alle ein und dieselbe Person? Nicht jetzt, flehte ich mein Tourette-Selbst an. Denk später darüber nach.
* * *
»Fahr um den Block herum«, sagte ich zu Coney. »Er ist hier irgendwo.«
»Hör auf zu schreien«, erwiderte er. »Ich kann dich gut verstehen.«
»Sei still, damit ich was verstehe.«
»Das sag ich doch.«
»Was?« Ich hob den Kopfhörer an.
»Das sag ich doch. Sei still.«
»Okay! Sei still! Fahr! Lutsch mich!«
»Verdammter Freak.«
Der Gebäudekomplex hinter BRAINUM lag im Dunkeln und war augenscheinlich verlassen. Der Plymouth stand nicht zwischen den wenigen geparkten Fahrzeugen. Das fensterlose Lagergebäude war überzogen von schmiedeeisernen Balkonen, die über die ganze Länge des ersten Stockwerks liefen und in einer ramponierten, rostigen Feuerleiter endeten. In der Seitenstraße lag ein kleiner, mit Graffiti besprühter Müllcontainer halb im Schatten des doppelflügligen Eingangstors verborgen. Die Türen dahinter waren mit langen Scharnieren befestigt, die Fleischerhaken glichen. Eine Klappe des Müllcontainers war geschlossen, die andere stand offen und einige Neonröhren ragten heraus. Der Müll, der um die Rollen des Containers verstreut lag, ließ mich vermuten, dass er eine ganze Weile nicht bewegt worden war, also machte ich mir keine allzu großen Sorgen wegen des Tors dahinter. Der andere Eingang bestand aus einem Rollgitter über einer erhöhten Laderampe, direkt zum hell erleuchteten Boulevard hin ausgerichtet. Ich nahm an, dass ich das Gitter gehört hätte, wäre es hochgefahren worden.
Die vier Schornsteine der Newton-Kläranlage, die am Ende der Straße aufragten, wurden von unten angeleuchtet wie antike Säulen in einem Gladiatorenfilm. Ließe man ein aufblasbares Schwein darüberfliegen, hätte man das »Animals«-Cover von Pink Floyd. Im Schatten der Schornsteine krochen wir mit dem Lincoln um alle vier Ecken, ohne etwas zu entdecken.
»Verdammt«, sagte ich.
»Hörst du ihn nicht mehr?«
»Nur Straßenlärm. Hey, drück mal auf die Hupe.«
»Warum?«
»Mach’s einfach.«
Ich konzentrierte mich auf den Kopfhörer. Coney drückte auf die Hupe des Lincoln. Ganz sicher, es war deutlich zu hören.
»Halt an.« Ich geriet in Panik. Ich stieg aus, knallte die Tür zu. »Fahr langsam im Kreis«, sagte ich. »Behalt mich im Auge.«
»Was hast du vor, Lionel?«
»Er ist hier.«
Ich ging den Bürgersteig entlang und versuchte, den Puls des rußgeschwärzten Gebäudes zu spüren, Maß zu nehmen von dem trostlosen Block. Der ganze Ort glich einer fragmentarischen Ansammlung von Enttäuschung, Arbeitslosigkeit und Bedauern. Ich wollte nicht hier sein, ich wollte nicht, dass Minna hier war. Coney fuhr neben mir her und glotzte dumm aus dem Fenster. Ich lauschte in den Kopfhörer, bis ich meine eigenen Schritte näher kommen hörte. Mein Herzschlag gab dazu einen passenden Rhythmus ab, fast ebenso laut. Dann fand ich es. Minnas Gerät war von seinem Hemd gerissen worden und lag verwickelt im Rinnstein am anderen Ende der Gasse. Ich hob das Gewirr auf und stopfte es in die Hosentasche, dann riss ich den Kopfhörer herunter. Mit dem Gefühl, dass die Bedrohlichkeit der Straße mich immer mehr umschloss, lief ich in Richtung Müllcontainer, wobei ich anhalten musste, um meinen Fund noch einmal nachzuspielen: schnelles Hinknien, Zugreifen, Verstauen, Abziehen des imaginären Kopfhörers, ein zweites Mal Panik über die Entdeckung, Weiterlaufen. Es war jetzt kalt. Der Wind blies mir ins Gesicht und im Gegenzug lief meine Nase. Ich wischte sie mir am Hemdsärmel ab und erreichte den Müllcontainer.
»Ihr Wichser«, stöhnte Minna aus dem Inneren.
Ich griff an den Rand des Containers, und als ich meine Hand zurückzog, war sie voller Blut. Ich stieß die zweite Klappe auf, lehnte sie gegen das Eingangstor. Minna lag zusammengerollt wie ein Fötus im Müll, die Arme über dem Bauch gekreuzt, die Hemdsärmel blutgetränkt.
»Mein Gott, Frank.«
»Willst du mich nicht lieber hier rausholen?« Er hustete, verschluckte sich, rollte mit den Augen. »Würdest du mir vielleicht helfen? Natürlich nicht, bevor dich die Muse küsst. Oder vielleicht solltest du Pinsel und Leinwand rausholen. Ich bin noch nie in Öl gemalt worden.«
»Sorry, Frank.« Ich beugte mich gerade über den Container, als Coney von hinten ankam und mir über die Schulter sah.
»Oh, Shit«, sagte er.
»Hilf mir«, sagte ich zu Coney. Zusammen zogen wir Minna vom Boden des Containers hoch. Minna krümmte sich weiterhin um die verwundete Mitte seines Körpers. Wir hievten ihn gemeinsam über die Kante und hielten ihn auf dem Gehweg in grotesker Weise gestützt, die Knie verschränkt, die Schultern heruntergezogen, als wäre er ein riesiges Jesuskind in einem blutigen Trenchcoat und wir beide die mitleidigen Arme der Madonna. Minna stöhnte und kicherte, die Augen fest verschlossen, als wir ihn auf den Rücksitz des Lincoln verfrachteten. Meine Hand am Türgriff war klebrig von seinem Blut.
»Ins nächste Krankenhaus«, keuchte ich leise, als wir vorn einstiegen.
»Ich kenn keins hier in der Gegend«, erwiderte Coney, ebenfalls flüsternd.
»Brooklyn Hospital«, sagte Minna von hinten, erstaunlich laut. »Nimm den BQE, bis hoch zur McGuinness. Das Brooklyn Hospital liegt direkt an der DeKalb Avenue, ihr gedünsteten Kohlköpfe.«
Wir hielten den Mund und starrten nach vorn, bis Coney auf der richtigen Straße war, dann drehte ich mich nach hinten um. Minna hatte die Augen halb geöffnet, und sein unrasiertes Kinn lag in Falten, als ob er intensiv nachdächte, schmollte oder versuchte die Tränen zurückzuhalten. Als er merkte, dass ich ihn ansah, blinzelte er mir zu. Ich bellte zweimal – »yaketi, yaketi« – und zwinkerte unwillkürlich zurück.
»Was schiefgelaufen, Frank?«, fragte Coney, ohne den Blick von der Straße zu lassen. Wir rumpelten über den Brooklyn-Queens Expressway, die runtergekommenste Piste in der ganzen Gegend. Wie der G-Train litt auch der BQE an mangelndem Selbstbewusstsein, da er nie die Burg Manhattan erreichte, nie von deren Ruhm kosten konnte. Und er war Tag und Nacht verstopft mit Sechs- oder Achtachsern.
»Ich lass meine Brieftasche und meine Uhr hier hinten liegen«, sagte Minna, die Frage ignorierend. »Und meinen Beeper. Keine Lust, dass sie im Krankenhaus geklaut werden. Vergesst nicht, dass sie hier liegen.«
»Yeah, aber was zum Teufel ist passiert, Frank?«
»Würde euch ja meine Waffe dalassen, ist aber futsch«, fuhr Minna fort. Ich beobachtete, wie er die Uhr abstreifte, rot verschmiertes Silber.
»Sie haben dir die Waffe abgenommen? Frank, was ist passiert?«
»Messer«, sagte Minna. »Kein großes.«
»Wird mit dir wieder alles okay?«, fragte und hoffte Coney zugleich.
»Oh, yeah. Sicher.«
»Sorry, Frank.«
»Wer?«, fragte ich. »Wer war das?«
Minna lächelte. »Weißt du, was ich von dir möchte, Freakshow? Erzähl mir einen Witz. Du hast dir bestimmt einen aufgehoben, ganz bestimmt.«
Seit ich dreizehn Jahre alt war, lief zwischen Minna und mir ein Wettbewerb im Witzeerzählen, hauptsächlich, weil er gern dabei zusah, wie ich versuchte, mich ohne Tics durchzuquälen. Es gelang mir nur selten.
»Lass mich nachdenken«, sagte ich.
»Es wird ihm wehtun, wenn er lacht«, meinte Coney zu mir. »Erzähl einen, den er schon kennt. Oder einen, der nicht witzig ist.«
»Hab ich jemals gelacht?«, kam es von Minna. »Lass ihn erzählen. Kann kaum mehr wehtun als dein Fahrstil.«
»Okay«, fing ich an. »Geht ein Mann in eine Bar.« Ich sah, wie sich das Blut auf der Rückbank sammelte, und versuchte zugleich, meinen Blick vor Minna zu verbergen.
»Das ist das Eintrittsticket«, krächzte Minna. »Die besten Witze fangen immer auf dieselbe beschissene Weise an, nicht wahr, Gilbert? Ein Mann, eine Bar.«
»Glaub schon«, murmelte Coney.
»Ist jetzt schon witzig«, sagte Minna. »Wir sind bereits im grünen Bereich.«
»Also, geht ein Mann in eine Bar«, wiederholte ich. »Mit einem Oktopus. Sagt zum Barkeeper: ›Ich wette um hundert Dollar, dass dieser Oktopus hier jedes Instrument spielen kann.‹«
»Der Mann hat einen Oktopus. Der ist gut, Gilbert, was?«
»Hm.«
»Also deutet der Barkeeper auf das Piano in der Ecke und sagt: ›Nur zu.‹ Der Mann setzt den Oktopus auf den Hocker – Pianoktamus! Pianoktamum Bailey! – der Oktopus hebt den Deckel, spielt ein paar Tonleitern, dann legt er eine kleine Etüde hin.«
»Wird ein bisschen viel«, sagte Minna. »Bisschen hochgestapelt.«
Ich verzichtete darauf, mir das näher erläutern zu lassen, denn er hätte sicher gesagt, dass er mich und den Oktopus gleichermaßen meinte, wegen der Etüde.
»Sagt der Mann also: ›Her mit dem Geld‹, sagt der Barkeeper: ›Warte mal ’nen Moment‹ und holt eine Gitarre raus. Er gibt dem Oktopus die Gitarre, der Oktopus stimmt die Saiten, schließt die Augen, spielt einen lieblichen, kleinen Fandango auf der Gitarre.« Der Druck wurde größer, ich tippte Coney sechsmal auf die Schulter. Er ignorierte das, raste unbeirrt weiter, überholte einen Lastwagen nach dem anderen. »Sagt der Mann: ›Her mit dem Geld‹, sagt der Barkeeper: ›Halt mal, ich hab da noch was anderes‹, holt aus dem Hinterzimmer eine Klarinette. Der Oktopus schaut sich das Ding lange an, schraubt das Mundstück fest.«
»Er kostet es aus«, sagte Minna und meinte wieder beides.
»Nun, der Oktopus spielt nicht wirklich gut, aber es gelingt ihm immerhin, ein paar Takte aus der Klarinette herauszuquetschen. Er wird keinen Preis damit gewinnen, aber er spielt auf dem Ding. Klarinetten-Milch! Leck mich! Sagt der Mann: ›Her mit dem Geld‹, sagt der Barkeeper: ›Warte mal ’nen Moment‹, geht nach hinten und wühlt herum, kommt schließlich mit einem Dudelsack zurück. Wirft den Dudelsack auf die Theke. Der Mann bringt den Oktopus rüber, wirft ihn neben den Dudelsack auf die Theke. Oktasack!« Ich hielt kurz inne, um mich zusammenzureißen, damit ich die Pointe nicht mit einem Tic verpfuschte. Dann legte ich wieder los, aus Angst den Faden zu verlieren, Minna zu verlieren. Seine Augen gingen auf und zu, und ich wollte sie um jeden Preis offen sehen. »Der Oktopus schaut sich den Dudelsack an, hebt eine Pfeife hoch, lässt sie wieder fallen. Hebt eine weitere hoch, lässt sie fallen. Weicht zurück, schielt auf den Dudelsack. Der Mann wird nervös, geht rüber zur Theke und sagt zu dem Oktopus – Akkupusch! Reaktopus! – sagt zu dem Oktopus verfickt, sagt fickenficken – sagt: ›Was ist los? Kannst du darauf nicht spielen?‹ Und der Oktopus sagt: ›Darauf spielen? Wenn ich rausfinde, wie man den Pyjama auszieht, fick ich es!‹«
Gegen Ende hin hatte Minna seine Augen geschlossen, und auch jetzt schlug er sie nicht auf. »Bist du fertig?«, fragte er nur.
Ich sagte nichts. Wir waren gerade auf der Abfahrt vom BQE auf die DeKalb Avenue.
»Sind wir bald im Krankenhaus?«, fragte Minna, die Augen immer noch geschlossen.
»Wir sind fast da«, sagte Coney.
»Ich brauche Hilfe«, sagte Minna. »Ich sterbe hier hinten.«
»Du stirbst nicht«, sagte ich.
»Möchtest du uns nicht sagen, wer das war, bevor du in den OP kommst, Frank?«, fragte Coney.
Minna antwortete nicht.
»Sie stechen dir ins Gedärm und schmeißen dich in den beschissenen Müll, Frank. Willst du uns nicht sagen, wer das war?«
»Die Auffahrt für die Notaufnahme«, sagte Minna. »Ich brauche Hilfe hier hinten. Ich will nicht in irgendein gottverdammtes Wartezimmer. Ich brauche Hilfe. Sofort.«
»Wir können nicht einfach die Notaufnahme hochfahren, Frank.«
»Wieso, glaubst du, du brauchst dazu einen Easy-Pass, du stumpfer Fleischauflauf? Tu, was ich sage.«
Ich biss die Zähne zusammen, während es in meinem Gehirn brodelte: Geht ein Mann in die Notaufnahme sticht dich ins gottverdammte Wartezimmergedärm sagt ich brauch sofort einen Messerstich in den Müll im gottverdammten Wartezimmer sagt wart mal ’nen Moment schaut nach hinten sagt ich glaub ich hab ’nen Stich im gottverdammten Wartezimmer sofort Notauflauf Notauflampe Oktorampe Motoraffe.
»Motoraffe!«, schrie ich mit Tränen in den Augen.
»Yeah«, sagte Minna, und nun lachte er, dann stöhnend: »Eine ganze beschissene Herde davon.«
»Irgendjemand sollte euch beide von eurem Elend befreien«, nuschelte Coney, als wir trotz aller ZUFAHRT-VERBOTEN-Schilder die Auffahrt der Notaufnahme auf der Rückseite des Brooklyn Hospital hochfuhren. Die Reifen quietschten um eine enge Kurve und der Wagen kam vor einer Schwingtür mit der gelben Aufschrift NUR NOTFÄLLE zum Stehen. Sofort war ein Rastafari in der Verkleidung eines privaten Wachdienstes zur Stelle und klopfte an Coneys Fensterscheibe. Ganze Bündel seiner Dreadlocks lugten seitwärts aus der Mütze hervor, er hatte Schlitzaugen, einen Schlagstock, wo eine Pistole hätte sein sollen, und einen Aufnäher mit seinem Vornamen auf der Brust: Albert. Wie bei Hausmeistern oder Mechanikern. Außerdem war die Jacke viel zu groß für seine dürre Gestalt.
Anstatt das Fenster herunterzulassen, öffnete Coney die Tür.
»Fahrt den Wagen hier weg!«, sagte Albert.
»Wirf mal ’nen Blick auf die Rückbank«, entgegnete Coney.
»Mir egal, Mann. Hier nur Rettungswagen. Zurück ins Auto.«
»Heute Abend sind wir ein Rettungswagen, Albert«, sagte ich. »Hol eine Bahre für unseren Freund.«
Minna sah furchtbar aus. Sprichwörtlich ausgepumpt, was man sehen konnte, als wir ihn aus dem Wagen zogen. Das Blut roch wie ein aufkommendes Gewitter, wie Ozon. Zwei in grüner Aufmachung als Ärzte kostümierte Collegestudenten nahmen ihn uns direkt hinter der Tür ab und legten ihn auf einen stählernen Rollwagen. Minnas Hemd bestand nur noch aus Fetzen, sein Rumpf war nur noch ein offener Schlund. Coney ging hinaus und fuhr den Wagen weg, um den Wachmann zu beruhigen, der an seinem Arm hing, während ich Minnas Bahre folgte, gegen den schwachen Protest der Collegestudenten. Ich ging weiter, die Augen unablässig auf sein Gesicht gerichtet und ständig auf seine Schulter tippend, als würden wir miteinander reden, im Büro der Agentur vielleicht oder einfach nur beim Spaziergang auf der Court Street mit einem Stück Pizza in der Hand. Nachdem sie Minna in einer halbwegs ruhigen Ecke der Notaufnahme geparkt hatten, ließen mich die Studenten in Ruhe und konzentrierten sich darauf, ihm einen Transfusionsschlauch anzulegen.
Er öffnete die Augen. »Wo ist Coney?«, fragte er. Seine Stimme glich einem verschrumpelten Ballon. Kannte man nicht seine Form, als er noch prallvoll mit Luft war, hätte es nach gar nichts geklungen.
»Es kann sein, dass sie ihn hier nicht reinlassen«, sagte ich. »Ich darf eigentlich auch nicht hier sein.«
»Ahhr.«
»Coney – Lutschmich, yaketi! – Coney wollte da auf was hinaus. Vielleicht kannst du uns erzählen, wer es war, während wir, du weißt schon, hier warten.«
Die Studenten arbeiteten an ihm, zupften mit langen Scheren Stofffetzen von seinem Körper. Ich wandte den Blick ab.
Minna lächelte erneut. »Einen hab ich noch für dich«, sagte er. Ich beugte mich vor, um ihn besser zu verstehen. »Hab ich mir im Wagen ausgedacht. Oktopus und Reaktopus sitzen nebeneinander auf dem Zaun. Oktopus fällt herunter, wer bleibt übrig?«
»Reaktopus«, sagte ich sanft. »Frank, wer war das?«
»Kannst du dich noch an den jüdischen Witz erinnern, den du mir erzählt hast? Den über die jüdische Dame, die nach Tibet geht, um den Dalai-Lama zu sprechen?«
»Klar.«
»Das war ein guter. Wie heißt er noch, der Lama? Du weißt schon, am Ende, die Pointe.«
»Du meinst Irving?«
»Genau, richtig. Irving.« Ich konnte ihn jetzt kaum noch verstehen. »Der war es.« Er schloss die Augen.
»Du sagst also, es war jemand namens – Sack! Gesicht! – Irving, der dir das angetan hat? Ist das der Name von dem großen Typen im Wagen? Irving?«
Minna flüsterte etwas, das sich anhörte wie »erinnere dich«. Die anderen im Raum machten Krach, schrien einander in ihrem selbstgefälligen Fachchinesisch Instruktionen zu.
»An was soll ich mich erinnern?«
Keine Antwort.
»An den Namen Irving? Oder an was anderes?«
Minna hörte mich nicht mehr. Eine Krankenschwester drückte ihm die Kiefer auseinander, und er protestierte nicht dagegen, er bewegte sich nicht einmal.
»Entschuldigen Sie.«
Es war ein Arzt. Er war klein, hatte olivfarbene Haut, unrasiert, Inder oder Pakistani, nahm ich an. Er schaute mir in die Augen. »Sie müssen jetzt gehen.«
»Das kann ich nicht«, sagte ich. Ich streckte die Hand aus und berührte seine Schulter.
Er wich nicht zurück. »Wie heißen Sie?«, fragte er in sanftem Ton. Jetzt sah ich in seinen ausgemergelten Zügen Tausende von Nächten wie diese.
»Lionel.« Ich schluckte den Drang herunter, meinen Nachnamen herauszuschreien.
»Tourette?«
»Jassrog.«
»Lionel, wir werden hier jetzt eine Notoperation durchführen. Sie müssen draußen warten.« Er nickte kurz, um mir den Weg anzuzeigen. »Sie werden gebraucht, um ein paar Formulare für Ihren Freund auszufüllen.«
Ich stand wie betäubt da, schaute auf Minna, wollte ihm einen weiteren Witz erzählen oder einen von seinen hören. Geht ein Mann …
Eine Krankenschwester stülpte Minna gerade eine flexible Kunststoffmaske über den Mund, was ihn aussehen ließ wie einen riesigen Pez-Süßigkeitenspender.
Ich ging denselben Weg hinaus, den ich gekommen war, und stieß auf die Empfangsschwester. Während ich dachte: Zwang, Harndrang, sagte ich ihr, dass ich zu Minna gehöre, und sie antwortete, dass sie bereits mit Coney gesprochen hätte. Sie würde uns ausrufen lassen, wenn sie uns bräuchte, bis dahin sollten wir uns setzen.
Coney saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen da, das Kinn griesgrämig hochgezogen, den Cordmantel immer noch zugeknöpft, und besetzte so die eine Hälfte eines Zweisitzers, an dem ein Tischchen mit einem flachen Stapel abgegriffener Zeitschriften befestigt war. Ich nahm die andere Hälfte in Beschlag. In der Wartehalle drängelte sich ein solch repräsentativer Durchschnitt der Bevölkerung, wie ihn nur das schlimmste Leid zusammenzubringen vermochte: Hispanics und Schwarze und Russen und viele Undefinierbare; rotäugige Teenager mit Kindern, für die man nur beten konnte, dass sie bloß Brüder und Schwestern waren; Junkie-Veteranen, die um Schmerzmittel bettelten, die sie nicht bekommen würden; eine müde Hausfrau, die ihren Bruder tröstete, der in einem fort über seine Verstopfung jammerte und über den Genuss des Stuhlgangs, der ihm seit Wochen verwehrt geblieben war; ein verschreckter Liebhaber, der genauso wenig beachtet worden war wie ich und der nun mit bösem Blick auf die unerschütterliche Empfangsschwester und die stummen Türen hinter ihr starrte; andere in Begleitung, die einen trotzig dazu herausforderten, über ihre Pein zu grübeln, zu raten, auf wessen Veranlassung hin – auf ihre oder die eines anderen – sie diesen elenden Aspekt ihres ansonsten wunderbaren, perfekten und heilen Lebens mit einem teilten.
Ich saß vielleicht für anderthalb Minuten still. Quälende Bilder von unserer Verfolgungsjagd, dem Brainum-Gebäude und Minnas Wunden zuckten in meinem Schädel auf, Tics rumorten in meiner Kehle.
»Gehtein«, schrie ich.
Ein paar Leute blickten auf, irritiert von meiner kleinen Bauchrednereinlage. Hatte die Schwester etwas gesagt? War das etwa ein Nachname? Ihr eigener vielleicht sogar, falsch ausgesprochen?
»Fang jetzt nicht damit an«, zischte Coney mir zu.
»Gehtein, einmann, gehteinmann«, erwiderte ich hilflos.
»Was ist, fängst du jetzt an, Witze zu erzählen?«
Halbwegs kontrolliert, modifizierte ich die Worte zu einem Knurren – »grrrthanmoan« –, aber die Anstrengung produzierte einen Neben-Tic: hektisches Augenzwinkern.
»Vielleicht solltest du mal ’nen Moment rausgehen, weißt schon, für ’ne Zigarettenpause?«
Armer, einfältiger Coney, er war ebenso am Ende wie ich.
»Geht geht!«
Einige gafften, andere schauten weg, deutlich gelangweilt. Ich wurde von den Leuten als Patient eingestuft: religiöse oder animalische Besessenheit, verbale epileptische Anfälle oder sonst etwas. Man würde mir wahrscheinlich ein paar Medikamente verabreichen und mich nach Hause schicken. Ich war nicht krank oder außergewöhnlich genug, um hier interessant zu sein, nur ein wenig irritierend und anstößig, sodass sie sich mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten wohler fühlten, also wurden meine Eigenarten schnell und reibungslos von der allgemeinen Stimmung aufgesogen.
Mit einer Ausnahme: Albert, der uns die Spritztour auf die Auffahrt der Notaufnahme nicht verziehen hatte und sich nun drinnen aufhielt, um sich zu wärmen, vielleicht aber auch, um mit gestrengem Auge über uns zu wachen. Im Gegensatz zu den anderen im Raum wusste er, dass ich nicht der Patient unserer Truppe war. Er kam vom Eingangsbereich herüber, wo er sich in die Hände geblasen und geschmollt hatte, und deutete mit dem Finger auf mich. »Du da«, sagte er. »Du kannst dich hier drin nicht so benehmen.«
»Wie benehmen?«, fragte ich, wobei ich meinen Hals verrenkte und gleichzeitig aus einem dringenden Bedürfnis heraus mit schriller werdender Stimme »Alsosagtdermann!« krächzte, wie ein Komödiant, dem sein Publikum nicht zuhören will.
»Den