Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In 'Andreas Hartknopf' von Karl Philipp Moritz wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der sich auf eine abenteuerliche Reise durch die Welt des 18. Jahrhunderts begibt. Moritz' literarischer Stil ist geprägt von einer detailreichen Beschreibung der Umgebung und der Gefühle seiner Protagonisten. Das Buch wird oft als eines der wichtigsten Werke der deutschen Romantik bezeichnet und zeigt, wie sich der Wert der Individualität in einer vom Klassizismus geprägten Gesellschaft behaupten kann. Moritz' Erzählung fängt das Gefühl der Entfremdung und Sehnsucht nach einem authentischen Leben ein, das auch heute noch aktuell ist. Als Schriftsteller und Philosoph war Karl Philipp Moritz stark von der zeitgenössischen Diskussion um das Individuum und die Gesellschaft beeinflusst. Seine eigene Lebenserfahrung spiegelt sich in den vielschichtigen Figuren und Handlungsbögen von 'Andreas Hartknopf' wider, was dem Buch eine besondere Tiefe verleiht. 'Andreas Hartknopf' von Karl Philipp Moritz ist ein zeitloses Werk, das den Leser dazu inspiriert, über sein eigenes Leben und die Bedeutung von Authentizität nachzudenken. Mit seinem nuancierten Verständnis für die menschliche Natur und die Suche nach Identität ist dieses Buch eine Bereicherung für jeden Leser, der nach literarischer Inspiration und intellektueller Herausforderung sucht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 206
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig
Hier will ich still stehen, sagte mein lieber Andreas Hartknopf, da er sich plötzlich auf seiner Wanderschaft an einem breiten Graben befand und weder Weg noch Steg sah, der ihn hinüberführen konnte; und doch war es schon beinahe dunkle Nacht, und der Wind wehte scharf aus Norden ihm einen feinen Staubregen ins Gesicht, der schon seine Kleider bis auf die Haut durchnäßt hatte – er hat nun ausgewandert, der gute Hartknopf – aber mir deucht, ich sehe ihn noch da stehen mit seinem langen Knotenstocke, den messingnen Kamm in sein dickes schwarzbraunes Haar geschlagen, und seinen Rock mit den steifen Schößen von oben bis unten zugeknöpft.
Er war eine gute Seele – ob er gleich in der Gottheit vier Personen annahm und glaubte, daß die ganze Welt aus alkalischem Salze geschaffen sei. Dies öffentliche Zeugnis von seinem Charakter und seinem Herzen, das gewiß ein Unparteiischer fällt, möge ihn gegen die Beschuldigungen retten, womit Bosheit und Verleumdung seinen Namen oft gebrandmarkt haben.
Du guter Andreas Hartknopf magst wohl nicht gedacht haben, daß deine Freunde, die auch wie du an die Viereinigkeit und an die Schöpfung der Welt aus alkalischem Salze glaubten, und mit dir, wie du meintest, ein Herz und eine Seele waren, daß diese dein Gedächtnis nach deinem Tode so schändlich verunglimpfen würden.
Ach, es war dir auch nicht an der Wiege gesungen, wie es dir einmal in der Welt ergehen sollte – daß du verstoßen, verjagt, von aller Welt verlassen umherirren, irgendwo ein freundliches Obdach suchen und es nicht finden solltest; daß du an die Türen deiner Brüder, deiner Freunde klopfen, und sie dir nicht aufgetan werden sollten; daß du – o nichts weiter! Meine Seele ergrimmt gegen die Menschen, wenn ich bedenke, daß sie den Edelsten unter sich ausstießen, den Diamanten, der auf diese harten Kieselsteine seinen unnachahmlichen Glanz hätte werfen können, wodurch sie auch bemerkt worden wären, wenn man ihn unter ihnen gesucht hätte! Oft unterhält sich meine Seele in einsamen Stunden mit dir in Gesprächen; ich sehe dich in meine kleine Kammer treten; wir sehen uns und sehen den Himmel aus dem geöffneten Fenster an – und ob wir gleich nur gegen ein altes Gemäuer blicken, so erhebt sich doch unser Herz, wenn die Sonne darauf scheint, und unsere Seelen ergießen sich gegeneinander in Liebe und Wärme, in süßen Gesprächen von Zukunft und Vergangenheit.
Ich soll von dir reden, mein Guter! und ich rede mit dir – sieh, ich muß wieder Abschied von deinem Geiste nehmen, wenn ich von dir reden soll –das wird mir schwer. O habt Geduld mit mir meine Leser! es ist mir schwer geworden, mich von meinem Freunde zu trennen – ich sprach mit ihm, da ich mit euch sprechen sollte, denn ich wollte euch doch seine Geschichte erzählen.
Hier will ich still stehen! sagte er also, da er plötzlich an dem breiten Graben stand, über den kein schmaler Steg ihn führte – er ging eine weite Strecke auf und ab, und fand keinen Weg hinüber – die Nacht brach immer tiefer herein, der Wind ging immer schärfer, und jagte schon den Regen in großen Tropfen meinem Wanderer ins Gesicht, hinter ihm war ein meilenlanger Wald – Hier will ich still stehen, sagte er noch einmal, weil ich nicht weiter kann – und das will sagte er mit einem gewissen Trotz, aber auch zugleich mit einer Erhabenheit der Seele, womit er dem Regen und dem Sturmwinde zu befehlen und über die Elemente zu herrschen schien.
Ich will, was ich muß, war sein Wahlspruch bis an den letzten Hauch seines Lebens; es war seine höchste Weisheit, der er bis zum Tode getreu blieb; die ihn über die Dornenpfade seines Lebens sicher hinleitete, die ihm am Rande des Grabes noch einmal ihre freundschaftliche Rechte bot.
Weil ich das nun alles weiß, und ich mich fast ebenso in seine Seele hineindenken kann, als in meine eigene Seele – so genau waren wir miteinander verwebt – so kann ich auch das alles von ihm erzählen, was gewiß sonst niemand von ihm würde erzählen können: wie seine ganze Seele dabei arbeitete, als er die Worte sagte: hier will ich stehen bleiben!
Er fühlte dabei einen unwiderstehlichen Mut, womit er der Kälte, dem Regen, dem Winde, der Dunkelheit der Nacht und der Ohnmacht der menschlichen Natur selbst Trotz bot – er zog sich in sich selbst zurück, wie der Igel in seine Stacheln, wie die Schildkröte in ihr felsenfestes Haus. Seine Brust war mit ehernem Mut gestählt, sein Körper zum Leiden abgehärtet – die rauhen Elemente noch immer seine Freunde, denn sie behandelten ihn gütiger als die Menschen.
Legen konnte er sich nicht, denn der Boden war vom Regen durchnäßt. Er stand und ging am Graben auf und nieder, dann stand er wieder eine Weile und pfiff die halbe Nacht hindurch im Winde sein Leibstückchen, daß es weit in die Ferne schallte, wo es der Wind hintrug. – Ein paar Eulen auf den nahen Bäumen fingen an, statt der Nachtigall, ihn zu begleiten, und ein paar Fledermäuse schwirrten statt der Lerchen ihm um den Kopf – und er ward nicht böse darüber, sondern ließ sich, da er es nicht besser haben konnte, den Wettgesang gerne gefallen und freute sich, daß selbst in der stillen Totennacht die Natur noch Funken von Leben sprüht. Sie machte ihm jetzt seine sonst so getreue, liebevolle, zwar etwas saure Miene – und er hätte ihr in der Dunkelheit der Nacht, durch eine sehr unerfreuliche Verzerrung seiner Gesichtszüge den Gruß sehr gut erwidern können – aber das tat er nicht, seine Stirne zog sich nicht in düstere Falten, sein Auge blieb so heiter, daß er sich vor der hellen Sonne nicht hätte schämen dürfen, wenn sie in diesem Augenblick sein Antlitz beleuchtet hätte.
Indem er noch so da stand und pfiff, hörte er in der Ferne Menschenstimmen, und seine gute Laune, in die er sich hineingepfiffen hatte, erhielt beinahe einen kleinen Stoß. – Bald aber ermannte er sich wieder, und die Menschenstimmen klangen seinen Ohren beinahe wieder so lieblich als der Gesang der Eulen, mit denen er vorher in Gesellschaft des rauschenden Windes ein angenehmes Konzert aufgeführt hatte.
Die Menschenstimmen tönten wild in die Nacht; der Laut war wie von stammelnden Zungen, und ihr Ausruf war wie der Ausruf derer, die voll süßen Weines sind. – Schon waren sie dicht heran, und es war doch schändlich!
Die Eulen und Fledermäuse hatten meinem Hartknopf zur Gesellschaft mitgewacht – und diese Unmenschen – es waren ihrer zwei – He da! Landsmann, stammelte der eine, was wankt er hier noch so spät umher? – Ich kann nicht über den Graben. – I Narr, so schwimm er durch, lachte jener laut auf und stieß ihn in den Graben hinein. Hartknopf raffte sich im Fallen so gut er konnte zusammen, und siehe da, es war eine Grube wie die, worin weiland Josef von seinen mitleidigen Brüdern hinabgelassen wurde; es war ein Graben, worin kein Wasser war und durch welchen er gleich anfangs trocknen Fußes hätte durchgehen können, wenn er statt seiner philosophischen Resignation seine beiden Sinne, Gesicht und Gefühl, zusammengenommen hätte, um sich mittels seines Dornstockes und seiner gesunden Füße erst einen Durchgang durch den Graben zu erproben, ehe er sich entschloß, die Nacht über diesseits zu bleiben und mit seinem Pfeifen ein paar Eulen zu begleiten. Hartknopf kam nun auf der anderen Seite des Grabens wieder in die Höhe und machte auch nicht einmal in Gedanken seinem Beleidiger Vorwürfe, der ihm freilich wider Willen einen Dienst geleistet hatte, indem er ihm durch einen zwar etwas unsanften Stoß durch einen Graben half, wodurch ihm vorher alle seine Philosophie nicht hatte helfen können. Was aber noch mehr war, so machte Hartknopf sich selber nicht einmal Vorwürfe, daß er wie mit Blindheit geschlagen gewesen war. Das war nun einmal seine Art so: er hielt es für noch einen kindischen und läppischen Streich mehr, wenn man sich über irgendeinen kindischen und läppischen Streich, den man einmal gemacht hatte, die Haare ausraufen wollte. – Überhaupt hatte er sich, seitdem er anfing weise zu werden, die Reue abzugewöhnen versucht, die er nur für ein Arzneimittel der Toren hielt. Ich will, was ich muß, war sein Wahlspruch, wenn er von außen her getrieben wurde, und ich muß, was ich will, wenn ihn etwas von innen trieb. Gefühl seiner Kraft, insbesondere der widerstrebenden, war seine höchste Glückseligkeit. – Darum mochte er zuweilen gerne wider den Strom schwimmen, ob es ihm gleich sauer wurde, und wider die Wand rennen, ob er sich gleich den Kopf zerstieß.
Darum war er auch die Nacht diesseits des Grabens geblieben, als er nur einige Wahrscheinlichkeit hatte, daß er nicht würde durchkommen können. Und er gefiel sich nun einmal so. Und weil ihm die Zeit nicht sehr übel verstrichen war, so würde er sich über jeden Ärger geärgert haben, den er in sich hätte über sich selbst aufsteigen lassen; darum ärgerte er sich dann am Ende lieber gar nicht.
Er verdoppelte seine Schritte, um sich warm zu gehen, und befand sich ungleich besser, da er wieder auf der Landstraße war und mit Zweck und Absicht sich nach einer festen Richtung fortbewegen konnte, als vorher, da er gehen mußte um zu gehen und immer wieder auf denselben Fleck zurückkam. Dies führte ihn zu tiefsinnigen Betrachtungen über die geraden und über die krummen Linien, und inwiefern die gerade Linie gleichsam das Bild des Zweckmäßigen in unseren Handlungen sei, indem die Tätigkeit der Seele den kürzesten Weg nimmt – die krumme Linie hingegen das Schöne, Tändelnde und Spielende, den Tanz, das Spazierengehen bezeichnet.
Indem waren die beiden besoffenen Kerle schon wieder hinter ihm, und faßten ihn brüderlich der eine unter dem rechten, der andere unter dem linken Arm – der unter dem linken Arm hatte ihn in den Graben gestoßen, und war wie der böse Schächer zur Linken am Kreuze, die Tugend und Weisheit ging in der Mitte.
Die beiden besoffenen Kerle aber waren ein paar Weltreformatoren und Kosmopoliten – und der zur Linken war der Anführer einer kleinen Kosmopolitenbande, die im Lande umherzog und sich jetzt in dem kleinen Städtchen aufhielt, um ihr Gaukelspiel zu treiben und aus allen vier Ecken der Erde Menschen herbeizulocken, die sich vor ihrer großen Bude versammeln und ihre Marktschreier-und Taschenspielerkünste anstaunen sollten.
Der Anführer zur Linken hatte große schwarze struppige Augenbrauen und borstiges Haar, und trug ein samtenes Kleid vom Schweiß und Blut der betrogenen Menschheit – er kniff meinen guten Hartknopf in den Arm, daß es ihm blau wurde, da er ihn untergefaßt hatte, und sagte: – Du alter Kauz, wie ist dir denn das Schwimmen bekommen? Daraus war dann zu schließen, daß er ihn nicht in einen trockenen, sondern mit Wasser gefüllten Graben hatte stoßen wollen, dieser Borstige.
Der Kosmopolit zur Rechten war der reuige Schächer und sagte: – Lieber Bruder, wir hätten diesen Menschen schonen sollen – und hätten ihn nicht sollen in die Grube stoßen, worin kein Wasser war – der arme Mensch! – indem drückte er Hartknopf die Hand. Und dieser sagte halb im Schlummer: – Heute wirst du mit mir im Paradiese sein! Er meinte aber den Gasthof in dem Städtchen, das vor ihnen lag, worin er einzukehren pflegte, wo die Zöllner und Sünder herbergten und wohin jetzt sein sehnlichstes Wünschen ging. – Die Idee vom Paradiese schlug in den zwei Kosmopolitenköpfen wie ein Feuerfunken ein – sie hatte etwas so Erhabenes und Feierliches in der dunklen, schauervollen Nacht, so wenig Erhabenes sich auch mein guter, ehrlicher Hartknopf dabei gedacht hatte. Der Schächer zur Rechten und der Schächer zur Linken fühlten die ganze Macht der Worte, die sie nun wirklich auf sich abgezielt glaubten. Ihre Seelen wurden zerknirscht, Tränen entströmten ihren Augen; sie fingen an, sich wirklich für ein paar arme Schächer zu halten, welche in ihrem verkehrten Sinn die hohe Würde des Menschen beleidigt hätten.
– Fühlst du das, lieber Bruder, sagte der zur Rechten –
– Ich fühle es! antwortete der Linke mit bebender Stimme; laß uns hier niederfallen im Staube und den großen Allvater bitten, daß er uns vergebe die Sünden unserer Jugend und die Sünden unserer grauen Jahre; daß er nicht ansehe unsere Missetat, und uns nicht strafe, wie wir es verdient haben – denn wo willst du einen Reinen finden unter denen, da keiner rein ist; bewahre meinen Fuß – – – und so lang wie er war, lag der borstige Bebende ausgestreckt da, denn sein Gebet war schwarze Heuchelei und verflog in den Lüften. Er maß die Erde mit seiner Länge, denn er hatte sich an einer alten Stubbe am Weg sein Schienbein zerstoßen, daß es ihn bis in den Wirbel hinauf schmerzte. – Das sanfte Erbarmen meines Hartknopf mit seinem Beleidiger hob den Gefallenen wieder auf, und der Gefallene dankte ihm nicht, denn sein böser Geist hatte der Stubbe Hartknopfs Gestalt gegeben.
Und der Gefallene sagte zu dem Schächer zur Rechten: – Mein Bruder, was meinst du, der Schurke da hat mir ein Bein untergeschlagen, um sich an mir zu rächen!
– Ei so soll ihn ja auch – rief der reuige Schächer, und fing an, tüchtig auf meinen Hartknopf loszuschlagen, und der zur Linken war dabei sein treuer Rat und Assistent.
Aber das Blättchen fing sich bald an zu wenden. Die Weisheit in der Mitte nahm ihren Dornenstock in die Hand, und schlug damit rechts und links um sich, und die Torheit taumelte an beiden Seiten von ihren wiederholten Schlägen zu Boden, und als mein Hartknopf die beiden Besoffenen nach Herzenslust durchgeprügelt hatte, so sagte er: – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
Und nun hob er sie beide wieder auf, und sie wanderten wieder einträchtig und brüderlich miteinander fort. Darüber brach der Tag an, und der Rausch in den Köpfen der beiden Kosmopoliten fing allmählich an zu verfliegen. – Ihr nächtlicher Zwist mit Hartknopf verlor sich in ein dunkles Schattenbild, und sie sahen jetzt seine offene Stirn und sein edles freies Auge, womit er sie im Glanz der aufgehenden Sonne anblickte, und schlugen beschämt ihre Augen nieder.
Alle drei schienen stillschweigend in einen Vertrag eingewilligt zu haben, alles in der Nacht Vorgefallene in gänzlicher Vergessenheit zu begraben. Sie unterhielten sich miteinander über die Schönheit des Morgens, über die Pracht der aufgehenden Sonne und über den herrlichen Anblick der wiedererwachenden Natur, und ließen ihren strafenden Unwillen gegen diejenigen aus, die den schönsten Morgen in ihren Flaumfedern verschlafen könnten. – Dann fragten erst die zwei Kosmopoliten ihren nächtlichen Gefährten, wo er denn eigentlich herkomme und wo er eigentlich hin wolle? Beides wußte er nicht eigentlich zu beantworten. Er kam aus dem Abend und wanderte gerade gegen den Morgen zu, denn der Weg von Westen nach Osten hatte für ihn etwas Reizendes und Anziehendes, das sich zum Teil mit auf seine besonderen Meinungen gründete. – Da er nun in Süden und Norden ebensowenig Schätze zu holen hatte als in Osten und Westen, so nahm er seine Richtung immer nach Osten zu und richtete es gemeinhin so ein, daß er den ersten frühen Strahl der Sonne mit seinem Morgengebet begrüßen konnte. Welche Städte und Dörfer nun hier auf seinem Wege lagen, durch diese ging er oft hindurch, ohne nur nach ihrem Namen zu fragen; und wenn man ihn dann auch nicht nach seinem Namen fragte, sondern wie irgendein unbedeutendes Wesen, einen Hund oder eine Katze, ihn durchwandern ließ, ohne nur einen Blick auf ihn zu werfen, wie froh war er dann !
Als er aber durch das Land kam, wo man an den Toren die Geheimnisse des Herzens und seiner Taschen ausforschen wollte, ehe man ihn durchließ, so nahm er einen weiten, weiten Umweg, wenn er an eine Stadt kam, und mußte von seiner geliebten Direktionslinie nach Osten manche Abweichungen machen, ehe er wieder in sein Gleis kam. Dann schüttelte er den Staub von seinen Füßen über einer solchen Stadt, und freute sich, wenn er in irgendeine dürre sandige Heide kam, wo keine Spur von Taschendurchsuchenden und geheimniserforschenden Menschen zu sehen war und er nur wieder frei atmen konnte.
Damit der Leser auch keinen Augenblick länger etwa den Gedanken hege, als habe sich Hartknopf von Osten gegen Westen hingebettelt, so muß ich versichern – denn ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß man dies auch nur von ihm denken könne – so muß ich dem Leser versichern, daß Hartknopf sich lieber auf irgendeiner Festung oder in irgendeinem Zuchthaus würde von selbst angegeben haben, um zu karren oder zu raspeln, ehe er das getan hätte. Auch brauchte er es nicht; denn er war seines Handwerks ein Grobschmied und ein Priester, und konnte sich also mit seiner Hände Arbeit sowohl als vom Evangelium nähren, das er den Leuten gern verkündete, die es hören wollten. Aber von der Predigt des Evangeliums nährte er sich nicht, sondern vom Schmiedehandwerk; denn er dachte, umsonst habe ich es empfangen, umsonst sollte ich es auch wiedergeben. – Ein Arkanum für die Schwindsucht, welches er besaß, will ich nicht einmal erwähnen; er besaß ein noch weit größeres Arkanum, den Leib des Menschen durch die Seele zu heilen – wie oft hat er hiervon Gebrauch gemacht! Er nährte sich aber so wenig davon als vom Evangelium, das er verkündigte – sondern der Schmiedehammer, den er mit seinem nervigen Arm wohl auf den Amboß zu führen wußte, verschaffte ihm Nahrung und Kleider; und wenn er dann mit dem Allernotwendigsten versehen war, so ließ er eine Weile seinen Arm wieder ruhen, um seinen Lauf gegen Osten fortzusetzen und seinen Weg, den er nahm, durch wohltätige Handlungen zu bezeichnen. Am heißen Mittag begegnete ihm dann die Sonne in ihrem Lauf und schien ihm als ihrem großen Nachahmer Beifall zuzulächeln.
Das Geheimnis des Erdenlebens meines Hartknopfs ist mir heilig. Mit Ehrfurcht wage ich es, allmählich den Schleier wegzuziehen, der große, der Ewigkeit werte Taten vor dem Auge der Welt verhüllte, die dereinst im höchsten Glanze schimmern und die Taten der Könige verdunkeln werden. – Du hörest sein Säuseln wohl, aber du weissest nicht, von wannen er kommt, noch wohin er fähret. – – Der Fromme geht seinen Gang vor sich hin, so lange er hienieden wallt, ist in sich gekehrt und merkt auf jeden seiner Schritte die er tut. Seine Blicke schweifen nicht in Unruhe auf den Töchtern seines Landes, denn eine ist seine Braut, die verläßt er und sie ihn in Ewigkeit nicht; sie reicht ihm noch ihre sanfte Hand im finsteren Tal des Todes und geleitet ihn in bessere Welten hinüber, wo kein Kosmopolit den Wanderer mehr in einen Graben stößt und kein böser Geist mehr eine Stubbe in Hartknopfs Gestalt verwandelt, um ihm von zwei Weltreformatoren eine Tracht Schläge zuzuziehen.
Wohin er eigentlich ging? fragten ihn also die zwei Weltreformatoren. Eigentlich habe er sich kein festes Ziel gesetzt, gab er zur Antwort, aber er wolle mit ihnen in das nächste Städtchen gehen und dort im Paradiese einkehren, wo der Gastwirt noch sein Herr Vetter sei.
Das Städtchen aber, auf welches sie nun zugingen, hieß Gellenhausen und war Andreas Hartknopfs Geburtsort, den er jetzt besuchte, weil er auf seiner Direktionslinie nach Osten lag – denn er kam aus dem äußersten Ende von Westfalen und ging durch ganz Niedersachsen und Obersachsen immer auf das jetzige Polen zu, und nun war er bis an Gellenhausen gekommen, ohne bis jetzt daran zu denken, daß er da geboren war – bis er, noch den Abend vorher, ehe er an den breiten Graben kam, die hohe Turmspitze in der Ferne schimmern sah, welche die einzige in dem Städtchen war und mit ihrer Pracht alle übrigen Häuser, die in einem Klümpchen zusammengedrängt dalagen, verdunkelte und beschämte.
Das Städtchen hatte sich auch in dem Turm ganz verbaut, und der Magistrat von Gellenhausen wäre beinahe darüber bei den höchsten Landesgerichten in Inquisition gekommen. Das war aber nun einmal die Art dieses Städtchens, daß es schimmern wollte, von jeher – davon zeugten noch die Überreste eines alten Walles, worauf ein paar ungeheure Kanonen gepflanzt waren, und ein Prediger, der ein Buch geschrieben hatte unter dem Titel »Die sich entknospende Frühlingsrose oder die Hoffnung des Christen jenseits des Grabes«, wo sie nicht eher ruhten, bis sie ihn in ihr Städtchen zogen, wo er auf dem Kirchhof bei Mondschein Predigten hielt und die Jünglinge und Mädchen des Dorfes auf den Grabhügeln ihrer Väter um sich her versammelte, um ihnen die sich entknospende Frühlingsrose vorzupredigen.
Nun wird man sich auch leicht erklären können, wie sich in dem Städtchen eine Kosmopolitenbande einnisten konnte – nachdem eine herumwandernde Gruppe Komödianten schon die Hälfte von dem Hab und Gut der armen Einwohner mit sich hinweggenommen hatte.
Das Philanthropin in Dessau existierte damals schon seit einigen Jahren und hatte in den Köpfen der Deutschen einen Schwindel hervorgebracht, der sich damals noch in vollem Wirbel umherdrehte. Und so wie bei der Theaterepoche, die sich nun auch allmählich ihrem Ende nähert, mancher ehrliche Handwerksmann sich mit in den Wirbel hineinziehen ließ, und den Leisten mit dem tragischen Kothurn vertauschte, so waren auch Hartknopfs beide Begleiter, der eine zur Rechten, namens Küster, wirklich ein Küster, und der borstige zur Linken, namens Hagebuck, ein ehrsamer Schuster gewesen, der eine höhere Flamme in sich lodern fühlte und glaubte, daß er gar wohl fähig sei, in den Köpfen der Menschen ein Licht anzuzünden, deren Füßen er jetzt Schuhe anmessen mußte. Er hatte nämlich seines großen Handwerksgenossen Jakob Boehmes Schriften gelesen; dadurch war zuerst der Funke in ihm angefacht worden – denn es war ihm einmal, da er gerade den Pechdraht zog, als ob ihm eine Stimme vom Himmel zurief: Hagebuck! und er sagte; Herr, was ists? – Da rief ihm die Stimme weiter zu; Laß deinen Pechdraht liegen, und wirf deinen Pfriemen von dir, und gehe hin in ein Land, das ich dir zeigen will!
Er nahm darauf plötzlich von seinem Meister Abschied, welcher seinen verstörten Mienen nach zu urteilen, glaubte, er sei toll im Kopf geworden, ihm seinen Lohn auszahlte und froh war, daß er ihn los wurde. Denn er war manchmal des Nachts bei Mondschein auf dem Dach herumgeklettert und hätte das Haus wegen eines üblen Spuks beinahe in üblen Ruf gebracht. Dies war aber ein Fehler, der ihm noch aus seiner Kindheit anklebte; denn er war einer der unheilbarsten Nachtwandler, die es gegeben hat, und auch einer der geschicktesten, so daß er, wenn man ihn nicht bei seinem Taufnamen rief, auf einer Dachspitze tanzen konnte.
Hans Hagebuck schnürte also sein Bündel, steckte seinen Jakob Boehme in die Tasche und wanderte auf Dessau zu. – Hier verkannte man seine Talente nicht, und er fand Gelegenheit, den Unterricht des Philanthropins zu genießen, und studierte Basedows Elementarwerke in der deutschen Übersetzung, daß ihm der Kopf rauchte; der Erfolg davon war, daß er binnen einem Jahr sich schon stark fühlte, wieder ein Lehrer der Menschheit zu werden und in dem Städtchen Gellenhausen, wohin man ihn rief, ein Philanthropinum nach dem Muster Dessaus zu errichten.
Sein Mitgehilfe war, wie schon gesagt, ein Küster, welcher zugleich Küster hieß. Er war aber wegen seines tumultarischen Charakters seines Dienstes entsetzt worden; denn er wollte sich nicht in die gewöhnliche Ordnung der Dinge fügen, seinem Pastor nachzutreten, sondern er wollte ihm an der Seite gehen und den Pastor wie seinen Freund und Kollegen betrachten; er meinte, sie wollten zusammen in brüderlicher Eintracht auf ihr Zeitalter wirken und dem alten Vorurteil entgegenkämpfen. – Der Herr Pastor verstand aber keinen Spaß und verbat sich dergleichen Familiarität von seinem Untergebenen; und da der Küster einmal andere Lieder in der Kirche anschlug als der Pastor ihm gesagt hatte, so machte dieser einen Bericht an das Konsistorium, worin er dieses nebst mehreren gröblichen Vergehen gegen die Subordination anzeigte – und wovon die Folge war, daß dieser Küster, welcher zugleich Küster hieß, seines Dienstes entsetzt wurde.
Er hatte die Basedowschen Schriften gelesen und die Weltreformiersucht spukte ihm auch im Kopf – er reiste also geradewegs nach Dessau und machte Bekanntschaft mit dem Schuhknecht Hagebuck, der soeben nach Gellenhausen abreisen wollte. Ihre Seelen begegneten sich schon in ihren Blicken; sie umarmten sich schon, da sie kaum einander nennen konnten – und ihr Freundschaftsbündnis war auf ewig geschlossen. Um es aber noch fester und feierlicher zu machen, ließen sie sich im Gasthof zum goldenen Szepter eine Bouteille Pontak geben und tranken Brüderschaft, nachdem sie vorher aus dem Basedwoschen Liederbuche das Lied über die Freundschaft gesungen hatten.
Und nun ging es denn geradewegs auf Gellenhausen zu. – Da war nun viel aufzuräumen – da regierte noch recht der alte Schlendrian im Schulwesen, da herrschte noch der Stock und die Rute, da wurden noch Vokabeln auswendig gelernt: – aber wie bald war das alles ganz anders und Stock und Rute wie weggeblasen!