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Karl Philipp Moritz: Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers ist ein faszinierendes Werk, das die Leser in die tiefen Abgründe des menschlichen Geistes entführt. In einem Mix aus autobiografischen Elementen und fantastischen Geschichten präsentiert Moritz seinen einzigartigen literarischen Stil, der von der Romantik geprägt ist. Die Fragmente bieten Einblicke in die geheimnisvollen Welten des Übersinnlichen und das Streben des Menschen nach Erkenntnis. Moritz verwebt auf geschickte Weise verschiedenste Themen wie Mystik, Psychologie und Philosophie und schafft dadurch eine reichhaltige Leseerfahrung.
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Seitenzahl: 85
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den 1sten Juni 1782.
Wie lieblich scheint die Sonne am Abend in mein kleines Fenster. – Dort auf der Wiese weiden noch die Heerden – die einzelnen Eichen werfen ihren langen Schatten jenen Berg hinunter. –
Was schimmert dort so weit in der Ferne am Horizonte? – es sind die schmalen Purpurstreifen des Abendrothes – wer wohnt unter jenem fernen Himmelsstriche? Was für Gedanken, was für Wünsche steigen dort empor? –
Menschen sind hin und her zerstreut auf dem ganzen Erdenkreis – wer faßt alle ihre Wünsche, alle ihre Hoffnungen in eins zusammen? wer birgt sie in seinem Busen, um sie alle alle dereinst zur Vollendung zu bringen, daß keiner vergessen wird? –
O dann werd' auch nicht vergessen werden, sen ich auch so einzeln unter den Menschen, und so verlohren als ich wolle. –
Die Heerden kehren heim, und eilen zu ihrer Lagerstatt – sie schweiften den ganzen Tag umher, und keines hat sich verlohren, jedes findet am Abend seine gewohnte Herberge wieder.
Der arme Hirt aus unserm Dorfe, der hinter dieser Heerde hergeht, legt sich am Abend nieder, um Morgen sein Tagewerk von vorne wieder anzufangen. – Er glaubt, er werde nur seine Heerde – aber er weiß nicht, daß sich unbemerkt der Keim zur Vervollkommnung und Veredlung seines Wesens in ihm bildet – daß jedes Grashälmchen, welches er, ohne Absicht sein Auge an den Boden heftend, betrachtet, seine Kraft zu vergleichen und zu unterscheiden erhöht, daß er mit jedem Blick, womit er Wiese und Berg und Thal umfaßt, und dann wieder sein Auge auf ein kleines goldnes Würmchen fallen läßt, daß unter Kräutern und Blumen lebt, das Ganze mit Rücksicht auf das Einzelne und das Einzelne mit Rücksicht auf das Ganze betrachten lernt.
Du armer Hirt wirst also in der Reihe denkender Wesen nicht vernachlässiget, nicht vergessen – Dein Rang ist dennoch in der Geisterwelt, ob du gleich den ganzen Tag über nur deine Kühe weidest.
Ist denn also keiner ausgeschlossen? – welch eine unendliche Reihe denkender Wiesen steigt vor meinem Blick empor!
Wo seid ihr alle, ihre Millionen, deren Staub sich schon wieder mit anderm Staube gemischt hat?
Habt ihr euch nicht verlohren in einander? – seyd ihr noch in derselben Zahl da, wie ihr wäret, da eure Körper abgesondert von einander, und jeder in sich gedrängt, so viele verschiedene Wesen ausmachten, als verschiedne Gesichtszüge, verschiedne Nahmen waren.
Die Gesichtszüge, die Nahmen sind verschwunden – was unterscheidet euch vom Körper ganz entblößte Wesen noch von einander?
Ist es die unendliche Mannichfaltigkelt der Erinnerungen aus eurem Erdenleben? – Aber was bleibt euch denn nun, um diesen Unterschied durch die Dauer eures Wesens fortzupflanzen? Sind die Eindrücke, die ihr nun erhaltet, denn noch so unendlich mannichfaltig verschieden? – oder treffen die Erinnerungen mehrerer aus diesem Erdenleben zusammen und machen vielleicht mehrere zusammen ein Ganzes aus. –
Wie oft wünschen nicht Seelen hienieden schon in einander zuschmelzen, mit allen ihren Gedanken, allen ihre Erinnerungen, die sie von Kindheit auf hatten, eins zu werden.
Und ich sollte das Ueberströmen meines Wesens in ein andres scheuen? – und doch scheu ich es? – Doch ist alles auf einmal so todt, so abgeschnitten, so zerrissen – wenn ich mein Wesen auch mit einem Wesen höherer Art vertauschen sollte. –
Dem schaudervollen Uebergange zu einem andern Seyn muß erst das Werden seinen Weg bahnen; durch den Mittelbegriff des allmäligen Entstehens kann unser Geist nur in die Zukunft blicken, und die Sprache selbst muß zu diesem Begriff ihre Zuflucht nehmen, wenn sie die Zukunft bezeichnen will. – Die Sonne ist untergesunken die Abendglocke tönt im Dorfe – das Tagewerk der Arbeiter ist vorbei – die Natur hat wiederum einen großen Akt vollendet, und läßt nun den Vorhang fallen. –
Am 24sten Juli 1782.
Noch find' ich also, selbst bei einem siechen Körper, hier das Glück, daß ich in der weiten Welt vergeblich suchte. – Die Erndte beginnt nun, und ich kann ein Zuschauer von den frölichen Festen der Landleute seyn. – Ich kann mich so nahe an die liebevolle Natur halten; sie ist meine Mutter, meine Freundinn.
Ihr wohlthätiger Hauch gießt Balsam in meine verwundete Seele. –- Meine kranke Phantasie wird immer reiner und heller wieder, indem sie allenthalben reizende wohlthätige Bilder sammlet, und sie harmonisch ordnet; jedes Blättchen am Baum, das ich mit Wohlgefallen betrachte, flößt mir sanfte Empfindungen ein.
Ich kann mich wieder der hangenden Birke und der hohen Fichte freuen, die ohngeachtet der Verschiedenheit ihrer Natur, ihre Zweige von oben gesellig zusammen flechten.
Der Anblick der wollichten Heerde unter dem Schatten eines Baumes, in das grüne Graß gelagert, hat etwas Aug' und Herz erquickendes für mich, das zugleich die Seele unvermerkt erhebt, und sie für jeden Eindruck aus der Natur empfänglicher macht – die weisse weiche wolle– das sanfte Grün – die ovalgerundeten Blätter – der zierlich gekräuselte Schatten – vereinigen sich zusammen, um in der Seele ein Bild auszumahlen, wodurch jede Nerve harmonisch vibriret, und indem auf die Weise unser Blick das Weltall, auch nur in einem einzigen seiner Punkte, gleichsam von der rechten Seite faßt, von welcher es der höchste Verstand selbst mit Wohlgefallen durchschaut, wo sich alle anscheinende Disharmonie in Harmonie auflöset – so erhebt auch dieser Anblick die Seele, und macht sie fähig, nach einem verjüngten Maßstabe die Grüße und Schönheit dieses unbegreiflichen Weltalls zu messen – ihr wird ein Blick in das innerste Heiligthum der Natur eröfnet – sie staunet nicht über das eigentlich sanfte Grün, die weisse Wolle, die ovalgeründeten Blätter, und den zierlich sich kräuselnden Schatten, sondern über die großen, bewundernswürdigen Verhältnisse, die sie in dem Augenblick, ohne es selbst zu wissen, überrechnet.
Als ich gestern dieses Anblicks eine halbe Stunde lang genossen hatte, da erheiterte sich meine trübe Seele wieder – mein Blick wurde freier – meine Brust athmete leichter – so will ich denn öfter zu diesem Anblick meine Zuflucht nehmen, ich darf ja aus meiner Wohnung nur wenige Schritte darnach thun. –
Kehrte ich nicht getröstet, und mit herzerhebenden Gedanken wieder heim – o, wen hast du liebevolle Natur, wohl je ungetröstet von dir gelassen, der Trost bei dir suchte?
Und was war mein Kummer ? – war er nicht eben in dieser Verstimmung meiner Phantasie gegründet, die der feste Anblick der mich umgebenden Natur wieder heilte. – Was war es anders, als daß mein Auge den unrechten Gesichtspunkt gefaßt hatte, aus der ich diese schöne Welt betrachtete, in der ich nun anfing, Verwirrung und Unordnung, Unglück und Jammer zu sehen, wohin ich blickte, und zu ahnden, wohin ich nicht blickte?
Ist nun nicht meine Seele wieder gestärkt? meine Denkkraft nicht wieder in Thätigkeit gesetzt? Und das Heiligungsmittel liegt mir so nahe – ich darf das Kraut nur pflücken, das zu meinen Füßen wächst, um meinen Schmerz zu lindern.
Ich stehe da, und betrachte die arbeitsamen Landleute – wohin ich blicke, sehe ich Leben und Bewegung – Erreichung der mannichfaltigen Endzwecke der Natur – im gleichen Takt heben die Arme der Erndter sich mit den Sensen auf, und die vollen Aehren sinken nieder – der Schweiß tröpfelt von der Stirn des Arbeiters, aber er freuet sich seiner Gesundheit und seiner Stärke – und auf den Ersatz seiner aufgewandten Kräfte durch die zubereiteten Nahrungsmittel und den süßen Schlaf. –
Mit jedem wiederhohlten Sensenschlage kommt Takt und Ordnung in sein Leben, und in alle seine Gedanken – Er erfüllt in jedem Augenblick den Zweck seines Daseyns, indem er durch die Thätigkeit seines Körpers unvermerkt seinen Geist zur Ordnung zum Ausdauren im Denken gewöhnt, das ihm, wenn er dereinst ohne Körper seyn wird, noch zu statten kommen soll, und indem er zugleich die großen Endzwecke der Natur zur Erhaltung und Ernährung der Körper befördern hilft, in denen und durch die noch mehrere Geister zu einem Daseyn höherer Art gebildet werden sollen.
Eine wohlthätige Unwissenheit umhüllet euren Blick, ihr Arbeiter im Schweisse eures Angesichts – Um euch her ist die große unendliche Welt, ihr aber seyd auf den Fleck der Erde geheftet, wo ihr euer Leben empfingt – hier wohnet ihr eine Zeitlang in euren engen niedrigen Hütten – dem Boden, den ihr bewohnt zwingt ihr auch eure Nahrung ab – und dann legt ihr euch auf einen kleinen Fleck eures väterlichen Bodens schlafen, und versammlet euren Staub zu dem Staube eurer Vorältern. –
Es hat euch nie eingeleuchtet, was ihr einst seyn werdet, die ihr dort schlummert – Eure Kinder die jetzt auf eurem Staube gehen, werden entschlummern wie ihr – aber einst muß die große Erndte erscheinen – es kann nicht Blendwerk, kann nicht Täuschung seyn. – Sollte die große Natur, die kein Röhrchen, keine Faser ohne Zweck und Absicht schuf – hier so plötzlich aufhören nach Zweck und Absicht zu handeln – sollte sie ewig säen, und säen, und säen – ohne je zu ärndten? – sollte dieß Erdenleben dessen so mancher nur wenige Stunden froh wird, ihr letzter Zweck seyn?
Sind nicht die Gedanken des Menschen, womit er die Ordnung und Harmonie in der ganzen Natur bemerkt, das edelste in der ganzen Natur. –
Und dieser reinste abgezogenste Stoff, auf dessen Bildung alle Eindrücke aus der Körperwelt unaufhörlich hinarbeiteten, der sollte sich wieder, ohne nun weiter genutzt zu werden, mit der übrigen Körpermasse mischen? So verschwenderisch sollte die sonst so sparsame Natur zu Werke gehen, daß sie alle ihre Kräfte aufböte, um durch den umgebenden Körper den Geist eines Menschen zu bilden, den sie zugleich mit diesem Körper wieder zerstörte?
Zwar bildet sie im Frühling ein Blatt am Baume, ründet es sorgfältig, und versieht es höchstkünstlich mit unzähligen Röhrchen, wodurch es seinen Nahrungssaft in sich saugt, und seine Bestandtheile sich vermehren – und eben dieß Blatt läßt sie im Herbst wieder welken, abfallen, und in den Staub zertreten werden – denn sie liebt die Verjüngung; sie zerstört, um immer aufs neue wieder hervorzubringen – sie scheint das Altgewordne das Verwelkte zu vernachläßigen – aber sie thut es nicht; sie läßt kein Stäubchen von dem Verwelkten verlohren gehen – und dann läßt sie auch dasjenige, auf dessen Wachsthum und Bildung sie mehr Mühe gewandt zu haben scheint, immer länger dauren, als das worauf sie weniger Sorgfalt wendet, – der Baum, der Jahre zu seinem Wachsthum bedurfte, dauert länger, als seine Blätter, die ein Frühling zur Vollkommenheit brachte. –